I. Jugendliche in den neuen Ländern -eine Generation des Umbruchs
Die Ereignisse seit 1989 beließen die meisten Jugendlichen der alten Bundesländer in der Rolle von nur mittelbar betroffenen Beobachtern. Der Fall der Mauer, die Wiedervereinigung und Steuererhöhungen sind die wesentlichen Stichpunkte, die westdeutsche Jugendliche in der Shell-Studie ‘ 92 als wichtige Veränderungen nennen. Ihren Altersgenossen in den neuen Bundesländern fallen dagegen primär Aspekte ein, die sie mit konkreten, unmittelbar persönlichen Erfahrungen verbinden: Reise-, Konsum-, Meinungs-und Redefreiheit, aber auch Kurzarbeit, Angst und Unsicherheit sind ihre häufigsten Assoziationen zu den Geschehnissen seit 1989 Wende und Wiedervereinigung werden von den meisten Jugendlichen im neuen Bundesgebiet als eine tiefe Zäsur ihres bisherigen Lebenslaufes beschrieben
Eine Abhandlung über die Berufschancen dieser Jugendlichen kann deshalb nicht umhin, die besonderen zeitgeschichtlichen Umstände zu berücksichtigen, unter denen diese Generation aufwuchs. Die Jugendlichen bringen aus dem ehemaligen Bildungs-und Beschäftigungssystem der DDR Vorerfahrungen mit, auf die sie in ihrer Stellungnahme und Einstellung zur heutigen Lage zurückgreifen. Die veränderte bildungs-und beschäftigungspolitische Konzeption verlangt ihnen jedoch mehr als eine bloße Stellungnahme ab; die Jugendlichen sind aufgefordert, sich aktiv an die neue Situation anzupassen und sich in Hinblick auf die jetzigen Bedingungen für ihre berufliche Entwicklung neu zu orientieren. Während früher die Einmündung in ein Beschäftigungsverhältnis über Schule und Berufsausbildung bzw. Studium in weitgehend vor-strukturierten Bahnen verlief, wird nun der Karriereverlauf stärker durch individuelle Entscheidungen und Vorleistungen bestimmt. Dabei eröffnen sich neue Chancen, doch ist der Erfolg keineswegs garantiert.
Wir wollen im nachfolgenden versuchen zu skizzieren, wie sich die Berufschancen der Jugendlichen durch die „Wende“ 1989 und ihre Folgen bisher entwickelten. Unser Hauptaugenmerk gilt dabei den Perspektiven nach Absolvierung der Pflicht-schulzeit und dem großen Anteil jener Jugendlichen, die eine Berufsausbildung im dualen System anstreben. In unserer Abhandlung sollen Daten zu den strukturellen Veränderungen des Berufsbildungs-und Beschäftigungssystems eine ebenso große Rolle spielen wie die Aussagen und Sichtweisen der betroffenen Jugendlichen selbst. 1. Die berufliche Situation der Jugendlichen vor der Wende Nach Art. 25 Abs. 4 der Verfassung der DDR hatten alle Jugendlichen „das Recht und die Pflicht, einen Beruf zu erlernen“. Im Anschluß an die Ausbildung wurde ihnen, unabhängig vom Ausbildungserfolg, „das Recht auf einen Arbeitsplatz garantiert“ (Art. 24 Abs. 1). Die Absicherung dieser verfassungsmäßigen Rechte war nur durch eine umfassende staatliche Kontrolle möglich; die Berufsausbildung mußte „vom sozialistischen Staat geleitet“ werden (§ 129 Arbeitsgesetzbuch der DDR). Konflikte zwischen den Berufswünschen des einzelnen Jugendlichen und den gesellschaftlichen Erfordernissen konzedierte man dabei nicht. Zwar wurde die Kongruenz zwischen individueller Neigung und gesellschaftlichem Interesse auch nicht als spontan gegeben angesehen. Doch propagierte man, in der sozialistischen Gesellschaft über jene „Möglichkeiten und Mittel“ zu verfügen, um gemeinsam mit den zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ heranreifenden Jugendlichen „Übereinstimmung“ herstellen zu können
