I. Einleitung
„Zum ersten Mal kann heute in der DDR die historische Wahrheit über das Geschehen vom 17. Juni 1953 ausgesprochen werden. Vorbei die Zeit, da der Arbeiteraufstand nach Lesart der SED als , konterrevolutionärer Putschversuch‘ diskreditiert werden konnte. Mit diesen Worten begann K. W. Fricke 1990 seinen Beitrag in der damalig noch DDR-Zeitung „Der Morgen“. Sicher ist, daß sich viele, vor allem Beteiligte in der DDR, mit der Wende eine objektive Aufarbeitung der Arbeitererhebung erhofften. Die Auffassungen in der Bundesrepublik waren zumeist aus Rundfunk und Fernsehen bekannt, ein Buch darüber in die Hände zu bekommen jedoch weit schwieriger. In der DDR, in der die Haltung zu den Unruhen 1953 lange Zeit als Gradmesser der politischen Zuverlässigkeit und damit der beruflichen Entwicklung galt, hatte man das Ereignis zumeist verdrängt.
Selten erfuhr ein historisches Datum in der deutschen Geschichte eine so unterschiedliche Darstellung und Wertung, wie sie in den Publikationen des ost-und des westdeutschen Staates über die Arbeitererhebung im Sommer 1953 in der DDR nachzulesen sind. Die Perzeption des 17. Juni wurde bis 1989 zum Spiegelbild der ideologischen Auseinandersetzung zweier sich gegensätzlich entwickelnder Staaten auf deutschem Boden. Politische Prämissen prägten das Herangehen an das Ereignis. Diese entsprachen sowohl dem Charakter als auch dem Weltbild des jeweiligen Staates und wirkten gleichzeitig als unterschiedlich starke Bandagen für die wirklich wissenschaftliche und an der Objektivität gemessene Wertung der Ereignisse. Entsprechend fielen Analysen, so sie überhaupt möglich waren, sehr unterschiedlich aus.
Hier soll nun eine Untersuchung vorgenommen werden, die vor allem, bezogen auf das DDR-Geschichtsbild über den-17. Juni 1953, Entwicklungsrichtungen der Deutung in ihr ideologisches Umfeld stellt. Eine solche Betrachtung bliebe jedoch einseitig, würde nicht auch auf die Darstel-lungsweise im anderen deutschen Staat eingegangen werden. Es ist nicht nur dem Historiker offensichtlich, wie sehr sich Politik und Ideologie beider deutscher Staaten aufeinander bezogen, wie tiefgreifend die Divergenz den Umgang mit der Geschichte prägte.
Für den sich sozialistisch nennenden Staat im Osten Deutschlands war der 17. Juni 1953 ein Beispiel „imperialistischer Machenschaften“ im Kalten Krieg, ein von außen inszenierter konterrevolutionärer Putschversuch unter Verführung eines kleinen Teils der Arbeiterschaft gegen „ihren“ fortschrittlichen Staat. Das Bild vom 17. Juni wurde durch die Historiographie letztlich eingepaßt in eine Weitsicht von Gut und Böse, in der die „überlebte kapitalistische Gesellschaftsform“ nichts unversucht lasse, um mit Putsch und Krieg ihren drohenden Untergang zu verhindern, das leuchtende Fanal „Sozialismus“ zu beseitigen. Dementsprechend war in den Geschichtslehrbüchern der DDR ähnlich dem angeführten Beispiel zu lesen: „Am 17. Juni 1953 gelang es Agenten verschiedener imperialistischer Geheimdienste, die von Westberlin aus massenhaft in die Hauptstadt und einige Bezirke der DDR eingeschleust worden waren... einen kleinen Teil der Werktätigen zu zeitweiligen Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen zu verleiten... Durch das entschlossene Handeln der fortgeschrittensten Teile der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, gemeinsam mit sowjetischen Streitkräften und bewaffneten Organen der DDR, brach der konterrevolutionäre Putsch innerhalb von 24 Stunden zusammen. “
Das Stereotyp der Lehrbuchdarstellung entsprach den Leitlinien der offiziellen Darstellung des 17. Juni in den Medien und in der Historiographie, die vorgegeben wurden in den Publikationen des Instituts für Marxismus/Leninismus (IML) in Berlin. Die hier geschilderte Sicht der Ereignisse ist bereits eine modifizierte, beeinflußt durch den innerdeutschen und internationalen Entspannungsprozeß und die Entwicklungen in der DDR. Wen-den wir uns vorerst der Entstehung der Auffassungen über die Juni-Erhebung in der DDR zu.
