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Kultur und Kulturpolitik in den neuen Bundesländern: das Beispiel des Deutschen Nationaltheaters Weimar | APuZ 22-23/1993 | bpb.de

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APuZ 22-23/1993 Kultur und Kulturpolitik in den neuen Bundesländern: das Beispiel des Deutschen Nationaltheaters Weimar Der Wandel der Kulturstrukturen in den neuen Bundesländern Feindbild Literatur Die Biermann-Affäre, Staatssicherheit und die Herausbildung einer literarischen Altemativkultur in der DDR

Kultur und Kulturpolitik in den neuen Bundesländern: das Beispiel des Deutschen Nationaltheaters Weimar

Fritz Wendrich

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Als Generalintendant des Deutschen Nationaltheaters Weimar schildert der Autor aus eigener Erfahrung die Konsequenzen des deutschen Einigungsprozesses für die Kulturinstitutionen in den neuen Bundesländern. Vor allem am Beispiel der Theater wird deutlich, daß zwar die akute Gefährdung für die Weiterarbeit von Kulturinstitutionen und Künstlern durch die äußerst angespannte finanzielle Situation der Haushalte von Ländern und Kommunen bedingt ist, daß andererseits aber auch noch keine tragfähige Konzeption für die Kulturarbeit in den neuen Bundesländern vorhanden ist. Für deren Ausarbeitung war die Zeit zu kurz; zudem ist die personalpolitische Situation u. a. durch das Hereindringen oft wenig kompetenter „Importe“ aus dem Westen mit zahlreichen Problemen belastet. Im übrigen scheint vielerorts auch in den alten Bundesländern zumal das (Subventions-) Theater sich in einer Strukturkrise zu befinden, die neue kulturpolitische Überlegungen erforderlich macht. Die östlichen Bundesländer können diese neuen Konzeptionen unter hohem zeitlichem und finanziellem Druck nicht allein entwickeln, auch wenn dies manchmal von ihnen erwartet wird. Die schwierige Situation sollte insgesamt nicht nur als Krise gesehen werden, sondern als die jetzt zu meisternde Herausforderung, nicht leistungsfähige Strukturen zu korrigieren sowie überzogene Ansprüche und Verhaltensweisen im Bereich öffentlich subventionierter Kunst zu überprüfen. Dem künstlerischen Schaffen ist damit auf längere Sicht mehr gedient als mit der Verteidigung alter und der Erschließung neuer Geldquellen.

I. Jagdszenen in den neuen Bundesländern

In die ehemalige DDR sind auf so vielen Gebieten neben gesuchten Fachleuten und Beratern auch „gute Freunde“ gekommen, die kaum Ahnung von dem hatten, was in diesem Land vor sich ging, fast keine Ahnung hatten von den sozialen Problemen und die von all dem eigentlich auch nichts wissen wollten. So bekamen Menschen das Sagen, die nur in den engen Kategorien der Marktwirtschaft zu denken gewohnt sind, die oft in Arroganz und Ignoranz ihre ökonomischen Institutionen und Strukturen dogmatisieren und dem „vereinnahmten“ Land einfach überstülpen. Dazu einige Erfahrungen und Beispiele.

Am 5. Februar 1993 sitzen dem Kulturdirektor der Stadt Weimar und mir, dem Generalintendanten des Deutschen Nationaltheaters Weimar, gegenüber: der Landrat von Rudolstadt, zwei weitere Vertreter des Rechtsträgers und der Intendant des Landestheaters Rudolstadt. Sie sind eingeschworen auf ein vom Intendanten neu vorgelegtes Konzept für den Erhalt des Rudolstädter Theaters -ein Konzept, das Sparmaßnahmen und personelle Einsparungen vorsieht, aber auch den Bestand sichert.

Genau diese Perspektive braucht das durch immer neue Hiobsbotschaften und auch tatsächlich schon vorgenommene Entlassungen arg gebeutelte Theater. Nur drei Wochen später ist von diesem Einvernehmen nicht mehr die Rede. Der Intendant soll unter Bruch seines Vertrages, der bis 1996 abgeschlossen ist, aus dem Theater entfernt werden. Dafür wird eine unglaubliche „Technologie“ gewählt: Der Landrat, der letztlich die Entlassungen veranlaßt, präsentiert der Belegschaft den Intendanten und fragt, ob sie ihn noch haben will. Ein Nachfolger sei in Sicht -ein Rechtsanwalt aus dem benachbarten Hessen, der als Bürgermeister seine politischen Schwierigkeiten nicht mehr in den Griff bekam und nun nach einer neuen Karriere suchte.

Keine künstlerischen Konzepte, künstlerischen Ideen oder wenigstens Kompetenz sind gefragt, sondern brutale Konkurs-Verwaltung auf Kosten anderer.

In Eisenach verklagt der Intendant den Rechtsträger, weil das Schauspielensemble drastisch reduziert wurde. Die tatsächlichen Einsparungen sind gering. Es sollen noch größere Einsparungen dadurch erreicht werden, daß auch das Musiktheater weniger produziert. Auf einer Tagung des Deutschen Bühnenvereins erklärte der Landrat, daß an sechs Inszenierungen pro Jahr gedacht ist, von der jede einzelne etwp achtmal gespielt werden kann. Das sind dann so viele Vorstellungen, daß man in der Woche höchstens zweimal spielen kann. Die weißen Flecken im Spielplan sollen mit Gastspielen gedeckt werden, wobei man sich offenbar nicht klar darüber ist, wie teuer diese sind.