Da das Berufsbildungssystem der DDR in die zentrale Planwirtschaft eingebettet war, mußte der Zugang von den allgemeinbildenden zu den weiterführenden Schulen bzw. zu den Lehrstellen der Betriebe nach eindeutigen quantitativen (wie viele Jugendliche in welche Ausbildungsgänge) und nach mehrdeutigen qualitativen (welche Jugendliche) Vorgaben reglementiert werden. Gegen Ende der achtziger Jahre durften nur knapp 13 % der Absolventen der allgemeinbildenden, zehnjährigen Pflichtschule, der Polytechnischen Oberschule (POS), die Erweiterte Oberschule (EOS) besuchen und somit nach zwei weiteren Jahren die Hochschulreife erwerben. Zwar wurde zusätzlichen 6 % die Möglichkeit eingeräumt, das Abitur im Rahmen eines mit einer dreijährigen beruflichen Lehre kombinierten Bildungsganges zu erreichen, doch blieb in der DDR der A % die Möglichkeit eingeräumt, das Abitur im Rahmen eines mit einer dreijährigen beruflichen Lehre kombinierten Bildungsganges zu erreichen, doch blieb in der DDR der Abiturientenanteil eines Jahrganges deutlich hinter der Quote in den alten Bundesländern (knapp ein Drittel) zurück. Die qualitativen Eingangsvoraussetzungen für die Erweiterte Oberschule waren zudem nicht allein auf den Notendurchschnitt beschränkt. Neben leistungsbezogenen Kriterien spielten ideologische Zuverlässigkeit, die Art der weiteren beruflichen Pläne (z. B. Offizierslaufbahn in der Volksarmee), die soziale Herkunft (möglichst aus der Arbeiterklasse) und Beziehungen zu den Auswahlgremien für die EOS eine entscheidende Rolle. Die Rechtsgrundlage für dieses Vorgehen bildete Art. 26 Abs. 1 der DDR-Verfassung: „Der Staat sichert die Möglichkeit des Übergangs zur nächsthöheren Bildungsstufe bis zu den höchsten Bildungsstätten, den Universitäten und Hochschulen, entsprechend dem Leistungsprinzip, den gesellschaftlichen Erfordernissen und unter Berücksichtigung der sozialen Struktur der Bevölkerung.“
Dennoch waren die Chancen der Arbeiterkinder, ein Hochschulstudium zu absolvieren, nicht höher als in den alten Bundesländern. Im Gegenteil: Die restriktive Übergangsquote zur EOS (in der Regel nur zwei Schüler einer 10. Klasse) und eine schleichende Aushöhlung des Klassenherkunftsprinzips stabilisierten zunehmend die Unterschiede zwischen den Bildungsschichten. Von den Studenten stammte gegen Ende der achtziger Jahre mehr als die Hälfte aus Familien, bei denen zumindest ein Elternteil das Abitur besaß (1989: 52%). Damit führten die DDR-Hochschulen in einem stärkeren Maße zu „einer intergenerativen Reproduktion des akademischen Status“ als in den alten Bundesländern. Dort stellten Akademikerkinder zum gleichen Zeitpunkt lediglich ein Drittel aller Hochschüler 5. Über vier Fünftel der Absolventen der 10. Klasse POS mündeten in eine berufliche Qualifizierung ein, die in der Regel aus einer zwei-bis zweieinhalbjährigen Qualifizierung zum Facharbeiter (in knapp 300 Berufen) bestand. Die Ausbildung war in der DDR ähnlich dual organisiert wie in den alten Bundesländern. Theoretische Ausbildungsabschnitte in Berufsschulen wechselten sich mit praktischen Lernphasen in den Betrieben bzw. in ihren Lehrwerkstätten ab. Jedoch waren, um dem Primat der Einheit von Theorie und Praxis besser Genüge leisten zu können, vier Fünftel der insgesamt 1250 Berufsschulen unmittelbar den Betrieben zugeordnet. Das zentralistische Prinzip der Ausbildungsorganisation in enger Verbindung zu den Großbetrieben und Kombinaten führte zu einem hohen Anteil der Fremdausbildung (ein Drittel der Lehrlinge kam aus anderen Betrieben), die eine externe Wohnunterbringung (insgesamt 1300 Lehrlingsinternate mit über 100000 Plätzen) einschloß 6.
Neben der fachlichen Qualifizierung gehörte zu den wesentlichen Zielen der Berufsausbildung, „zur Verteidigung des sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus sowie zur Festigung der Verteidigungsbereitschaft beizutragen“ Deshalb wurde auch ein vormilitärischer Ausbildungsabschnitt für alle männlichen Lehrlinge als notwendig erachtet Nahezu alle Lehrlinge waren Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ).
