I. Arbeitsniederlegungen und Auflösungserscheinungen als Vorboten des 17. Juni in der DDR
Die Geschehnisse des 17. Juni 1953 sind häufig Gegenstand der Forschung gewesen Kaum bekannt sind die zeitgenössischen Beobachtungen und internen Einschätzungen des Westens Überwiegend an Hand von Akten des Foreign Office (FO) soll deshalb gezeigt werden, was die Briten über die Vorgänge wußten und wie sie die Lage beurteilten. Einzelbefunde können Diskussionsanstöße für eine weitere Differenzierung der Ereignisse des 17. Juni 1953 liefern.
Der DDR-Funktionärsapparat sah bereits Monate vor dem 17. Juni den Erfolg seiner Anstrengungen gefährdet, mehr und mehr Produktion aus der arbeitenden Bevölkerung herauszupressen, während Verstaatlichungspolitik in Industrie und Handel, Kollektivierung der Landwirtschaft sowie Investitionen in die bewaffneten Streitkräfte einen hohen Anteil des Sozialprodukts verschlangen. Im April hatte Walter Ulbricht beruhigende Worte zu landwirtschaftlichen Gemeinden gesprochen Über die wirtschaftliche Situation lagen dem FO exakte Informationen vor. Über die Gründe des Produktionsrückgangs wurde noch gerätselt Der Wider stand der Kleinbauern gegen die sowjetische Repressionspolitik äußerte sich schon seit Monaten durch Massenflucht in den Westen
Am 11. Juni hatte das SED-Regime dem Mittelstand öffentlich Fehler seiner Sozialisierungspolitik eingestanden und Schritte zur teilweisen Rücknahme derselben durch eine Reihe besonderer Verordnungen eingeleitet. Die übereilten Maßnahmen trugen dazu bei, das Verteilungssystem zu überfordem, welches schon durch die überstürzte Verstaatlichung schwer gelitten hatte. Das Bemerkenswerte an den neuen Maßnahmen war nach britischer Auffassung das Fehlen jeglicher Zugeständnisse an die Lohnarbeiter, die vom „Neuen Kurs“ ausgeschlossen blieben. Die DDR-Regierung traf keine Anstalten, die am 28. Mai getroffene Entscheidung des Ministerrats zurückzunehmen, wonach alle Arbeitsnormen ab 1. Juli um zehn Prozent erhöht werden sollten. Bereits vor dem 16. Juni erfolgten gegen diese Beschlüsse Sitzstreiks in Betrieben. Die Verschärfung der Normenfrage schuf aber erst die explosive Stimmung des 16. Juni
Das Protestverhalten hatte unter Arbeitern schon in der Zeit vom 11. bis 16. Juni sprunghaft zugenommen, wobei die Streiks noch geordnet waren und Ausschreitungen unterblieben. Am Abend des 16. Juni war die Lage nach Sir Ivone Kirkpatrick „explosive throughout the Zone“. Es gebe keine Anhaltspunkte für eine organisierte oder gemeinsam abgestimmte Aktion; die im Rundfunk verbreiteten Nachrichten über die Ereignisse in Berlin vom 16. Juni, besonders vom RIAS, wären aber „signal for disorders to begin in earnest“ gewesen Angesichts des breiten Unruhepotentials und der vereinzelten Protestaktionen außerhalb Berlins bereits vor dem 16. und 17. Juni dürften die RIAS-Berichte in vielen Orten der DDR aber kaum mehr auslösenden sondern lediglich verstärkenden Charakter für die Unruhen gehabt haben Die Berliner Ereignisse wären dabei das Signal für eine allgemeine Erhebung gewesen
II. Von der sozialen Arbeiterrevolte zur politisch-motivierten Massenerhebung
Am 19. Juni trafen von Flüchtlingen Berichte ein, aus denen folgende Ereignisse seitens des FO rekonstruiert wurden
Die Unzufriedenheit war aufgrund des Unterbleibens von Konzessionen in der Frage der Arbeitsnormen (die um zehn Prozent erhöht worden waren) in den letzten Tagen angestiegen.
Am 16. Juni entschloß sich eine Gruppe von etwa 80 Arbeitern, auf der Stalinallee öffentlich zu protestieren, da sie an diesem Tag nur die Hälfte der erwarteten Löhne erhalten hatte und wegen der Ablehnung ihrer Proteste durch das Gewerkschaftsbüro erregt war
Die Gruppe zog von der Stalinallee zum Alexanderplatz und wuchs während des Marsches auf über 3 000 Menschen an. Sie traf auf einen Jugendverband von „Sport und Technik“, der mit Stöcken und Gummiröhren bewaffnet war, worauf ein heftiger Zusammenstoß erfolgte.
Die Gruppe bewegte sich dann von „Unter den Linden“ zur Ulbricht-Straße. Wirkungslose Bemühungen von Ministem, die Demonstranten zu beruhigen, und die von dieser Zeit an völlige Abwesenheit der Volkspolizei (VP) ermutigten zweifellos die Menge und dürften große Visionen in der Bevölkerung entfacht haben, die freie Demonstrationen in den letzten 20 Jahren nicht mehr gewöhnt war. Alle Informationen deuteten darauf hin, „that the temper of the crowd was thus far rowdy but not dangerous and the demonstration was still on a comparatively small scale“.
Die Demonstration endete mit Aufrufen zu einer Massenversammlung für den folgenden Tag und zu einem Generalstreik, der eine aufrührerische Wirkung für einen großen Teil der Bevölkerung hatte. Am späten Abend des 16. Juni verloren die Demonstrationen bereits ihren Anti-Normen-Charakter und gewannen das Bild einer allgemeinen Erhebung. Das spätere Versprechen einer Senkung der Normen blieb weitgehend wirkungslos und wurde als Ausdruck der Schwäche seitens der Regierung betrachtet.
