I. Vorbemerkungen
Seit der politischen Wende in der DDR und der Öffnung der Grenzen richtete sich das Interesse westlicher und östlicher Jugendforschung zunächst einseitig auf die Jugend in der ehemaligen DDR bzw. in den neuen Bundesländern. Speziell ging es dabei um Fragen nach der Auswirkung der Wende, der Einschätzung der deutschen Vereinigung, der Einschätzung der Zukunft und den Absichten, in den Westen abzuwandern. Erstmals war es westlichen Forschern möglich, Jugendliche vor Ort direkt zu befragen; umgekehrt konnten Wissenschaftler der früheren DDR ihre Ergebnisse von Befragungen jetzt, ohne Zensur und Restriktionen befürchten zu müssen, veröffentlichen Eine Fülle empirischer Untersuchungen wurde publik gemacht.
Die Ergebnisse dieser ersten Studien nach der Wende basierten nur selten auf repräsentativen Stichproben und waren häufig punktuell auf die aktuelle Berichterstattung konzentriert. Wiederholungsuntersuchungen in sehr kurzer Zeitfolge sollten Veränderungen in den Stimmungen und Einstellungen der ostdeutschen Jugendlichen nach der deutschen Vereinigung feststellen. Die meisten dieser Studien vermitteln daher Momentaufnahmen zu speziellen Zeitpunkten und von ausgewählten Gruppen Jugendlicher (Stichproben) in speziellen Regionen in den neuen Bundesländern
Nicht zuletzt durch die Medienberichterstattung geriet die Jugend der neuen Bundesländer im Zusammenhang mit aggressiven, feindseligen Aktionen insbesondere gegen Ausländer bzw. Asylbewerber einseitig in das Blickfeld. Es entstand zunächst der Eindruck, als sei die Ablehnung und Aggression gegenüber der zunehmenden Zahl von Asylbewerbern nur ein ostdeutsches Phänomen. Die dazu vorliegenden Daten und Statistiken belegen jedoch, daß zwischen Jugendlichen der östlichen und der westlichen Bundesländer keine nennenswerten Unterschiede bestehen. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, die Lebenssituation und die Lebensperspektiven der Jugendlichen in Ost-und Westdeutschland bzw. im vereinten Deutschland gleichermaßen zu erfassen und darzustellen. Nur im Vergleich ist es möglich, typische Merkmale und Differenzen bei den Jugendlichen in den neuen und den alten Bundesländern zu erkennen. Außerdem sind Zeitvergleiche über größere Zeitsequenzen, z. B. die letzten zwei Jahrzehnte, unerläßlich, um die Momentaufnahmen bewerten zu können. Dazu liegen zahlreiche Daten vor.
II. Jugend nach der Wende im Blickpunkt der Forschung
Sowohl in der ehemaligen DDR als auch in der früheren Bundesrepublik gab es im Bereich der empirischen Jugendforschung eine langjährige Tradition. Sie nahm in der DDR mit Gründung des Zentralinstituts für Jugendforschung (ZU) in Leipzig unter Leitung von Walter Friedrich (1967/68) ihren eigentlichen Anfang Eine Besonderheit waren die über Jahrzehnte angelegten großen Intervall-studien, deren Ergebnisse jedoch nur partiell publiziert werden konnten.