In den letzten Jahren der DDR waren alle Formen der Bildungseinrichtungen durch einen erheblichen materiellen Verschleiß und Nachholbedarf gekennzeichnet. Dies betraf die sanitären Anlagen der Wohnheime ebenso wie die technische Ausstattung der Lernorte Berufsschule und Betrieb Der wirtschaftliche Verfall der DDR wurde seit Mitte der achtziger Jahre von einer zunehmenden Distanzierung der ostdeutschen Jugendlichen gegenüber ihrem Staat begleitet. Nach einer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung initiierten Studie waren in den achtziger Jahren die beruflichen Karrierechancen der um 1960 geborenen Jugendlichen gegenüber den Entwicklungsmöglichkeiten vorausgegangener DDR-Generationen deutlich gesunken: „Was vor allem in den ersten drei Jahrzehnten der DDR eher loyalitätsstiftende Wirkung hatte, nämlich weitreichende Weiterqualifizierungschancen, berufliche Umorientierungen mit Aufstiegschancen und Dynamik im Arbeitsleben, dürfte im letzten Jahrzehnt spürbar zurückgegangen sein. Das scheint (...) zu einer erheblichen, zunächst latenten Unzufriedenheit geführt zu haben.“ Untersuchungen des Zentralinstitutes für Jugendforschung in Leipzig zeigten, daß sich im Mai 1989, wenige Monate vor der Wende, 62 % der Lehrlinge kaum oder gar nicht mit dem Marxismus-Leninismus identifizierten. Nur noch 10% fühlten sich stark mit der SED verbunden. Dagegen stieg das Streben nach individueller Selbstbestimmung, Bildung und beruflichem Erfolg, nach gesellschaftlicher Anerkennung sowie nach materiellen Werten deutlich an 2. Auswirkungen der Wende Die politische Wende 1989 leitete einen vollständigen und abrupten Bruch mit dem Berufsbildungssystem der DDR ein. Dieser machte auch vor Konzepten nicht halt, die selbst von vielen westlichen Experten als diskussionswürdig erachtet wurden (z. B. die dreijährige Berufsausbildung mit Abitur Der Transfer des westdeutschen Systems der beruflichen Bildung und seiner Berufsstruktur wurde bereits im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts-und Sozialunion vom 18. Mai 1990 festgelegt. Um schon für die Lehrlinge des am 1. September beginnenden Lehrjahres 1990/91 eine Ausbildung innerhalb des bundesrepublikanischen Ordnungsrahmens sicherstellen zu können, übernahm die Volkskammer mit Wirkung vom 13. August 1990 bzw. 27. Juli 1990 in allen wesentlichen Teilen das Berufsbildungsgesetz und die Handwerksordnung.
Die formelle Umstellung des DDR-Ausbildungssystems in ein in marktwirtschaftliche Strukturen eingebettetes Modell wurde in der Praxis von einer Vielzahl von Übergangsproblemen begleitet. Während das von den alten Bundesländern übernommene System im wesentlichen auf die Klein-und Mittelbetriebe hin abgestimmt ist, war die Berufsausbildung der DDR primär auf die Kombinate konzentriert; zuletzt befanden sich drei Viertel aller Lehrlinge in Großbetrieben mit über 500 Beschäftigten (in den alten Bundesländern lediglich ein Fünftel). Die Entflechtung, Privatisierung, Straffung und Stillegung der Kombinate berührte somit gerade jenen Bereich, in dem schwerpunktmäßig ausgebildet wurde. Die Folge war, daß ein erheblicher Teil an Ausbildungsplätzen verloren-ging. Dies drückte sich sowohl in einer Verringerung des Angebots als auch in der Auflösung bereits bestehender Ausbildungsverhältnisse aus. Im ersten Ausbildungsjahr nach der Wiedervereinigung wurden 28900 sog. „Konkurslehrlinge“ aus stillgelegten Betrieben registriert
