Vor den Herausforderungen des Nationalismus: Die KSZE in den neunziger Jahren
Norbert Ropers/Peter Schlotter
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Zusammenfassung
Bis 1990 war die KSZE ein Prozeß aufeinanderfolgender multilateraler diplomatischer Konferenzen mit einem sich allmählich verdichtenden Normengefüge. Unumstritten ist, daß dieser Prozeß erheblich dazu beigetragen hat, den Systemkonflikt zwischen Ost und West „einzuhegen". Diese alte Funktion ist nun überflüssig geworden, und die Mitgliedstaaten stehen vor dem Problem, ob und wie die KSZE vor allem zur Regelung der vielen neu ausgebrochenen ethnonationalen Konflikte in Europa beitragen kann. In dem Beitrag werden die seit 1990 schrittweise eingeführten neuen KSZE-Institutionen und -Krisenmechanismen dargestellt. Sie haben sich allerdings bisher als wirkungslos erwiesen, zur Gewaltverminderung auf dem Balkan und im Kaukasus beizutragen, obwohl man anerkennen sollte, daß der Ausbau der KSZE zu einer „regionalen Abmachung“ der Vereinten Nationen in geradezu rasantem Tempo erfolgt ist. Um die KSZE wirklich handlungsfähig zu machen, schlagen die Autoren verschiedene institutioneile Neuerungen vor, darunter die Einrichtung eines KSZE-Sicherheitsrates. Er soll das Mandat haben, „humanitäre Interventionen“ mit militärischen Mitteln zu beschließen.
I. Einleitung
Die radikale Transformation des internationalen Systems nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hat auch die Herausforderungen an die Sicherheits-und Friedenspolitik grundlegend verändert. Die jahrzehntelang drohende Gefahr eines weltweiten Nuklearkrieges scheint gebannt zu sein. Die Voraussetzungen für gemeinsames Handeln der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates haben sich deutlich verbessert. In vielen Teilen der Welt sind die Chancen für Demokratisierungsprozesse und die Achtung der Menschenrechte gestiegen und damit auch die Chancen für dauerhafte Friedensstiftung.
Die Neuformierung des internationalen Systems hat aber auch traditionelle und neue Rivalitäten zwischen den Führungsmächten bzw.den Wachstumszentren der Welt entstehen lassen. Noch dramatischer ist der Ausbruch ethnonationaler Konflikte, Krisen und Kriege auf dem Boden der ehemaligen sozialistischen Staaten. Nicht zuletzt zeichnen sich aufgrund ökologischer Krisen und wachsender Migrationsbewegungen neuartige Konflikte um Ressourcen und eine Renaissance territorialer Streitigkeiten ab.
In diesem Zusammenhang kommt der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ein zentraler Stellenwert zu. In ihr sind alle Staaten Mitglied, in oder zwischen denen in Europa die gegenwärtigen, vor allem ethnonationalistischen Konflikte und Kriege stattfinden.
Bis 1990, bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes als einer Systemauseinandersetzung zweier unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen, war die KSZE nur ein relativ unstrukturierter Prozeß aufeinanderfolgender multilateraler diplomatischer Konferenzen mit einem sich allmählich verdichtenden Normengefüge Dabei ist unumstritten, daß dieser besondere Charakter der KSZE erheblich zur Zivilisierung der Ost-West-Beziehungen beigetragen hat.
Mit der „Charta von Paris“ vom November 1990 wurde nun ein neues Kapitel in der KSZE-Geschichte aufgeschlagen Die KSZE erhielt -wenngleich noch rudimentäre -ständige Institutionen, und an die Stelle des ordnungspolitischen Grundkonfliktes zwischen Ost und West trat das gemeinsame Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit, pluralistischer Demokratie und Marktwirtschaft. Die KSZE wurde zur zentralen gesamteuropäischen Plattform. Die Übergangszeit von der Pariser Charta 1990 zum Helsinki-Gipfel 1992 markiert allerdings eine Phase, in der die KSZE mit einer Vielzahl neuer Herausforderungen konfrontiert wurde und oft genug die in sie gesetzten Erwartungen, insbesondere im Hinblick auf die friedliche Regelung ethnonationaler Konflikte, nicht erfüllen konnte.