In der Bundesrepublik wurden durch verschiedene Institute (u. a. im Auftrag der Deutschen Shell) seit den fünfziger Jahren wiederholt repräsentative Jugendbefragungen zu vergleichbaren Themen und Fragen durchgeführt. Die jüngste Shell-Studie, die erstmals als gesamtdeutsche Untersuchungdurchgeführt werden konnte, ist im November 1992 erschienen
Vergleiche zwischen Jugendlichen in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland waren bereits vor der Wende möglich, wenngleich vornehmlich indirekt auf der Basis von Sekundäranalysen. Sie sind vor allem in der Forschungsstelle für Jugendfragen in Hannover unter Leitung von Walter Jaide und Barbara Hille durchgeführt worden Bereits an Hand dieser Daten wurde im Vergleich deutlich, daß die Unterschiede zwischen den Jugendlichen der ehemals zwei deutschen Staaten in zentralen Lebensbereichen geringer ausfielen, als dies angesichts der konträren Systembedingungen zu erwarten war. Diese Erkenntnisse konnten nach der deutschen Vereinigung im direkten Vergleich beider Jugendpopulationen in den ersten gesamtdeutschen repräsentativen Jugendbefragungen bestätigt und erhärtet werden Analogien zwischen den Jugendlichen in Ost und West hat es über Jahrzehnte gegeben, und sie haben sich im Verlauf der letzten ca. zehn Jahre eher noch verfestigt
Bei Vergleichen zwischen den verschiedenen Jugenduntersuchungen ist jeweils zu prüfen, welche Altersgruppen erfaßt wurden. Hier ist eine unterschiedlich große Spannbreite von ca. 13-bis 3Ojährigen festzustellen. Besonders wichtig erscheint die Einbeziehung der jüngsten Altersgruppen; demgegenüber ist es fragwürdig, 25jährige und ältere junge Erwachsene unter „Jugend " befragungen zu führen. Künftig erfordern die jüngeren Altersgruppen ab ca. 11 Jahren mehr Aufmerksamkeit. Sie sind aufgrund ihrer immer früher einsetzenden körperlichen Reifung und der in dieser Alters-phase noch relativ unkritischen Aufgeschlossenheit gegenüber den vielfältigen Einflüssen insbesondere durch die Medien viel früher mit bislang als jugendspezifisch bewerteten Problemen und Fragen konfrontiert. Diese Gruppe wurde in den neuen Bundesländern als Teilnehmer bzw. Zuschauer von Gewaltaktionen gegen Ausländer auffällig. Die Situation der Kinder bzw. (jungen) Jugendlichen im mittleren Schulalter ist in den neuen Bundesländern vorerst besonders schwierig, weil sie durch den nahezu vollständigen Wegfall der Freizeitangebote durch die staatliche Kinder-und Jugendorganisation (Thälmann-Pioniere und Freie Deutsche Jugend) stark betroffen sind. Es fehlt zur Zeit in den Kommunen an entsprechenden Angeboten vor allem für die Jüngeren, z. B. für die 9-bis 12jährigen Schüler/innen. Freizeit-angebote für (ältere) Jugendliche haben sich demgegenüber bereits in größerer Zahl in neuen Formen entwickelt -wenn auch mit großen regionalen Unterschieden
Die Jugendphase umfaßte bislang in Ost-und Westdeutschland eine unterschiedliche Zeitspanne. Sie war und ist vorerst für die Jugendlichen in der ehemaligen DDR bzw. in den neuen Bundesländern deutlich kürzer als bei den westdeutschen Jugendlichen. Das ist vor allem bedingt durch: -den Abschluß der Schul-und Berufsausbildung mit durchschnittlich 18 Jahren, -den Erwerb des Abiturs nach 12 Schuljahren im Alter von 18 Jahren, -die bis zur Wende stark begrenzte Quotierung von Abiturienten/innen und Studenten/innen mit längeren Ausbildungs-und Studiengängen und -die frühe Eheschließung und Familiengründung sowie frühzeitige Mutterschaft.
Auf längere Sicht ist eine Angleichung an die westliche Entwicklung zu erwarten, d. h. eine Verlängerung der Jugendphase durch längere Ausbildungsgänge und -bedingt durch die Arbeitsmarkt-situation der neuen Bundesländer -unsichere Berufsperspektiven, verzögerte Berufseinmündung und Arbeitslosigkeit. Dies dürfte auch zum zeitlichen Aufschub der Familiengründung beitragen.