II. Zur Genesis der ostdeutschen Einschätzung des 17. Juni 1953
Die Herkunft der These vom konterrevolutionären Putschversuch ist in den Archivalien des Zentralen Parteiarchivs der SED (ZPA) nachvollziehbar. Am 17. Juni erreichten die SED-Zentrale in Berlin aus allen Bezirken der Stadt sowie aus den Bezirken und Kreisen der DDR unzählige Berichte Sie zeigen deutlich die Unzufriedenheit der Arbeiter mit der sozialen Lage in der DDR und der Politik der SED. Letztere empfand die Mehrheit der DDR-Bürger nicht als eine im Sinne der Bevölkerung. Sich diesen Berichten zu stellen hätte bedeutet, tiefgreifende Schlußfolgerungen für die DDR-Politik sowie für die Staats-und Parteiführung ziehen zu müssen. Die SED hatte das Vertrauen eines Großteils der Bevölkerung verloren. Die ca. 500000 streikenden und demonstrierenden Arbeiter repräsentierten durchaus eine Mehrheit der Arbeiterschaft, setzt man sie in Bezug zu der Spontaneität des Massenprotestes und der geringen Zeit, die der Bewegung zu ihrer Ausprägung blieb. Hinzu kommt, daß die Arbeiter fast ausschließlich aus der „volkseigenen Industrie“ kamen, dem Teil der Industrie, von dem die SED glaubte, ihn auch ideologisch am besten zu beherrschen.
Damit stand die Erhebung in krassem Gegensatz zur marxistisch/leninistischen Theorie, die eine gesetzmäßige Interessenübereinstimmung zwischen Arbeiterklasse, Bauernschaft und der allein regierenden sozialistisch/kommunistischen Partei konstatierte. Dies hätte jedoch die Lehren des Leninismus von der Einheit und Unzertrennbarkeit von Arbeiterklasse und ihrer kommunistischen Partei negiert und zugleich den gesamten Automatismus von Gesetzmäßigkeiten in der sozialistischen Gesellschaftstheorie in Frage gestellt. Jederzeit drohte der 17. Juni in seiner tiefschürfenden Analyse das gesamte Geschichtsbild der DDR aus den Angeln zu heben.
Bereits in den Nachmittagsstunden des 17. Juni 1953, in denen die führenden Funktionäre der SED den Vertretern der Blockparteien ihre Sicht der Tagesereignisse diktierten prägte die SED-Führung das Bild vom konterrevolutionären Um-sturzversuch. Am Morgen des 18. Juni 1953 beauftragte Ulbricht in einer Sekretariatssitzung des Zentralkomitees der SED eine Kommission (H. Axen, K. Schirdewan, O. Schön und E. Bau-mann), eine entsprechende Darstellung aus den Meldungen zu entwickeln Leitlinie sollte der Artikel des „Neuen Deutschland“ vom 18. Juni sein. Prononciert mußten Zerstörungen und Sabotageakte geschildert werden. Auch das Ziel war klar formuliert: „Sobald die Menschen Kenntnis von den Banditenakten haben, treten sie offen für die Regierung und für die Sowjetarmee ein.“
Außerdem sollte das Eingreifen der russischen Truppen als eine Tat zur Friedenserhaltung geschildert und Stellungnahmen aus der Bevölkerung mit einem Bekenntnis für die SED und die Regierung der DDR gesammelt und publiziert werden.
Das nunmehr verbreitete Bild folgte den Argumentationslinien der SED seit ihrer Gründung und läßt sich wie folgt charakterisieren: Auf dem einst einheitlichen deutschen Territorium waren zwei deutsche Staaten mit grundverschiedenen Gesellschaftssystemen entstanden: die fortschrittliche DDR, im sozialistischen Friedenslager unter der Führung der UdSSR verankert und in ihrer Politik nach Frieden, sozialistischem Aufbau zum Wohle des deutschen Volkes und nach demokratischer Wiedervereinigung strebend; dem gegenüber die Bundesrepublik, ein imperialistisches Deutschland in der Nachfolge des III. Reiches, das remilitarisiert als die Speerspitze des USA-Imperialismus und seiner Weltherrschaftspläne in Europa fungieren sollte.
Im Westen Deutschlands seien durch die Adenauer-Regierung die Pläne zur Einverleibung der DDR und zur Beseitigung der antifaschistischen/sozialistischen Errungenschaften seit langem vorhanden. Als Beispiel wurde gern der 1952 neu gebildete Forschungsbeirat für gesamtdeutsche Fragen mit seinen Planspielen zum Tag X, dem vermuteten ökonomischen und politischen Zusammenbruch der DDR, angeführt * N* i*cht ungeschickt ordnete man unausgedeutete oder überbewertete Tatsachen in das Bild einer gesetzmäßigen Auseinandersetzung zwischen den Gesellschafts-Systemen ein Wirtschaftliche Disproportionen aus der Teilung Deutschlands, Wirtschaftsembargos von seiten Westdeutschlands, Abwerbungen sowie Sabotage und Spionage zur Störung der Warenproduktion gehörten dazu. Sie vor allem hätten die ökonomischen Probleme der DDR 1952/53 verursacht. Der „Neue Kurs“, mit dem auch fehlerhafte Entscheidungen der SED zur Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung beseitigt worden waren, drohte die Pläne der westdeutschen Kriegstreiber zu vereiteln, weswegen sie überhastet, die Unzufriedenheit eines kleinen Teils der Arbeiter ausnutzend, den vorbereiteten „Tag X“ am 17. Juni inszeniert hätten.
