I. Historisch-politische Besonderheiten im Vergleich
Spanien war eines der Länder, das bei der (Wieder-) Entdeckung des Themas „Region“ in Europa in den siebziger Jahren große Aufmerksamkeit fand. Dabei wurde besonders die historische Tiefe betont, in der in Spanien bestimmte Regionen wurzeln, und ein universelles Potential vermutet, -das eine über den Nationalstaat hinausweisende Zukunft eröffnen könnte.
Katalonien war eine dieser besonderen Regionen („Nationen ohne Staat“). Die Freisetzung dieses regionalen Potentials erschien als der Haupteinsatz der Ablösung der Franco-Diktatur. Zugleich schien dies mit regionalen Ausdifferenzierungsprozessen in den Nationalstaaten des europäischen Nordens -auch in der Bundesrepublik Deutschland -zu korrespondieren. Spanien wurde so zum Kronzeugen für eine europaweite Nord-Süd-Synergie der Regionalisierung auf Kosten der Nationalstaaten
Regionalisierung wurde dabei vor allem als Dezentralisierung verstanden, d. h als Auslagerung von ökonomischer, politischer und kultureller Kompetenz in Teilräume innerhalb des Nationalstaates Entwicklungstheoretisch wird dabei die Existenz einer territorialstaatlich verfaßten Moderne immer vorausgesetzt. Regionalisierung gilt als Fortsetzung der modernen Ausdifferenzierung von politischen, ökonomischen und kulturellen Handlungsebenen. Die regionale „Klein-Arbeitung“ von Problemen soll eine größere Facettenvielfalt und Bürgernähe ermöglichen. Gleichzeitig wurde diese regionale Dezentralisierung auch als Gegensatz zur Ausdifferenzierung verstanden: Im kleineren, regionalen Raum soll eine neue, übersichtlichere Integration der verschiedenen Handlungsebenen stattfinden. Insgesamt betonte dieser Regionalisierungsansatz das endogene Potential der Regionen
Im Hinblick auf die Entwicklung Kataloniens erscheint diese Konzeption heute aus zwei Gründen unzureichend: 1. Die jüngere europäische Geschichte zeigt, daß die territorialstaatliche Verfassung der Moderne nicht als sichere Errungenschaft vorausgesetzt werden kann. Im Mittelmeerraum hat sich die Bildung von Nationalstaaten trotz früher Versuche schwer-getan Im deutsch-spanischen Vergleich gibt es hier eine folgenreiche Verwechslung bei der territorialen Ausgangssituation, die auch das Verständnis Kataloniens berührt. Im Sinne staatlicher Zentralisierung sind beides eher „schwache“ Nationen -aber in einem ganz verschiedenen Sinn. Deutschland hat eine relativ ausgeglichene und dichte sozioökonomische Struktur, multizentrisch, austauschintensiv, einsprachig. Es ist diese Stärke des territorialen Unterhaus, die ein Grund für die „Verspätung“ bei der Nationalstaatsbildung war. Spanien ist hingegen ein „früher“ nationalstaatlicher Versuch, aber im Zusammenhang mit einem schwachen territorialen Unterbau: disparat, verkehrsarm, mehrsprachig. Lokale und regionale Besonderheiten waren hier eher Ergebnis von Isolierung als von vielfältigen territorialen Beziehungen. Der Wirtschaftshistoriker J. Nadal beschreibt in diesem Zusammenhang das „Scheitern“ früher Ansätze zur Bildung Spaniens zur Industrienation *Die Gleichsetzung von Regionalisierung in verschiedenen Teilen Europas ist also historisch wie politisch fragwürdig. 2. Auch die Verlaufsform der Regionalisierung seit dem spanischen Demokratisierungsprozeß („Transiciön“) entspricht nicht dem Bild einer Freisetzung regionaler Potentiale aus einem konsolidierten nationalstaatlichen Zusammenhang. Die Transiciön mußte zugleich nationalstaatliche und regionale Aufgaben bewältigen. Sie tat dies in einem vorsichtigen, zwischen den sozialen Gruppen paktierten Prozeß. Auch die Regionalisierung wurde in einem solchen graduellen Prozeß mit verschiedenen Akteuren, Geschwindigkeiten und institutioneilen Konstruktionen abgestimmt. Für die historischen Regionen (Nationen) in Spanien wie Katalonien bedeutete dies, daß separatistische Ansprüche ausgeschlossen blieben. Die historischen Regionen bekamen aber gegenüber anderen Regionen in ihrer politisch-institutionellen Ausstattung einen deutlichen Vorzug. Für Spanien insgesamt bedeutet das bis heute, daß es keine einheitliche Ebene aller Regionen gibt, auf der sie gemeinsam handeln können. Spanien ist ein „Staat der Autonomien“, aber kein föderaler Staat
Aus beiden Gründen ergeben sich hier für eine Modernisierung durch Regionalisierung zusätzliche Probleme und Aufgaben. Es kann nicht nur um eine „Stärkung der Regionen“ im Rahmen eines bestehenden Bundesstaats gehen, sondern zunächst um die Teilnahme der Regionen an der Herstellung eines föderalen Gemeinwesens. Die Regionen haben also nicht nur eine differenzierende, sondern auch eine konstituierende Rolle. Da sie sich zugleich als Akteure in der Europäischen Gemeinschaft bewegen, verdoppelt sich ihre Rolle.
