Die Veränderungen der politischen Landschaft in Europa während der letzten Jahre sind dramatisch gewesen. Vor allem im Bereich der Sicherheit haben sie dazu geführt, daß Grundsätze und Strukturen dieser Sicherheit neu überdacht werden müssen. Im Vergleich zum früheren Ost-West-Konflikt gilt der Wandel aus westlicher Sicht als positiv. Der Westen konnte seine militärische Abwehrbereitschaft ebenso wie die Anzahl der Truppen, Waffen und -wenigstens in einem begrenzten Maße -auch die damit verbundenen finanziellen Lasten verringern.
Gleichzeitig jedoch gibt es drei grundlegende Faktoren, die in direkter oder indirekter Weise diese Sicherheitsfragen berühren: Erstens ist offensichtlich geworden, daß -im Gegensatz zu den überzogenen und kurzlebigen Hoffnungen nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch von War-schauer Pakt und Sowjetunion -militärische Macht auch weiterhin eine Rolle in Europa spielen wird. Mehrere Konflikte sind in Ost-und Südosteuropa unter Nutzung militärischer Mittel aufgeflammt. Gleichzeitig können Risiken nicht übersehen werden, die sich aus dem fortbestehenden Gewicht Rußlands, den vorhandenen Waffenarsenalen einschließlich der nuklearen Waffen und der unsicheren Entwicklung in Osteuropa ergeben. Zweitens wird davon gesprochen, daß es in Zukunft Konflikte geben könnte, in denen europäische Interessen berührt wären, aber die NATO entweder „nicht handeln könnte oder nicht handeln wollte“. Aus diesem Grunde würde es sinnvoll sein, eine gemeinsame europäische Fähigkeit zum militärischen Handeln zu entwickeln. Das führte auf amerikanischer und britischer Seite zunächst zu Befürchtungen, daß eine solche Fähigkeit im Gegensatz zur NATO entwickelt werden könnte. Vor allem aufgrund deutscher Politik gelang es jedoch, die Anfänge einer solchen Fähigkeit -wie die Vereinbarung von Maastricht oder das Euro-Korps -so in den Rahmen des Atlantischen Bündnisses einzubetten, daß die Besorgnisse weitgehend zerstreut werden konnten. Der dritte und etwas überraschende Faktor ist eine Entwicklung in den meisten der westlichen Demokratien, die vielen als tiefgreifende politische Krise erscheint. Eine beachtenswerte Abwendung der Wähler von den herkömmlichen Parteien, ja von der „classe politique“ wurde sichtbar. Zahlreiche Probleme im Bereich der Finanzen, der Wirtschaft, der sozialen Absicherung oder der Erziehung tauchten auf, ohne daß die politischen Führungen sogleich überzeugende Lösungsvorschläge anzubieten hätten. In diesem Rahmen des Wandels, der Unwägbarkeiten und neuer Probleme muß die Sicherheitspolitik für morgen gestaltet werden. Unter solchen Umständen aber ist die Bestimmung jeglicher Politik schwierig. Es muß vom Vorhandenen ausgegangen werden und es kann nicht alles gleichzeitig und über Nacht verändert werden. Schließlich bestehen finanzielle Engpässe, die durch die weltweite Rezession, in Deutschland aber auch durch die Belastungen der Vereinigung bedingt sind. Auch die Bundeswehr muß sparen; allerdings muß dies in einer Form geschehen, die es ihr ermöglicht, ihre Aufgaben auch in Zukunft erfüllen zu können.
Es gibt vier Aufgabenbereiche, die für die Bundeswehr bei der Bewältigung des Wandels im Vordergrund stehen: die Neuformulierung der Verteidigungspolitischen Richtlinien mit einer neuen Aufgabenbestimmung der Streitkräfte, eine neue Bundeswehrplanung, eine Vereinbarung über die weitere Anwesenheit verbündeter Truppen in Deutschland sowie die Frage der Teilnahme deutscher Soldaten an internationalen Friedensaktionen.
I. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien, die am 26. November 1992 vom Bundesminister der Verteidigung erlassen wurden, bilden das zentrale Grundlagendokument für Aufgaben und Planung der Bundeswehr. Damit wurden die veralteten Richtlinien aus dem Jahre 1979 ersetzt und eine Grundlage für die Planung geschaffen, die die neuen sicherheitspolitischen Entwicklungen in Europa seit 1989 berücksichtigt. Zudem wurden die Verteidigungspolitischen Richtlinien erstmalig veröffentlicht; ausschlaggebend hierfür war die Überlegung, daß über die Interessen Deutschlands unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten, über dieEinschätzung der sicherheitspolitischen Lage und über die Aufgaben der Bundeswehr auch öffentlich Transparenz und Klarheit gegeben sein sollte.