Eine Unterstufenlehrerin, zur Kulturdezernentin avanciert, wirft den Intendanten fristlos aus dem Theater hinaus, weil er öffentlich bekanntgemacht hat, daß die Stadt die Gehälter für den Monat Februar 1993 nicht pünktlich zahlen kann. Der Intendant erhält Hausverbot, das dann wieder aufgehoben werden muß. Die Dezernentin, Mitglied des Präsidiums des Deutschen Bühnenvereins, soll sogar eine Oper abgesetzt und andere ähnliche Eingriffe vorgenommen haben. Das Sprichwort „Not macht erfinderisch“ muß offenbar hierzulande heißen: „Not macht gebieterisch“. Wird autoritäre Inkompetenz auch zum Wahrzeichen der neuen Demokratie?

Der Oberbürgermeister einer sächsischen Kunst-metropole empfiehlt in einem Zeitungsinterview aus „Sparsamkeitsgründen“ den Sonntagsgottesdienst als Kulturerlebnis. Wörtlich heißt es: „Er ist ganz billig, denn man muß nicht einmal ‘was in die Kollekte geben. Man hört ausgezeichnetes Orgel-spiel, man wird visuell angesprochen, man kann mitsingen und mit Gesten und Bewegungen den eigenen Körper einbringen ...“ Und auf die Frage, warum beim Gastspiel eines hervorragenden Orchesters mit einem zugkräftigen Programm der Saal erschreckend schlecht gefüllt war, wo sich doch die Leute noch vor drei Jahren um eine Eintrittskarte fast geprügelt hätten, antwortet er: „Eine Rolle, die Kunst und Kultur im Sozialismus hatten, nämlich die der Ersatzfunktion, fällt weg. Heute geht niemand mehr in eine Literaturlesung, um etwas über die Gesellschaft zu erfahren. Heute kann man gesellschaftspolitische Aussagen direkt dort treffen, wo sie hingehören.“

II. Die Schuldigen

Bisher konnten die Gemeinden, Kommunen, die Rechtsträger mit der Bundesübergangsfinanzierung rechnen. Jetzt muß ermittelt werden, was beispielsweise das Theater (es steht hier nur für alle anderen kulturellen und Kunstinstitutionen) bei voraussichtlich hundertprozentiger Übernahme der westlichen Tarife kosten wird und was die Stadt, Gemeinde usw. davon selbst übernehmen kann. Die Städte nehmen -wie es prosaisch in künstlerischen Kreisen heißt gegenwärtig und überhaupt nur die Hundesteuer ein. Daraus folgt, daß sie in der Regel schon mit den „Pflicht-Aufgaben einer Kommune finanziell überfordert sind; die „freiwilligen“ Leistungen Kunst und Kultur sind Manövriermasse, über die nahezu beliebig disponiert wird.

Nehmen wir an, ein Rechtsträger hat für sein mittleres Theater etwa 20 Millionen DM Subventionen für ein Jahr errechnet (dies ist eine durchaus reale Zahl, wenngleich sie zumeist weit unter dem Bedarf eines Theaters dieser Größe liegt). Nun kratzt diese mittelgroße Stadt etwa acht Millionen DM für ihr Theater zusammen; es fehlen dann noch zwölf. Wenn das Land nur ebenfalls acht Millionen DM zahlen kann, bleibt ein Defizit von vier Millionen DM. Nun wird der Schuldige gesucht, der die vier Millionen DM zum Erhalt des Theaters nicht geben will. Die Kommune stellt bereit, was sie kann; und wenn jetzt das Land oder der Bund nicht mehr geben können, sind sie schuld, daß das Theater nicht erhalten werden kann. Das also sind die Schuldigen „von oben“; der Schuldige „von unten“ aber ist der Intendant, denn er könnte und müßte ja doch bitte diese vier Millionen DM einsparen durch neue Konzeptionen, Sparmaßnahmen und überhaupt und sowieso. So haben wir eine fatale Art von Schuldzuweisung, die zu den oben geschilderten Auswüchsen, zu chaotischen Zuständen und destruktiven Verhältnissen führt.

Es werden also aufgrund der gegenwärtigen Situation Subventionsverhältnisse angestrebt zwischen Kommune und Land, die so in keinem Altbundesland vorhanden sind, also möglichst eine Proportion 30 zu 70 (30 Prozent des Bedarfs gibt die Kommune, 70 Prozent kommen woanders her), mindestens aber 40 zu 60.

Jeder weiß, daß beim Länderfinanzausgleich die gebenden Länder nichts finanzieren werden und können, was sie sich selbst nicht leisten können; und insofern ist es folgerichtig, daß immer nur festgestellt wird, daß es in den neuen Bundesländern beispielsweise zu viele Theater gibt, und nirgendwo zu hören ist, daß es in den alten Bundesländern vielleicht hier und da zu wenige gibt.