Repräsentativ für eine im unmittelbaren Eindruck der Unruhen noch relativ „moderate“ parteiinterne Auffassung ist das Kommunique der 14. Tagung des ZK der SED vom 21. Juni 1953, welches deutlich die Handschrift des ZK-Mitglieds R. Herrnstadt trägt. Das Grundmuster des von langer Hand vorbereiteten „Tag X“ ist erkennbar. Es paßte in die von Stalin verkündete Theorie vom sich permanent verschärfenden Klassenkampf und entsprach der Grundüberzeugung der Kommunisten. Allerdings ist die Sicht auf die eigenen Fehler der SED noch recht deutlich. Hier heißt es u. a.: „Der Gegner benutzte zur Auslösung seiner Provokation die Mißstimmungen einiger Teile der Bevölkerung, die durch die Folgen unserer Politik im letzten Jahr entstanden waren... die Arbeitsniederlegungen ehrlicher Bauarbeiter durch Hetzlosungen in eine Demonstration gegen die Regierung umzufälschen und dieser Demonstration durch Brandstiftungen, Plünderungen und Schießereien den Charakter eines Aufruhrs zu geben. “
Die Protestbewegung wird nunmehr, um Differenzierung in der Arbeiterschaft und die Lossagung der Bevölkerung von den Unruhen bemüht, in „ehrliche, um ihre Interessen besorgte Werktätige, die zeitweilig den Provokateuren Gehör schenkten -und die Provokateure selber“ unterteilt. Die „ehrlichen Arbeiter“ hätten, zwar zeitweilig irregeleitet, „deswegen nicht aufgehört, ehrliche Arbeiter zu sein, und sind als solche zu achten“
Zur Entstehung dieser Argumentationen in der Parteispitze ist bislang quellenmäßig nichts abgesichert. Überliefertes basiert auf den Erinnerungen H. Brandts. Er bezieht sich auf eine Diskussion mit H. Jendretzky die hier wegen ihres bezeichnenden Bildes auszugsweise wiedergegeben werden soll. Jendretzky erklärte Brandt das Zustandekommen der Version des „Tages X“ wie folgt: „Die Partei hat versagt, die , Freunde'mußten durchgreifen, waren zu einer militärischen Aktion herausgefordert. Sie hätten sonstihr Gesicht verloren. Es ist noch ein Glück, daß die drüben schon immer von einem Tag Xgeschwafelt haben, sonst hätten wir ihn erfinden müssen. Begreif doch, es muß ein Verbrechen, ein kriminelles Verbrechen Vorgelegen haben, damit der Panzereinsatz moralisch, politisch gerechtfertigt erscheint... wir haben konstruiert, wir haben uns vor unsere Freunde gestellt, die mit ihrem Eingreifen schließlich die Partei, die DDR gerettet haben. Den Tag X haben die Freunde von uns verlangt.
Nach allen vorliegenden Quellen scheint der Schluß berechtigt, daß es solche Auffassungen in der SED-Führung durchaus gegeben hat. Häufig findet sich jedoch ein blauäugiger Glauben an den Putsch von außen, weil diese Erklärung den SED-Funktionären besonders der mittleren und unteren Ebenen wahrscheinlicher anmutete als ernsthafte Fehler der Staatspartei und eine tiefe Kluft zwischen dieser und der Bevölkerung. Die SED und mit ihr die Masse ihrer Funktionäre hatte sich mit ihrem Anspruch auf die absolute Wahrheit und die ständigen Belehrungen der Arbeiter weit vom Denken und Fühlen in der Bevölkerung entfernt.
Mit der beginnenden Stabilisierung der Lage in der DDR etwa ab dem 20. Juni 1953 flössen in die Auffassungen der SED-Führung Erkenntnisse aus Diskussionen ein, die von Funktionären mit Arbeitern in den Betrieben geführt worden waren. In diesen zeigte sich, daß die Arbeiter auch aufgrund der ZK-Resolution nicht bereit waren, sich von ihren Forderungen zu distanzieren. Sie leiteten ihr Streikrecht aus der gültigen DDR-Verfassung von 1949 her und verteidigten den Weg, ihren Willen durch Demonstrationen kundzutun, da die Funktionäre in den Betrieben sie bisher nur agitiert, jedoch nicht angehört hätten Die Demonstrierenden distanzierten sich von den Ausschreitungen, insbesondere dann, wenn die Ereignisse mit „faschistischem Gebaren“ in Verbindung gebracht wurden. Diese Wirkung machten sich die Zeitungen und später auch die Geschichtsschreibung der DDR zunutze, um die Verwerflichkeit anfänglich der Gewaltakte, später der ganzen Erhebung festzuschreiben. So finden sich vom 18. Juni 1953 an in der Zeitung „Neues Deutschland“, dem Sprachrohr der SED, Schilderungen, die den äußeren Einfluß von westlichen Agenten und Provokateuren sowie „faschistischer Elemente“ deutlich machen sollten. Im journalistischen Stil, dem andere Zeitungen der DDR nachfolgten, wurden Haß und Abneigung gegen die „imperialistischen Agenten“, die „Dreigroschen-Jungs“, die „gekauften Subjekte“ und „faschistischen Elemente“ erzeugt. Faschistische Tendenzen mühte man sich an Einzelerscheinungen nachzuweisen. Insbesondere das Beispiel der aus einem hallischen Gefängnis mitbefreiten KZ-Aufseherin E. Dorn schien geeignet, eine Führungsrolle von NSDAP-Mitgliedem und NS-Funktionären zu bezeugen. Frühere Wehrmachts-oder NSDAP-Zugehörigkeit diente bei den „Rädelsführern“ als Beleg einer „faschistischen Gesinnung“ Diese und eingeschleuste Agenten wurden nun als Träger der Unruhen und Ausschreitungen letztendlich für den gesamten 17. Juni verantwortlich gemacht. Das lief auf den durchaus wirksamen Versuch hinaus, die Arbeiter von ihrer eigenen Erhebung zu distanzieren. Gleichzeitig entstand die juristische Wertung des 17. Juni, mit welcher (nach der Absetzung Fechners als Justizminister die Verurteilungen von Streikleitungen und anderen an der Erhebung Beteiligten als gerechtfertigt erscheinen sollten. Die Stellung zum 17. Juni 1953 war fortan für lange Zeit mitentscheidendes Kriterium für die persönliche Entwicklung vieler Menschen in der DDR.