Am Morgen des 17. Juni hatte sich der Charakter der Demonstrationen völlig verändert. Das Arbeitsleben stand still: „the whole sector was in the streets“. Es gab zahlreiche Zusammenstöße mit der VP, aber immer noch mit relativ geringer Stärke, letztere war hoffnungslos unterlegen und in der Defensive. Arbeiter waren immer in vorderster Linie, nach Ansicht der Briten war aber praktisch die gesamte Bevölkerung beteiligt. Kasernierte Volkspolizei (KVP) und sowjetische Truppen, die sich während der frühen Stunden formierten, hatten offensichtlich Instruktionen, nicht provozierend aufzutreten, und spielten rund um die Regierungsgebäude eine primär defensive Rolle. Diese Passivität ermutigte die Menge zweifellos noch mehr in ihrem Wunsch, die Regierung zu stürzen, und weckte die Hoffnung, daß die Sowjets nicht intervenieren würden. Dies war nach dem britischen Bericht vielleicht der wichtigste Faktor, der für die rasche Ausbreitung der Unruhen verantwortlich war.
Mit Proklamierung des Kriegsrechts (welches in Berlin bis 11. Juli aufrechterhalten wurde) und durch energische Intervention der Russen, die auch den Befehl über VP und KVP übernahmen, einen Kordon um die Sektorengrenze zogen und nicht mehr zögerten zu schießen, legten sich die Unruhen mit dramatischer Schnelligkeit. Gegen Abend gab es nur mehr isolierte „Widerstandsnester“, und die Ordnung war größtenteils wieder-hergestellt. Getadelt wurden zögernde und widerwillige Reaktionen der Westberliner Verwaltung, die Demonstrationen an der Sektorengrenze zu verhindern. Nach scharfem Protest des britischen Major-Generals C. F. Coleman habe sie sich jedoch „zusammengenommen“ und die Westberliner Polizei ihre Pflicht getan. Ihre Moral sei aber immer eine Quelle der Besorgnis geblieben, wenn sie mit ansehen mußte, wie fremde Truppen ihre Mitbürger unterdrückten
Kirkpatrick ging etwas später auf die Unruhen außerhalb Berlins ein, wobei er von 30 größeren Städten und noch mehr Streikbewegungen berichtete. Danach zeigten die Komitees trotz anfänglicher Sachbeschädigungen ein beachtliches Maß an Selbstdisziplin, was größere Sabotageakte vermeiden half. Der Widerstand der VP war geringfügig und wirkungslos. Die sowjetischen Truppen erschienen am 17. Juni, zuerst leicht bewaffnet, dann mit Panzern. Die Lage wurde dadurch rasch unter Kontrolle gebracht und die Arbeit am 19. Juni wiederaufgenommen. Das Ausmaß der Opfer war nicht so hoch, wie ursprünglich erwartet. Eine große Zahl von Arbeitern, die in die Streiks verwickelt waren, sei jedoch inhaftiert worden, obwohl die Regierungspropaganda vorgegeben hatte, daß jene von westlichen Provokateuren getäuscht worden seien. Für über 100 Orte, eingeschlossen ländliche Bereiche, wurde die Verhängung des Kriegsrechts bestätigt. Kirkpatrick hielt es für wahrscheinlich, daß der Ausnahmezustand für die gesamte Zone erklärt worden war. Größere VP-Einheiten wurden aus der Feme, u. a. aus Magdeburg, nach Berlin abgezogen, spielten aber nur eine geringfügige Rolle bei der Niederschlagung der Unruhen. Die Berichte über Passivität und Desertion von VP waren zahlreich. Die KVP schien noch weniger effektiv zu arbeiten, aber es gab keine Hinweise von Überläufern. Im allgemeinen schien diese vergleichsweise nur wenig zum Einsatz gekommen zu sein, lediglich 2 000 bis 3 000 seien nach Berlin abkommandiert worden Nach einem Bericht vom Juli 1953 hatte es aber auch während des Aufstandes ernsthafte Unruhen und Disziplinlosigkeiten in der KVP gegeben. Kirkpatrick hatte Informationen aus Pasewalk erhal-ten, dem Hauptquartier des Ersten Korps der KVP, wonach sich die Sowjets im Ernstfall nicht auf diese Einheiten verlassen könnten
III. Die Sowjets und die SED während des 16. /17. Juni
Über die Hintergründe des 17. Juni 1953 gab es zunächst wenig Klarheit. In Frage kam nicht nur eine sowjetische Initiative sondern auch eine der SED, ja sogar die SPD wurde verdächtigt. Am 18. Juni hatte der britische Botschafter in Paris, Oliver Harvey, an das FO telegrafiert, daß Berichte des französischen Hochkommissars, Andrö Frangois-Poncet, zur Erkenntnis geführt hätten, daß die Sowjets zunächst die Vorgänge duldeten, wenn nicht sogar unterstützten, freilich ohne damit zu rechnen, daß sich hieraus Gewalt entwickeln und diese größere Dimensionen annehmen könnte. Sie hätten dabei einkalkuliert, daß eine kleine Demonstration gegen die wirtschaftlichen Maßnahmen des ostdeutschen Regimes zum Ausdruck bringen könnte, daß nun die Möglichkeit zu freier Meinungsäußerung bestünde und die Lebensbedingungen so verbessert wären, daß dadurch die bei ihnen in Ungnade gefallenen deutschen Funktionäre ihrer Ämter enthoben würden. Die offiziellen Vertreter, mit denen Harvey diskutieren konnte, meinten, daß die jüngsten Entwicklungen die sowjetische Position bei weiteren möglichen Verhandlungen mit dem Westen wohl schwächen und gleichzeitig Initiativen zu einer Entspannung erschweren würden Die Nachricht, wonach die Sowjets den „Arbeiteraufstand“ inszeniert hätten, stammte laut FO vom Leiter des Bundesverfassungsschutzes, Otto John, der nicht daran glaubte, daß die SPD ihre Hand im Spiel gehabt hatte, dagegen die ursprüngliche Demonstration für ein abgekartetes Spiel der Sowjets hielt, welches darauf abgezielt hätte, sich der SED zu entledigen. Diese Ansicht wurde jedoch von Patrick F. Hancock bezweifelt: In komplizierten Manövern wie diesen zeigten