Die Rolle im „Europa der Regionen“ und die Rolle im „Spanien der Regionen“ sind jedoch nicht deckungsgleich. Gerade für starke Regionen wie Katalonien im „Norden des Südens“ am nordwestlichen Mittelmeerbogen gibt es die Option, auf europäischer Ebene zu agieren, ohne auf die spanische Rolle einzugehen. Das bedeutet, föderalen Aufgaben im eigenen Land auszuweichen und zu bilateralen Beziehungen mit nationalstaatlichen Institutionen zu neigen. Im folgenden wird diese neue Konfliktlage am Beispiel Kataloniens dargestellt, wobei die Rollen mit raumwissenschaftlichen Fragestellungen untersucht werden.
II. Die Relativierung einer früheren Sonderrolle Kataloniens
Walther L. Bernecker und Josef Oehrlein haben auf einen historischen Rollenwechsel zwischen der sozioökonomischen und der politischen Modernisierung Spaniens hingewiesen, der die Grundlage der Transiciön bildete Während in der frühen Moderne die politischen Verhältnisse den sozioökonomischen Verhältnissen vorauseilten und immer wieder an deren Rückständigkeit scheiterten, hatte Spanien im Schatten des Franco-Regimes erstmals ein modernes gesellschaftliches und wirtschaftliches Profil entwickelt, das dann einen dauerhaften Übergang zur politischen Demokratie ermöglichte.
Daß dieser Rollenwechsel auch eine Veränderung regionaler Rollenverteilungen in Spanien bedeutete, ist bisher wenig reflektiert worden. Der Rückstand der sozioökonomischen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert hatte sich ja auch darin ausgedrückt, daß die Modemisierungs-Ansätze sich auf einige wenige Regionen konzentrierten. Neben dem schwerindustriellen Komplex im Baskenland und in Asturien war das vor allem Katalonien mit seiner textil-und metallverarbeitenden Industrie. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte Spanien daher weitgehend als bipolare Beziehung zwischen einem politisch zentralisierten Staat und einer regionalisierten Industrialisierung beschrieben werden.
Diese territoriale Aufteilung zwischen politischer Hauptstadt (Madrid) und Wirtschaftsregion (Katalonien) hatte auch soziale Konsequenzen. Die kuriosen Begegnungen zwischen den säbelrasselnden, eleganten und verschwenderischen Madrider Senoritos und den verhandlungsgeschickten, sparsamen und etwas bäurischen katalanischen Unternehmem haben Literatur gemacht Die regionale Industrialisierung hatte dabei einen internationalen Aspekt: Katalonien versuchte, europäische Neuerungen in Wirtschaft und Kultur zu adaptieren. Beobachter nannten Barcelona die „am wenigsten spanische Stadt von Spanien“ Die sozioökonomische Stellung Kataloniens korrespondierte hier mit seiner geographischen Lage „auf halbem Weg“ zwischen Madrid und „Europa“. Der Konflikt mit der Madrider Zentralregierung hielt sich aber dadurch in Grenzen, daß die katalanische Industrie für den spanischen Markt produzierte und am Madrider Zentralismus aus protektionistischen Gründen durchaus interessiert war. Beide Seiten waren also auch komplementär.