Thüringen, das kleinste Bundesland, zählt acht Theater, die derzeit alle noch Mehrspartentheater sind, d. h., sie verfügen über Oper (dazu gehören Operette, Musical), Konzert, Ballett und Schauspiel. Es sind dies die Theater Meiningen, Eisenach, Nordhausen, Erfurt, Weimar, Rudolstadt, Gera, Altenburg. In jedem dieser Theater wirkt auch ein Orchester. Darüber hinaus gibt es in Thüringen fünf selbständige sinfonische Orchester. Partielle Fusionen zwischen Orchestern (z. B. Nordhausen-Sondershausen) haben bereits stattgefunden. Diese acht Theater und fünf sinfonischen Orchester (Gotha, Suhl, Jena, Greiz, Saal-feld) sind historisch gewachsene Kulturinstitutionen und keine „sozialistischen Kinder“, d. h., sie haben die Nazizeit und die DDR überlebt und sind positives Ergebnis der deutschen Kleinstaaterei bzw. heute Bestandteil des zu Recht hochgelobten Kulturföderalismus der Bundesrepublik. Nun aber „rechnen sie sich nicht mehr.“ Wer aber ist für die Kalkulation zuständig? Wer kommt für die Folgen auf?

Bisher haben die Rechtsträger und die Theater über notwendige strukturelle Maßnahmen offenbar nicht intensiv nachgedacht; zwei Jahre „finanzierter Bedenkzeit“ (gemeint ist die Bundesübergangsfinanzierung) sind letztlich ohne richtiges Bedenken vorübergegangen. Nun müssen eilige, d. h. übereilte Entschlüsse her. Die Thüringer Landesregierung hat ein Programm der Substanzerhaltung entwickelt, das von der Grundüberlegung her zu bejahen ist. Substanzerhaltung heißt hier: Strukturen zu schaffen, die auch künftig (d. h. bei voller Angleichung an Westtarife) zu bezahlen sind und ein Mehrspartentheater in jeder Region garantieren (d. h. Sicherung aller Theatergenres), ohne daß diese Sparten in jedem einzelnen dieser Häuser beheimatet sein müssen.

Und nun gehen die Diskussionen erst richtig los, und sie verschärfen sich: Sollen alle gleichermaßen -also beispielsweise jedes Orchester 10 bis 15 Stellen -einsparen, soll letztlich ein annäherndgleiches künstlerisches Niveau von allen erreicht werden, oder sollte man künstlerische Leistungszentren und Spitzenleistungen in Thüringen ermöglichen? Erfurt will (muß) beispielsweise das Orchester der Städtischen Bühnen von 82 auf 56 Musiker reduzieren. Natürlich kann man mit 56 Musikern Opern spielen, ob aber einer Landes-hauptstadt gemäß, bleibt fraglich.

Man könnte ja beispielsweise auch die Wiener Philharmoniker auf 60 reduzieren, würde so Geld sparen, und das, was sie spielen, wäre sicher auch noch erkennbar. Dies bedeutet letztlich: Qualitative Faktoren hängen auch in der Kunst mit quantitativen zusammen, und das entscheidende sind und bleiben -so hören wir es immer -die Personalkosten. Dabei sind die ostdeutschen Theater noch viel billiger als vergleichbare westdeutsche Theater. Sie arbeiten etwa um die Hälfte bis ein Viertel kostengünstiger, was sich vor allem aus den Personalkosten ergibt. Wir bezahlen unsere Mitarbeiter und Künstler eben nur unvollständig im Vergleich zu den westlichen Theatern, auch wenn sie dasselbe leisten.

Als Intendant kann ich in Weimar nur die Künstler präsentieren, die ich zu bezahlen in der Lage bin. Aber dafür, wie ich sie bezahlen muß, sind sie hervorragend. Bei der Notwendigkeit, mehr Geld von den Rechtsträgern fordern zu müssen, geht es nicht um Konkurrenzfähigkeit gegenüber den westlichen Nachbartheatem -finanziell konkurrenzfähig sind wir sowieso in keinem Fall. Für uns gilt das Motto, daß der Künstler aus sich selbst und nicht aus dem vollen zu schöpfen hat.

III. Übernahme nichtökonomischer Prinzipien

Unsere finanziellen Probleme ergeben sich auch aus den zwangsweise übernommenen westlichen Tarifstrukturen. Am Theater sind es sieben unterschiedliche Tarife, die in den neuen Bundesländern die künstlerische Produktion eher verhindern als ermöglichen -sie sind für bessere, eigentlich für „goldene Zeiten“ gemacht. Durch die Übernahme im Zeitraffer und die fehlenden Geldmittel erschwert diese starre Tarifstruktur zunehmend die Aufrechterhaltung kultureller Aktivitäten.