Um diesen Jugendlichen die Weiterführung und erfolglosen Lehrstellenbewerbern den Beginn ihrer Berufsausbildung zu ermöglichen, wurde im Einigungsvertrag die befristete Fortdauer des § 40c Abs. 4 des Arbeitsförderungsgesetzes der DDR (AFG/DDR) festgeschrieben. Damit wurde die außerbetriebliche Ausbildung von sog. „marktbenachteiligten Jugendlichen“ legalisiert. Inner-halb kurzer Zeit entstand ein regelrechter Markt von freien Trägern und sog. „Ausbildungsringen“, die der Bundesanstalt für Arbeit dementsprechende Ausbildungsplätze zur weiteren Vermittlung an die Jugendlichen anboten 1990/91 mündeten 34 900 in eine solche voll staatlich finanzierte, außerbetriebliche Ausbildung ein, somit jeder dritte von denjenigen, die in diesem Jahr mit einer Lehre begannen oder sie nach einem Betriebskonkurs fortsetzen wollten. Dabei zeichneten sich deutliche regionale Unterschiede zu Lasten der Arbeitsamtsbezirke an den deutschen Außengrenzen zu Polen und zur ehemaligen Tschechoslowakei ab. In Annaberg machten die überbetrieblichen Ausbildungsplätze 72 % des Gesamtangebots an Lehrstellen aus
Zur kurzfristigen Ausweitung der Ausbildungsleistung der Kleinbetriebe stellte der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft zur Mitte des Jahres 1991 einmalig ein Sonderprogramm bereit, innerhalb dessen Ausbildungsplätze in Kleinunternehmen mit bis zu 20 Beschäftigten finanziell mit jeweils 5 000, -DM bezuschußt wurden. Die Länder ergänzten dieses Programm in verschiedenster Form und führten finanzielle Hilfen für ausbildungsbereite Betriebe auch nach 1991 kontinuierlich fort Um die Ausbildungsbereitschaft und -fähigkeit der Klein-und Mittelbetriebe mittel-und langfristig sicherzustellen, wurde mit der flächendeckenden Aufbauförderung überbetrieblicher Berufsbildungsstätten (ÜBS) begonnen. Diese werden von juristischen Personen des öffentlichen Rechts (z. B. Kammern), von kommunalen Körperschaften, gemeinnützigen Vereinen oder GmbHs getragen und sollen in Lehrgängen den Auszubildenden jene Qualifikationen vermitteln, die kleinere Betriebe nur unzureichend erbringen können. Durch den Aufbau von ÜBS werden solche Betriebe häufig erst in die Lage versetzt, betriebliche Ausbildungsplätze anzubieten
Eine erste Annäherung der Ausbildungsverhältnisse an westdeutsche Strukturen war bereits im Herbst 1991 erkennbar. Laut einer Erhebung im Rahmen des Arbeitsmarkt-Monitors lernten zu diesem Zeitpunkt bereits 29 % des ersten Ausbildungsjahres in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten Differenziert man die im nachfolgenden Jahr 1991/92 neu abgeschlossenen Verträge nach Wirtschaftsbereichen (Industrie und Handel, Handwerk, Landwirtschaft etc.), so sind die relativen Anteile der einzelnen Bereiche bereits weitgehend mit denen im alten Bundesgebiet dekkungsgleich. Allerdings ist dieses Ergebnis nicht alleine marktbedingt, sondern teilweise Folge der gezielten kompensatorischen Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit. Diese fördert in Vorausschätzung des künftigen Fachkräftebedarfs außer-betriebliche Ausbildungsplätze insbesondere für Dienstleistungsberufe.
II. Die gegenwärtige Situation der beruflichen Bildung
Das neue Schul-und Berufsbildungssystem gibt den Jugendlichen ein höheres Maß an Selbstbestimmung und an Selbstverantwortung. Das starke Interesse am Abitur (jeweils 47 % der Schüler der 9. und 10. Klassen an allgemeinbildenden Schulen möchten einmal die Hochschul-oder Fachhochschulreife erreichen verdeutlicht, daß durch die politische Wende und durch die Dereglementierung der schulischen Bildungswege den Jugendlichen neue Bildungschancen eröffnet werden konnten. Zugleich zeigt eine vom Bundesinstitut für Berufsbildung im Schuljahr 1991/92 durchgeführte Befragung von 2500 Schülern der 10. Klasse, daß weiterhin knapp 70 % eine Lehre im dualen System anstreben Der betrieblichen Berufsausbildung kommt somit auch nach der Wende eine besondere Wertschätzung zu; dabei mag der hohe Status, den der Facharbeiter in der ehemaligen DDR besaß, durchaus stabilisierend gewirkt haben.