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien definieren die Grundsätze deutscher Sicherheitspolitik, den Auftrag der Bundeswehr und die Aufgaben der Streitkräfte. Sie sind die verbindliche Grundlage für die Bundeswehrplanung. Sie bilden somit vor dem Hintergrund der veränderten sicherheitspolitischen Situation den Rahmen für den Anpassungsprozeß deutscher Militärpolitik und der Bundeswehr. Entsprechend gliedern sie sich in eine Darlegung der deutschen Wertvorstellungen und Interessen, eine Analyse der Chancen und Risiken für die Zukunft, der Bestimmungsfaktoren für die deutsche Verteidigungspolitik und schließlich Festlegungen zum Auftrag der Bundeswehr. 1. Deutsche Interessen Zentraler Wert deutscher Sicherheitspolitik ist der Schutz der territorialen Integrität, der Sicherheit der Bürger sowie der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Das soll auch dadurch gewährleistet werden, daß Deutschland dazu beiträgt, „Konflikte in Europa zu verhindern und Sicherheit für Europa im Rahmen einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung zu wahren“. Konkrete deutsche Sicherheitsinteressen sind u. a.: -der Schutz Deutschlands und seiner Staatsbürger vor äußerer Gefahr und politischer Erpressung;
-Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung von Krisen und Konflikten, die Deutschlands Unversehrtheit und Stabilität beeinträchtigen können;
-Bündnisbindung an die Nuklear-und Seemächte in der Nordatlantischen Allianz, da sich Deutschland als Nichtnuklearmacht und kontinentale Mittelmacht mit weltweiten Interessen nicht allein behaupten kann;
-Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration einschließlich der Entwicklung einer europäischen Verteidigungsidentität;
-„Partnerschaft unter Gleichen“ zwischen Europa und Nordamerika, ausgedrückt in der Teilhabe Nordamerikas an den europäischen Interessen und in der signifikanten militärischen Präsenz der USA in Europa;
-Festigung und Ausbau einer global und regional wirksamen Sicherheitsstruktur komplementärer Organisationen.
Die Chancen, diese Ziele und Interessen zu wahren, sind gut. Für Deutschland hat sich die sicherheitspolitische Lage wesentlich verbessert: Deutschland ist wieder vereint; es liegt nicht mehr in unmittelbarer Reichweite eines zur strategischen Offensive und Landnahme befähigten Staates, sondern ist von verbündeten oder befreundeten Staaten umgeben. 2. Risiken und Chancen Aber die sicherheitspolitische Lage ist nicht ohne Risiken. Erstens ist Rußland weiterhin eine nukleare Weltmacht, Seemacht und stärkste europäische Landmacht mit einem Spektrum globaler und regionaler Optionen. Eine stabile demokratische und wirtschaftliche Entwicklung ist ungewiß. Trotzdem ist eine Gefährdung Deutschlands oder seiner Verbündeten auf absehbare Zeit unwahrscheinlich, da hierfür die Motive sowie das schnell verfügbare politische, ökonomische und militärische Potential fehlen. Entsprechend gehen die Verteidigungspolitischen Richtlinien von einer militärisch nutzbaren Warnzeit von mindestens einem Jahr aus -unter der Voraussetzung allerdings, daß im Bündnis die Fähigkeit zum flexiblen Aufwuchs und zur strategischen Balance erhalten bleibt. Ein zweiter Risikobereich betrifft innerstaatliche und regionale Konflikte in Europa, die überraschend auftreten und regional eskalieren können. Präventive politische Maßnahmen, die Verhinderung regionaler Rüstungswettläufe und eine Fähigkeit zum europäischen „Krisen-und Konfliktmanagement“ werden als Voraussetzungen angesehen, solche Konflikte zu verhindern oder zu begrenzen, wobei ein Teil des Krisen-und Konfliktmanagements auch das Bereitstellen militärischer Mittel ist. Als dritter Risikobereich gelten Militärpotentiale an der europäischen Peripherie, insbesondere wenn hier Massenvernichtungswaffen und ballistische Einsatzmittel verfügbar sein sollten. Dieser Bereich wird als besonders komplex angesehen; es erscheint notwendig, „die Staaten dieser Region in einen Prozeß stabilitätsorientierter und vertrauensbildender Zusammenarbeit einzubinden, das gegenseitige Verständnis zu fördern und auf die Entwicklung regionaler Sicherheitstrukturen hinzuwirken“. Ein vierter Risikobereich betrifft Angriffe auf die Freiheit und Unversehrtheit deutscher Staatsbürger oder der verbündeter Staaten im Ausland. Die hier möglicherweise notwendigen Maßnahmen sollen „vorzugsweise im internationalen Rahmen“ erfolgen.