Einverstanden: Gute Arbeit soll auch am Theater gut, sehr gute bitte sehr gut bezahlt werden. Aber allzu viele Selbstverständlichkeiten -Leistungen, die zum Berufsbild gehören -müssen gesondert honoriert werden. Zu meiner großen Überraschung haben wir demzufolge nichtökonomische Prinzipien übernehmen müssen. Das Theater hatte sich offenbar dem gesellschaftlichen Umfeld angeglichen: Die Leistungsgesellschaft zahlt mehr und mehr nicht nur für die Leistung im Vertrag, sondern für „Sonderleistungen“, die eigentlich keine sind. Dies sei an einem Beispiel demonstriert:

Vor der Wende war der Chorsänger verpflichtet, im Rahmen seines Vertrages und seiner Entlohnung Chorkonzerte mitzusingen. Jetzt muß er für solche Konzerte extra bezahlt werden. Wenn ich also jetzt die IX. Sinfonie von Beethoven zu Silvester erklingen lassen will, muß ich meinen Rechts-träger um weitere Geldmittel bitten, weil jeder einzelne Chorsänger nach dem neuen Tarif für diese Leistung extra honoriert werden muß. In den alten Bundesländern, wo Geld genug da war, war das sicherlich kein Problem. So aber wird jetzt die IX. Sinfonie auf Jahre hinaus in den neuen Bundesländern wohl nicht mehr erklingen können. Statt also in Gemeinsamkeit Durststrecken und finanzielle Tiefs überwinden zu können, d. h. gemeinsam mehr zu machen, werden die vorhandenen personellen wie künstlerischen Möglichkeiten durch die Tarifgebundenheit eingeschränkt. Die Basis der Freiwilligkeit für gesonderte Leistungen ist deshalb ausgeschlossen, weil allzuleicht gegenüber den ostdeutschen Kollegen der Vorwurf von den westdeutschen erhoben würde, daß hier vor Ort Tarife gebrochen und „Errungenschaften“ einer langen bundesrepublikanischen Entwicklung aufs Spiel gesetzt würden.

Das Eigentümliche an den komplizierten tariflichen Zwängen ist, daß sie den Rechtsträgern im Osten im wesentlichen verborgen bleiben. Die zwischen dem Arbeitgeberverband Deutscher Bühnenverein und den Künstlergewerkschaften geschlossenen tariflichen Vereinbarungen sehen für Chorsänger, Ballettgruppen und Orchester ab 1. Juli 1993 eine Tariferhöhung auf 80 Prozent des Westniveaus vor. Da die Personalkosten nur schwer zu reduzieren sind, geht es an die Sachkosten. Warten wir ab, ob wir nicht ab Mitte 1993 zwar noch Schauspieler, Sänger usw. haben, aber keine Inszenierungen mehr, weil das Geld für Dekorationen und Kostüme nicht mehr vorhanden ist. Vielleicht auch im Deutschen Nationaltheater Weimar?Der Glaube, im wesentlichen mit Sponsoren einen Großteil von Inszenierungen finanziell absichem zu können, ist so groß, daß auch gegenteilige Erfahrungen aus den Altbundesländern diese Hoffnung im Moment nicht erschüttern können. Richtig ist, daß wir dieses oder jenes Bühnenbild bereits über Sponsoren realisieren konnten, aber das waren bisher unverhältnismäßig geringe Summen im Vergleich zu der Zahl von Inszenierungen pro Spielzeit und deren Kosten.

IV. Zwang zur Rechtfertigung

Der im Hinblick auf die Kosten vorhandene Rechtfertigungsdruck für Kunstinstitutionen -insbesondere für das Theater, aber auch für die Orchester -ist auffällig und verstärkt sich immer mehr:

Es ist zu rechtfertigen, warum das Theater so teuer ist, warum es so viele Beschäftigte hat -vor allem in den neuen Ländern -, warum das Theater nicht mehr Besucher anzieht. Vor allem durch die Besucheranzahl erhält eine Vorstellung ihre Qualitätszumessung. Die Formel ist simpel:

Viele Besucher -gutes Theater, volles Haus -gute künstlerische Leistung. Zufälligkeiten, beispielsweise die besonders günstige Lage eines Theaters, werden zur Konzeption hochstilisiert. Hinsichtlich der Besucherzahlen werden nicht auch offensichtliche ^gesellschaftliche Umstände wie Arbeitslosigkeit, andere Sorgen, andere Probleme wie das Zusammenbrechen von Betrieben gesehen, sondern es wird fast ausschließlich die Frage nach Konzeptionen gestellt. Ein anderes Zauberwort heißt neudeutsch „Marketing“. Aber für Werbung und Marketing sind ebenfalls keine finanziellen Mittel vorhanden.

Zugegeben: Wir haben in DDR-Zeiten über die zu hohe Zahl von Theatern mehr als geklagt und notwendige Schließungen diskutiert. Denn erstens fehlten für diese relativ große Zahl von Theatern die entsprechenden Künstler (besonders im Chor, Ballett und Orchester), und zweitens waren die Zuschauerzahlen rapide zurückgegangen, lange vor der Wende! Auch damals schon hatten Intendantenkollegen -wie heute auch -versucht, das Theater ausschließlich durch Operette und Musical zu retten. Ausdrücklich sei erwähnt, daß nichts gegen diese Genres zu sagen ist, wir spielen sie in Weimar auch. Gemeint ist aber die Ausschließlichkeit, dem Publikum allzu anbiederisch nachzulaufen. Das scheint offenbar zu allen Zeiten erfolglos zu sein.

Ein Intendantenkollege macht -sehr verärgert über die Situation in seinem Gebiet -eine andere interessante Ursache geltend. Er meint, daß es in der DDR offenbar keine wirkliche Entwicklung von Kunstbedürfnissen gegeben haben kann. Da diese ausgeblieben sei und auch hier die Konvention fehle, inS Theater zu gehen, seien die Häuser eben schlecht besucht. Darüber ist. wirklich nachzudenken. Uns fehlt z. B. die Handwerker-oder Kaufmannsfamilie, die sich zumindest im Theater zeigen will, aber sie hat in unseren Gegenden mit dem Aufbau des eigenen Betriebes zu tun oder verhindert gerade eine Eigentumsbedarfsklage gegen den eigenen Laden.