Nachdem Ulbricht und seine Anhänger ihre Macht wieder konsolidiert hatten, brach Ulbricht die Auseinandersetzung um die Ursachen des 17. Juni 1953 abrupt ab. Auf der 15. Tagung des ZK der SED legte er in seiner Rede den Kurs zur Behandlung des 17. Juni fest: Eine weitere Fehlerdiskussion schwäche die SED und gefährde den Aufbau in der DDR Gleichzeitig entledigte er sich der Kritiker seiner dogmatischen Parteipolitik W. Zaisser und R. Herrnstadt Damit waren die ent scheidenden Signale für die künftige Darstellung des 17. Juni 1953 gegeben. Die historiographische Interpretation der 15. Tagung läßt sich in der 1969 erschienenen „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ nachlesen: „Mit diesen Feststellungen wandte sich die Parteiführung zugleich gegen eine , Fehlerdiskussion', die feindliche und schwankende Elemente der SED der Bevölkerung aufzwingen wollten, um sie vom Kampf für die Einheit Deutschlands und vom Aufbau des Sozialismus in der DDR abzulenken. “
III. Die Perzeption des 17. Juni 1953 in der Historiographie
Eine offizielle Analyse der Arbeitererhebung vom Juni 1953 nahm die sich seit Ende der fünfziger Jahre nennenswert entwickelnde DDR-Historiographie nicht vor. Die Thematik als solche fand fast nur in Gesamtdarstellungen zur Geschichte der DDR Eingang. Allgemein wurden aus der Vielschichtigkeit der Aktionen und Ereignisse jene Tatsachen herausgegriffen und zusammengezogen, die den durchaus im Gefüge des Kalten Krieges vorhandenen Einfluß von außen verdeutlichten. Demzufolge konzentrierten sich die Aussagen der DDR-Historiographie insbesondere auf die Berliner Ereignisse und münzten das Besondere der Erhebung in der geteilten Stadt mit der aktiven Teilnahme von Westberlinern und dem großen Medieneinfluß von außen in das Allgemeine der Juni-Unruhen in der DDR um. In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten von St. Doernberg und W. Horn zu nennen. In ihren Abhandlungen bemühten sich die Autoren um einen Nachweis des von außen gesteuerten konterrevolutionären Putschversuchs. Insbesondere bei Horn ist eine Schwerpunktsetzung auf den „faschistischen“ Charakter der Arbeitererhebung sehr deutlich. In ihrer Beurteilung und Wertung hielten sich die Darstellungen an die Vorgaben der SED-Zensur. Als die historische „Leiteinrichtung“ fungierte dabei das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Hier verfügte man über die wesentlichsten Quellen der SED-Politik, die nur wenigen anderen Historikern zugänglich waren. Einige Mitarbeiter dieses Hauses fungierten gleichzeitig als Mitglieder des Zentralkomitees. Hier las man Arbeiten aus der ganzen DDR, „schlug“ Änderungen vor und entschied letztlich über die Publikationswürdigkeit mit. Das macht verständlich, warum Publikationen des IML als „der Weisheit letzter Schluß“ gern zitiert wurden, wenngleich mancher mit einem Zitat auch die Verantwortung von sich schob.
Eine der Arbeiten des IML, die „Geschichte der Arbeiterbewegung“ unter der Leitung Ulbrichts aus dem Jahr 1967 ist jedoch unter anderen Gesichtspunkten betrachtenswert. Hier findet die Aufarbeitung der Ursachen der Unruhen vom Juni 1953 doch eine recht „freimütig“ anmutende Abrechnung mit Fehlem der SED, wenngleich man sich ständig um eine Erklärung dieser „Irrungen“ bemüht. Allerdings bleiben diese für den wenig sachkundigen Leser schwer sezierbar. So liest man u. a.: „Dabei wurde auch versucht, bestimmte Probleme mit administrativen Mitteln zu lösen... Bei der Ahndung von Verstößen gegen das sozialistische Eigentum... wurde von den Justizorganen häufig die erzieherische Seite des Rechts nicht genügend beachtet... Einige Steuer-und lohnpolitische Maßnahmen zur Einschränkung der Ausbeutung in den privatkapitalistischen Betrieben führten zu einem Absinken der Erzeugung von Waren des Massenbedarfs und zur Schließung einiger volkswirtschaftlich wichtiger Betriebe der Konsumgüterindustrie. Diese negativen Erscheinungen wurden genährt durch J. W. Stalins falsche These von der gesetzmäßigen Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus.