Neben diesen vier unmittelbaren Risikobereichen erkennen die Verteidigungspolitischen Richtlinien auch die immer mehr in den Vordergrund tretenden mittelbaren Risiken, die sich aus jeglicher Form internationaler Destabilisierung in einer interdependenten Welt ergeben. Solche Risiken müssen jedoch „schon am Ort ihres Entstehens und vor ihrer Eska41 lation zu einem akuten Konflikt mit einer vorbeugenden Politik aufgefangen werden“.
Zu Recht werden in den Verteidigungspolitischen Richtlinien somit auch die Gestaltungschancen für die deutsche Politik dargelegt. Sie sind in Europa wahrzunehmen, indem politische Stabilität, wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Sicherheit für alle Staaten anzustreben sind; sie sind aber auch Teil einer weltweiten Aufgabe für Europa. Als zentrales Element einer künftigen europäischen Sicherheitsstruktur wird die Europäische Union gesehen. Wenn auch bei der Außen-und Sicherheitspolitik europäische Einigkeit erzielt werden kann, bietet sich für die Europäische Union die Chance, die eigenen Sicherheitsinteressen wahrzunehmen, allerdings in enger Partnerschaft mit den USA. Es wird betont, daß die politische Integration der Europäischen Gemeinschaft ebenso Voraussetzung für eine tragfähige europäische Sicherheitsarchitektur ist wie für das Verhältnis gleichberechtigter Partnerschaft mit Nordamerika. Bei alledem wird eine herausragende Verantwortung Deutschlands konstatiert, das eine Schlüsselrolle einnimmt: für die Fortentwicklung der europäischen Strukturen, für das Bündnis mit Amerika, für die Integration der osteuropäischen Völker und für ihre wirtschaftliche und soziale Stabilisierung. 3. Parameter deutscher Verteidigungspolitik In diesem Rahmen formulieren die Verteidigungspolitischen Richtlinien als Grundprinzipien der deutschen Verteidigungspolitik -einen „weiten Sicherheitsbegriff“, der auf die Notwendigkeit des Zusammenwirkens aller Politikfelder hinweist;
-„gemeinsame Sicherheit“, die auf regionale, überregionale und globale Interdependenzen hinweisen soll;
-„Stabilitätsorientierung“, die zeigen soll, daß Sicherheitspolitik nicht mehr in erster Linie an militärischen Potentialen und numerischer Parität orientiert ist, sondern sozio-ökonomische, rechtliche und ordnungspolitische Stabilitätsfaktoren mitberücksichtigen muß;
-„Kooperation“, die die Notwendigkeit einer globalen und regionalen „Normen-und Risiko-gemeinschaft“
zur Lösung der großen Zukunftsaufgaben aufzeigen soll;
-schließlich das Prinzip der „kollektiven Verteidigung“, welches nationale Alleingänge verhindern und multinationale Strukturen fördern soll.
NATO, Europäische Union, WEU, KSZE und Vereinte Nationen (VN) sollen „auf der Basis von Kompatibilität, Komplementarität und Transparenz zu einer tragfähigen Architektur zusammengefügt werden, in der sie ihre Kräfte synergetisch entfalten“.
Die Nordatlantische Allianz bleibt Grundlage der Sicherheit Deutschlands. Sie verkörpert die strategische Einheit Europas und Nordamerikas. Nur im transatlantischen Verbund werden strategische Potentiale ausbalanciert und bleibt die gemeinsame Sicherheit der Bündnispartner erhalten. Die Allianz besitzt damit eine Stabilisierungsfunktion, die auf ganz Europa ausstrahlt. Betont wird allerdings, daß die NATO „die neuen strategischen Trends stärker in ihrem Rollenverständnis reflektieren“ müsse: „In ihrer Schutzfunktion wird die NATO mehr Relevanz für Krisen und Konflikte im erweiterten geographischen Umfeld entwickeln müssen, um Stabilitätsanker für ganz Europa zu bleiben.“ Neben der Schutzfunktion müsse sie auch den friedlichen Interessenausgleich und gemeinsamen Fortschritt umfassen. Sie werde sich somit -so die Richtlinien -„über das heutige Kooperationskonzept hinaus noch stärker den Staaten im Osten des Kontinents öffnen müssen“.