Die früheren „Anrechte“ auf Theaterkarten gibt es nicht mehr; von den betrieblichen ganz zu schweigen. Die Leute, die Arbeit und Geld haben, überlegen sehr genau, ob sie materielle Ziele zugunsten eines Theaterbesuches zurückstellen sollen. Es verhält sich also jeder privat so wie der Staat selbst: Wenn es ans Sparen geht, dann zuerst bei der Kunst und Kultur.

V. Theater in Weimar

Das Deutsche Nationaltheater Weimar hatte vor der Wende eine Auslastung von über 90 Prozent. Dies waren keine von der staatlichen Kulturpolitik absichtsvoll geschönten oder gemogelten Zahlen, denn unlängst hatte unser zuständiger Minister in Thüringen unsere Zuschauerzahlen des Jahres 1992 mit den Zahlen des Jahres 1988 verglichen und die Besucherzahlen aus der sozialistischen Zeit „hoffähig“ gemacht. Nun kämpfen wir um eine siebzigprozentige Auslastung unseres Theaters. Nach der Wende kam zunächst der totale Einbruch, als alle mit dem Trabant oder dem Wart-burg „shopping“ fuhren.

Die Stadt Weimar erlebte auch zu DDR-Zeiten schon zahlreiche Touristen (meist aus östlicher Richtung) in ihren Mauern; nun soll die Stadt von Touristen (aus aller Welt) leben. Zügig verbessert sich dafür die Infrastruktur. Das Theater lebt inzwischen immer vorrangiger und immer besser vom Freiverkauf.

Kaum in einer anderen Stadt sind die Erwartungen des Publikums aus der Region und die der Touristen so schwer miteinander zu vereinbaren: Der Weimar-Besucher wandelt auf den Spuren derKlassiker, erwartet Stücke von Goethe und Schiller und das möglichst so, „wie sie geschrieben worden sind“. Im Unterschied zum „Interpretationstheater“, das man von zu Hause kennt, erhofft man in Weimar das Theatermuseum. Natürlich trifft sich das mit vereinzelten einheimischen Forderungen an das Theater. Wie überall -nur zugespitzter -wird dann vorrangig über Kostüme oder Requisiten gesprochen. Es wird nicht der Bühnen-vorgang -Regie und Dramaturgie -bewertet, sondern das Ausbleiben des vielleicht erwarteten „klassischen“ historischen Bilderbogens beklagt.

Unsere ständig wiederholten Argumente lauten dann beispielsweise: „Goethe und Schiller haben zu ihrer Zeit mit ihren Werken Gegenwartsstücke auf die Bühne gebracht“ oder: „Goethe hat seine Iphigenie nicht im klassischen Kostüm, sondern im Kostüm seiner Zeit, d. h. in einem gegenwärtigen, auftreten lassen.“ „Klassik-Museum“ sieht man im Weimarer Theater nicht! Das widerspräche auch den ernsthaften Bemühungen aller Weimarer Kultur-und Kunstinstitutionen, die Stadt Weimar nicht zu einer „Klassikerstadt“ mit bloßen aktuellen Verzierungen zu machen, sondern zu einer Stadt der Moderne, d. h. des aktuellen Kunstproduzierens; zu einer Stadt mit dem Geist der Versuche, zum Ort der Vermittlung und kritischen Zuwendung zur Geschichte. Es soll keine bloße Ablagerung von Geschichte geben, mit der man sich nicht auseinandersetzen will, sondern Vermittlung von Geschichte für das heutige Problembewußtsein.

Was allerdings die Zuschauer unseres Einzugsbereichs, unsere ständigen Besucher, wirklich von ihrem Theater heute wollen, haben wir so richtig noch nicht herausbekommen. Sie sind in ihrem Verhalten weniger berechenbar geworden, auffällig jedoch ist die Entpolitisierung. Ein Stück über Macht und Machtmißbrauch, ein Stück über Lear und Stalin, durchaus „konservativ“ gebaut, mit guten Rollen für Schauspieler, das wir nun endlich spielen könnten, nämlich Stalin von Gaston Salvatore, mußte mangels Zuschauerinteresses sehr schnell wieder abgesetzt werden. Unterhaltung im vordergründigen Sinn wird jedoch auch nicht erwartet. Gegenwärtig haben den höchsten Publikumszuspruch Faust, Sommernachtstraum und die Fledermaus. Höchstes Lob für ihre Qualität erhalten Opemaufführungen wie Don Carlos von Verdi und Puccinis Turandot von denen, die sie erlebt haben, meist aus dem Altbundesgebiet; die Zuschauerzahlen sind jedoch dieser Qualität entsprechend nicht hoch genug.