Von Oktober 1991 bis September 1992 meldeten 138300 Jugendliche bei den Arbeitsämtern ihr Interesse an einer Ausbildung an, darunter „nur noch“ 4000 Konkurslehrlinge. Dieser Zahl standen 88400 betriebliche Ausbildungsplätze gegenüber, die die Unternehmen den Arbeitsämtern meldeten. Da davon im Laufe des Jahres wiederum einige Tausend Plätze storniert wurden, reduzierte sich das Angebot auf unter 80000. Von den 138300 Jugendlichen mündeten schließlich 78500 bzw. 57% in eine betriebliche Ausbildung ein. Zur Reduzierung der Angebots-Nachfrage-Diskrepanz finanzierte die Bundesanstalt für Arbeit 16000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze, die weitere 12 % der Bewerber einnahmen. Unter Einschluß der 4200 lernbeeinträchtigten bzw. sozial benachteiligten Jugendlichen, die in speziellen Einrichtungen außerbetrieblich ausgebildet werden, fanden somit insgesamt 98700 bzw. 71 % der bei den Arbeitsämtern registrierten Bewerber einen Ausbildungsplatz
Die verbleibenden 39 600 Jugendlichen bzw. 29 %, von denen 17 900 erneut die Schule besuchten und 15 600 laut Berufsberatungsstatistik „sonstig“ einmündeten, symbolisieren keineswegs eine „Ausbildungsplatzkatastrophe“. Denn selbst in den alten Bundesländern, wo in den Arbeitsämtern 721800 Lehrstellenmeldungen registriert wurden, sich aber nur 403500 Bewerber einfanden, begannen letztlich noch nicht einmal 60 % der Bewerber eine betriebliche Ausbildung. Die bei den Arbeitsämtern gemeldeten Bewerbungen müssen im Kontext eines nicht abgeschlossenen beruflichen Entscheidungsprozesses gesehen werden, innerhalb dessen die Jugendlichen verschiedene Alternativen abwägen und sich dabei eventuell auch von einer Berufsausbildung im dualen System zeitweise oder auf Dauer abwenden: Eine vom Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung in Auftrag gegebene Befragung ergab, daß allein zwischen November 1991 und Mai 1992 etwa 30 % der ursprünglich an einer Lehrstelle interessierten Jugendlichen diese Absicht fallenließen, zugleich aber nahezu vollständig von Jugendlichen ersetzt wurden, die nach einem anfänglichen Desinteresse nun eine Ausbildung im dualen System einplanten De facto konnte in den neuen Bundesländern, wenn auch mit massiver staatlicher Unterstützung, jedem weiterhin ausbildungswilligen Jugendlichen zumindest eine Alternative angeboten werden; die Quote der unvermittelt gebliebenen Bewerber fiel in den neuen Bundesländern mit knapp 1 % geringer aus als in den alten Ländern (3%).
Dennoch stehen die Jugendlichen in den neuen Bundesländern weiterhin vor besonderen Anforderungen. Dies gilt insbesondere für Frauen. Zwar weisen sie, bedingt durch die hohe Erwerbsquote in der ehemaligen DDR, eine sehr starke Berufsorientierung auf doch können sie öfter als ihre männlichen Altersgenossen ihre beruflichen Ziele nicht realisieren. Einige Zahlen verdeutlichen dies: Frauen stellten von Oktober 1991 bis September 1992 zwar 52 % aller Ausbildungsplatzbewerber, aber nur 47 % derjenigen, die eine betriebliche Ausbildungsstelle fanden. Häufiger als in den alten Bundesländern werden im neuen Bundesgebiet betriebliche Ausbildungsplätze ausschließlich für männliche Bewerber ausgeschrieben; zugleich ist die Zahl der von weiblichen Bewerbern favorisierten betrieblichen Ausbildungsplätze im Dienstleistungsbereich immer noch überdurchschnittlich gering. Die Folge ist, daß junge Frauen 65 % der sogenannten „marktbenachteiligten“ Jugendlichen stellen, die in eine außerbetriebliche Lehre vermittelt wurden, bzw. 67 % derjenigen, die erneut die Schule besuchen. Auch unter den sogenannten Ausbildungspendlern sind Frauen überdurchschnittlich stark vertreten: Von den ca. 45000 ostdeutschen Jugendlichen, die sich im alten Bundesgebiet ausbilden lassen, sind 55 % weiblich
Den Ausbildungsstätten im neuen Bundesgebiet mangelt es teilweise weiterhin an ausreichenden methodischen und technischen Voraussetzungen für eine qualifizierte Ausbildung. Wie in den alten Ländern, so werden nun auch im neuen Bundesgebiet Abstimmungsdefizite mit den aus den Betrieben ausgelagerten Berufsschulen beklagt. Die IHK Berlin befürchtet für 1993 große Probleme bei den Lehrabschlußprüfungen, da vielerorts eine fachge-rechte Vorbereitung der Auszubildenden gefährdet sei