Die WEU wird als „Träger der europäischen Verteidigungspolitik“ gesehen, bis die Europäische Union in der Lage ist, diese Aufgabe zu übernehmen. In dieser Funktion soll die WEU zugleich den europäischen Pfeiler der Nordatlantischen Allianz stärken. Sie soll Verantwortung in solchen Situationen übernehmen, „in denen die NATO nicht in der Lage oder nicht willens ist einzugreifen“. Dabei soll die WEU auf europäische Streitkräfte zurückgreifen und diese führen können. Ausdrücklich verlangen die Verteidigungspolitischen Richtlinien, daß Deutschland die Voraussetzungen schafft, „um in vollem Umfang am Aufgabenspektrum der WEU partizipieren zu können. Die Bundeswehr entwickelt dazu neben ihrer festen Einbindung in die NATO auch eine europäische Dimension.“
Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union soll grundsätzlich auch zur WEU-Mitgliedschaft führen. Allerdings erscheint es möglich, daß Staaten noch nicht den ökonomischen Standard der Union erreichen, die Kriterien für eine Sicherheitspartnerschaft aber erfüllen. Sie sollen zunächst durch neue Formen der Assoziierung an der Verantwortung der WEU teilhaben. Aus deutscher Sicht trifft dies in erster Linie für die mittelosteuropäischen Staaten zu. Das Konsultationsforum der WEU kann dabei eine zentrale Rolle übernehmen. Als nicht zutreffend wird eine volle Mitgliedschaft jedoch für Ruß-land gesehen, dessen Potential „die europäische Dimension sprengt“. Die Europäische Union und die WEU würden „strategisch aus der Balance“ geraten. Allerdings sollen Rußland und die Nachfolge- Staaten der ehemaligen Sowjetunion nicht ausgegrenzt werden: „Neben breit angelegter Kooperation sind daher übergreifende Elemente der europäischen Struktur zu nutzen, um die Nachfolgestaaten der Sowjetunion strategisch einzubinden und ihre legitimen Sicherheitsinteressen zu befriedigen.“
Der KSZE wird nach wie vor eine Rolle als „Rahmen für eine umfassende politische, ökonomische, soziale, kulturelle und ökologische Kooperation“ zugeordnet. Dazu werde sie jedoch ihre „Fähigkeit ausbauen müssen, ihrer Wertegrundlage Geltung zu verschaffen“. In Krisen und Konflikten soll sie ihre Aufgaben als „regionale Abmachung“ gemäß Kapitel VIII der Charta der VN in „eigener politischer Verantwortung unter Rückgriff auf die Mittel anderer Institutionen“ wahrnehmen.
Die VN sollen reformiert und gestärkt werden: „Operative Gremien müssen die neuen strategischen Gewichte von Staaten und Regionen abbilden, um die Akzeptanz aller Mitgliedstaaten für ihre Entscheidungen in Zukunft sicherstellen zu können.“ Zur Stärkung der Fähigkeit zu präventivem Krisenmanagement sollten die VN „bei Bedarf schnell auf entsprechend ausgebildete und ausgestattete Truppenkontingente von Mitgliedstaaten mit deren Zustimmung zurückgreifen können“. 4. Auftrag der Bundeswehr Der Auftrag der Bundeswehr wird wie folgt definiert. Die Bundeswehr schützt Deutschland und seine Staatsbürger gegen politische Erpressung und äußere Gefahr, -fördert die militärische Stabilität und die Integration Europas, -verteidigt Deutschland und seine Verbündeten, -dient dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, -hilft bei Katastrophen, rettet aus Notlagen und unterstützt humanitäre Aktionen.“
Die zukünftige Struktur gliedert die Streitkräfte in die Kategorien militärische Grundorganisation sowie Hauptverteidigungs- und Krisenreaktionskräfte, wobei letztere zugleich der schnell verfügbare Teil der Hauptverteidigungskräfte sind. „Deutlich begrenzte Teilkomponenten dieser Krisenreaktionskräfte werden, nach Vorliegen *der Voraussetzungen, Friedensmissionen im Einklang mit der VN-Charta übernehmen, um der deutschen Mitverantwortung in der Völkergemeinschaft gerecht zu werden.“ In Anbetracht der verlängerten Warnzeit wird die Bundeswehr noch stärker den Charakter einer Mobilmachungsarmee erhalten, das heißt, die personelle und materielle Aufwuchsfähigkeit wird weitgehend auf den Bereich der Hauptverteidigungskräfte konzentriert.