Keinesfalls sind es die Eintrittspreise, die den Zuschauerstrom bremsen. Zu DDR-Zeiten kostete die teuerste Karte am Deutschen Nationaltheater Weimar zehn Mark. Für zwei Mark konnte man im Abonnement einen erstklassigen Platz haben. Das führte letztlich dazu, daß der ursprüngliche humanistische Anspruch, daß Kunst für jedermann zu bezahlen sein muß, pervertierte: Man konnte es sich leisten, die Karte zu kaufen und einfach verfallen zu lassen. So entstanden die „toten Seelen“: Zuschauer, die bezahlt hatten, zu Hause saßen, statistisch aber von den Theatern als Besucher mit abgerechnet wurden. 1991 haben wir die Preise heraufgesetzt, relativ spät und nicht drastisch. Erfahrungen anderer Häuser, die allzu forsch und allzu schnell erhöhten und dann wieder nach unten regulieren mußten, halfen uns dabei. Trotz Erhöhung der Eintritts-preise hat sich der Besuch verbessert. Die teuerste Theaterkarte kostet jetzt 35, -DM im Freiverkauf (bei Premieren 40, -DM). Wir nehmen für uns in Anspruch, daß man durch großzügige Ermäßigungsregelungen für 9, 50 DM noch einen sehr guten Platz erhalten kann. Die Preise werden aus meiner Sicht eine Weile so bleiben müssen.

VI. Das Deutsche Nationaltheater Weimar zwischen Tradition und Moderne

Das Deutsche Nationaltheater Weimar (DNT) ist ein Theater in einer Stadt mit 62000 Einwohnern; in diesem Theater sowie in der mit dem Haus verbundenen Staatskapelle Weimar arbeiten (nach den Sparmaßnahmen) 460 festangestellte Künstler und Mitarbeiter. Was also Wunder, wenn 1989, gleich nach der Wende, durchreisende Politiker in Weimar schnell mit dem Rat zur Hand waren, daß dieses Theater so nicht existieren könne, weil es ein vergleichbares Modell des Verhältnisses von Größe der Stadt zu Größe des Theaters im Altbundesgebiet nicht gäbe. Spätestens 1990 mußten sich die Berater mit den historischen Dimensionen dieses Hauses bekanntmachen, wenn sie schon nicht interessiert und fachkundig genug waren, sich von den Leistungen dieses Theaters im Zuschauersaal zu überzeugen.

Die programmatische Ernennung des Weimarer Hoftheaters, kurzzeitig als „Landestheater in Weimar“ fungierend, zum Deutschen Nationaltheater Weimar erfolgte am 19. Januar 1919 anläßlich derWahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung.

Die Geschichte institutionalisierten Theaterspiels in Weimar reicht bis in das Jahr 1779 mit dem Bau des ersten Komödienhauses und seiner Umwandlung in das Weimarer Hoftheater 1780 zurück. Die wechselnde Geschichte dieses Hauses war in ihren künstlerisch herausragendsten und innovativsten Phasen vom Wirken großer Künstlerpersönlichkeiten bestimmt und sie war von bedeutender Ausstrahlungskraft auf das Geistesleben in Deutschland und Europa. Im Schauspiel, Musiktheater oder in der langjährigen Geschichte der Weimarer Staatskapelle wurden durch das Engagement und die Arbeit von Künstlern wie Goethe, Schiller, Hummel, Liszt, Dingelstedt, R. Strauß, E. Hardt -um nur einige zu nennen -Maßstäbe gesetzt, aus denen bestimmte Traditionen Weimarer Theater-kunst abzuleiten sind, die wiederum als diskussionswürdige Kriterien sowohl bei der Wertung vergangener Leistungen als auch im Hinblick auf die künftige Profilierung des Deutschen Nationaltheaters Anwendungen finden könnten.

Eckpunkte, welche die Weimarer Traditionen -bei aller Widersprüchlichkeit und Entgegensetzung und keinesfalls als Kontinuum -markieren und Maßstäbe setzen, sind beispielsweise: der aus den philosophischen Quellen der Aufklärung gespeiste Denkansatz bei der Funktionsbestimmung von Theater; die angestrebte gesellschaftliche Präsenz von Theaterkunst, ihr menschenbildender und kulturelle Identität stiftender Faktor; der Innovationswille, mithin die ständige Kritisierbarkeit und Entwicklungsfähigkeit von Theaterkunst; das spannungsvolle Verhältnis von Produktion und Reproduktion von Kunstwerken; Rolle und Bedeutung der Ensemblekunst; Entwicklung der Zuschauerkompetenz durch höchste Anforderungen an die Qualität; Förderung junger Künstler.

Eine bis auf den heutigen Tag besondere Rolle in der Weimarer Theatergeschichte spielen die zahlreichen, unterschiedlich forciert vorgenommenen und unterschiedlich politisch besetzten Versuche der Ausbildung zum Nationaltheater, respektive zur Herausbildung einer deutschen Nation mittels des Nationaltheaters. Letzteres ist eine Thematik, die in ihrer theoretischen und praktischen Antizipation im Hinblick auf die künftige Profilierung des Deutschen Nationaltheaters -im Zusammenhang mit den kulturellen Prozessen in Europa und mit der angestrebten Entwicklung zur Kultur-hauptstadt Europas 1999 -von besonderer Bedeutung ist.