Sämtliche Jugenduntersuchungen, die nach der Wende durchgeführt wurden, weisen übereinstimmend eine mehrheitlich positive Bewertung derdeutschen Vereinigung nach die bei den ostdeutschen Jugendlichen höher ausfällt als bei den westdeutschen, -und zugleich einen beachtlichen Zukunftsoptimismus, der bei den westlichen Jugendlichen noch größer ist und im Zeitvergleich deutlich zugenommen hat. Neben solchen globalen Befunden ist es erforderlich, die Lebenssituation und die Lebensperspektiven der Jugendlichen nach der deutschen Vereinigung genauer in den Blick zu nehmen und im Vergleich Gemeinsamkeiten und Unterschiede differenzierter zu erfassen. Das soll vor allem aufgezeigt werden an den zentralen Lebensbereichen: Familie und Beruf. Außerdem soll nach dem bei Jugendlichen vorhandenen Konfliktpotential gefragt werden, nach Widersprüchen, Abweichungen, Unterprivilegierungen, die sich in der politischen Meinungsbildung niederschlagen können und die in Zusammenhang mit der Entwicklung und Artikulation von Aggression und Gewalt zu beachten sind.
Informationsbasis für diese Analyse sind die zahlreichen Forschungsergebnisse der empirischen Jugenduntersuchungen vor und nach der Wende und nach der deutschen Vereinigung sowie aktuelle praktische Erfahrungen beim Aufbau der Jugendarbeit vor allem in den neuen Bundesländern (z. B. Projekt „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“) und bei der Beratung von Kommunen zur Entwicklung familienpolitischer Initiativen und -in diesen Zusammenhängen -zahlreiche persönliche Gespräche mit Familien und Jugendlichen
III. Bewertung zentraler Lebensbereiche
1. Stellenwert der Familie Partnerschaft und Familie haben bei Jugendlichen in Ost-und Westdeutschland einen unvermindert hohen Stellenwert. Das belegen bei westlichen Jugendlichen auch die Vergleichsdaten empirischer Untersuchungen über zwei Jahrzehnte Auch bei den Jugendlichen in der DDR wurde bereits vor der Wende eine außerordentlich hohe Wertschätzung der Familie festgestellt die nach der deutschen Vereinigung fortbesteht.
Auf der Basis der gesamtdeutschen Untersuchungsdaten sind nunmehr direkte Vergleiche zwischen Jugendlichen in Ost-und Westdeutschland möglich. Dabei soll außerdem zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen differenziert werden. Folgende im Ost-West-Vergleich und im Zeit-vergleich interessante Fragen werden im Hinblick auf den Stellenwert der Familie dargestellt: -Wohnen bei den Eltern, -Einstellungen und Verhältnis zu den Eltern, -Stellenwert von Ehe und Familie im eigenen Lebensplan sowie -Vereinbarkeit von Familie und Beruf. a) Wohnen bei den Eltern Der Anteil der Jugendlichen, der bei den Eltern bzw. Mutter oder Vater wohnt, ist in Ost und West durchweg größer, als generell angenommen wird. Immerhin leben von den befragten Jugendlichen noch durchschnittlich 60 Prozent zu Hause Der Anteil der männlichen Jugendlichen ist dabei in Ost-und Westdeutschland in sämtlichen vorliegenden Daten deutlich höher als der der weiblichen. Die Mädchen lösen sich generell früher aus dem Elternhaus, und sie leben auch früher mit dem Freund bzw. Ehepartner zusammen. Letzteres gilt noch häufiger für die weiblichen Jugendlichen in den neuen Bundesländern. Außerdem ist nach dem Alter zu differenzieren.