Während der Eintritt in die Berufsausbildung bisher von umfangreichen staatlichen Programmen flankiert wurde, sind die Jugendlichen nach Abschluß ihrer Lehre nahezu allein auf ihre eigene Initiative verwiesen. Dabei werden die ersten Jahrgänge, die nach der Wiedervereinigung mit einer Berufsausbildung begannen, auf einen Arbeitsmarkt treffen, der nicht minder von den Begleiterscheinungen der Umstrukturierung gekennzeichnet ist. Vor dem Hintergrund einer weiterhin prognostizierten Abnahme der Gesamtbeschäftigtenzahl ist mit bedeutenden Integrationsproblemen zu rechnen, die dem Übergang von der Lehre in das Erwerbsleben den Charakter einer „zweiten Schwelle“ verleihen. Um die vorhandenen Arbeitsplätze stehen die Absolventen nicht nur untereinander im Wettbewerb, sondern vor allem auch mit den zahlreichen Umschülern. Deren Konkurrenzvorteile liegen nicht allein in der bereits vorhandenen Berufserfahrung, sondern auch in diversen finanziellen Wiedereingliederungshilfen, welche die Arbeitsämter in diesen Fällen den Betrieben gewähren. Für außerbetriebliche Lehrabsolventen ohne kontinuierliche Kontakte zu Betrieben dürfte sich die Arbeitssuche besonders schwierig gestalten. Ende Februar 1993 waren 24300 Jugendliche bis unter 20 Jahren und 118200 Jugendliche im Alter von 20 bis unter 25 Jahren arbeitslos Von allen Arbeitslosen zwischen 16 und 25 Jahren in Deutschland stammen somit 30 % aus dem neuen Bundesgebiet, obwohl dort insgesamt nur 18 % dieser Altersgruppe leben
III. Ausblick auf das Ausbildungsjahr 1993/94
Für 1993/94 werden sich die Probleme bei der Versorgung der Jugendlichen mit Lehrstellen nicht verringern. Aus den 1992 beobachtbaren rückläufigen Zahlen (-5 % bei den Bewerbern und -44 % bei den Neuabschlüssen außerbetrieblicher Ausbildungsverhältnisse gegenüber dem Vorjahr) darf keinesfalls auf eine Entspannung auf Seiten der Ausbildungsplatznachfrage geschlossen werden. Die Rückgänge sind im wesentlichen Folge der starken Abnahme der „Konkurslehrlinge“ (-86 %). Sieht man von dieser Gruppe ab, wird deutlich, daß die Zahl der übrigen Bewerber 1992 um 15 % zunahm und daß von diesen „Erstbewerbern“ mit insgesamt 13 900 Personen nicht sehr viel weniger (-12 %) in eine außerbetriebliche Ausbildung einmündeten als im Vorjahr. Zudem ist damit zu rechnen, daß 1993 ein Teil der in der Vergangenheit nicht verwirklichten Ausbildungsplatznachfrage als „Altnachfrage“ zusätzlich wirksam wird. Berücksichtigt man außerdem demographische Aspekte (höhere Schulabgängerzahlen) und den wachsenden Stellenwert einer Lehre bei Abiturienten, kann von einer Nachfragesteigerung um deutlich mehr als 10 % ausgegangen werden
Die in der Vergangenheit initiierten Bemühungen zur Stärkung der Ausbildungsbereitschaft der Betriebe müssen insofern auch 1993 intensiv fortgesetzt werden. Dies gilt um so mehr, als der § 40c Abs. 4 AFG/DDR zur staatlichen Vollfinanzierung außerbetrieblicher Ausbildungsplätze letztmalig für den Ausbildungsjahrgang 1992/93 angewandt werden durfte. Die 10. Novellierung des AFG sieht keine Verlängerung vor; es bleibt abzuwarten, ob und in welcher Form eine Nachfolge-regelung getroffen wird. Der Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildung, der viertelparitätisch von Vertretern der Arbeitgeber, der Gewerkschaften, des Bundes und der Länder besetzt ist und die Bundesregierung in grundsätzlichen Fragen der Berufsbildung berät, geht in seiner mehrheitlichen Stellungnahme zum Berufsbildungsbericht 1993 davon aus, daß auch für den kommenden Jahrgang außerbetriebliche Ausbildungsplätze erforderlich sind
Der Anteil der Ausbildungsbetriebe an der Gesamtzahl aller Betriebe im neuen Bundesgebiet wird gegenwärtig auf erst 5-10 % geschätzt. Um mehr Ausbildungskapazitäten zu gewinnen, muß also nicht erst auf die weitere Gründung neuer Unternehmen gewartet werden. Eine Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung ergab, daß lediglich die Hälfte der zur Zeit nicht ausbildenden Betriebe als grundsätzlich nicht ausbildungswillig (obwohl ausbildungsfähig) eingestuft werden muß. Bei denanderen Betrieben kristallisieren sich drei unterschiedliche Typen heraus: 1. solche, die durch starke finanzielle Anreize für die Aufnahme der Ausbildung gewonnen werden könnten, 2. Betriebe, denen es nicht um finanzielle Anreize, sondern primär um gezielte Ansprache und Beratung geht, und 3. Betriebe, die ihre Ausbildungsbereitschaft von ihrer weiteren, zur Zeit ungewissen Entwicklung abhängig machen.