die Sowjets keine nachsichtige Verhaltensweise; viel wahrscheinlicher sei, daß sich die Aufruhrgeschehnisse spontan ereignet hätten. Rätselhaft blieb aber, warum die Polizei im östlichen Sektor nicht eingegriffen hatte, als die Demonstrationen begannen. Am 20. Juni hielt Frank Roberts fest, daß die „put-up-job“ -Hypothese in den neu eingelaufenen Berichten wieder fallen gelassen wurde Tatsächlich intervenierten die Sowjets spät und offensichtlich widerwillig, nach Unterbrechung ihrer Sommer-Übungen aber mit um so überwältigenderer Gewalt. Die put-upjob-These wurde nicht nur in Paris erwogen. Am 20. Juni ermittelte die österreichische Delegation in Berlin daß „eine ursprünglich von den Sowjets geplante Protestaktion 4 der Bauarbeiter in eine allgemeine spontane Erhebung übergegangen“ sei. Man rechnete „mit einer Auswechslung der Pankower Garnitur, wie sie schon ohnedies von den Sowjets auf Grund der . gelenkten 4 Protestaktionen geplant war“. Von den Streikenden lagen Mitteilungen vor, „wonach auf jeden Fall weiter zu streiken die Absicht besteht“, wobei „nachdrücklich der Hoffnung Ausdruck gegeben“ wurde, „daß eine aktive Hilfe aus Westberlin kommt“ „Die Frage, ob die gesamte Aktion einschließlich der Gegebenheiten der letzten zwei Wochen und der gemachten Zusicherungen in die Konzeption der Machthaber [d. i. DDR, Anm. M. G ] zu bringen sei, werde in gut informierten Kreisen verneint.“ Die Version laute dagegen, daß die Gesamtkonzeption in Moskau eine Wendung in der Politik in Deutschland wie in Österreich vorgesehen habe. Am Ballhausplatz wurde deshalb angenommen, daß Moskau ursprünglich beabsichtigt haben dürfte, „einen . geplanten 4 Protest der Bauarbeiter zu inszenieren, der die Lockerung verschiedener Gewerkschaften [sic! ] und die Absetzung der verantwortlichen Spitzen-Funktionäre der SED hätte nach sich ziehen sollen“. Diese Aktion sei aber in „einer allgemeinen Volkserhebung untergegangen“. Inzwischen hätten die Sowjets den Aufstand „vollständig erstickt“. Zusammenfassend wurde festgestellt: „Die Arbeit dürfte in der DDR bald wieder aufgenommen werden, da keine einheitliche Streikorganisation vorhanden ist und West-Berlin die erhoffte Schützenhilfe nicht geleistet hat.“ Es sei damit zu rechnen, daß die Rädelsführer bestraft würden und alle Schuld an den Ereignissen auf westliche Provokateure geschoben werde. Die Lage der DDR-Bevölkerung habe sich durch den Aufstand nicht geändert
Am 27. Juni fand ein Treffen der Alliierten Hohen Kommissare statt, bei dem Frangois-Poncet, der den Vorsitz führte, erneut seine Theorie erläuterte, daß die Aufstände in Berlin im Einverständnis mit den Sowjets abgelaufen seien. Er ging noch einen Schritt weiter und argumentierte, daß die ursprüngliche Demonstration der Bauarbeiter von den ostzonalen Behörden sowohl organisiert als auch genehmigt war: Als Beweis führte er an, daß die VP hierbei inaktiv war und mit den Demonstranten in , weiser 4 Voraussicht übereinzustimmen schien, daß Minister Fritz Selbmann eine Antwort-rede an die Vertretung des Streikkomitees halten und dabei die Abschaffung der erhöhten Normen ankündigen würde, wahrscheinlich in der Hoffnung, daß dann alles zufriedenstellend enden würde. Frangois-Poncet lieferte als weiteren Beleg, daß die diensthabenden Polizeibeamten außerhalb der Gebäude, vor denen sich die Demonstranten versammelten, gewöhnlicherweise bewaffnet seien, aber an diesem 16. Juni keine Waffen getragen hätten. Seiner Auffassung nach war klar, daß die Demonstration „quickly changed its nature and got out of hand“ und die Bevölkerung sich ihr anschloß, um Gefühle auszudrücken, die sie lange zurückgehalten hatte. Auch John hielt weiter an seiner Version fest, daß die Unruhen von den Sowjets angeregt worden seien, um einen späteren Vorwand zum Austausch des gegenwärtigen ostdeutschen Regimes zu haben
Schließt man eine solche Inszenierung oder Provokation nicht von vornherein aus, ist zu überlegen, wer diese ausgelöst hat und welche Motive dabei maßgeblich waren. Allgemein läßt sich sagen, daß die Großbaustelle Stalinallee, als „erste sozialistische Straße“, der prädestinierte Ort war, den „Aufruhr“ wirksam in Szene zu setzen. Die lange Straße eignete sich gut als Startrampe für eine De-monstration die von den anliegenden Baustellen Zuzug erhalten konnte. Hier ließ sich problemlos ein Bauarbeitertrupp finden, der als besonders renitent galt und durch die krasse Kürzung von 50 Prozent des Lohnes förmlich auf die Barrikaden getrieben werden konnte. Die entscheidenden Fragen bei diesen Überlegungen lauten: Waren es die Sowjets, die einen Vorwand suchten, um sich Ulbrichts zu entledigen? Eine solche Auffassung wurde von französischen und österreichischen Beobachtern geteilt. Oder war es gar Ulbricht der die Ereignisse provozierte und dabei seinen „Protektoren“ zuvorgekommen ist? Wenn solche Aspekte auch nicht belegbar sind, ist dennoch erwägenswert, ob Ulbricht die Hand mit im Spiel gehabt hatte, um entweder die „Zustimmung“ der Bauarbeiter zum „Neuen Kurs“ zu „demonstrieren“ und mit einer „großzügigen Geste“ den „Protestierenden“ ostentative Konzilianz zu erweisen oder -was wahrscheinlicher sein dürfte -den „Neuen Kurs“ mit diesem „Aufruhr“, der aufgrund der explosiven Lage in der DDR Massenformen annehmen sollte, zu diskreditieren und dabei parteiinterne Gegner zu verdrängen, die diesen Kurs propagierten?