Folgt die weitere Darstellung auch den allgemeinen Richtlinien des von außen inszenierten Putschversuchs, so sind doch, wenn auch verklausuliert, wesentliche innere Ursachen erstmalig benannt. Es scheint durch das namhafte Autorenkollektiv hier ein Vorstoß unternommen worden zu sein, der in der Folgezeit keine Billigung der Parteispitze fand. Bereits bei Horn ist deutlich ein großer Rückschritt feststellbar, und selbst in den siebziger Jahren bleiben die Darstellungen hinter dem Stand von 1966 zurück.
Ganz anders stellte sich die Situation 1953 und in den Folgejahren in der Bundesrepublik dar. Hier herrschte von Anbeginn großes Interesse an der Aufarbeitung des Arbeiteraufstandes. Der 17. Juni wurde dabei insbesondere in den fünfziger Jahren zum Objekt des Kalten Krieges sowie der ideologischen Auseinandersetzung mit dem anderen deutschen Staat überhaupt. So mancher Politiker, Publizist, aber auch Historiker maß den Juni-Ereignissen unter der simplifizierenden Prämisse des „Volksaufstandes gegen den Kommunismus und für eine freiheitliche Demokratie“ die Wertigkeit eines Fanals zur Wiedervereinigung unter freiheitlich-demokratischen Vorzeichen zu
Oft blieben noch bis in die Gegenwart Forschungsergebnisse von Historikern der Bundesrepublik sowie die Erinnerungen, z. B. von F. Schenk oder H. Brandt, die durchaus ein weit differenzierteres Bild vermitteln, unbeachtet. Willy Brandt hatte im Jahr 1955 bereits betont, daß nirgends eine restaurative Tendenz während der Unruhen 1953 von den Arbeitern vertreten wurde, daß durchaus unzweideutige Vorbehalte gegenüber der westdeutschen Politik vorhanden waren und es den Protestierenden keinesfalls um eine einfache Angliederung der DDR an die Bundesrepublik gegangen sei
Die wohl tiefschürfendste und feinfühligste Analyse der Arbeitererhebung dieser Zeit verfaßte 1965 A. Baring. Anhand des verfügbaren Materials von unzähligen Erinnerungsberichten und westlicher Quellen untersuchte er die Arbeiterbewegung in ihrer Genesis und analysierte bis heute beeindruckend die Motive und Forderungen der Demonstrierenden: „So stellt man sich einen Aufstand, eine Revolte eigentlich nicht vor... Nachdem die Arbeiter das unmittelbare Ziel, die Rücknahme der Normerhöhungen, erreicht und ihre Streikleitungen die Kontrolle über die Ereignisse verloren hatten, gab es in der Massenbewegung keinen klaren gemeinsamen Willen mehr. Vor allem gab es keine Führung, keine Organisation, keine Planung.
Er erklärt damit auch, daß die Plan-und Ziellosigkeit eben nicht eine Orientierung in Richtung Anschluß an die Bundesrepublik zuließ. Erstmalig wird das Eingreifen der Sowjettruppen, so verurteilenswert es war, nicht als blutiges Gemetzel sondern durchaus als zurückhaltender, aber bestimmter Einsatz festgestellt. „Aber man täusche sich nicht, der Aufstand ist nicht durch die sowjetischen Truppen niedergeschlagen worden. Aufs Ganze gesehen war die revolutionäre Welle schon gebrochen, bevor die Russen marschierten. Ihr Eingreifen war kein Wendepunkt, sondern hat nur einen Schlußpunkt gesetzt: die Streik-und Demonstrationsbewegung hatte sich im Laufe des Tages erschöpft, der Elan war versiegt, der Aufstand in seinen Anfängen steckengeblieben. “
IV. Entwicklungen in den siebziger und achtziger Jahren
Insbesondere Anfang der achtziger Jahre wurden in der Bundesrepublik mehrere Arbeiten zum 17. Juni 1953 veröffentlicht, welche die Arbeiter-erhebung unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten analysierten und Ursachen und Ziele der Juni-Unruhen sehr differenziert zu ergründen suchten Den Arbeiten ist gemein, daß sie die in der Bundesrepublik vorhandenen Quellen untersuchten und sich auf eine Vielzahl von Befragungen und Erinnerungen von DDR-Flüchtlingen stützten.
Der pluralistischen Geschichtsauffassung entsprechend, stellten die Lehrbücher der Bundesrepublik zur Zeitgeschichte die Juni-Ereignisse 1953 in der DDR als Volks-oder Arbeiteraufstand mit inneren Ursachen und gegen das sozialistische Regime gerichtet dar, jedoch fand der Schüler auch in Zitaten die DDR-offizielle Lesart abgedruckt. Offensichtlich ist aber, daß die von der Geschichtswissenschaft bereits vollzogene Abkehr von der Volksaufstandsthese und Hinwendung zu der wesentlich differenzierenderen Wertung als Arbeiter-aufstand in den Geschichtsbüchern nur teilweise Niederschlag findet.