Diese Rollenverteilung wurde in dem Maße obsolet, wie die sozioökonomische Modernisierung in Spanien insgesamt fortschritt. Wirtschaftshistoriker setzen die Industrialisierung Spaniens mit den sechziger Jahren an Im Schatten des Franco-Regimes veränderte sich dabei nicht nur die traditionellg Rollenverteilung zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, sondern auch die territoriale Aufteilung. In dieser Zeit entstanden neue Industrieregionen im Großraum Madrid, im Ebro-Becken und entlang der Mittelmeerküste. Diese Neuverteilung wurde zunächst noch durch andere Entwicklungen zugunsten Kataloniens überdeckt: In der ersten Phase der Industrialisierung konzentrierte Katalonien einen wichtigen Teil neuer Industrien (Metallverarbeitung, Fahrzeugbau, Chemie) und verzeichnete überproportionale Zuwachsraten. Die Krise der traditionellen Landwirtschaft-regionen erhöhte zunächst noch den Anteil Kataloniens am Bruttoinlandsprodukt (BIP) Spaniens. Die starken Migrationen aus dem Süden (Andalusien) konzentrierten sich ebenfalls hier.
Erst in der Industriekrise von 1975 bis 1985 wurde die Tendenz zu einer territorialen Neuverteilung der sozioökonomischen Entwicklung deutlicher sichtbar. Der Anteil Kataloniens am spanischen BIP sank; der Vorsprung pro Einwohner verringerte sich Die Binnenmigration kam Anfang der achtziger Jahre zum Stillstand. Die Sonderrolle Kataloniens bei der sozioökonomischen Modernisierung, die die Region seit dem Durchbruch der Textilindustrie vor fast 100 Jahren gespielt hatte, relativierte sich. Nicht durch Scheitern, sondern durch Erfolg: durch die Ausbreitung des industriellen Modells mit seinen soziokulturellen Implikationen auch auf andere Regionen. In diesem Sinn kann man von einer „Katalanisierung“ Spaniens -inbesondere der neuen Industrieregionen -sprechen. Auch der alte Strukturgegensatz zwischen der Hauptstadt Madrid und der Wirtschaftsregion Barcelona relativierte sich. Diese historische Umstrukturierung bildete eine Vorausetzung für den Erfolg der spanischen Transiciön. Sie ermöglichte auch den zwischen der Zentralregierung und den katalanischen Parteien paktierten Über-gang zum Autonomiestatut.
Dieser Relativierungsprozeß wird dadurch leicht übersehen, daß durch das Autonomiestatut die katalanische Gesellschaft ihre Sprache und eine Reihe politischer Kompetenzen (wieder-) erobem konnte. Es fand also gleichzeitig eine Relativierung und eine Wiederbesetzung des katalanischen Regionalraums statt. Katalonien bekam in Spanien ein neues Eigengewicht in dem Moment, als seine sozioökonomische Sonderrolle zu Ende ging.
III. Eine neue europäische Sonderrolle?
Katalonien ist heute nach wie vor eine überdurchschnittlich starke und reiche Industrieregion. Mit einem Industrieanteil von 41 Prozent an den Beschäftigten (1987) ist es mit europäischen Wirtschaftsregionen wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Nord-Pas-de-Calais, Lorraine, Yorkshire-Humberside, Piemont und der Lombardei vergleichbar Seit Mitte der achtziger Jahre haben eine Reihe von Faktoren die Position Kataloniens erneut verändert. Am wichtigsten war dabei eine neue Dynamik der europäischen Beziehungen: der Beitritt Spaniens zur EG (1985), die Vollendung des Binnenmarktes (1993) und das Maastrichter Projekt. Dazu kam die allgemeine Erholung der Wirtschaft.