Beachtenswert sind. Zusammenhänge zwischen räumlicher Nähe zu den Eltern bzw. Wohnen im elterlichen Haushalt und den Grundstimmungen und Lebensperspektiven der Jugendlichen. Diejenigen, die zu Hause bei den Eltern wohnen, äußern generell mehr Zuversicht, großen Optimismus und Zufriedenheit -und deutlich weniger Ängste. Sie haben außerdem mehr Vertrauen inden Staat und in die staatlichen Institutionen Räumliche Nähe, die meist mit positiven Beziehungen zu den Eltern einhergeht (s. u.), hat somit auch einen speziellen Einfluß auf die politische Meinungsbildung. Das läßt sich auch in Zeitvergleichen westlicher Jugendstudien nachweisen b) Einstellungen zu den Eltern In den Jugendbefragungen der letzten ca. zwei Jahrzehnte in Ost und West beurteilen die meisten Jugendlichen ihr Verhältnis zu den eigenen Eltern positiv. Das wird in den aktuellen gesamtdeutschen Jugenduntersuchungen bestätigt Die Eltern werden z. B. in Ost und West an erster Stelle als Vertrauenspersonen genannt. Dieses positive Vertrauensverhältnis war und ist bei den Jugendlichen in Ostdeutschland noch stärker ausgeprägt. Das mag mit der ehemals besonderen Funktion der Familie unter den Bedingungen des DDR-Systems Zusammenhängen, die den Jugendlichen vielfach Rückzugsmöglichkeiten und Schutz gegen Zugriffe und Einflußnahme staatlicher Instanzen bot. Sie war auch Stätte offener und kritischer Gespräche. An zweiter Stelle werden die gleichaltrigen Freunde als Gesprächspartner und Vertrauenspersonen in Ost und West genannt, von den Mädchen deutlich häufiger als von den Jungen. Das hängt damit zusammen, daß sich die Mädchen früher aus der Eltemfamilie lösen und an einen festen Freund binden (s. o.). Im Zeitvergleich hat die positive Wertschätzung der Eltern bei den westlichen Jugendlichen eher noch zugenommen (z. B. EMNID 1986 bei 13-bis 24jährigen: 45 Prozent; SFK-Jugendbefragung 1991/92 bei 15-bis 25jährigen: 53/54 Prozent)
Mit Ausnahme der Eltern wird eine generelle Distanzierung gegenüber den Erwachsenen vor allem bei den westlichen Jugendlichen deutlich. Einen besonders geringen Einfluß haben „Amtspersonen“, z. B. Lehrer und Vorgesetzte, als Vertrauens-und Ansprechpartner in Ost und West.
Beachtlich sind die Zusammenhänge zwischen einem positiven, vertrauensvollen Verhältnis zu Eltern und Freunden und den von den Jugendlichen geäußerten Stimmungen und Einstellungen. Bei positiven Beziehungen zu den Eltern werden häufiger optimistische Stimmungen, positive Bewertungen und eine höhere Lebenszufriedenheit geäußert (s. o.). Diese Zusammenhänge werden bei den Jugendlichen in den westlichen Bundesländern noch deutlicher sichtbar. Positive Beziehungen zu gleichaltrigen Freunden wirken offensichtlich in unterschiedlicher Richtung. Diejenigen, die positive Beziehungen zu Gleichaltrigen an erster Stelle nennen, sind z. B. eher unzufrieden und kritisch gegenüber den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen eingestellt. Bei den Jugendlichen in den neuen Bundesländern wird eine andere Tendenz sichtbar. Bei einem positiven Vertrauensverhältnis sowohl zu den Eltern als auch zu den Freunden überwiegen z. B. eher kritische Bewertungen des politischen Systems. Dies mag auf einer aus dem DDR-System resultierenden Prägung beruhen, unter dessen Bedingungen es nur in Familie und privatem Freundeskreis möglich war, kritische Positionen und politische Einstellungen zu äußern. Die wenigen Jugendlichen, die keine Vertrauensperson benennen, sind generell eher unzufrieden und pessimistisch. Das mehrheitlich feststellbare positive Vertrauensverhältnis zu den Eltern bedeutet nicht, daß die Jugendlichen wie ihre Eltern leben möchten. Etwa die Hälfte der Jugendlichen will das Leben anders gestalten als die eigenen Eltern Die Distanz der ostdeutschen Jugendlichen ist noch etwas größer, was verständlich wird angesichts der durch die deutsche Vereinigung vorhandenen neuen Lebens-möglichkeiten und -chancen insbesondere für die junge Generation. c) Stellenwert von Familie und Ehe im Lebensplan Partnerschaft, Ehe und Familie haben in den Lebensplänen der Jugendlichen einen hohen Stellenwert, der sich im Vergleich der letzten zwei Jahrzehnte nicht verändert hat Die meisten Jugendlichen wünschen sich:
-ein glückliches Zusammenleben mit Partner/in, -Treue in der Partnerschaft sowie -Kinder und ein glückliches Familienleben.