Aufs Ganze gesehen ist das Bemühen, die Ursachen der Arbeitererhebung in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen, die Einflußnahme von außen nicht zu bagatellisieren sowie die Stellung der Bevölkerung zum Staat DDR zu analysieren, nachvollziehbar. Nicht selten jedoch findet die nationale Frage als eine die Menschen in beiden Teilen Deutschlands bewegende insofern eine Überbetonung, als ein großer Teil der DDR-Bevölkerung 1953 aus dem Erleben des Faschismus und auf Grund des Bildes der Bundesrepublik im Kalten Krieg und dessen ideologischer Verzerrung durch die SED-Propaganda eine einfache Angliederung an die Bundesrepublik ablehnte.
Betrachtet man die allgemeine Entspannungsphase der siebziger Jahre und die permanente Bezugnahme beider deutscher Staaten in der Auseinandersetzung aufeinander, so hätte man nach dem Abflauen des Kalten Krieges auch in der DDR einen moderaten und kritischeren Umgang mit der eigenen Geschichte erwartet. Zumindest für die Darstellung des 17. Juni 1953 trat jedoch keine Lockerung ein. Im gesamtgesellschaftlichen Rahmen gesehen verfolgte man in den siebziger und achtziger Jahren die Taktik, Schritt für Schritt jene Tage im Juni 1953 aus dem Bewußtsein der Menschen zu verdrängen. Im Schulunterricht wurde das Thema zumeist nur kurz angeschnitten. Die vermittelten Informationen befriedigten nicht, es bestand jedoch kaum die Möglichkeit, sich als Laie darüber hinaus mit dem Thema zu beschäftigen. In den Bibliotheken waren westliche Publikationen zumeist nur mit Sondergenehmigungen zu erhalten.
Entsprechend dem von der SED geprägten Geschichtsbild des 17. Juni mühte sich die DDR-Historiographie, die Vorgaben mit wissenschaftlichen Darstellungen zu unterlegen. Dies geschah weiterhin nur im Zusammenhang mit Querschnitt-abhandlungen. Das Standardwerk der DDR-Geschichtsschreibung ist die „Geschichte der SED“ Mit dem hochprämierten Werk entstand eine Vorgabe zur Ausdeutung der DDR-Geschichte. Die folgenden Publikationen im Stile der SED-Geschichte zur FDJ, zur NVA, zum FDGB u. a. m. beeindrucken vor allem durch das damals übliche fleißige Zitieren aus dem „Abriß“
Entsprechend der oben skizzierten Linie führt der „Abriß“ an den „Tag X“ heran und versucht, über das Stahlembargo und verschiedene Sabotageakte die Liquidationsversuche des „Imperialismus“ nachzuweisen Private Unternehmer und andere Kräfte in den Mittelschichten und der Großbauernschaft „schädigten, inspiriert und gelenkt durch Diversionszentralen und Hetzkampagnen von der BRD und Westberlin aus, den sozialistischen Aufbau und traten immer offener gegen die SED und den sozialistischen Staat auf
Offensichtlich wurde hier eine ganze „konterrevolutionäre Untergrundbewegung“ konstruiert Verschwiegen werden die Beschlüsse zur Liquidation der Privatwirtschaft in der DDR auf der 10. Tagung des ZK im November 1952 und die Repressionsmaßnahmen gegen die Mittelschichten Die kaum noch benannten Fehler der SED erscheinen als eine Ursache des Kalten Krieges. Da-mit ist die folgende Charakterisierung der Arbeitererhebung logisch vorbereitet: „Der Klassenfeind im Innern hatte die Unzufriedenheit und Mißstimmung eines Teils der Werktätigen ausgenutzt, um gegen die Interessen der Arbeiter-und-Bauern-Macht gerichtete Handlungen auszulösen. Anleitung erhielten die Konterrevolutionäre von Geheimdiensten und Agentenzentralen aus Westberlin und der BRD sowie von den dort eingerichteten Rundfunkstationen der USA. Über Westberlin wurden Provokateure in die DDR eingeschleust. Die Aktion vom 17. Juni 1953 sollte den Auftakt zum Generalstreik, zum konterrevolutionären Umsturz in der DDR bilden. Es war beabsichtigt, eine Atmosphäre des Bürgerkriegs zu schaffen. "
Interessant ist die Konstruktion von Generalstreik, konterrevolutionärem Umsturz und Bürgerkrieg, die der Erläuterung des militärischen Eingreifens als Friedensmission dienen soll. Mit der Feststellung, daß nunmehr die „innere Konterrevolution“ scheinbar aktiver war als die von außen, ist die Analyse des „Neuen“ im „Abriß“ bereits abgeschlossen. Ganz deutlich wird hier das Zurückbleiben der „Geschichte der SED“ nicht nur in dieser Frage hinter der zehn Jahre früher erschienenen „Geschichte der Arbeiterbewegung“ aus demselben Haus.