Eine Reihe von Indizien deuten darauf hin, daß Katalonien in besonderer Weise von dieser Entwicklung profitierte: Die Zuwachsraten beim Bruttoinlandsprodukt lagen über dem europäischen und spanischen Durchschnitt; beim BIP pro Einwohner überschritt Katalonien 1992 den EG-Durchschnitt und vergrößerte den Abstand zum spanischen Durchschnitt; bei den Auslandsinvestitionen in Spanien erhöhte die Region ihren Anteil und übertraf 1991 sogar Madrid; bei der Arbeitslosigkeit, die zwischen 1975 und 1985 überproportional gewachsen war, gelang ein stärkerer Abbau als im spanischen Durchschnitt. Im gleichen Zeitraum verstärkten sich die Außenhandelsbeziehungen mit der EG. Der Anteil der EG an den Importen stieg von 52, 3 Prozent (1985) auf 70, 9 Prozent (1990); der Exportanteil von 40, 2 Prozent auf 62, 8 Prozent
Zugleich entstanden eine ganze Reihe von europäischen interregionalen Kooperationsprojekten mit Katalonien als einem der Hauptakteure: die „Vier-Motoren-von-Europa“ -Verbindung mit Baden-Württemberg, Rhones-Alpes und der Lombardei; die Bildung einer „Euregio“ zusammen mit den Regionen Midi-Pyr 6n 6es und Languedoc-Roussillon; die „Ruta de alta tecnologfa“ als Regionen-Kette von der Comunidad Valenciana bis zur Lombardei; das „City Network C 6“ (Valencia, Zaragossa, Barcelona, Palma de Mallorca, Toulouse, Montpellier)
Diese Entwicklung hat eine neue Form des Regionalismus ausgelöst. Katalonien beansprucht eine starke Rolle in einem „Europa der Regionen“. Der Kern dieses Konzepts besteht darin, daß durch die Intemationalisierung der sozioökonomischen Entwicklung und durch die Übertragung von bisher nationalstaatlichen Kompetenzen auf EG-Institutionen den Regionen ein Aktionsfeld ohne Grenzen und Zwischenebenen eröffnet wird. In einem Punkt stimmt dieser neue Regionalismus also mit dem alten Regionalismus der siebziger Jahre überein: Es wird ein unmittelbarer Zugang regionaler Potentiale zu globalem Handeln angenommen.
In einem anderen Punkt unterscheiden sie sich jedoch: Der neue Regionalismus bezieht sich auf den wirtschaftlichen Integrationsraum der EG und auf unternehmerische Handlungsweisen. Er knüpft an die Konkurrenz um die Teilnahme an internationalen Bewegungen von Personen, Waren und Kapital an. Die Regionen nehmen hier selbst den Charakter von Unternehmen an, die versuchen, regionale Besonderheiten zu kapitalisieren (Schlüsselpositionen im europäischen Raum, landschaftliche und urbane Qualitäten, kulturelle und technologische Traditionen). Die interregionalen Kooperationen Kataloniens sind zugleich Kooperationsformen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor („Public-Private-Partnerships“). Ein dritter Akteur in dieser Kooperation ist die EG-Kommission. Das strukturelle Instrumentarium der EG hat sich -insbesondere seit der Süderweiterung der EG -auf die regionale Förderung konzentriert. Katalonien erhält hier Mittel aus den Strukturfonds für Ziel 2 (altindustrielle Problemgebiete) und für Ziel 5 b (Entwicklung der Bergregionen), nicht jedoch aus dem größten, für Ziel 1 bestimmten Fonds (Regionen mit Entwicklungsrückstand).
Die Gemeinsamkeit dieser verschiedenen Kooperationen besteht in dem Versuch, die Region als Akteur zu dynamisieren. Es entsteht ein „Unternehmen Katalonien“, das versucht, sich in eine strategische Position im europäischen Wirtschaftsraum zu bringen. Zu dieser Verwandlung der Region in ein Unternehmen gehören insbesondere Investitionen im Bereich von Infrastruktur und Human capitäl. Sozialleistungen und Umweltschutz werden in die Strategie der Wettbewerbsfähigkeit eingebaut. Ein Beispiel ist das „Wirtschaftliche Entwicklungsprogramm 1992-1995“ der katalanischen Landesregierung
Es ist nicht Ziel dieses Beitrags, die Erfolgsaussichten Kataloniens im europäischen Wettbewerb im einzelnen zu untersuchen. Es liegen inzwischen eine Reihe von Untersuchungen mit unterschiedlicher Methodik vor. Dabei fällt auf, daß die Resultate stark differieren. Während Katalonien in einer Studie objektiver Indikatoren unter „mittleres Niveau, ungünstige Entwicklung“ eingestuft wird erhält es in Studien auf der Grundlage von Untemehmensbefragungen erheblich bessere Noten In diesem Beitrag sollen einige prinzipielle Defizite des „Unternehmens Katalonien“ und die Notwendigkeit einer umfassenderen Rollendefinition aufgezeigt werden.