II. Institutionen und Mechanismen der neuen KSZE
Die Institutionen der neuen KSZE entwickelten sich zwischen 1990 und 1992 schrittweise, da die Vorstellungen über die künftige Organisation der gesamteuropäischen Sicherheit und Zusammenarbeit erheblich auseinandergingen. Die folgende Darstellung gibt den Stand der institutioneilen Entwicklung nach dem Abschluß des Folgetreffens in Helsinki im Juli 1992 und nach dem Dritten Treffen des Rates der KSZE-Außenminister im Dezember 1992 wieder
Der alte KSZE-Prozeß als unregelmäßige Konferenzfolge wurde verdichtet und verstetigt: Alle zwei Jahre finden Folgetreffen der KSZE statt, anderen Ende ein Gipfeltreffen der Staats-und Regierungschefs steht; deren Aufgabe ist u. a., die Durchführung sämtlicher Beschlüsse zu überprüfen, neue Vereinbarungen zu treffen sowie die Prioritäten und Richtlinien der KSZE-Politik festzulegen.
Das zentrale Forum der neuen KSZE und ihrer politischen Konsultationen ist der Rat der Außenminister, der sich mindestens einmal jährlich versammelt, aber auch außerplanmäßig tagen kann. Er kann Beschlüsse zur institutioneilen Weiterentwicklung der KSZE fassen.
Operatives Lenkungsgremium ist der Ausschuß Hoher Beamter (AHB). Er tritt in der Regel am Sitz des KSZE-Sekretariats in Prag zusammen. Er bereitet nicht nur die Sitzungen des Ministerrates vor und führt dessen Beschlüsse aus, er ist auch zwischen den Ratssitzungen für die Übersicht, Leitung und Koordinierung aller KSZE-Aktivitäten zuständig und faßt als Beauftragter des Rates Beschlüsse. In Helsinki sind dem AHB vor allem auf den Gebieten Frühwarnung, vorbeugende Diplomatie, Krisenbewältigung, friedliche Beilegung von Streitigkeiten und Friedenserhaltung (auch mit KSZE-„Blauhelmen“) neue Kompetenzen übertragen worden. Um die Arbeitsfähigkeit des AHB zu erhöhen, wurde die Position des „amtierenden Vorsitzenden“ besonders gestärkt. Er ist verantwortlich für die laufende Koordinierung des KSZE-Prozesses. Zu seiner Unterstützung können Ad-hoc-Lenkungsgruppen mit begrenzter Teilnehmerzahl (d. h. nicht aus allen KSZE-Staaten!) berufen werden.
Beim AHB ist der „Mechanismus für Konsultation und Zusammenarbeit in dringlichen Situationen“, die „auf Grund der Verletzung eines Prinzips der Schlußakte oder größerer, den Frieden, die Sicherheit oder die Stabilität gefährdender Zwischenfälle entstehen können“, angesiedelt. Er ermöglicht es jedem einzelnen Teilnehmerstaat, von einem hierin verwickelten Staat oder von den beteiligten Staaten Klarheit zu verlangen; dem muß binnen 48 Stunden Rechnung getragen werden
Im Dezember 1992 wurde das Amt eines General-sekretärs der KSZE beschlossen. Er handelt unter Anleitung des amtierenden Vorsitzenden des Rates der Außenminister bzw.seiner Vertretung. Seine Aufgaben umfassen die Verwaltung der Institutionen und Operationen, die Vorbereitung und Leitung von Treffen sowie die Gewährleistung der Durchführung der Beschlüsse der KSZE.
Das ständige Sekretariat der KSZE in Prag unterstützt die Treffen des Rates und des Ausschusses Hoher Beamter administrativ, führt ein Dokumentationsarchiv und gibt Informationen über die KSZE an Einzelpersonen sowie an nichtstaatliche und an internationale Organisationen weiter.
In Helsinki wurden die Aufgaben für das Büro für freie Wahlen in Warschau thematisch erweitert; es wird zum Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) ausgebaut. Seine Hauptaufgabe ist es, die Einhaltung der Verpflichtungen im Bereich der „menschlichen Dimension“ zu überwachen. Dazu gehört insbesondere die Funktion als Clearingstelle des „Mechanismus der menschlichen Dimension“. Er erlaubt jedem KSZE-Staat, bei einem anderen Informationen über Menschenrechtsverletzungen einzuholen In Fällen von eindeutigen, groben und nicht behobenen Verletzungen einschlägiger KSZE-Verpflichtungen kann der Rat der Außenminister bzw.der Ausschuß Hoher Beamter Maßnahmen nach der „Konsens-minus-eins“ -Formel treffen, d. h., der zu erwartende Widerspruch des betroffenen Landes kann sich nicht als Veto auswirken. Dem traditionellen Souveränitätsdenken wird jedoch noch insofern Rechnung getragen, als sich Beschlüsse nach dieser Formel nur auf „politische Erklärungen“ oder andere „politische Schritte“ beschränken, „die außerhalb des Territoriums des betreffenden Staates anwendbar sind“
Mit der Einrichtung des Hohen Kommissars der KSZE für nationale Minderheiten reagierten die Teilnehmerstaaten in Helsinki auf das hohe Konfliktpotential von ethnonationalen Mehrheiten-Minderheiten-Beziehungen in der KSZE-Region Die Aufgabe des Hohen Kommissars ist es, zum frühestmöglichen Zeitpunkt den Ausschuß Hoher Beamter über potentielle Krisen und Konflikte zu informieren und durch direkte Konsultationen mit den betroffenen Parteien Dialog, Vertrauen und Zusammenarbeit unter ihnen zu fördern. Seine Informationsquellen sind Berichte der betroffenen Parteien, aber auch direkte Recherchen vor Ort sowie die Stellungnahmen von neutralen Experten. Das Mandat des Hohen Kommissars ist insofern beschränkt, als sich die Frühwarnung nur auf jene Spannungsfelder bezieht, die Auswirkungenauf die Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten haben könnten.