Das Deutsche Nationaltheater Weimar in seiner jetzigen, historisch gewachsenen Struktur entspricht der für Deutschland besonderen, im 18. Jahrhundert einsetzenden Entwicklung von Theaterinstitutionen, die alle Theatergattungen in einem Haus vereinigten. Das DNT ist ein klassisches Mehrspartentheater: Schauspiel, Musiktheater (Oper), Ballett, Staatskapelle. Auf zwei Spiel-stätten werden pro Spielzeit im Schnitt 15 Neuinszenierungen neben den Inszenierungen aus dem laufenden Repertoire zur Aufführung gebracht. Dazu kommen zehn Sinfoniekonzerte und zahlreiche Sonderkonzerte bzw. Gastspiele anderer Theater und Orchester. Die Leistungsfähigkeit und Professionalität der künstlerischen Ensembles und Solisten am DNT sind international anerkannt und überdurchschnittlich hoch. Erfolgreiche Gastspiele aller Sparten im In-und Ausland sowie die Akzeptanz durch einen kontinuierlich ansteigenden Besucheranteil aus den alten Bundesländern und dem Ausland bestätigen das.

Neben Neuinszenierungen und Repertoireaufführungen gibt es eine Vielzahl von zusätzlichen Angeboten, die auf bestimmte Zielgruppen orientiert sind (z. B. für Pädagogen, Schüler), assoziative Erweiterungen für bestimmte Spielplan-bzw. Konzertereignisse ermöglichen oder den kommunikativen Faktor fördern (Matineen, Soireen, Filmveranstaltungen, Lesungen, Ausstellungen usw.). Ungenügend können z. Zt. Kinder und Jugendliche mit altersspezifischen Angeboten bedacht werden. Ein Hauptgrund dafür -neben unzureichender zahlenmäßiger Stärke und altersmäßig ungünstiger Zusammensetzung des Schauspielensembles -ist das Fehlen einer geeigneten Spielstätte. Hier liegt auch die Ursache für die unzureichende, den Maßstäben des DNT wirklich unangemessene Auseinandersetzung mit neuen Werken, besonders in den Sparten Schauspiel und Musiktheater (Oper). Das Fehlen einer für künstlerische Experimente und die Schaffung neuer Kommunikationsstrukturen geeigneten Spielstätte schließt die Diskussion vieler wichtiger neuer Werke für den Spielplan von vornherein aus.

Ein konzeptioneller Ansatz für die künftige inhaltliche Profilierung des DNT -nach der deutschen Wiedervereinigung und im Hinblick auf die Integration der Nationalstaaten in einem europäischen Staat -könnte in der Geschichte des Theaters selbst, d. h. in der kritischen Aufarbeitung der deutschen Nationaltheaterbestrebungen und ihrer Stiftung von nationaler Identität, liegen. Das hieße, die Hauptanstrengungen auf die Entwicklung wirklicher, lebendiger Beziehungen zum Erbe anstelle von Bildungstheatertraditionen zu richtensowie die Innovationskraft der Künstlerpersönlichkeiten, die dem Weimarer Theater zu Weltruhm verhelfen haben, methodisch aufzugreifen: -Brüche, Sprünge, Gegensätzlichkeiten, die Widersprüche zwischen Anspruch und Ergebnis ihrer Arbeiten und Vorhaben in der Theater-praxis deutlich zu machen und für den öffentlichen, möglichst breiten Kunstdiskurs freizusetzen. -Theater für eine breite Öffentlichkeit, das aber nicht von der Voraussetzung eines idealen, homogenen Publikums ausgeht, sondern die Pluralität der Gesellschaft/des Publikums berücksichtigt. Also: kontroverse Angebote für ein kontrovers zusammengesetztes Publikum. -Präsentation anstelle von Repräsentation; Kommunikation anstelle von Konsumtion. -Zugang für alle sozialen Schichten, d. h. erschwingliche Preise. -Lebendiges Theater anstelle musealer Aufbewahrung und Rekonstruktion des Vergangenen. -Wahrung von Leistungsfähigkeit und Ausstrahlungskraft durch Beibehaltung des Ensemble-prinzips (das schließt die Verpflichtung von Gästen aus künstlerischen Gründen nicht aus). -Bindung von profilierten, interessanten deutschen und internationalen Gästen vor allem im Regiebereich. -Der Versuch, bei all den Vorhaben auch jugendliches Publikum zu erreichen.

Die geplante Wiedereinrichtung der Studioausbildung von Schauspielstudenten der Theaterhochschule Leipzig ab Herbst 1993 wird stimulierend für die Arbeit des Schauspielensembles sein, auch Möglichkeiten für mehr Inszenierungen vor allem im Kinder-und Jugendbereich schaffen, stellt allerdings auch dringend zu beantwortende Fragen nach den notwendigen Raum-und Spielstättenkapazitäten.

Im Hinblick auf die Bewerbung Weimars als die Kulturhauptstadt Europas ist ferner ein Theater-konzept denkbar, das in sich vielseitig aufgebaut ist und das neben der verpflichtenden, aber innovativen Beschäftigung mit dem nationalen und internationalen Erbe sowie neben der verstärkten Auseinandersetzung mit moderner Theater-und Musikliteratur in allen Sparten gezielt die Präsentation von Kultur/Theaterlandschaften Europas in Form von Eigenproduktionen und Gastspielen mit notwendig öffentlichem Diskurs einbezieht.