An die Stelle der bisherigen Ausrichtung auf Abwehr einer großangelegten Aggression tritt somit nunmehr das Krisenmanagement als künftige Schwerpunktaufgabe der Bundeswehr. So sollen nicht nur die Institutionen, sondern auch die Streitkräfte qualitativ und quantitativ auf die neuen Erfordernisse ausgerichtet werden: „Nicht mehr die alleinige Fähigkeit zur umfassenden Verteidigung gegen eine ständig drohende Aggression, sondern flexible Krisen-und Konfliktbewältigung im erweiterten geographischen Umfeld, Friedensmissionen und humanitäre Einsätze bestimmen neben der Schutzfunktion gegen verbleibende unmittelbare Risiken ihr künftiges Anforderungsprofil.“
Ein Teil der deutschen Streitkräfte müsse deshalb zum Einsatz außerhalb Deutschlands befähigt sein, denn „Verteidigungsvorsorge kann künftig nicht auf das eigene Territorium beschränkt bleiben (...) Für Deutschland bedeutet Verteidigung immer Verteidigung im Bündnis im Sinne einer erweiterten Landesverteidigung.“ Die Streitkräfte sollen sich vornehmlich an jenen Risiken orientieren, die am wahrscheinlichsten sind: „Dies sind auf absehbare Zeit jene, die frühzeitiges Krisen-und Konfliktmanagement erfordern.“ Rasche Verfügbarkeit und ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität sind deshalb erforderlich. Zwar könnten die Ursachen von Risiken und Konflikten nicht generell durch den Einsatz militärischer Mittel behoben werden. Allerdings könne der Einsatz von Streitkräften notwendige Voraussetzungen zur Konfliktbewältigung schaffen. Daher müsse „künftig auch ein frühzeitiger Einsatz militärischer Mittel zur Wahrung und Wiederherstellung der internationalen Sicherheit und des Völkerrechts unter einem legitimierenden Mandat der VN oder der KSZE erwogen werden“. Entsprechend müßten deutsche Soldaten in Zukunft „auch bereit sein, in einer eng verflochtenen Welt neben der Verantwortung für ihr Land Mitverantwortung für die bedrohte Freiheit und das Wohlergehen anderer Völker und Staaten zu übernehmen“.
Bestehende Defizite bei der Fähigkeit zum flexiblen Krisen-und Konfliktmanagement sollen „konsequent und schnell“ abgebaut werden. Die dafür vorgesehenen Kräfte müssen „neuen Anforderungen an Ausbildung, Ausrüstung, Flexibilität und Mobilität gerecht werden. Dazu gehört auch eine ständige, zentrale, teilstreitkraftübergreifende Planungs-und Führungsfähigkeit.“ Der dafür notwendige planerische Spielraum sei bei den Hauptverteidigungskräften, bei der Grundorganisation und durch kostensparende Methoden inter nationaler Zusammenarbeit zu erreichen. Allerdings bleibe als Voraussetzung internationaler Kooperationsfähigkeit die Notwendigkeit „einer leistungsfähigen industriellen Basis in technologischen Kernbereichen“ bestehen.
Wo Investitionen auf absehbare Zeit nicht unabdingbar erforderlich sind, soll Verzicht geübt werden. Vorrang für den Mitteleinsatz besitzen unabweisbare Investitionen in Truppenteile, die auf akute Handlungserfordernisse ausgerichtet werden, -Investitionen in eine sinnvolle, fordernde und motivierende Ausbildung, -Investitionen in die Lebens-, Ausbildungs-und Dienstbedingungen der Soldaten in den neuen Bundesländern.“
II. Die Bundeswehrplanung
Am 15. Dezember 1992 legte Verteidigungsminister Rühe seine Entscheidungen zur Bundeswehr-planung 1994 vor. Durch das „föderale Konsolidierungsprogramm“ und den Nachtragshaushalt 1993 haben sich jedoch die finanziellen Rahmenbedingungen für die nächsten Jahre erneut geändert. Trotz zahlreicher Spekulationen in der Öffentlichkeit bleiben die konzeptionellen Grundlinien der Bundeswehrplanung vom Dezember 1992 jedoch bestehen. Sie basieren auf den zuvor erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien, das heißt, die veränderte Sicherheitslage, die neuen Aufgaben und die Anpassung der Bundeswehr stehen im Mittelpunkt. Hinzu kam die Notwendigkeit, in Anbetracht der übergeordneten Prioritäten des Einheitsprozesses Mittel einzusparen. Im einzelnen wurden folgende Entscheidungen getroffen: -Die Truppenteile für die Krisenreaktionskräfte wurden bestimmt;
-zwei Bataillone wurden genannt, die planerisch Vorsorge für künftige deutsche Beiträge zu VN-Einsätzen leisten sollen, Zieldatum hierfür ist der 1. Oktober 1993;
-es wurde erklärt, künftig das Schwergewicht beim Heer von mechanisierten Kräften zu mobilen leichten Verbänden zu verlegen; diese Verlagerung spiegelt sich entsprechend bei der Materialplanung wider, und zwar sowohl in bezug auf die Ausrüstung des einzelnen Soldaten wie hinsichtlich des Großgeräts für die Krisenreaktionskräfte;
-entsprechende Änderungen bei der Ausrüstung von Marine und Luftwaffe; bei letzterer etwa sind Luftverteidigung und Lufttransport neue Schwerpunkte.