Insgesamt gesehen sind durchaus Chancen vorhanden, zumindest in näherer Zukunft „genügend qualifizierte Ausbildungsbetriebe in den neuen Bundesländern zu gewinnen“
IV. Berufsleben und gegenwärtige Berufschancen aus der Sicht der Jugendlichen
Die Jugendlichen (Ost) konkretisierten ihre Vorstellungen über ihren beruflichen Lebensweg bisher ungefähr anderthalb Jahre früher als ihre Altersgenossen im alten Bundesgebiet. Dies wurde u. a. durch die insgesamt kürzeren Schulzeiten hervorgerufen. Im Durchschnitt wußten die Jugendlichen bereits mit 15, 4 Jahren, „was sie beruflich machen wollen“, während die Jugendlichen (West) erst später, mit knapp 17 Jahren, genauere Vorstellungen über ihren zukünftigen Beruf entwickelten
Den konkreteren Vorstellungen der Jugendlichen (Ost) steht jedoch eine weniger günstige Ausbildungsstellenbilanz und Arbeitsmarktlage gegenüber. Jugendliche in den neuen Bundesländern sehen sich demnach in höherem Maße davon betroffen, ihre beruflichen Vorstellungen und Wünsche nur bedingt realisieren zu können. In der vom Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung in Auftrag gegebenen Zusatzerhebung zum Arbeitsmarkt-Monitor vom November 1991 gaben 43 % der Jugendlichen, die sich in einer Lehre befanden, an, in ihrem Wunschberuf ausgebildet zu werden (47% der Männer, 37% der Frauen). Die Auszubildenden demonstrierten angesichts der wirtschaftlichen Umbruchsituation eine hohe Anpassungs-und Kompromißbereitschaft. Drei Viertel neigten zu der Auffassung, bei der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage müsse man auch bereit sein, einen Beruf zu erlernen, der einem nicht so gut gefällt
Der Einstieg der Jugendlichen in das Berufsleben erfolgt häufig vor dem Hintergrund besonderer familiärer Belastungen. Im November 1991 berichten mindestens 36% der Jugendlichen der Geburtsjahrgänge 1972-76 von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit ihrer Eltern Häufig müssen berufliche Entscheidungen getroffen werden, zu denen weder die Jugendlichen noch ihre Familien ausreichendes Orientierungswissen sammeln konnten. Das Vertrauen in Branchen, die stark vom Strukturwandel betroffen waren, ist spürbar erschüttert. Betriebliche Ausbildungsplätze für qualifizierte Berufe im Metall-, Elektro-oder Chemiebereich finden unter den Jugendlichen kaum Bewerber, obwohl das allgemeine Lehrstellendefizit groß ist Offenbar werden negative Erfahrungen der Eltern (Entlassungen, Kurzarbeit) als Indikatoren für die längerfristigen Chancen dieser Berufe (fehl-) gedeutet.