VII. Strukturkrise

Man kann sich aus all dem eine Vorstellung darüber machen, daß eine Stadt und ein Bundesland allein mit dem Erhalt der Leistungsfähigkeit eines solchen Theaters finanziell überfordert sind. Den Theaterleuten in Weimar hilft dabei noch -den Kollegen der anderen Theater in Thüringen leider weniger -der Glücksumstand, in einer kulturhistorisch besonders bedeutsamen Stadt arbeiten zu dürfen, und es ist ein weiterer Glücksumstand, daß die Stadtväter Weimars sich so nachdrücklich zum deutschen Nationaltheater und zu dessen Sicherung der Leistungskraft auch als Magnet für Stadt und Region bekennen und so ein ausgewogenes Verhältnis von Wirtschaft und Kultur, Geist und Kommerz anstreben.

Die Grenzen der Sparsamkeit sind an allen Thüringer Theatern erreicht; alle haben ihre „Schularbeiten“ gemacht nach dem Motto: „Das, was nicht zusammenwachsen soll, ist abzuspecken“. 30 bis 60 Mitarbeiter sind von jedem Thüringer Theater inzwischen entlassen oder in den Vorruhestand geschickt worden -dort ein Pförtner, da das Reinigungspersonal, hier ein Dramaturg usw. Einzelne Stellen noch zu streichen, bringt nichts mehr -vielleicht noch einen etwas effektiveren Personaleinsatz, aber keinesfalls Einsparungen, die spürbar sind. Jetzt geht es um den Erhalt der Substanz, um die Sicherung der noch verbliebenen Strukturen.

Es gilt, alles so klug zu machen, daß aus der Strukturkrise des Theaters -die wir freilich neben den eigenen finanziellen Problemen inhaltlich auch aus den Altbundesländern übernommen haben -keine Krise des Theaters wird. Das Theater sei die menschlichste der Künste, weil sich der Mensch hier selbst gegenübertrete, behauptet Brecht. Die Geschichte des Theaters ist zugleich die Geschichte seines Bestehens und seines Überlebens. Seine Größe liegt in seiner Spontanität, seinem Sinn für Spaß, Vergnügen und Sinn für Unterhaltung. Ob sich darum Kunst -die ja Menschen empfindsamer macht, ihre Urteile gebildeter, die Wertvorstellungen schafft und zu verinnerlichen sucht, die Menschlichkeit einüben will -nur „rechnen“ muß?

Diese Frage haben sowohl die West-wie die Ost-theater, haben die wesentlichen Kunstinstitutionen im alten und im neuen Bundesgebiet auszuhalten. Die Solidarität der Theater untereinander wächst. Die Bedrohung der westlichen zählt noch in (Haushalts-) Jahren, bei uns in Wochen und Tagen. Richard von Weizsäcker hat am 1. Juni 1987 auf der Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins, also vor Theaterleuten, sicher nicht nur aus Gründen der Diplomatie im Umgang mit seinen Zuhörern gesagt: „Manchmal heißt es, Theater sei Luxus. Dann ist Regierung eben auch ein Luxus. Zuweilen fragt sich, auf welchen Luxus man eher verzichten könnte. ... Aber ebensowenig, wie sich die Notwendigkeit des Theaters allein aus seiner gesellschaftlichen Bedeutung herleiten läßt, ebensosehr wäre es unsinnig, die Berechtigung des Theaters mit dem Argument zu bestreiten, es sei nicht kostendeckend.

Theater ist eine notwendige und unersetzliche Dimension unseres Lebens, unseres Zusammenlebens, unserer Kultur. Es ist unser ureigenstes Interesse, Theater möglich zu machen und abzusichern. Die von Bundesland zu Bundesland stark unterschiedlichen Formen der Förderung billigen dem Theater keine gesicherte Rechtsposition zu. Es ist höchst befremdlich, daß in unserer Gesellschaft Leistungen, die im Jahr annähernd zwei Milliarden DM umfassen, von denen der Lebensunterhalt von 27000 oder mehr Menschen abhängt und auf deren Leistungen viele Millionen Menschen von Saison zu Saison warten, in einem gleichsam rechtsfreien Raum erfolgen. Durch die Diskussion über ihre Finanzierung geraten die Theater in einen ständigen Rechtfertigungsdruck. Immer wieder müssen sie nicht nur ihre sachliche Arbeit und ihre Kosten, sondern auch ihre Existenz schlechthin aufs neue legitimieren ... Die Vielfalt unserer Theaterlandschaft ist das vielleicht kostbarste Vermächtnis historischer deutscher Kleinstaaterei... In aller Welt bewundert und beneidet man uns darum ... Wollten wir die Traditionen und Regionen unserer vielfältig gewachsenen Theaterlandschaft mißachten, wollten wir dafür den Grundsatz öffentlicher Finanzierung unserer Theater peisgeben, dann wären wir mit unserer Kultur und unserem Menschenbegriff am Ende.“

Die deutschen Theater waren und sind teuer, wahrscheinlich sind sie die teuersten der Welt -wie manche anderen Einrichtungen und Errungenschaften der Bundesrepublik auch. Jetzt wird sich heraussteilen, ob man tatsächlich eine kulturelle und im Grunde nicht entbehrliche Lebensqualität subventioniert hat -oder nur eine Blume im Knopfloch, die verwelken kann, wenn der Anzug zu eng wird.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Fritz Wendrich, geb. 1934; seit 1987 Generalintendant am Deutschen Nationaltheater Weimar.