Ulbricht mußte sich hier aber im klaren gewesen sein, daß er ein Vabanquespiel eingehen und bei Eskalierung der Proteste eine sowjetische Intervention bevorstehen würde. So lange für diese Annahmen jedoch keine Beweise vorliegen, sind sie spekulativ, wobei zu fragen ist: Warum blieben die Arbeiter von den Lockerungen des „Neuen Kurses“ ausgenommen? Warum erfolgte für die Bauarbeiter in der Stalin-Allee neben der avisierten Normenerhöhung um zehn Prozent am 16. Juni eine zusätzliche Kürzung der Löhne um die Hälfte? Warum blieb die VP an den Ministerien unbewaffnet? Warum hielten sich VP und KVP am 16. Juni so auffallend zurück? Wie ist Selbmanns unmittelbar auf die ersten Aufruhrereignisse folgende Rede zu interpretieren? Wie auch immer die Fragen zu beantworten sind, das Büro des britischen Hochkommissars teilte die Ansichten Francois-Poncets nicht: Spätere Berichte hätten gezeigt, daß es sich um Streiks handelte, in einigen Fällen auch um Unruhen, in verschiedenen Teilen der Zone sogar schon vor dem 16. Juni. Deshalb schien es dem FO kaum glaubhaft, daß die Sowjets sich auf die kalkulierte Gefahr einlassen würden, Demonstrationen zu inszenieren, besonders in Ostberlin, wo sie sich bei einem unerwünschten Ausgang der Kritik seitens des Westens auf das gescheiterte Unternehmen ausgesetzt hätten.
Mit Blick auf Johns Standpunkt sah der britische Berichterstatter Charles Johnston kein Anzeichen eines Wechsels in der ostdeutschen Regierung: Führende Mitglieder hätten kürzlich Selbstkritik geübt und Versprechungen abgegeben, den Forderungen der Arbeiter entgegenzukommen. Es wäre wenig sinnvoll, wenn die Sowjets vor den Demonstrationen die Entfernung der Regimevertreter planten, um nach den Demonstrationen zu entscheiden, an ihnen festzuhalten Am 1. Juli berichtete die britische Botschaft aus Moskau, daß es, ausgehend von der Art, wie die Neuigkeiten in der sowjetischen Presse behandelt wurden, keinen Anlaß dafür gebe, die Theorie aufrechtzuerhalten, daß die sowjetischen Regierungsbehörden die Demonstrationen in ihrer Zone mit der Absicht gefördert hätten, die ostdeutsche Regierung in Mißkredit zu bringen. Schließlich habe am 30. Juni das ZK der KPdSU Walter Ulbricht „brüderliche Geburtstagsgrüße“ gesandt. So vage die auf dem nachträglichen sowjetischen Presseecho zum 17. Juni basierende Entkräftung der „put-up-job“ -These letztlich war -die Idee, daß die Sowjets Aufstände riskiert hätten, um die ostdeutsche Regierung zu desavouieren, schien auch im FO „extremely far fetched“: Die gesamte spätere Propaganda der Sowjets zeige, daß sie überrascht worden seien
IV. Die Reaktionen des Westens
In westlich-diplomatischen Kreisen herrschte vor allem über die Spontaneität und Vehemenz der Ereignisse Überraschung, weniger jedoch über die Geschehnisse an sich zumal man über das Ausmaß der Krise in der DDR gut unterrichtet war Verschiedene Mutmaßungen wurden über die Dimensionen des Ausbruchs angestellt. Während die amtlichen Bonner Stellen zunächst schwiegen, wurden von ihren diplomatischen Vertretern durchaus „put-up-job“ -Thesen vertreten. Österreichs Gesandter in Den Haag erfuhr vom bundesdeutschen Botschafter Hans Mühlen-feld zum 17. Juni, „daß die Initiative hierzu von Moskau ausgegangen sein könnte“, zumal „die Moskauer Machthaber, in der Erkenntnis, daß ein Ausweg aus den immer größer werdenden Schwierigkeiten mit einer deutschen, wenn auch nur mit einer , Puppenregierung'nicht gefunden werden könne, einen Vorwand gesucht haben, um die untauglichen Marionetten in der Ost-Zone beiseite zu schieben und an ihrer Stelle zu-mindestens vorübergehend ein Militärregime einzuführen“. Zu den Vermutungen Mühlenfelds wurde am 28. Juni in Wien notiert, daß es sich dabei um eine französische These handle, die „inzwischen überholt“ sei, denn die Revolten in der russischen Zone hätten sich mittlerweile „eindeutig als spontane Volkserhebung erwiesen“ Letzteres mußte aber mit ersterem nicht im Widerspruch stehen, ja konnte sich (wie Frangois-Poncet annahm) durchaus miteinander vertragen