Für die Hauptverteidigungskräfte wurde der Materialbeschaffungsumfang für die kommenden Jahre gestreckt. Man verzichtete vor allem auf solche Vorhaben, die nicht mehr der veränderten Einschätzung der Sicherheitslage und dem künftigen Einsatzspektrum entsprechen. Die technische Auslegung des vorgesehenen Jagdflugzeugs (Eurofighter 2000) wurde verändert und der System-preis gesenkt. Ganz verzichtet wurde z. B. auf den Schützenpanzer Marder 2, die Kampfwertsteigerung der Waffensysteme Gepard und Roland und das zweite Los des Bergepanzers 3.
Die Anpassungen erstrecken sich in erheblichem Umfang auch auf Struktur und Stationierung. Der heute bestehende hohe Kaderungsgrad bei Logistik und Sanitätsdienst wird zugunsten höherer Präsenz und Einsatzbereitschaft verändert, um den Krisenreaktionsverbänden die erforderliche Unterstützung im Einsatz bieten zu können. Weitere Eingriffe in die Organisationsstrukturen werden zu Auflösungen von Stäben, Einheiten und Stationierungsorten führen. Dazu sind ebenfalls im Februar Entscheidungen gefallen, die nicht alle unumstritten sein können. Je drastischer die Sparmaßnahmen sind, desto weniger kann jedoch auf wirtschafts-und regionalpolitische Faktoren Rücksicht genommen werden. Eigentliches Problem der Bundeswehrplanung sind allerdings die Betriebskosten, die rund 75 Prozent der Gesamtkosten ausmachen. Geprüft werden soll, wie dieser Anteil gesenkt werden kann.
Entsprechend der Verpflichtung aus dem 2+ 4-Abkommen von 1991 sieht die Personalplanung vom Dezember 1992 einen bis Ende 1994 zu erreichenden Umfang der Bundeswehr von 370 000 Soldaten vor. Dies gilt weiterhin, auch wenn der Bundeskanzler am 6. Februar 1993 in München die Über-prüfung des zukünftigen personellen Umfangs der Streitkräfte angekündigt hat. An der allgemeinen Wehrpflicht und an der Reservistenkonzeption soll jedoch festgehalten werden, auch wenn möglicherweise die Wehrdienstzeit reduziert wird.
Die aufgrund des „Föderalen Konsolidierungsprogramms“ und des Nachtragshaushalts 1993 erfor„derlichen weiteren Maßnahmen haben vor allem folgende Auswirkungen: -Die Prioritätensetzung zugunsten der Krisenreaktionskräfte wird verstärkt;
-Maßnahmen zur Infrastruktur werden (mit Ausnahme der neuen Bundesländer) gestoppt;-erneute Eingriffe in die Stationierungsplanung sind notwendig;
-Materialinvestitionen werden in den nächsten Jahren im wesentlichen auf Krisenreaktionskräfte beschränkt.
Das bedeutet den weitgehenden Verzicht auf Neu-beschaffungen bei den zur Zeit noch gut ausgestatteten Hauptverteidigungskräften. Vorerst wurde ein Auftragsstopp für größere Beschaffungen verfügt. Zu prüfen ist, ob die notwendige Flexibilität durch Streichungen, durch Eingriffe in Mengen und über die Zeitachse gewonnen werden kann und/oder ob Eingriffe beim Umfang der Bundeswehr erforderlich sind.
III. Das Zusatzabkommen zum Truppenstatut
Nach den 2+ 4-Verhandlungen, der deutschen Wiedervereinigung und der Wiedererlangung vol‘ 1er Souveränität wurde es notwendig, die Grundlagen für die Anwesenheit verbündeter Truppen in Deutschland (aus Belgien, Frankreich, Großbritannien, Kanada, den Niederlanden, USA) teilweise neu zu regeln. (Die ehemals sowjetischen Truppen ziehen planmäßig ab; die letzten -zur Zeit sind es noch etwas über 100000 -sollen bis August 1994 abgezogen sein.) Gewählt wurde der Weg einer Neuverhandlung des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut; das Ergebnis wurde am 15. Januar 1993 paraphiert.