IV. Die föderalistische Lücke
Eine Untersuchung der regionalen Entwicklung und Rolle Kataloniens kann sich nicht auf eine Bewertung der Dynamik von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit allein beschränken. Als territorial-staatliche Einheit ist eine Region -genauso wie der nationale Territorialstaat -ein normatives Gebilde. Ihre Kompetenzen, z. B. im Bereich des Steuer-und Finanzwesens, der Ausbildung, der Gesundheitsversorgung, der Sicherheit, der Kultur, der Raumordnung etc., sind prinzipiell weiter angelegt als unternehmerische Zielsetzungen. Diese Kompetenzen bilden aber den Rahmen, in dem sich die Aktivitäten von Unternehmen, Individuen und sozialen Gruppen bewegen (ohne daß diese Aktivitäten die Möglichkeiten des Rahmens jeweils voll ausschöpfen). Eine territorialstaatliche Einheit -Nation oder Region -stellt insofern immer einen (offenen) „Horizont“ für das soziale Handeln dar. Das gilt sowohl bei regionalen Solidarleistungen für sozial schwache Gruppen als auch bei Infrastrukturleistungen für unternehmerischen Erfolg.
Zu diesem normativen Begriff der Region gehört auch die (obligatorische) Mitwirkung an gemeinsamen Aufgaben im größeren nationalstaatlichen Rahmen. Der Begriff des „Föderalismus“ geht also über „Autonomie“ hinaus. Seine allgemeine Bedeutung hegt in der Ersetzung vertikaler durch horizontale Handlungsstrukturen. Dezentralisierung ist dabei ein Teilaspekt. Die Bedeutung dieser normativen, föderalen Konzeption von Region läßt sich am Beispiel Kataloniens zeigen, und zwar gerade in der gegenwärtigen Entwicklungsphase und im Bereich unternehmerischer Aktivität. Die sozioökonomische Struktur Kataloniens weist verschiedene Defizite auf, die auch im Entwicklungsschub von 1985 bis 1990 nicht überwunden wurden. Nicht nur die Außenhandelsbilanz, sondern auch die Technologiebilanz zwischen katalanischen und ausländischen Unternehmen ist negativ und hat sich weiter verschlechtert Bei der Unternehmensstruktur weist Katalonien im europäischen Vergleich einen extrem hohen Anteil von Kleinbetrieben auf sowie eine starke Kontrolle der größeren Betriebe durch ausländisches Kapital Sektoriell sind in der Region gerade solche Industriezweige stark vertreten, die im Rahmen des EG-Binnenmarkts als besonders konkurrenzgefährdet gelten Damit weist die Region starke Merkmale aus der Phase auf, als Katalonien europäische Industriestandards für Spanien nachholte („substituierte“). Zugleich ist eine Ersetzung der Orientierung der katalanischen Industrie auf den spanischen Markt durch eine Spezialisierung für den europäischen Markt nicht absehbar. Der Anteil des spanischen Marktes am Absatz der katalanischen Unternehmen ist nach wie vor hoch (1988: 89, 4 Prozent)
Diese Indizien sprechen gegen die Annahme, daß Katalonien seine alte industrielle Sonderrolle innerhalb Spaniens unmittelbar in eine Sonderrolle in Europa überführen könnte. Die Modernisierung der katalanischen Wirtschaft bleibt in hohem Maße an den gesamtspanischen Modernisierungsprozeß gebunden. Dies zeigt sich in Schlüsselbereichen wie Forschung und Entwicklung, Verkehrsinfrastruktur oder bei der Finanz-und Währungspolitik. Gerade dort, wo es auf die Handlungsfähigkeit der Akteure ankommt (z. B. bei der Finanzausstattung der Unternehmen), reichen einzelne regionale Dienstleistungen und Kooperationen nicht aus. Es kommt auf normative Standards an, die durch regional-interne Institutionen nur teilweise hergestellt werden können
Dies weist die Grenzen der Regionalisierungskonzepte der „Autonomisierung“ auf, spricht aber nicht für eine Rückkehr zu vertikalen, zentralstaatlichen Strukturen. Vielmehr zeigt sich das Fehlen horizontaler, föderaler Strukturen, die den Regionen eine Mitgestaltung gesamtspanischer, normativer Problemlösungen gestatten. Ein Blick auf die Finanzpolitik offenbart diese „föderale Lücke“: Seit 1982 haben die spanischen Regionen ihren Anteil an den öffentlichen Haushalten von 4, 5 Prozent auf 17, 6 Prozent (1990) gesteigert Auf der Einnahmenseite haben sie aber keine steuerpolitische Mitgestaltungsmöglichkeit und sind im wesentlichen auf Transferzahlungen der Zentralregierung angewiesen.