Am 19. Juni brachte Winston Churchill gegenüber Sir William Strang seinen Ärger darüber zum Ausdruck, daß die Hohen Kommissare einen Protest gegen das sowjetische Vorgehen ausgesprochen hatten, „without informing us beforehand“. Er fragte, ob es Hinweise gebe, daß die Sowjets der Ostzone erlaubt haben sollten, in Anarchie und Aufruhr zu verfallen. Er habe den Eindruck, daß die Sowjets angesichts der anwachsenden Unruhen mit erstaunlicher Zurückhaltung agierten Strang gab in seiner Antwort zu erkennen, daß die Hohen Kommissare und der Stadtkommandant schwerwiegende Gründe hatten, rasch zu handeln, besonders, da es notwendig gewesen sei, die natürlicherweise aufgeregte deutsche Öffentlichkeit in Berlin und der Bundesrepublik Deutschland zu kontrollieren und zu zeigen, daß die verantwortlichen westlichen Behörden in Berlin ihr Bestes tun würden, um die Bevölkerung in ihrem Bereich zu schützen und die Sowjets von fortgesetzten Repressionen abzuschrecken, die mit weiteren Menschen-verlusten verbunden wären Die Dinge könnten jedoch nicht so bleiben, wie sie seien, wobei er auf Adenauers Telegramm an Churchill vom 22. Juni 1953 verwies, der darin „for some action on our part“, nämlich „some public reaffirmation of our position“ gebeten hatte Adenauer war über die Vorgänge nicht sofort im Bilde gewesen. In der Sitzung des Bundeskabinetts vom 17. Juni empfahl er für die am Nachmittag stattfindende Plenarsitzung des Bundestages eine Erklärung der Bundesregierung „zu den Ereignissen in Berlin“. Seine Stellungnahme im Rundfunk, „sich nicht durch Provokationen zu unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen“, empfanden Zeitzeugen in der DDR „als Katastrophe“. Man war „ratlos und schwer enttäuscht“ Sein Telegramm an Churchill schloß mit einem Satz, der die Ausweg-und Hilflosigkeit seiner Wiedervereinigungspolitik deutlich werden ließ: „Helfen Sie den Menschen ein freiheitliches, menschenwürdiges Dasein zu verschaffen und dem ganzen Deutschen Volk Einheit und Freiheit zurückzugeben, damit es dem Frieden Europas dienen kann.“ Einen Tag später erlitt Churchill einen Schlaganfall. Seine ambitionierte Deutschland-initiative vom 11. Mai, die auf einen Gipfel der „Großen Drei“ abgezielt hatte, war -abgesehen von Washington, Paris und Bonn -auch aufgrund wachsenden Widerstandes im FO wie im britischen Kabinett kaum mehr durchsetzbar Strang war sich der Problematik der Lage Adenauers bewußt, der in erster Linie an die kommenden Wahlen dachte: Wenn er seine Freunde nicht zu gemeinsamen, tatsächlich dürftigen („poor indeed“) Ratschlägen zur Zurückhaltung mit letztlicher Ermutigung der Bevölkerung von Ostberlin und der Sowjet-Zone bewegen könne, würde dies für ihn nachteilige Rückwirkungen auf die bevorstehenden Wahlen haben. Von der britischen Hochkommission empfahl Jack Ward, die Alliierten auf die Notwendigkeit aufmerksam zu machen, Sympathien mit dem Schicksal der Deutschen im Osten und den Todesopfern sowie ihr Entsetzen vor weiteren Vergeltungsmaßnahmen zum Ausdruck zu bringen. Diese Gesten zu unterlassen würde bei solch einem erregten Zustand angesichts dieser Ereignisse in ganz Deutschland viel Schaden anrichten
Zur gleichen Zeit hielt Staatsminister John Selwyn Lloyd geheim für Churchill fest, daß sich die Grundlinie britischer Deutschlandpolitik angesichts des 17. Juni nicht grundsätzlich geändert habe: „Germany is the key of the peace of Europe. A divided Europe has meant a divided Germany. To unite Germany while Europe is divided even if practicable, is fraught with danger for all. Therefore everyone -Mr. Adenauer, the Russians, the Americans, the French and ourselves -feel in our hearts that a divided Germany is safer for the time being. But non of us dare say so openly because of the effect upon German public opinion. Therefore we all publicly support a united Germany, each on his own terms.“ Kurz darauf erfuhr Österreichs Botschafter in London, Lothar Wimmer, vom FO, „daß die Stellungnahme der britischen Regierung in der Deutschlandfrage sich durch die letzten Ereignisse in keiner Weise geändert habe“. Churchill habe dies auch Adenauer gegenüber klar zum Ausdruck gebracht. Die Abhaltung freier Wahlen sei nach wie vor Voraussetzung für eine definitive Bereinigung des deutschen Problems. Auch für die Bermudakonferenz seien keine neuen Direktiven in Aussicht genommen, so daß unverändert an der Durchführung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft festgehalten werden müsse
Wie es um die Stimmungslage Bonns bestellt war, erfuhren die Briten dann von Hans Schlange-Schö ningen, dem deutschen Geschäftsträger in London, der wissen ließ, daß er über die Situation in Deutschland und die wachsenden Schwierigkeiten, in denen sich Kanzler Adenauer befinden würde, „very alarmed“ sei. Es sei von großer Bedeutung, daß Adenauer in jeder nur denkbaren Form für die Wahlen gestärkt werde. In Anbetracht der Situation in Ostberlin und der Ostzone im allgemeinen glaube er, daß in mancherlei Hinsicht die kürzlichen Ereignisse die Stellung Adenauers stärken würden, aber es dürfe nicht vergessen werden, daß die Deutschen politisch sehr unreif seien und leicht auf ein trügerisches sowjetisches Angebot hereinfallen würden. Schlange-Schöningen gab auch zu verstehen, daß die Russen einen sehr hohen Preis für die deutsche Neutralität zahlen würden, ohne daß dieser allerdings näher erläutert wurde