Das KonfliktverhütungsZentrum (KVZ) in Wien unterstützt die Durchführung der Vertrauens-und Sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM), indem es die organisatorischen Voraussetzungen für Konsultationen bei ungewöhnlichen militärischen Aktivitäten schafft, ein Kommunikationsnetz einrichtet sowie den jährlichen Austausch militärischer Informationen und die jährlichen Treffen zur Beurteilung der durchgeführten VSBM organisiert. Es entsendet Erkundungs-und Berichterstattermissionen zur Krisenbewältigung und zur Konfliktprävention und unterstützt den AHB bei friedenserhaltenden „Blauhelm“ -Operationen. Beim KVZ ist auch der Mechanismus zur „Erörterung ungewöhnlicher Aktivitäten militärischer Art“ eingerichtet, der ein kurzfristiges Nachfragerecht und Konsultationen auf Verlangen beinhaltet Insgesamt ist das Aufgabenprofil dieser Institution aber noch nicht abschließend geklärt.
Das Forum für Sicherheitskooperation soll künftig als integraler Bestandteil des KSZE-Prozesses für den gesamten Katalog von Verhandlungen und Konsultationen zur Abrüstung, Rüstungskontrolle sowie zur militärischen Vertrauens-und Sicherheitsbildung zuständig sein. Die Notwendigkeit einer zentralen Koordinierung in diesem Bereich ergibt sich zunächst aus den bislang wenig harmonisierten Bestimmungen über konventionelle Abrüstung in Europa. Das Sicherheitsforum hat darüber hinaus eine Doppelfunktion: Einerseits dient es als Gremium für vorbereitende Gespräche und Verhandlungen, um Vereinbarungen über neue Abrüstungsschritte und vertrauensbildende Maßnahmen zu erzielen; andererseits sollen in seinem Rahmen Beratungen über konkrete Konfliktinterventionen stattfinden. Geplant ist ferner, daß im Sicherheitsforum auch ein breiter sicherheitspolitischer Dialog über Bedrohungsperzeptionen, Militärdoktrinen, Streitkräftestrukturen sowie die Konversion der Rüstungsindustrien geführt wird.
Dem Mechanismus der friedlichen Regelung von Streitfällen liegt der Gedanke zugrunde, Streitigkeiten zwischen Staaten auf friedliche Weise unter Zuhilfenahme von Methoden und Verfahren wie Verhandlung, Untersuchung, gute Dienste, Vermittlung, Schlichtung, Vergleich, Schiedsspruch oder gerichtliche Entscheidung zu regeln. Im KSZE-Prozeß spielte dieser Gedanke von Anfang an eine wichtige Rolle; seine Umsetzung kam allerdings nur langsam voran. Erst bei einem Expertentreffen in La Valletta im Januar/Februar 1991 konnten sich die KSZE-Staaten über ein Dokument zur friedlichen Streitbeilegung einigen -und sie machten einen ersten Schritt, sich vom Konsensprinzip zu lösen: Der Mechanismus kann auch einseitig angerufen werden. Es wird ein Verzeichnis mit Kandidaten angelegt, die bei Streitfällen als Drittpartei eingesetzt werden können; jeder KSZE-Staat darf bis zu vier Personen benennen. Die Personengruppe der Schlichter -genannt „Mechanismus“ -nimmt Verbindung mit den Parteien auf, spricht mit ihnen ihr Vorgehen ab, erhält von ihnen Auskünfte und erteilt schließlich vertrauliche Hinweise und Ratschläge. Die Kompetenzen der Schlichter sind allerdings mehr als dürftig -noch dazu, wenn berücksichtigt wird, daß jede Streitpartei die Einsetzung verhindern kann, sofern in ihren Augen „Fragen ihrer territorialen Integrität oder ihrer Landesverteidigung, ihrer Hoheitsansprüche auf Landgebiete oder konkurrierende Ansprüche hinsichtlich der Hoheitsgewalt Über andere Gebiete“ berührt sind.