Diese Lücke ist auch deshalb bemerkenswert, weil die sozioökonomische Realentwicklung der spanischen Regionen horizontale Handlungsstrukturen heute erleichert. Von 1985 bis 1990 haben fast alle Regionen beim BIP pro Einwohner im Vergleich zum EG-Durchschnitt aufgeholt. Innerhalb Spaniens hat sich zwischen den ärmsten und reichsten Regionen ein breiteres Mittelfeld herausgebildet. Entwicklungstheoretisch ist dieser Fall deshalb interessant, da sich einerseits die Disparitäten zwischen Arm und Reich nicht verringert haben, sich andererseits aber zwischen diesen „Polen“ ein „drittes Spanien“ konsolidiert hat. Es handelt sich also nicht um eine Polarisierung sondern um eine Verdichtung des regionalen Panoramas Die mittleren Regionen könnten ein vermittelnder Faktor für eine Föderalisierung werden.
Es ergibt sich also in mehrfacher Hinsicht eine „föderale Lücke“: -zwischen der inner-regionalen Kompetenz („Staat der Autonomien“) und der inter-regionalen Kompetenz (Bundesstaat) der Regionen; -zwischen ihrem gewachsenen sozioökonomischen Potential und ihrer Beteiligung an normativen Kompetenzen; -zwischen einem eingeschränkten innerspanischen Föderalismus und weitgespannten Kooperationen im „Europa der Regionen“.
Im Fall Kataloniens ist diese Lücke besonders auffällig. Dabei sind nicht nur Interessen von zentral-staatlichen Institutionen für diese Lücke verantwortlich, sondern auch Sonderansprüche von seiten der historischen Regionen Die katalanische Regionalpolitik zeigte lange Zeit eine gewisse Präferenz für bilaterale Beziehungen mit der Madrider Regierung und eine auffällige Diskrepanz zwischen dem europaweiten Aktivismus und einem gewissen Desinteresse an einer innerspanischen Föderalisierung.
V. Zwei regionale Modernisierungsperspektiven am Mittelmeer
In Untersuchungen über europäische Raumentwicklungen sind in den letzten Jahren neue interregionale Zusammenhänge beschrieben worden. Am bekanntesten wurde der langgestreckte Ballungsraum („Banane“) von Südengland bis Norditalien, in dem sich der Hauptteil des sozioökonomischen Potentials der EG konzentriert. Daneben gibt es die These von der Existenz eines südlichen Wachstumsgürtels („Sunbelt“), der sich am nordwestlichen Mittelmeerufer von Oberitalien bis nach Spanien erstreckt Dieser Gürtel wird mit der Rolle Kaliforniens in den USA oder mit der in der Bundesrepublik und Frankreich beobachteten Nord-Süd-Drift assoziiert. Neue Technologien, rohstoffunabhängige Industrien und eine neue Dienstleistungskultur sollen die frühere Halb-Peripherie im Süden zur europäischen Wachstumszone machen. Die Prosperität in Norditalien, in einigen südfranzösischen Städten (Montpellier, Toulouse) und in spanischen Mittelmeerregionen werden als Beleg angeführt. Die These vom „Sunbelt“ fand Aufnahme in dem ersten EG-Raumordnungsbericht
Die „territoriale Herausforderung“ dieser Thesen besteht darin, daß hier nicht nur eine unregelmäßige Streuung starker und schwacher Regionen angenommen wird, sondern interregionale Großräume mit strukturierender Kraft. Damit gäbe es neben den Nationalstaaten eine zweite, mit ihnen konkurrierende territoriale Großstruktur. Das „Europa der Regionen“ bekäme dann einen spezifischen Sinn. Für Katalonien als eine der Kern-regionen des „Sunbelt“ könnte dieser Großraum eine neue europäische Sonderrolle legitimieren. Eine Rückkehr zur Bipolarität Katalonien/„Sun-beit“ -Spanien erschiene dann möglich und sinnvoll