Die Erhebung kam für die Bundesrepublik und Westberlin überraschend. Bürgermeister Ernst Reuter und sein Stellvertreter waren verreist. Aufwiegelungen, die vom Westen über die Sektorengrenze ausgingen und am 17. Juni beobachtet werden konnten, waren „sporadic and smallscale, due to excess of zeal by Professional propagandists“. Die Anwesenheit von Westberlinern unter den Aufständischen sei unvermeidbar gewesen, da die Arbeiterschaft der beiden Stadt-hälften untereinander immer sehr vermischt sei Während der Unruhen im Ostsektor hatte die Westberliner SPD um Erlaubnis zur Abhaltung von Sympathiekundgebungen nachgesucht. Das Anliegen wurde an die drei Kommandanten weitergeleitet, die es auf Initiative des französischen mit Unterstützung des britischen Kommandanten ablehnten. Nichtsdestotrotz hielt die SPD die Kundgebung ab, die ohne große Schwierigkeiten verlief. Die Kommandanten entschieden sich dann, SPD und Polizeibehörden für ihre Unfolgsamkeit zu tadeln. Dies geschah wieder durch eine Mehrheit von 2: 1 gegen die Amerikaner. Es schien, daß die Rüge schon sehr abgeschwächt war, als sie ihre Adressaten erreichte. Die FO-Spitzenbeamten Coburn B. Kidd und Brewster H. Morris waren sehr überrascht, daß Coleman in dieser „technischen Frage“ die Partei der Franzosen ergriffen hatte. Die Berliner Sozialdemokraten waren nach deren Ansicht ausreichend diszipliniert, um sich der Folgen möglicher Provokationen bewußt zu sein und nichts Un-überlegtes zu tun Die Konflikt-Vermeidungsstrategie gegenüber den Sowjets kam wieder deutlich zum Ausdruck: Jener Grund (u. a. ein die Sektorengrenze abfahrender Lautsprecherwagen, von dem man annahm, daß er der SPD gehörte, der die VP zum Überlaufen aufgerufen und Flugblätter mit SPD-Luftballons verteilt hatte) habe es notwendig erscheinen lassen, „to play safe“: Die Demonstration als solche wurde ja nicht behindert, ausschlaggebend sei aber der Ort gewesen, nämlich genau an der Sektorengrenze. Es sollte nichts geschehen, was sowjetische Vorwürfe über westliche Aufwiegelungsversuche provozieren würde: „It was absolutely essential to make sure that nothing was done which might justify Russian charges of incitement from the West.“
Am 6. Juli bekräftigte Roberts gegenüber Strang nochmals das Hauptziel westlicher Berlin-Politik: „Our general objective in Berlin is to get things back to normal as possible and this is the interest of the Berliners themselves.“ Die Antwort der westlichen Kommandanten sollte so gestaltet sein, daß sie es den Sowjets offen lasse, „to climb down without excessive loss of face while firmly maintaining our own position of principle“ In jedem Fall hätten die kürzlichen Ereignisse „whetted the appetite of all Germans for the reunification of Germany“. Besonders die SPD-Opposition argumentiere nun mit größerer Intensität, daß die Westmächte ihre Pläne für die Integration der westlichen Verteidigungskräfte fallen lassen und weitere Versuche unternehmen sollten, Überein-stimmung mit den Sowjets in der deutschen Wiedervereinigung herzustellen Adenauers Deutschlandpolitik -die nur rhetorisch die Interessen seiner Landsleute im Osten tatsächlich aber jene der Westmächte vertrat -blieb weiter an der „Politik der Stärke“ d. h. konkret am Status quo orientiert In einer Note an den Kreml vom 15. Juli formulierten die Westmächte freie Wahlen in ganz Deutschland und die Bildung einer freien gesamtdeutschen Regierung als zentrale Punkte einer den Sowjets vorgeschlagenen Viermächtekonferenz
Die Reaktionen der Westmächte auf den 17. Juni enthüllten letztlich ihre Konzept-und Planlosigkeit gegenüber Krisenerscheinungen im Sowjetblock in den fünfziger Jahren und entlarvten den rein rhetorisch-propagandistischen Charakter der „Rollback“ -Strategie der Dulles-Eisenhower Administration Nicht nur die sowjetische Intervention beendete die Aufstandsbewegung vom 16. /17. Juni, sondern auch der Eindruck von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Passivität des Westens schwächte die Widerstandskraft der Bevölkerung in der Sowjetzone entscheidend. Dieser Befund mußte für die rebellierenden Ostdeutschen um so bedrückender sein, als die SED-Herrschaft während der Tage um den 17. Juni nicht nur führungslos, sondern tatsächlich nahezu machtlos der kurzfristig breiteste Formen annehmenden Aufstandsbewegung gegenüberstand. Andererseits konnte eine Intervention der Westmächte zu dieser Zeit nicht gefordert und erwartet werden, wenn diese sich selbst noch nicht im klaren darüber waren, wie weit der Kreml die Geschehnisse mit Gesten der Entspannung -auch mit Blick auf den Westen -zu verbinden bestrebt war.