Diese Wünsche rangieren bei den ostdeutschen Jugendlichen noch höher, was auch mit den Ergebnissen früherer Untersuchungen in der DDR und kurz nach der Wende übereinstimmt
Die positive Einstellung zur eigenen Familiengründung hat somit „Tradition“, die vor allem in der ehemaligen DDR durch die Familiengesetzgebung und eine auf die Familie mit erwerbstätiger Mutter gerichtete Sozialpolitik unterstützt und abgesichertwurde In Zeitvergleichen westlicher Studien haben sich die familienbezogenen Wünsche und Vorstellungen in positiver Richtung eher noch verstärkt. Der Wunsch nach einer Familiengründung hat dabei deutlichen Vorrang vor der Eheschließung, die häufig bis zum Zeitpunkt der Familiengründung aufgeschoben wird. Partnerschaft, Familie und Elternschaft werden von den heutigen (westlichen) Jugendlichen teilweise in neuen Formen und Zeitsequenzen realisiert. Die hohe Akzeptanz bleibt jedoch bislang bestehen
Bei den ostdeutschen Jugendlichen ist der Anteil der jungen Verheirateten und der sehr jungen Eltern bislang im Vergleich beträchtlich höher. Hierauf hatten die DDR-spezifischen Lebensverhältnisse einen prägenden Einfluß, z. B. die Chance, als Ehepaar und Familie eine Wohnung zu erhalten. Auch die soziale Absicherung des Status der alleinstehenden Mutter ist in Zusammenhang zu sehen mit der großen Zahl sehr junger nicht verheirateter Mütter. d) Verbindung von Familie und Beruf Ein Hauptproblem heutiger junger Familien stellt sich in der Frage nach der Kombination von Ehe, Mutterschaft, Familienleben und Beruf, und zwar nach wie vor vornehmlich für die jungen Frauen. In dieser Frage zeigen sich beachtliche geschlechts-typische Unterschiede und Differenzen auch zwischen Jugendlichen der neuen und der alten Bundesländer. Eine „konventionelle“ Haltung wird häufiger von den westdeutschen männlichen Jugendlichen vertreten. Sie manifestiert sich in der Frage, ob die Frau zugunsten der Familientätigkeit ihre Berufstätigkeit aufgeben sollte. Diese Vorstellung wird von den männlichen Jugendlichen häufiger vertreten, während die Mädchen nur noch selten zur Aufgabe des Berufes bereit sind. Dafür ist das inzwischen erreichte höhere Ausbildungsniveau der Mädchen in West und Ost in Rechnung zu stellen. Bei den weiblichen Jugendlichen in den neuen Bundesländern ist diese Tendenz noch deutlicher ausgeprägt. Dem entspricht auch die hohe Erwerbstätigenquote unter den Frauen, die vor der Wende bei ca. 90 Prozent lag e) Resümee über das Verhältnis zur Familie im Ost-West-Vergleich Das Verhältnis Jugendlicher zur Eltemfamilie ist -sowohl im Zeitvergleich als auch im Ost-West-Vergleich -überwiegend positiv. Als Bezugs-und Vertrauenspersonen spielen die Eltern eine wichtige, teils sogar die wichtigste Rolle. An zweiter Stelle werden die gleichaltrigen Freunde genannt, im Westen etwas häufiger als im Osten. Die im DDR-System vorherrschende umfassende Organisation und Indoktrination der Gleichaltrigen reduzierte wahrscheinlich eine Aufnahme intensiverer Beziehungen zu Personen außerhalb der Familie. Allerdings entwickelten sich auch zunehmend informelle, nichtorganisierte Freundescliquen im Freizeit-und Privatbereich außerhalb .des staatlich organisierten „Jugendlebens“.