Damit waren einer weiteren Untersuchung des 17. Juni bereits engste Grenzen gesetzt. Kurz und bündig handelt die 1985 erschienene FDGB-Geschichte den 17. Juni ab: „An den Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen nimmt nur eine Minderheit von Werktätigen teil, von denen sich viele schon nach kurzer Zeit von den Provokateu-ren distanzieren. “ „ 8Unter Führung der SED“ lassen die Autoren dann „klassenbewußte Arbeiter“ den Putschversuch zerschlagen. Bewaffnete Organe der DDR und der UdSSR dürfen dabei unterstützen. Auch H. Heitzer unterstellt in der DDR starke konterrevolutionäre Gruppen und läßt die „Provokateure wie Faschisten hausen“ Das „entschlossene Auftreten der Sowjetunion verhinderte, daß es zu einer militärischen Auseinandersetzung kam“ erläuterte er den friedenserhaltenden Charakter des Einsatzes bewaffneter Gewalt gegen das Volk. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre veränderte sich das politische Umfeld und zeitigte Einflüsse auch auf die Geschichtsforschung in der DDR. Vor allem „Perestroika“ und „Glasnost“ in der UdSSR und die damit begonnene Neuaufarbeitung der Geschichte der Sowjetunion wirkten sich auf die DDR aus, schufen ein neues Selbstbewußtsein und Informationsbedürfnisse in der Bevölkerung. Es ist festzuhalten, daß es in den Buchläden seit etwa 1986 ein immer reichhaltigeres Angebot an Aufarbeitungen zu historischen The-men, seien es Biographien zum Preußenkönig Friedrich II., zu Bismarck oder aber zu anderen Themen meist älterer Geschichte, gab. Die SED-Führung hatte wohl begriffen, daß sie mit ihrer bisherigen Geschichtsdarstellung die Bevölkerung immer we-niger erreichte. Auch in der Zeitgeschichte sind Entwicklungen sichtbar, seien es Diskussionen um die Führbar-und Gewinnbarkeit eines Atomkrieges, um bislang Unantastbares aus der Stalinära oder Neubewertungen der eigenen Geschichte. In einer Zeit des offensichtlichen Sinkens des Lebensstandards in der DDR erlangte der 17. Juni , 1953 noch einmal eine gewisse Konjunktur. Das verdeutlichen insbesondere Zeitungen und Illustrierte im Jahre 1988, dem 35. Jahrestag der Arbeitererhebung. Sie dokumentieren jedoch auch das Dogma, zu dem die SED-Führung die Deutung dieses Ereignisses erhoben hatte. Wiederum wortreich wird der äußere Einfluß beim „Putschversuch“ untermauert, allerdings sind gewisse Differenzierungen in der Darstellung der inneren Ursachen erkennbar Eine Veröffentlichung stellt in 28 Fragestellungen Schwerpunkte der DDR-Entwicklung dar, darunter auch den 17. Juni Die Argumentation, die sich speziell an einen jugendlichen Leserkreis richtet, ist geschickt aufgebaut. Die Autoren schildern vorab die Streiks und vor allem die Ausschreitungen und setzen sich anhand eines Baring-Zitats mit der westdeutschen Volksaufstandsthese auseinander. Es folgt, wenngleich moderater als in vielen Arbeiten davor, die Konstruktion des „Tag X“ aus dem Kalten Krieg heraus. Erst jetzt werden die inneren Ursachen beleuchtet. Hier ist dann jedoch ein Hinausgehen selbst über die „Geschichte der Arbeiterbewegung“ erkennbar. Es entsteht das Bild einer durchaus gerechtfertigten Empörung der Bevölkerung mit dem Verweis, daß mit dem „Neuen Kurs“ begonnen wurde, „Schritte einzuleiten, um fehlerhafte Entscheidungen zu korrigieren und die Lebenslage der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten zu verbessern. So wurden Handwerkern, Einzel-und Großhändlern, privaten Bau-und Verkehrsbetrieben Kredite gewährt und der Abschluß von Verträgen zwischen HO und dem privaten Einzelhandel ermöglicht, um die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern.“
Durch diesen Absatz ist man eher geneigt, die im „Abriß“ noch konterrevolutionären Mittelschichten nunmehr als die Verbündeten der Arbeiterklasse anzusehen. Auch hiermit sollten in der sich verschärfenden Wirtschaftssituation der DDR sicherlich Zeichen gesetzt werden. Bei Heise/Hofmann war nach 24 Stunden „der ganze Spuk zu Ende“, hatte sich nur ein Teil der Arbeiterklasse, aber kaum die Bauernschaft, Intelligenz und der Mittelstand beteiligt. Der Linienführung seit 1953 folgend, werden Ausmaß und Dauer der Unruhen heruntergespielt. Damit bleibt das Bild des 17. Juni in der DDR bis 1989 im wesentlichen unverändert. Hofmann gelangt 1989 in einer Publikation zur eigenständigen Nationsentwicklung der DDR sogar noch zu der Erkenntnis: „Der Versuch,der deutschen Frage eine imperialistische und konterrevolutionäre Antwort aufzudrängen, war gescheitert. “
Trotz sichtbarer Modifizierungen in den Geschichtsdarstellungen zum 17. Juni konnte bis 1989 in der DDR der vorgegebene Rahmen nicht gesprengt werden. So befaßte man sich zwar näher mit den krisenhaften Erscheinungen 1952/53 in der DDR, ohne jedoch kausale Rückschlüsse auf das Wirtschafts-oder Gesellschaftssystem in der DDR zuzulassen. Bei aller notwendigen Abrechnung und Auseinandersetzung mit der DDR-Historiographie sollte jedoch nicht ver-gessen werden, daß eine mangelnde Quelleneinsicht und gleichsam die Totalitarisierung des historischen Materialismus mit seiner „gesetzmäßigen“ Formationsabfolge dem Erkenntnisprozeß in der DDR objektive Grenzen setzte. Der Historiker war zudem meist den subjektiven Schranken seiner Ideologie, der eigenen Selbstzensur und Anpassung verhaftet.