V. Das Scheitern des 17. Juni und die Folgen
Die auf den 17. Juni folgenden Tage brachten eine rasche Klärung der Lage für die Briten. Am 22. Juni wurde geheim berichtet, daß in Ostberlin und wahrscheinlich auch in der übrigen Sowjetischen Besatzungszone alles wieder ruhig geworden sei, obgleich man über entferntere Regionen nicht informiert war. Schrittweise hatten die Sowjets der ostdeutschen Polizei die Gewalt zurückgegeben, aber noch drei mechanisierte Divisionen mit Tanks in den Straßen von Berlin belassen. Alle möglichen Anstrengungen seien unternommen worden, um den in seinen Grundfesten erschütterten kommunistischen ostdeutschen Staat und die Verwaltung -abgesehen von diskreditierten Einzelpersonen -wiederherzustellen. Einschränkungen bezüglich der Bewegungsfreiheit seien vorsichtig gelockert und die Arbeiter mit steigendem Erfolg angetrieben worden, an ihre Arbeit zurückzukehren. Trotz vieler Befürchtungen gab es bisher keinen ernsten Lebensmittelmangel in Berlin Die Ersetzung des ehemaligen SPD-Mitgliedes und Justizministers Max Fechner durch Hilde Benjamin wurde von den Briten als weiterer Hinweis gewertet, daß die SED-Spitze erkannt habe, daß der „Neue Kurs“ ihr leicht entgleiten konnte und daß, unbeschadet einer höheren Politik, die Zügel etwas angezogen werden müßten. Benjamin wurde dem FO „as a fanatical communist“ und „notorious for her severity“ geschildert.
Erst am 21. Juli stand für die Briten fest, daß Ulbricht, dessen Stern in der Partei während der Unruhen im Sinken begriffen war, nun anscheinend mit vollem Einfluß auf die politische Bühne zurückgekehrt sei. Er hatte mittels einer Rede angekündigt, daß eine schärfere Gangart in der Innenpolitik verfolgt werde. Für London war klar, daß die Sowjets der Außenwelt den Eindruck zu vermitteln wünschten, daß die Juni-Ereignisse nicht etwa ihre etwas liberalere Politik gegenüber Deutschland provoziert hätten. Zur gleichen Zeit müßten sie aber offensichtlich jene Behörden des DDR-Regimes wieder installieren. Die nach den Unruhen eingeleiteten repressiven Maßnahmen hätten weder das eine noch das andere Ziel erreicht. Deshalb seien sie in ihrer behutsamen Vorgehensweise bemüht gewesen, den Arbeitern zu zeigen, daß sich Aktivitäten gegen das Regime nicht auszahlten. Ein bemerkenswertes Faktum war für Roberts, daß trotz völligen Versagens der SED samt ihrer Führer wie Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Otto Grotewohl sowjetischerseits keine Anstrengung unternommen wurde, deren persönliche Autorität oder die der SED auf Kosten von mehr Volksfront-Figuren wie Otto Nuschke zu schwächen. Auch Strang glaubte, daß die Russen weniger denn je wüßten, was sie in ihrer Deutschlandpolitik tun sollten. Die britische Politik müßte sich auf ihrer bisherigen Linie bewegen
Das Verhalten der SED und der Sowjets trug nach Ansicht des FO dualistische Züge: Die Wiederaufnahme des „Neuen Kurses“ mit Zugeständnissen an die Bevölkerung lief parallel mit verstärkten Zugriffen seitens der DDR-Behörden. Einerseits mußte ein „positives“ Bild nach außen hin aufrechterhalten bleiben, während es andererseits wichtig war, die Kontrolle über die Bevölkerung wiederherzustellen. Ein FO-Beamter brachte es auf den Punkt: „Soviel policy -the tempo of introducing socialism is slowed down, but the authoritarian structure remains.“ Es schien, daß an der Oberfläche relative Ruhe in der DDR herrschte, die nur durch gelegentliche kleine Streiks und sporadische Demonstrationen unterbrochen wurde, nach Ansicht der Briten war aber die Volksstimmung von Gelassenheit und Zustimmung weit entfernt.
Am 20. August berichtete Wimmer aus London über die britischen Reaktionen auf die sowjetische Note vom 15. August, die darin wieder auf den gesamtdeutsch zu besetzenden Rat zurückgegriffen und auf eine Beteiligung beider deutscher Regierungen an der Ausarbeitung, eines Friedensvertrages hingewiesen hatte. Das FO glaubte weniger an die Absicht Moskaus, damit die deutsche Wählerschaft zu beeinflussen, als vielmehr an dessen Wunsch, dem Regime der DDR „sozusagen eine Stärkungsinjektion zu verabreichen“. Die sowjetischen Vorschläge enthielten „nichts Neues, wirklich Inspirierendes“. Sie hätten ihr Ziel „völlig verfehlt“, sowohl Adenauer als auch Ollenhauer hätten sie „als völlig ungeeignet bezeichnet“. Die Note habe das FO darin bestärkt, „daß die Sowjetunion an einer Lösung des deutschen Problems nicht im geringsten interessiert sei und ängstlich versuche, den , Status quo‘ unter allen Umständen zu halten“, was natürlich in bezug auf Ostdeutschland gelte Sollte dies tatsächlich zutreffend sein, dann waren die Sowjets von der Deutschlandpolitik der Westmächte und Adenauers gar nicht so weit entfernt.