Die Neigung zu relativ früher und beständiger, auf Treue basierender Bindung an einen festen Partner ist bei Jugendlichen in Ost und West gleichermaßen stark ausgeprägt. Ehe und Elternschaft werden demgegenüber von den ostdeutschen Jugendlichen bislang in früherem Alter realisiert als von den westdeutschen. Die positive Wertschätzung der Familie -und zwar der Eltern wie der eigenen künftigen Familie -ist im Ost-West-Vergleich und im Zeitvergleich stabil geblieben. Dabei wünschen sich die heutigen jungen Mädchen in Ost und West eine Kombination von Familie und Beruf. Die Hausfrauen-Ehe und -Familie mit langfristig nicht erwerbstätiger Frau und Mutter ist keine mehrheitsfähige Alternative mehr für die jungen Frauen und Familien. Das gilt noch eindeutiger für die Mädchen und jungen Frauen in den neuen Bundesländern.
Von der Realisierbarkeit beider Lebensbereiche -Familie und Beruf -wird es vor allem in den neuen Bundesländern abhängen, ob es gelingt, die jungen Mädchen und Frauen künftig mehr als bisher für das neue gesamtdeutsche politische und gesellschaftliche System zu gewinnen. Bislang sind bei ihnen noch deutliche Vorbehalte und Distanzen festzustellen Darin deutet sich ein Konfliktpotential an, dessen politische Reichweite nicht unterschätzt werden sollte. 2. Stellenwert des Berufes Im Vergleich zwischen den Jugendlichen in Ost-und Westdeutschland überwiegen ebenfalls die Übereinstimmungen in der generell positiven Bewertung von Beruf und Leistung. Zugleich produziert die schwierige Arbeitsmarktsituation in den neuen Bundesländern auf Seiten der dort lebenden Jugendlichen konkrete Ängste vor Arbeitslosigkeit. Dennoch äußern sie im Hinblick auf ihre persönliche Entwicklung eine beachtliche Zuversicht und schätzen die künftige wirtschaftliche Entwicklung überwiegend positiv ein Dieses große Vertrauenspotential bei den Jugendlichen in den neuen Bundesländern ist sorgsam zu stützen und zu erhalten.
Folgende Ergebnisse sind in den aktuellen Befragungen beachtenswert, die hier knapp summiert werden sollen
-Bei Jugendlichen in Ost-und Westdeutschland überwiegen die Zustimmungen und positiven Bewertungen hinsichtlich Ausbildung, Beruf und Leistung.
-Für das Lebensziel „Eine Arbeit, die erfüllt“
entscheiden sich die ostdeutschen Jugendlichen noch ausdrücklicher als die westdeutschen.
-Von den Jugendlichen in den neuen Bundesländern werden für die Wahl des Berufs instrumentelle, materielle Gründe (Verdienst, Sicherheit, Aufstieg) wesentlich häufiger genannt als von den westdeutschen Jugendlichen, von den männlichen Jugendlichen häufiger als von den weiblichen.
-Das Motiv „Für andere Menschen etwas tun“
wird von den weiblichen Jugendlichen (traditionell) häufiger genannt.
-Die Aussage „Leistung und Erfolg gehören für mich zum Leben“ wird von den ostdeutschen Jugendlichen häufiger bejaht.
-Die Realisierbarkeit der Berufspläne wird von den Jugendlichen in den neuen Bundesländern deutlich skeptischer eingeschätzt als in den alten Bundesländern. Die Befürchtung, arbeitslos zu werden, spielt dabei eine ausschlaggebende Rolle.
Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen birgt ein spezielles Konfliktpotential, das politisch wirksam werden kann (s. u.). Hier sind gezielte Maßnahmen erforderlich. 3. Politische Meinungsbildung und Konfliktpotentiale Politisches Engagement war stets eine Angelegenheit von Minderheiten, was auch in Zeitvergleichen deutlich gemacht werden kann. Meldungen von „Null-Bock“ auf Politik bei heutigen Jugendlichen greifen deshalb zu kurz Tatsächlich wird von einem Drittel bis zur Hälfte der Jugendlichen Interesse an Politik bekundet, von den Jugendlichen in den neuen Bundesländern allerdings etwas seltener. Dabei spielt offensichtlich ein höheres Maß an Skepsis und Mißtrauen eine Rolle. Hinzu kommen Unkenntnis und Unsicherheit gegenüber dem für sie noch unbekannten demokratischen System in Deutschland, den bislang wenig vertrauen Institutionen und besonders gegenüber den politischen Parteien. Das Vertrauen in die bestehenden politischen Parteien und deren Vertreter ist bei Jugendlichen in Ost und West gleichermaßen gering. Beachtlich sind bei politischen Fragen die zahlreichen unentschiedenen Antworten, die etwa ein Drittel ausmachen, und zwar bei Jugendlichen in Ost-und Westdeutschland. Sie können ebenfalls hinweisen auf Desinteresse, Unkenntnis und Skepsis. Außerdem ist gegenüber der Mehrzahl der optimistischen und zufriedenen Jugendlichen in Ost und West der Anteil der wenig Zufriedenen und Unzufriedenen zu beachten, der insgesamt immerhin ca. ein Drittel ausmacht.
Vor allem die weiblichen Jugendlichen in den neuen Bundesländern zeigen eine größere Distanz zu vielen Fragen (s. o.): auch eine größere Skepsis gegenüber der deutschen Vereinigung, eine positivere Einschätzung des Sozialismus, noch größeres Mißtrauen gegenüber den bestehenden Parteien und Institutionen im vereinigten Deutschland, sowie größeren Pessimismus im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung. Diese Distanzierung hängt zweifellos mit dem erlebten Verlust von Vergünstigungen und Privilegien auf Seiten der Frauen in den neuen Bundesländern zusammen, insbesondere mit der Furcht vor einem Abdrängen vom Arbeitsmarkt.
Besondere Aufmerksamkeit ist den arbeitslosen Jugendlichen in Ost und West zuzuwenden. In fast allen Fragen bilden sie eine Sondergruppe: Sie zeigen z. B. ein deutlich höheres Ausmaß an Zukunftsangst, Pessimismus, Unzufriedenheit, Mißtrauen und Skepsis gegenüber Marktwirtschaft und Demokratie. Das gilt für arbeitslose Jugendliche in Ost-und Westdeutschland gleichermaßen Interessanterweise bleibt bei den jugendlichen Arbeitslosen in den neuen Bundesländern bislang die allgemein hohe Wertschätzung von Beruf und Leistung intakt. Darin spiegelt sich offenbar eineDDR-spezifische Prägung zugunsten des hohen Stellenwertes der Arbeit für Mann und Frau im DDR-Sozialismus wider. Es fragt sich, wieweit sich aus der Situation der Arbeitslosigkeit ein Konfliktpotential entwickelt, das im politischen Bereich wirksam wird und sich z. B. in der Akzeptanz und Ausübung von gewalttätigen Aktionen artikuliert. Nach den vorliegenden Untersuchungsdaten sind es in der Tat vor allem -aber nicht nur -Benachteiligte, Unterprivilegierte, Arbeitslose, die in der rechtsextremen Szene aggressiv agieren. Von der überwältigenden Mehrheit der Jugendlichen werden radikale Gruppen und deren Gewalttätigkeiten allerdings abgelehnt. Dementsprechend läßt sich ein rechtsextremes Potential unter den Jugendlichen der neuen Bundesländer in einer Größenordnung von ca. zwei bis fünf Prozent feststellen; diese Quote gilt ähnlich für die westdeutschen Jugendlichen. Zu beachten ist allerdings auch das Umfeld von Sympathisanten, deren Anteil sich auf ca. acht Prozent beziffern läßt. Dieses Umfeld läßt sich nicht scharf abgrenzen Es könnte ein mobilisierbares Reservoir darstellen und bei aktuellen Anlässen, wie z. B.dem in manchen Regionen als unzumutbar erlebten Asylantenstrom, den extremistischen Kern verstärken.