Um den komplizierten organisatorischen Prozeß zu vereinfachen, wurden auf dem Außenministertreffen in Stockholm im Dezember 1992 Bestimmungen für eine KSZE-Vergleichskommission beschlossen Ihre Bestellung erfolgt in einem verkürzten Verfahren. Unter der Bedingung der Gegenseitigkeit können die Vorschläge der Kommission von den betroffenen Parteien als bindend anerkannt werden. Wichtig ist bei diesem Verfahren, daß der Ausschuß Hoher Beamter eine „Schlichtung auf Anordnung“ verfügen kann, ohne daß die beiden betroffenen Staaten dem zustimmen müssen. Damit ist das Konsensprinzip zugunsten der Formel „Konsens minus zwei“ weiter abgeschwächt worden. Territoriale und Verteidigungsfragen dürfen allerdings weiterhin nur mit Zustimmung der betroffenen Staaten behandelt werden.
Darüber hinaus hat ein Teil der KSZE-Mitgliedstaaten (29 von den mittlerweile 53, darunter Deutschland, Bosnien-Herzegowina, Frankreich, Griechenland, Italien, die Russische Föderation und die Ukraine -nicht aber Großbritannien und die Vereinigten Staaten) einen völkerrechtlichen Vertrag über die Einrichtung eines KSZE-Vergleichs- und Schiedsgerichtshofs unterzeichnet, der gegenüber dem ursprünglichen Mechanismus den Vorteil hat, daß ihm ständig bestimmte Personen angehören. Es gibt Vergleichsverfahren, deren Ergebnis von den Streitparteien anerkannt werdenkann oder auch nicht, und Schiedsverfahren, bei denen die Vertragsstaaten unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit die Zuständigkeit des Gerichtshofs als obligatorisch anerkennen. Diese Anerkennung kann für alle Streitigkeiten gelten oder aber Fragen der territorialen Integrität oder der Landesverteidigung ausschließen. Beim Schiedsverfahren ist der Spruch des Gerichtes endgültig, und es gibt keine Möglichkeit, Rechtsmittel dagegen einzulegen.
In der Charta von Paris hatten sich die Regierungen der KSZE-Staaten für die Einrichtung einer Parlamentarischen Versammlung ausgesprochen, die von den einzelnen Parlamenten beschickt wird. Die Versammlung bewertet bei ihren jährlichen Sitzungen die Ausführung der KSZE-Vereinbarungen, diskutiert die Treffen des Rates der Außenminister und unterbreitet den KSZE-Gremien eigene Vorschläge. Empfehlungen sollen mit Mehrheit, in speziellen Fällen mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden.
III. Erste Bewährungsproben für die neue KSZE: Ihre Rolle bei den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien und um Nagornj-Karabach
Die neuen Institutionen und Mechanismen wurden, kaum waren sie eingerichtet, einer harten Prüfung unterworfen. Seit Mitte 1991 beschäftigten sich die einzelnen KSZE-Institutionen immer wieder mit dem Krieg im zerfallenden Jugoslawien. Der Ausschuß Hoher Beamter entsandte gemäß den Richtlinien der einzelnen Mechanismen -vor allem der „menschlichen Dimension“ -in fast alle Regionen des ehemaligen Jugoslawien Erkundungs-und Berichterstattermissionen und beschloß schließlich die Suspendierung (Rest-) Jugoslawiens von allen KSZE-Aktivitäten bis auf weiteres; ein Beschluß, der im „Konsens-minus-einsVerfahren" getroffen wurde. Auch die politischenund militärischen Krisenmechanismen wurden immer wieder in Gang gesetzt
Bei all diesen Entschließungen und Erkundungsmissionen hinkte die KSZE der EG -und später der UNO -hinterher, es waren im Grunde „Nachtrab“ -Aktionen. Ein eigenständiges Profil der KSZE gab und gibt es in dem kriegerischen Zerfallsprozeß Jugoslawiens nicht. Sie konnte bisher keinen Beitrag dazu leisten, das Blutvergießen zu verhindern oder wenigstens zu beenden.