Aus raumwissenschaftlicher Sicht sind die angeführten Indizien für die strukturierende Kraft des „Sunbelt“ allerdings ungenügend. Schon im Vergleich zur „Banane“ gibt es viel stärkere innere und äußere Brüche. Die Komplementarität wirtschaftlicher Aktivitäten ist geringer Die Konzentration auf den schmalen mediterranen Küstenstreifen und die Brüche zum Hinterland sind schärfer. Die Attraktivität der Kultur-und Natur-landschaft wird durch besondere ökologische Gefährdungen kontrastiert Die Arbeitslosigkeit ist im europäischen Vergleich hoch Das hat zu starken sozialen Spannungen geführt, die eine gewisse Tendenz zur Intoleranz und sozialen Ausgrenzung „gegen Süden“ zeigen. Das deutlichste Beispiel ist in Südfrankreich die besondere Stärke der „Front National“, die sich insbesondere gegen die Beziehungen zum Maghreb richtet.
Die neuen Regionalisierungsbewegungen in Norditalien (die „Ligen“) und der Katalanismus sind damit nicht vergleichbar. Es geht hier um andere Bindungsprobleme mit dem italienischen bzw. spanischen Zentralstaat. Es gibt aber die Gefahr eines „Kurzschließens“ mit dem europäischen Kern-raum: Für die Regionen am „Sunbelt“ kann das Konzept eines „Europa der Regionen“ deshalb besonders attraktiv sein, weil es ein Ausweichen vor der jeweiligen Problematik der schwierigeren Regionen im Süden des „Sunbelt“ ermöglicht.
Demgegenüber würde eine zweite regionale Modemisierungsperspektive am Mittelmeer in einer föderalen Reform auf nationalstaatlicher Ebene bestehen. Es gibt kein Naturgesetz der Mittelmeerländer, das einer Föderalisierung entgegensteht. In Spanien hat die Konsolidierung des „Staats der Autonomien“ und die sozioökonomi-sehe Realentwicklung dafür eine Reihe von Voraussetzungen geschaffen. Eine solche Option wäre nicht nur im bezug auf die schwächeren Regionen Spaniens solidarischer, sondern könnte auch im Eigeninteresse starker Regionen wie Katalonien liegen. Kataloniens wirtschaftliches Wachstum erfordert eine breitere regionale Vernetzung im Süden. Eine föderale Reform würde eine neue, konstitutive Rolle für Katalonien bedeuten. Die Legitimität seiner regionalen Politik würde dadurch und durch die föderale Praxis im spanischen Regionalzusammenhang gestärkt. Es gibt in letzter Zeit Indizien, daß sich die Akteure in Katalonien und Spanien -unabhängig von parteipolitischen Orientierungen -dieser föderalen Aufgabe im eigenen Land stärker bewußt werden
In bezug auf das „Europa der Regionen“ wäre diese Option einer internen Föderalisierung der Mittelmeerländer eine Stufenlösung: Sie ermöglicht begrenzte interregionale Integrationsprozesse und föderale Lernprozesse, die mittelbar auch regionale Initiativen auf europäischer Ebene verbessern. Sie ermöglicht eine feinere Handhabung des Subsidiaritätsprinzips und verhindert eine Blockierung in der abstrakten Alternative „Europa der Regionen“ kontra „Nationalstaat“. Gemessen an den universellen Ansprüchen der Regionalisierung in den siebziger Jahren ist diese Option bescheidener. Gemessen an der Betonung „endogener“ Potentiale, ist sie weiträumiger angelegt.
Aus deutscher Sicht käme es darauf an, sich der unterschiedlichen Lage und Verlaufsform von Regionalisierungsprozessen in Südeuropa bewußter zu werden. Unabhängig davon, welcher Option für regionale Modernisierung man dabei zuneigt, wird die Entwicklung Kataloniens und des „Sunbelts“ in den neunziger Jahren ein hochinteressanter Testfall sein.