IV. Folgerungen für die politische Bildung
Mit dieser Skizze der Lebenssituation und der Lebensperspektiven der jungen Generation -im repräsentativen Querschnitt sowie in Zeitvergleichen -dürfte deutlich geworden sein, daß für die Mehrheit der Jugendlichen sowohl in den neuen als auch den alten Bundesländern die zentralen Werte Familie und Beruf weithin intakt geblieben sind: Die Übereinstimmungen sind deutlich größer als die Gegensätze. Differenzen ergeben sich vornehmlich bei der Realisierung dieser Wertvorstellungen im Lebensalltag.
Gegenüber diesen mehrheitlich positiven Tendenzen deuten sich aber auch Brüche und Gefährdungen an, wie sie allerdings weniger in quantitativen Repräsentativbefragungen, sondern in qualitativen Studien über den Lebensalltag sichtbar werden können: -Dem nachweislich hohen Stellenwert der Familie steht ein wachsender Anteil von Problem-familien, von Familien in schwierigem sozialem Milieu sowie zerbrochenen, konfliktträchtigen, gewalttätigen Familien gegenüber, der im Hinblick auf abweichendes, kriminelles Verhalten und speziell das Gewaltpotential unter Jugendlichen genauer in den Blick zu nehmen ist. -Dem hohen Stellenwert des Berufes steht die Zunahme der Zahl der Arbeitslosen gegenüber. Arbeitslosigkeit wird vor diesem Hintergrund als besonders belastend erlebt. Vor allem Jugendliche mit geringer Qualifikation bilden eine Problemgruppe mit geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Sie ist in Zusammenhang mit extremistischen Gruppen besonders zu beachten. Bei einer Kumulation negativer Faktoren muß von einer Gefährdung ausgegangen werden.
Hieraus ergeben sich spezielle Aufgaben für die Jugendarbeit und die politische Bildung: die Jugendlichen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten „aufzufangen“.
Im Hinblick auf die politische Integration der Mehrheit der Jugendlichen in den neuen Bundesländern in das vereinigte Deutschland bietet einerseits die hohe positive Bewertung der deutschen Vereinigung und die Identifizierung als Deutsche positive Ansätze. Andererseits kann die Unkenntnis demokratischer Strukturen, Regeln und Verhaltensweisen ein Nährboden für politische Distanzierung wie auch Radikalisierung sein. Dazu hat die Schwarz-Weiß-Zeichnung des westlichen „Kapitalismus“ gegenüber dem „Sozialismus“ in der DDR beigetragen.
Der politischen Bildung -innerhalb und außerhalb von Schule und Hochschule -kommt in dieser bedeutsamen Phase des Zusammenwachsens eine wichtige Aufgabe zu Sie muß z. B. die Aufarbeitung der unterschiedlichen vierzigjährigen Geschichte im geteilten Deutschland leisten. Zunächst geht es vor allem darum, differenzierte Kenntnisse über die Gesetze, Normen und Regeln in einer modernen westlichen Demokratie zu vermitteln. Es kommt jetzt darauf an, Interesse und Verständnis zu wecken für das Funktionieren dieser Demokratie in Deutschland -mit allen ihren Umständlichkeiten, Ungerechtigkeiten und vielfältigen Enttäuschungen -, die von den jungen Menschen mitgetragen und unterstützt werden muß. Das gilt gleichermaßen für Jugendliche der alten wie der neuen Bundesländer in Deutschland.