Ein zweites Konfliktfeld, in dem die Krisenmechanismen in Gang gesetzt wurden, war der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Enklave Nagornij-Karabach. Auch hier bekräftigte der Ausschuß Hoher Beamter das Prinzip, daß Grenzen nur im Einvernehmen geändert werden dürften, und rief immer wieder zum Waffenstillstand auf. Er entsandte mehrere Erkundungsmissionen, um die Chancen für einen Waffenstillstand auszuloten. Schließlich versuchten der KSZE-Rat und der AHB, eine Friedenskonferenz in Minsk einzuberufen, an der neben Armenien und Aserbaidschan Belarus, die SFR, Frankreich, Deutschland, Italien, Rußland, Schweden, die Türkei und die USA teilnehmen sollten. Sie ist jedoch nicht recht in Gang gekommen, u. a. weil sich die beiden Hauptkontrahenten nicht über die Teilnahme von Vertretern aus Nagomj-Karabach einigen konnten. Trotzdem ist nicht auszuschließen, daß die KSZE weiter eine Vermittlerrolle zu spielen versucht und auch spielen kann, zumal sie hier -im Gegensatz zum Krieg im zerfallenden Jugoslawien -nicht in Konkurrenz zur EG und zur UNO steht. So ist es auch möglich, daß die KSZE im Kaukasus zum ersten Mal eine friedenserhaltende Operation durchführt. Insgesamt ist aber bislang auch hier kein Erfolg zu verzeichnen.
Die Gründe für das Scheitern der bisherigen KSZE-Bemühungen sind vielfältig:
Zum ersten stand die KSZE vor der Herausforderung, auf Konflikte zu reagieren, bei denen fraglich ist, ob es überhaupt Mittel gibt, das Verhalten der Akteure so zu beeinflussen, daß sie gewaltfreie Lösungsmöglichkeiten wählen. Sie hatte auch das Problem, über die Instrumente, mit denen sie u. U. erfolgreich hätten eingreifen können, gar nicht zu verfügen bzw. sie gerade erst beschlossen zu haben. Erst im Prozeß der krisenhaften Zuspitzung entwickelte sich ja das Instrumentarium. Gemessen an der üblichen Langsamkeit, mit der sich internationale Organisationen entwickeln, ist der Ausbau der KSZE vom Konferenzprozeß zu einer regionalen Abmachung der UNO mit Krisenmechanismen und dem Mandat zu friedenserhaltenden Missionen in geradezu rasantem Tempo vorangegangen.
Zum zweiten kann eine internationale Organisation nur so handlungsfähig sein, wie es ihre Mitgliedstaaten wollen. Daß die KSZE nicht über mehr Instrumente verfügt, mit denen in Konflikten interveniert werden kann, die gemeinhin als „innere Angelegenheiten“ bezeichnet werden, ist nicht ihr, sondern den Regierungen anzulasten, die an der nationalen Souveränität uneingeschränkt festhalten wollen bzw. die die Interventionen internationaler Organisationen abwehren wollen, weil sie selbst betroffen sind oder betroffen sein könnten. Darüber hinaus ist auch „Konsens minus zwei“ bei mittlerweile 53 KSZE-Mitgliedsstaaten nicht ausreichend, um Handlungsfähigkeit herzustellen.
Zum dritten hat sich bei der Rolle der KSZE vor allem im Krieg auf dem Balkan gezeigt, daß all die Instrumente und Mechanismen, die Prinzipien und Entscheidungsprozeduren („Regime“), die die KSZE entwickelt hat und die sich im Rahmen dessen bewegen, was bei der UNO entweder schon vorhanden oder zumindest im Völkerrecht diskutiert wird, . an der Regelung zwischenstaatlichen Verhaltens orientiert sind. Das ganze Instrumentarium ist darauf gerichtet, Interessenkonflikte zwischen rational kalkulierenden Akteuren zu regeln, was die Möglichkeit von Kompromissen einschließt Bei den jetzigen ost-und südosteuropäischen Kriegen handelt es sich jedoch um Identitätskonflikte zwischen verschiedenen ethnonationalen Gruppen und damit um Themen, die nur schwer verhandelbar sind. Darüber hinaus geht es um ungeordnete Zerfallsprozesse von Völkerrechtssubjekten, aus denen erst im Laufe einer längeren Übergangszeit neue souveräne Staaten entstehen werden.
Zum vierten sind solche Auflösungsprozesse staatlicher Ordnung von außen nur schwer zu beeinflussen; internationale Organisationen, die ja letztlich von Staaten getragen werden, sind damit so überfordert wie alle anderen -seien es Einzelstaatenoder gesellschaftliche Organisationen. Es ist daher wenig überzeugend zu’argumentieren, wenn die KSZE bessere Instrumente gehabt hätte und z. B. über eine Eingreiftruppe verfügte, hätte sie einen Waffenstillstand erzwingen und die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch bringen können. Dabei wird unausgesprochen angenommen, daß dies in der Vergangenheit oft gelungen sei. Demgegenüber muß als Ergebnis der Forschung festgehalten werden, daß die Erfolgsbilanz militärischer Interventionen von Großmächten in Bürgerkriege und/oder nationalen Befreiungskriege nicht gerade überzeugend ist
Fünftens muß die Kritik an der KSZE auch berücksichtigen, daß die EG über sehr viel stärkere Druckmittel (ökonomische Anreize oder auch Versagungen) verfügt und daß sie keineswegs erfolgreicher gewesen ist. Auch der UNO ist es bisher nicht gelungen, dem Blutvergießen ein Ende zu machen.