Die Verhandlungen wurden von zwei Faktoren beeinflußt: Erstens mußten ehemalige Vorrechte der Verbündeten „wegverhandelt“ werden, und zweitens ist Deutschland weiterhin an der Präsenz der Verbündeten interessiert. Das hat den deutschen Verhandlungsspielraum eingeengt; dennoch wurden mit dem Änderungsabkommen zahlreiche grundlegende Verbesserungen erreicht.
Für die Liegenschaften der verbündeten Streitkräfte wurde die generelle Geltung deutschen Rechts festgelegt. Insbesondere in bezug auf Schieß-und Benutzungszeiten an Feiertagen, in der Nacht und an Wochenenden wurde eine Anpassung an die Praxis der Bundeswehr erreicht. Die deutsche Polizei ist berechtigt, ihre Aufgaben innerhalb der Liegenschaften in dem Maße . wahrzunehmen, in dem die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet oder verletzt ist. Bisher hatten die Streitkräfte der Verbündeten das Recht, ohne deutsche Zustimmung Manöver und andere Übungen im freien Gelände abzuhalten. Künftig bedarf dies der Zustimmung des Bundesministeriums der Verteidigung, wobei deutsches Recht (insbesondere das Bundesleistungsgesetz) in vollem Umfang anwendbar ist. Für Flugvorhaben der Verbündeten wurde in einem getrennten Protokoll geregelt, welche deutschen luftrechtlichen Bestimmungen Anwendung finden.
Die Verbündeten werden an deutsches Verfahrensrecht gebunden, wobei gegebenenfalls notwendige Verwaltungs-und Gerichtsverfahren von deutschen Behörden für die Verbündeten betrieben werden sollen. Bereits nach geltendem Recht sind Baumaßnahmen nach Maßgabe deutscher Vorschriften durchzuführen. Insbesondere wird jetzt jedoch auf deutsche Umweltvorschriften verwiesen. Ein gesonderter Umweltschutzartikel wurde aufgenommen, wonach die Verbündeten die Bedeutung des Umweltschutzes bei allen Tätigkeiten ihrer Streitkräfte anerkennen. Allerdings konnte hinsichtlich der Kosten für die Altlasten nur erreicht werden, daß die Entsendestaaten diese Kosten abhängig von einer Verfügbarkeit der Haushaltsmittel übernehmen werden.
Vorbehaltlich der Zustimmung der Bundesregierung sind verbündete Streitkräfte berechtigt, mit ihren Land-, Wasser-und Luftfahrzeugen die Grenzen der Bundesrepublik zu überqueren sowie sich in und über dem Bundesgebiet zu bewegen. Geschieht dies im Rahmen deutscher Rechtsvorschriften, gilt die Genehmigung grundsätzlich als erteilt. Die Befolgung deutscher Verkehrsvorschriften, insbesondere der Vorschriften über den Transport gefährlicher Güter, ist zu gewährleisten. In bezug auf Fahrerlaubnisse und die Zulassung von Privatkraftfahrzeugen gelten die Vorschriften der Entsendestaaten unter der Voraussetzung, daß deutsche Sicherheitsvorschriften nicht verletzt werden.
Zur Frage der in Deutschland verbotenen Todesstrafe wurde erreicht, daß nicht nur die Vollstrekkung von Todesurteilen auf deutschem Boden unterbleibt, sondern daß künftig auch keine Strafver-’ folgungsmaßnahmen durchgeführt werden, die zu einer solchen Strafe in Deutschland führen können.
Nicht in vollem Umfang durchgesetzt werden konnten die deutschen Wünsche zur rechtlichen Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse von Zivilbediensteten bei den Streitkräften der Verbündeten, die nach deutscher Auffassung denen der Zivilbediensteten bei der Bundeswehr entsprechen sollen, vor allem in bezug auf Arbeitsschutz, Personalvertretungs-und Mitspracherechte und das Recht auf tatsächliche Beschäftigung.
Schließlich war es das deutsche Bestreben, für die Bundeswehr und ihre Angehörigen in den Entsen destaaten die gleiche Rechtsstellung zu erreichen, wie sie die Verbündeten in Deutschland einnehmen. Es wurde vereinbart, daß von den Verbündeten Noten überreicht werden, wonach bei vergleichbaren Aufenthaltsbedingungen für die Bundeswehr, ihre Mitglieder und deren Angehörige vergleichbare Rechtsverhältnisse hergestellt werden.