Ulbrichts Position war durch die Demonstrationen des 17. Juni nicht erschüttert worden. Im Gegenteil: Er schien den Kreml überzeugt zu haben, daß die Lage in der sowjetischen Zone zu explosiv sei und es nicht gestatte, weitere Zugeständnisse zu machen. Im FO hielt man es für Ulbrichts vordringlichste Aufgabe, einen neuen 17. Juni zu verhindern. Seine Entlassung würde das entscheidende Zeichen der Sowjets für ihre Bereitschaft sein, über die Wiedervereinigung zu verhandeln
Coleman berichtete gegen Jahresende von der erhöhten Aufmerksamkeit der DDR-Behörden und gesteigerten Aktivität des Staatssicherheitsdienstes (SSD) gegen „Imperialisten“, „Agenten“ und „Spione“. Diese Maßnahmen würden „the genuine belief and fear of the authorities that attempts are constantly being made from outside to undermine the rigime“ widerspiegeln. Diese behördlichen Aktivitäten infolge des 17. Juni gliederten sich gemäß Coleman in drei verschiedene Phasen. Direkt nach dem Aufstand gab es panikartige Verhaftungswellen gegen solche Personen, die in irgendeiner Weise in die Unruhen verwickelt waren. Die Gesamtzahl der Inhaftierten sei nicht bekannt, aber sie dürfte sich auf einige Tausende belaufen. Diese wurden in den meisten Fällen nach einigen Tagen auf freien Fuß gesetzt, was sie ihren Arbeitskollegen verdankten, die fortgesetzt heftige Proteste äußerten, die weitere Streiks einschlossen. Dann folgte eine zweite Phase, in der wenig von Maßnahmen gegen „Staatsfeinde“ zu hören war und die amtlichen Veröffentlichungen den Hauptakzent auf Selbstkritik durch verschiedene Parteiorgane legten und die Notwendigkeit betonten, die mißliche Lage der Arbeiterschaft und anderer Bevölkerungsteile zu lindern. Gegen Ende der zweiten Phase wurde eine Verhärtung der Maßnahmen der DDR-Regierung durch die Ablösung von Fechner, dem vergleichsweise liberalen Justizminister, durch die berüchtigte Hilde Benjamin und des Chefs der Staatssicherheit Wilhelm Zaisser (der in Ungnade gefallen war) durch Ernst Wollweber („a Professional Intelligence man“) spürbar. In der dritten Phase -bald nach der Ernennung Wollwebers am 24. Juli -setzten Maßnahmen nicht nur gegen Personen, die mit dem 17. Juni in Verbindung standen, sondern ge-gen „Staatsfeinde“ aller Klassen und speziell gegen westliche „Geheimagenten“ ein. Für Coleman stand außer Zweifel, daß in den darauffolgenden Wochen die Wachsamkeit des SSD erhöht und die Gegenspionage-Maßnahmen zur Verstärkung der inneren Sicherheit in DDR-Ämtern intensiviert worden waren.
In steigendem Maße würde deutlich, daß die DDR-Regierung und ihre sowjetischen „Meister“ bemüht seien, langfristig die Schäden des 17. Juni zu beheben und die DDR als ein vertrauenswürdiges Mitglied des Ostblocks zu konsolidieren. Die Lektion des 17. Juni sei Beharrlichkeit und Vorsicht. Die gewählte Vorgangsweise bezeichnete Coleman als eine Politik, die mit „Zuckerbrot und Peitsche“ (the carrot and the stick) arbeite
VI. Fazit
Das Scheitern des Aufstandes nützte allen Gegnern eines Kompromisses zwischen Ost und West; es half jenen, die an der Erhaltung ihrer Positionen und somit am Status quo interessiert waren. An erster Stelle diente es Ulbricht, der sich ä la longue retten und seine Stellung durch den Sturz der „Verschwörergruppe“ Zaisser-Herrnstadt festigen konnte. Bei den Sowjets dürfte sich in weiterer Folge die Ansicht durchgesetzt haben, die angekündigte Liberalisierung in der DDR nicht weiter zu forcieren, an Ulbricht wieder festzuhalten und das SED-System nicht fortgesetzt zugunsten einer gesamtdeutschen Vereinbarung mit dem Westen preiszugeben. Daneben half der 17. Juni auch Adenauer (der die sowjetischen Entspannungsbemühungen der Frühjahre 1952/53 ignorierte bzw. äußerst skeptisch beurteilte), zumal er sich in der „Richtigkeit“ seiner Politik bestätigt sehen und angesichts der sowjetischen Repressionen in der DDR mit fortdauernder Unterstützung der SED intern noch überzeugender als bisher von Vier-Mächte-Gesprächen abraten konnte, wenngleich er aus taktischen Gründen öffentlich solche forderte Der 17. Juni stärkte Adenauer -für den die Wiedervereinigung visionäres Langzeitziel war -sowohl in seinem Bündnis mit den Westmächten als auch in innenpolitischer Hinsicht, wie die Wahlen vom 6. September unter Beweis stellten. Mit dem 17. Juni war Churchills Vorschlag vom 11. Mai, auf höchster Ebene mit dem Kreml ein Arrangement über ein neutralisiertes Gesamtdeutschland zu erzielen die Grundlage entzogen.