Aus dem Gesagten läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß die Hoffnungen auf Beeinflussung solcher Konflikte von außen nicht zu hoch angesetzt werden dürfen. Dennoch sind internationale Organisationen nicht überflüssig. Die Forschungen zur Rolle internationaler Verhandlungssysteme und Organisationen sind zu dem Ergebnis gekommen, daß durch sie zumindest mittelfristig mehr Transparenz und Erwartungsstabilität zwischen den Staaten geschaffen wird Das „Sicherheitsdilemma“ kann auf diese Weise verringert werden. Internationale Verhandlungssysteme und Organisationen können zudem „Regime“ schaffen, in denen Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsprozeduren vereinbart werden, die nationale Interessenpolitik zwar nicht aufheben, sie jedoch in vielen Fällen einschränken. Diese Regime beziehen sich zwar in erster Linie auf die zwischenstaatlichen Beziehungen, wirken aber auch in den innerstaatlichen Bereich hinein und können so zu einer „Zivilisierung" der internationalen Beziehungen beitragen.
Es läßt sich also begründen, daß gerade im Rahmen der KSZE wichtige Ansatzpunkte liegen, um die Konfliktaustragung im neuen Europa zu zivilisieren.
IV. Die Weiterentwicklung der KSZE zu einer internationalen Organisation
Es ist offenkundig, daß sich das KSZE-Instrumentarium als weitgehend wirkungslos erwies, die Konflikte auf dem Balkan sowie in und zwischen den GUS-Staaten friedlich zu regulieren.
Wie neuere Arbeiten zum Einfluß dritter Parteien belegt haben, kommt es für den Erfolg von Vermittlungsbemühungen nicht primär darauf an, daß die Vermittler unparteiisch und unabhängig sind. Vielmehr sollten sie über Ressourcen verfügen, mit denen die Rahmenbedingungen eines Konflikts so weit verändert werden können, daß die Konfliktparteien erkennen, eine gewaltsame Interessendurchsetzung würde sich zu ihrem Schaden auswirken Über solche Ressourcen verfügen in der Regel nur Großmächte oder Zusammenschlüsse mehrerer Staaten. Im Sinne völkerrechtlicher Legitimität sollte eine Intervention, die auch militärische Mittel umfassen kann, allerdings nur im Rahmen einer Institution kollektiver Sicherheit durchgeführt werden, d. h. einer Institution, der auch die Konfliktparteien angehören, und nicht von einer Institution, die sich kraft eigener Interessendefinition in Konflikte einmischt, die an sich nicht ihrem Aufgaben-und Wirkungskreis entsprechen
Unser Vorschlag zum Ausbau der KSZE als internationaler Organisation stützt sich auf den Beschluß des Helsinki-Dokuments von 1992, die KSZE künftig als „regionalen Zusammenschluß“ im Sinne des Kapitels VIII der Charta der Vereinten Nationen zu betrachten
Gegenwärtig ist unklar, welche Konsequenzen die Erklärung nach Kapitel VIII der UN-Charta fürdie KSZE-Zukunft haben wird. Wenn der Ausbau der KSZE als internationale Organisation die bisherigen Vorzüge dieser Form multilateraler Diplomatie nicht gefährden soll, ist allerdings eine Gratwanderung notwendig: Einerseits erfordert die Handlungsfähigkeit einer internationalen Organisation die Institutionalisierung und organisatorische Bündelung von Entscheidungsmechanismen, andererseits sollte möglichst viel von der alten Prozeßorientierung und der Verknüpfung mit gesellschaftlichen Kräften und Bewegungen erhalten bleiben.
Bisher vollzieht sich diese Gratwanderung vor allem durch die parallele Etablierung von Institutionen und Mechanismen -mit sich überlagernden Zuordnungen und Zuständigkeiten. Diese Konstruktion hat den Vorteil, daß zur Bewältigung konkreter Krisen und Konflikte jeweils sehr flexible Verfahren entwickelt werden können, ohne Rücksicht auf verfestigte institutioneile Strukturen nehmen zu müssen. Die Nachteile sind eine starke Belastung der koordinierenden Instanzen und eine erhebliche Schwerfälligkeit bei der Reaktion auf neue Krisensituationen. Hinzu kommt, daß durch die mittlerweile große Zahl der KSZE-Staaten alle Entscheidungen im gesamten Kreis der Mitglieder ein beachtliches Ausmaß an Abstimmung erfordern.