IV. Deutsche Teilnahme an internationalen Friedensaktionen
In Deutschland wird zur Zeit engagiert über die Frage diskutiert, ob deutsche Soldaten an internationalen Friedensaktionen teilnehmen sollen. Dabei handelt es sich um drei „Kategorien“ solcher Aktionen: um humanitäre, friedenserhaltende (Blauhelmeinsätze, z. B. Beobachtung, Gewährleistung eines Waffenstillstands) und friedenschaffende Einsätze, das heißt auch Kampfeinsätze, etwa zur Unterbindung einer Aggression und zur Schaffung von Voraussetzungen zur friedlichen Lösung von Problemen. Allerdings wird heute angenommen, daß es nicht immer leicht sein wird, deutlich zwischen diesen Kategorien zu unterscheiden; insbesondere sind auch bei humanitären und friedenserhaltenden Maßnahmen militärische Aktionen zu gewärtigen, mindestens im Umfang des Schutzes der eigenen Soldaten.
Der Bundesminister der Verteidigung vertritt die Auffassung, daß die Bundeswehr in der Lage sein sollte, in allen drei Bereichen einen Beitrag zu leisten, allerdings stets gemeinsam mit anderen und in jedem Einzelfall vor dem Hintergrund deutscher Interessen und durch den Bundestag beschlossen. Dem entspricht der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 15. Januar dieses Jahres zur klarstellenden Ergänzung des Artikels 24 des Grundgesetzes. Danach sollen unbeschadet des Artikels 87 a deutsche Streitkräfte eingesetzt werden können: „l. bei friedenserhaltenden Maßnahmen gemäß einem Beschluß des Sicherheitsrates oder im Rahmen von regionalen Abmachungen im Sinne der Charta der Vereinten Nationen, soweit ihnen die Bundesrepublik Deutschland angehört, 2. bei friedensherstellenden Maßnahmen aufgrund der Kapitel VII und VIII der Charta der Vereinten Nationen gemäß einem Beschluß des Sicherheitsrates, 3. in Ausübung des Rechtes zur kollektiven Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen gemeinsam mit anderen Staaten im Rahmen von Bündnissen und anderen regionalen Abmachungen, denen die Bundesrepublik Deutschland angehört.
Diese Einsätze bedürfen in den Fällen 1 und 2 der Zustimmung der Mehrheit, im Fall 3 der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags.“
Umstritten ist hierbei vor allem Fall 3, der es ermöglichen soll, auch ohne Beschluß des VN-Sicherheitsrates „im Rahmen von Bündnissen und anderen regionalen Abmachungen“ im Sinne der VN-Charta Maßnahmen zu ergreifen. Der Sinn dieses Artikels ist jedoch offensichtlich. Da nicht stets und auch nicht stets rechtzeitig mit einem Beschluß des Sicherheitsrates gerechnet werden kann, soll es möglich sein, auch ohne einen solchen Beschluß zu handeln. Allerdings wird hier eine erhebliche Sperre in Form der notwendigen Zustimmung einer (verfassungsändernden) Zweidrittel-Mehrheit der Mitglieder des Bundestages eingebaut. Die Selbstverteidigung im Rahmen der NATO ist natürlich auch ohne eine solche Mehrheit weiterhin möglich; das soll durch den Hinweis auf Artikel 87 a gewährleistet bleiben. Dennoch wird zur Zeit darüber nachgedacht, ob dies durch, eine Neuformulierung nicht noch deutlicher zu machen wäre (etwa durch Einführung eines Satzes, daß die Streitkräfte auch eingesetzt werden können „zur Hilfeleistung für mit der Bundesrepublik Deutschland verbündete Staaten gemäß den Bündnisverträgen“).
V. Schlußbewertung
Daß die Bundeswehr sich im Prozeß der größten Umstrukturierung seit ihrer Gründung befindet, ist oft gesagt worden, und dennoch ist es angebracht, nochmals an die Dimension dieser außergewöhnlichen Aufgabe zu erinnern: Sie muß sich anpassen an die neue Sicherheitslage und die entsprechenden Reformen in der NATO, sie muß Personal und Gerät gemäß dem 2+ 4-und dem KSE-Abkommen bis Ende 1994 verringern, sie muß Personal-und Strukturveränderungen aufgrund der Vereinigung vornehmen und -last, but not least -sie muß die ihr auferlegten finanziellen Einschränkungen bewältigen ohne Verlust der Fähigkeit, ihre für Deutschland wesentlichen Aufgaben zu erfüllen. In einer solchen Situation ist es gut, ruhig zu prüfen und entschieden zu handeln. Die zu treffenden Entscheidungen haben langfristige Auswirkungen. Dafür trägt der Bundesminister der Verteidigung die erste Verantwortung, aber auch die Bundesregierung, das Parlament und die Parteien stehen in der Verantwortung.