Die Situation änderte sich 1989/90. Wohl treffend beschreibt der Begriff „Aktenschock“ das, was den DDR-Historiker angesichts der nun zugänglichen Quellen erwartete. Das Archivgut konnte schrittweise ausgewertet werden, die eingrenzenden Zensurbestimmungen fielen. So entstanden wichtige Teilbeiträge zur Erforschung der Thematik nicht selten unter schmerzender Selbsterkenntnis. Der Autor selbst behandelte den 17. Juni 1953 als konterrevolutionären Putsch noch marginal in seiner Dissertation und durchlebte hernach einen Erkenntnisprozeß, der sich 1990/91 in Publikationen auch widerspiegelt
Interessant ist die Differenziertheit der Ausdeutung in den neuen Aufarbeitungen. Während partiell gar der „Volksaufstand“ (Dralle), häufiger der „Arbeiteraufstand“ bemüht werden, findet man bei Mitter, Roth und anderen ein vorsichtigeres Herangehen. H. Roth konstatiert eine Erhebung zur Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse und schränkt dann ein: „Zu berücksichtigen ist dabei, daß in der kurzen Zeit, die die Erhebung dauerte, ohne zentrale Führung und Vorbereitung mit Konzepten und Alternativen die Vorstellung über die Ausgestaltung der angestrebten Machtverhältnisse unklar bleiben mußte. In allen ausgewerteten Forderungskatalogen wurde expressis verbis keine Aussage über das gewünschte Gesellschaftsmodell gemacht... Die vielfach gerade in Leipzig und Altenburg ausgesprochene Hoffnung, daß aus freien und demokratischen Wahlen in ganz Deutschland die SPD als wählerstärkste Partei her vorgehen würde, könnte dahin gehend interpretiert werden, daß das zukünftige Deutschland ein demokratisch-sozialistischer Staat sein sollte. “
V. Zukünftige Forschungsschwerpunkte
Während das Geschichtsbild der DDR wohl kaum Bleibendes in die künftigen Untersuchungen zu dieser Thematik einzubringen vermag, bestätigen die Archivalien sehr wohl die Grundaussagen zur Arbeitererhebung bundesdeutscher Historiker insbesondere der achtziger Jahre, wenngleich die nun verfügbare Aktenbasis zu so mancher Teilfrage andere Sichten ermöglicht, Desiderate erkennen läßt und neue Schlußfolgerungen verlangt. Demzufolge wird man an vieles im Geschichtsbild der Bundesrepublik zum 17. Juni 1953 wohl anknüpfen können; eine wissenschaftliche Neuaufarbeitung des Ereignisses vor dem Hintergrund des wiedervereinigten Deutschlands ist im gemeinsamen Wirken von Historikern in den alten und neuen Bundesländern notwendig und in Angriff genommen.
Hier wird es vor allem darum gehen, die Arbeiter-erhebung ihrer, aus der Zeit ideologischer Auseinandersetzung stammenden, überspitzten Wertungen zu entkleiden. Dazu bedarf es vor allem der differenzierten Untersuchung der Teilnehmer der Erhebung, ihrer Forderungen und der schrittwei sen Wandlungen der Massenbewegung im Verlauf der Unruhen. Es wird auch die Frage zu stellen sein, ob angesichts der Spontaneität, der Führungs-, Plan-und Ziellosigkeit der Massenbewegung definitorisch von einem Aufstand im engeren Sinne gesprochen werden kann, sind sich doch die Historiker in der Frage einig, daß sich der 17. Juni von den Aufständen in Polen und Ungarn 1956 sowie vom „Prager Frühling“ 1968 eben durch den fehlenden geistigen Klärungsprozeß im Vorfeld der Unruhen unterscheidet. Es wird stark zu unterscheiden sein zwischen den ziellosen Demonstrationen in kleineren Städten wie Jessen, einer relativ gelenkten Massenbewegung mit Zielvorstellungen im Bitterfelder Raum und Versuchen des Umsturzes in Görlitz, den es im besonderen tiefgründiger zu untersuchen gilt. Richtig ist jedoch die Feststellung, daß sich aus einer sozial motivierten Massenbewegung Ansätze eines politischen Aufstandes entwickelten. Es fehlte aber nachweisbar nach dem spontanen Ausbruch der Unzufriedenheit die Zeit, die eine Konstituierung von Führungskräften und die Entwicklung einer zielgerichteten Bewegung ermöglicht hätte.
Einer tiefgründigen Untersuchung harrt weiterhin die Haltung der Bundesregierung und der Westmächte während der Unruhen, der äußere Einfluß insbesondere in Berlin unter dem speziellen Gesichtspunkt der Existenz Berlins als geteilter Stadt. Neue Aspekte zum Einsatz der Sowjettruppen sowie zu den Vorgängen in Moskau und Karlshorst werden erst mit der Öffnung sowjetischer Archive möglich sein.