Die Qualität der Ausbildung wird von den Jugendlichen, die seit der „Wende“ eine Ausbildung aufgenommen haben, keineswegs als unzureichend beurteilt. Die Güte der fachlichen Vorbereitung für den künftigen Beruf wird im Durchschnitt mit Noten zwischen „gut“ und „befriedigend“ bewertet. Dies gilt für Berufsschule und Betrieb gleichermaßen; allein die inhaltliche und methodische Abstimmung zwischen beiden Lernorten wird meist als verbesserungsbedürftig empfunden. Einen Abbruch der Lehre ziehen nach den Ergebnissen einer 1992 durchgeführten Befragung des Bundes-instituts für Berufsbildung noch nicht einmal 8 % der Auszubildenden in Betracht Die Unsicherheit, wie es nach der Lehre weitergeht, ist jedoch groß. Nach den Ergebnissen der Zusatzerhebungen zum Arbeitsmarkt-Monitor rechneten im Mai 1992 nur 27 % der Auszubildenden des dritten/vierten Lehrjahres mit einem konkreten Übernahmeangebot, 32% hielten ein solches Angebot für unwahrscheinlich. Weitere 29 % waren in dieser Frage noch ungewiß Relativ illusionslos sehen die Jugendlichen, daß die vielfältigen Maßnahmen, die die Aufnahme ihrer Ausbildung im dualen System absicherten, das Problem ihrer beruflichen Integration nicht gelöst, sondern im wesentlichen an die „zweite Schwelle“ verlagert haben
Dennoch sind die meisten Auszubildenden im neuen Bundesgebiet weiterhin fest von den Vorteilen einer qualifizierten Berufsausbildung im dualen System überzeugt: 69 % stimmen der Aussage voll zu, eine gute Ausbildung sei die beste Voraussetzung für einen sicheren Arbeitsplatz. Die Zustimmungsquote variiert kaum zwischen den verschiedenen Lehrjahren (3. /4. Lehrjahr: 73%), schwankt aber nach Art und Ort der Lehrstelle. Während sie bei den Auszubildenden in ostdeutschen Betrieben mit 72 % noch über dem Durchschnitt liegt, fällt sie bei den Jugendlichen in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten mit 56% am niedrigsten aus. Offenbar antizipieren letztere die besonderen Probleme, mit denen viele von ihnen an der „zweiten Schwelle“ konfrontiert sein dürften
Alles in allem haben die meisten Jugendlichen im neuen Bundesgebiet ambivalente Erfahrungen mit Auswirkungen der „Wende“ gemacht und betrachten die neue Situation, wie es eine 18jährige Auszubildende im Rahmen der Shell-Studie ausdrückte, als ein „einziges Für und Wider“ Die Ergebnisse der Shell-Studie werden durch die Befunde der Zusatzerhebungen zum Arbeitsmarkt-Monitor gestützt. Lediglich bei jedem sechsten der Geburtsjahrgänge 1972-1976 dominiert einseitig das Gefühl, durch die gestiegene Unsicherheit und die ungewohnten Anforderungen an die eigene Initiative stark belastet zu werden. Die meisten anderen (52%) sind zwar auch von diesem Gefühl betroffen, empfinden die jetzige Situation aber zugleich als Chance, das eigene Berufs-und Privatleben nun selbst in die Hand nehmen zu können. Für 30% der Jugendlichen ist diese Empfindung sogar eindeutig vorherrschend. Daß sich ihre eigenen Ausbildungs-und Berufschancen seit der „Wende“ insgesamt nicht verschlechtert haben, sondern in etwa gleichgeblieben oder gar besser geworden sind, glaubten im November 1991 zwei Drittel aller Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren, vor allem Auszubildende mit einer Lehrstelle im Westen (85%) bzw. Studienanfänger (82 %)
Den Jugendlichen im neuen Bundesgebiet ist bewußt, daß die Übergänge zwischen Schule, Ausbildung und Beruf nicht mehr staatlich-institutionell vorstrukturiert, begrenzt und abgesichert sind, sondern von der eigenen Initiative und den Realisierungsmöglichkeiten auf dem Ausbildungs-und Arbeitsmarkt abhängig sind. Sie unterliegen somit einem fortdauernden Entscheidungsdruck in Hinblick auf die weiteren Schritte zur Beeinflussung und Gestaltung der eigenen beruflichen Zukunft. Mit der Übernahme der Verantwortung für die eigene berufliche Entwicklung steigt auch die persönliche Betroffenheit. Arbeit und Beruf bilden für die meisten Jugendlichen nicht nur die Voraussetzungen für ihre materielle Verselbständigung, sondern zugleich „zentrale Definitionsräume der Identität“, aus denen sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen über sich selbst ableiten Dem Wunsch nach einer beruflichen Perspektive kommt somit eine zentrale Bedeutung zu. Um sich im heutigen Bildungs-und Beschäftigungssystem neue Chancen zu eröffnen, sind Lernen und Qualifizierung „als Teilnahmebedingung für den beruflichen Wettbewerb unerläßlich“. Sie „sind aber keine hinreichende Garantie für den individuellen Erfolg, wobei sich das, was erfolgreich war bzw. ist, erst ex post herausstellt“ Ungewißheit und Unsicherheit über das Ausmaß der Verwertbarkeit angestrebter beruflicher Qualifikationen gehören nun verstärkt zu den psychologischen Begleiterscheinungen der Berufswahl und der individuellen beruflichen Entwicklung. Beides auszuhalten, ohne sich in einen lähmenden Fatalismus oder in geschlossene und vereinfachende politische Ideologien zu verlieren, wird zu einer anspruchsvollen, aber notwendigen Lernaufgabe.