Aufgrund dieser Mängel halten wir zwei institutioneile Neuerungen für wünschenswert: die Stärkung der Position des KSZE-Generalsekretärs und die Einrichtung eines KSZE-Sicherheitsrates.
Zwar wurde auf dem Stockholmer KSZE-Außen-ministertreffen im Dezember 1992 beschlossen, die Position eines Generalsekretärs einzurichten. Sein Aufgabenbereich ist jedoch sehr beschränkt; er hat in erster Linie eine Dienstleistungsfunktion für den Rat der Außenminister und für den Ausschuß Hoher Beamter. Es käme jedoch darauf an, das Amt des Generalsekretärs zu einer Position eigenen Gewichts aufzuwerten, mit der sich die KSZE auch personell repräsentiert. Dann ließe sich auch eine Persönlichkeit von politischem Rang für diesen Posten finden. Dies ist auch erforderlich, um in dem rapide wachsenden Gefüge von KSZE-Mechanismen und -Institutionen eine Fragmentierung zu verhindern und um die steigenden Anforderungen an Koordination und Administration zu bewältigen. Eine besondere Verantwortung des Generalsekretärs sollte zudem darin liegen, durch eigene Empfehlungen an den Rat der Außenminister und den Ausschuß Hoher Beamter die Effizienz und Kohärenz des KSZE-Prozesses zu stärken. Die organisatorische Koppelung zwischen dem Generalsekretariat und den einzelnen Zentren könnte ähnlich geregelt werden wie bei den Vereinten Nationen und ihren Sonderorganisationen. Zweitens ist es wünschenswert, auch die zentrale Steuerungskompetenz des Rates der Außenminister bzw.des Ausschusses Hoher Beamter zu stärken. Nach dem Vorbild der Vereinten Nationen bietet sich dafür ein neu zu schaffender KSZE-Sicherheitsrat an. Angesichts der Zahl der KSZE-Staaten muß ähnlich wie mit dem UN-Sicherheitsrat ein Verfahren gefunden werden, wie eine arbeitsfähige Größenordnung geschaffen werden kann. Dabei sollte die hegemoniale Struktur des UN-Sicherheitsrates mit dem Veto-Recht der Ständigen Mitglieder nicht unbesehen auf die KSZE übertragen werden. Vielmehr schlagen wir eine rotierende Mitgliedschaft vor, bei der stets mindestens drei der mächtigsten KSZE-Staaten im Sicherheitsrat vertreten sind.
V. Ausblick: Die KSZE und militärische Einsätze zur Friedenssicherung
Eine der schwierigsten Fragen bei der Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses betrifft den Einsatz militärischer Mittel zur Friedenssicherung. Das Mandat zur Friedenserhaltung mit militärischen Mitteln, das das KSZE-Gipfeldokument vom Juli 1992 enthält, orientiert sich ausdrücklich an der UN-Charta und den Grundsätzen, die von den Vereinten Nationen im Laufe der letzten Jahrzehnte entwickelt wurden. Danach dürfen regionale Organisationen Blauhelmtruppen auch ohne die Ermächtigung des Sicherheitsrats einsetzen während für Zwangsmaßnahmen allein der Sicherheitsrat zuständig ist, der allerdings dafür Regionalorganisationen „unter seiner Autorität“ in Anspruch nehmen kann (Art. 53, Abs. 1, Satz 1). Solche Maßnahmen sind bisher im Rahmen der KSZE nicht vorgesehen.
In den Beschlüssen von Helsinki im Juli 1992 wird folglich ausdrücklich erklärt, daß friedenserhaltende Operationen der KSZE keine Zwangsmaßnahmen umfassen, die Zustimmung der direkt betroffenen Parteien erfordern und unparteiisch durchgeführt werden; der Beschluß dazu muß im Konsens aller KSZE-Staaten gefaßt werden. Bemerkenswert ist, daß für die friedenserhaltenden Maßnahmen die materielle und immaterielle Unterstützung durch die EG, die NATO, die WEU und die GUS erbeten werden kann.Inwieweit diese neuen friedenserhaltenden Maßnahmen im KSZE-Rahmen jemals praktiziert werden, ist offen. Sie scheinen nur für Konflikte mit relativ klaren Fronten geeignet zu sein. Zwar wurden sie unter dem Eindruck der Kriege in Bosnien-Herzegowina und im Kaukasus beschlossen; gerade diese Kriege demonstrieren aber auch, wie schwer es ist, die Bedingungen zu erfüllen, die die KSZE als Voraussetzungen für Friedenserhaltung festgelegt hat. Die Fronten sind oft unklar, das Gelände ist unübersichtlich, die Regierungen verfügen nicht über das Gewaltmonopol und können die „Freischärler“ nicht unter Kontrolle halten. Es ist also zu fragen, ob die Beschlüsse von Helsinki ausreichen, um den aktuellen Herausforderungen in den KSZE-Mitgliedstaaten auf dem Balkan und in der GUS gerecht zu werden.
Gerade weil die Konfliktparteien oft selbst zu keiner friedlichen Regelung imstande sind, muß überlegt werden, ob das vorhandene Instrumentarium der KSZE nicht weiter ausgebaut werden sollte, um auch militärische Interventionen gegen den Willen von Konfliktparteien zu ermöglichen. Sei es nicht zynisch, so fragen viele Kommentatoren, die zivilistischen Grundsätze der KSZE in einer Situation immer wieder neu zu bekräftigen, in der grundlegende Menschenrechte durch Krieg, Hunger, Vertreibung, „ethnische Säuberungen“, Internierungslager und andere Grausamkeiten massiv verletzt würden? Wenn es auf absehbare Zeit auch keine Friedenserzwingung geben könne, müsse man dann nicht wenigstens militärisch eingreifen, um das Überleben der Zivilbevölkerung zu sichern Mit anderen Worten: Müsse nicht das Konzept der Friedenserhaltung erweitert werden um militärisch gestützte „humanitäre Interventionen“ in der „Grauzone“ zwischen Peace-keeping und Peace-enforcement?
Diese Diskussion betrifft unmittelbar die Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses. Nach unserer Auffassung liegt die besondere Stärke der KSZE in der vorbeugenden Diplomatie der Konfliktprävention und der Regimebildung. Die Frage humanitärer Interventionen mit militärischen Mitteln darf dabei jedoch nicht grundsätzlich ausgeklammert werden, wenn zur Zivilisierung des internationalen Systems auch zählt, daß „unterlassene Hilfeleistung“ zu ächten ist. Unter diesem Gesichtspunkt kommt es darauf an, möglichst präzise und restriktive Kriterien für solche Einsätze zu entwickeln. Dafür müssen folgende Fragen beantwortet werden:
-Welches Ausmaß muß 'eine Menschenrechtsverletzung annehmen, damit die KSZE zu humanitärem Eingreifen ermächtigt werden kann? Dies gilt sicherlich im Falle des Völkermords, des bewußt herbeigeführten Massensterbens und der massenhaften Vertreibung.
Eine Gefährdung des Friedens und der Sicherheit in Europa insgesamt muß dabei nicht unbedingt gegeben sein. -Wie ist das Verhältnis zwischen den Kosten einer militärischen Intervention und den damit erreichten Zielen einzuschätzen? Damit ist die Gefahr der Eskalation angesprochen, die bei keiner militärischen Aktion völlig auszuschließen ist, aber auch die Frage der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Der militärische Einsatz darf das Leid nicht direkt Betroffener nicht noch erhöhen.
Die humanitäre Intervention sollte unmittelbar gefährdeten Zivilpersonen zugute kommen. Sie darf nicht dazu dienen, ein Gebiet erst einmal „freizubomben“.
-Wie wird sichergestellt, daß eine militärische Intervention tatsächlich (z. B. im Verein mit zivilen Maßnahmen) zu einer dauerhaften Befriedung des Spannungsfeldes führt? Hier geht es um die Entwaffnung der Kriegsparteien, die Räumung von Minen, die Rückführung von Flüchtlingen, die Überwachung von Wahlen und vieles mehr.
Für die Behandlung dieser Fragen bietet sich der KSZE-Verhandlungsrahmen in besonderem Maße an, da hier am ehesten die Priorität nichtmilitärischer Lösungen gewährleistet ist und zugleich Mechanismen legitimer Verregelung für militärische Einsätze bereitstehen.
Norbert Ropers, Dr. phil., geb. 1944; Geschäftsführer des Instituts für Entwicklung und Frieden an der Uni versität-Gesamthochschule-Duisburg. Veröffentlichungen zu Fragen der interkulturellen Kommunikation, zur Entspannungspolitik, zur KSZE sowie zu Strategien gesellschaftlicher Konfliktprävention. Peter Schlotter, Dr. phil., geb. 1945; Projektleiter an der Hessischen Stiftung Friedens-und Konflikt-forschung (HSFK) in Frankfurt am Main. Veröffentlichungen zur Rüstungsökonomie, zur Rüstungskontrolle und Abrüstungspolitik, zur Entspannungspolitik, zur KSZE sowie zur westeuropäischen Kooperation in der Sicherheitspolitik.
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