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Wirtschaftsreformen in Lateinamerika | APuZ 12-13/1993 | bpb.de

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APuZ 12-13/1993 Schutz der Menschenrechte durch humanitäre Intervention? Chancen und Voraussetzungen der Demokratisierung Afrikas Multilaterale Entwicklungspolitik Multilaterale Entwicklungspolitik Wirtschaftsreformen in Lateinamerika

Wirtschaftsreformen in Lateinamerika

Hartmut Sangmeister

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Zusammenfassung

Auf der Agenda der internationalen Finanzierungsinstitutionen ist das Problem der Auslandsverschuldung Lateinamerikas derzeit nur noch von nachgeordneter Bedeutung. Dennoch ist das „Verschuldungsjahrzehnt“ keine abgeschlossene Episode der ibero-amerikanischen Wirtschaftsgeschichte; denn die Verschuldungskrise hatte nicht nur unmittelbare Konsequenzen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Lateinamerikas, sondern sie hat auch nachhaltige wirtschaftspolitische (Re-) Aktionen ausgelöst, die für die kommenden Entwicklungsdekaden bestimmend sein können. Mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die sich in Lateinamerika durchzusetzen beginnt, wird die bislang charakteristische Mixtur aus Staatsinterventionismus und Marktsteuerung weitgehend aufgegeben. Ein gangbarer Ausweg aus der Schuldenkrise zeichnet sich zumindest für diejenigen lateinamerikanischen Volkswirtschaften ab, die in eine Phase weltmarktorientierter, vorrangig durch private Initiative strukturierter Entwicklung eintreten und den wirtschaftlichen Reformkurs konsequent fortführen.

I. Das lateinamerikanische Verschuldungsjahrzehnt

Abbildung 1: Lateinamerika -Auslandsverschuldung 1980-1990

Auf der Agenda der internationalen Finanzierungsinstitutionen hat das Problem der Auslands-verschuldung Lateinamerikas seit einiger Zeit an Priorität verloren. „Closing the chapter on debt“, „Latin America tums the comer“, so lauten beispielsweise die (zweck-) optimistischen Parolen der Inter-American Development Bank für die neunziger Jahre Und auch für die im Lateinamerika-Geschäft engagierten Geschäftsbanken mag die Schuldenkrise insgesamt nicht mehr die wichtigste Sorge sein Dennoch läßt sich das „Verschuldungsjahrzehnt“ nicht ohne weiteres als abgeschlossene Episode der iberoamerikanischen Wirtschaftsgeschichte abtun, Immerhin hat kaum ein anderes Thema die wirtschaftspolitischen (Re-) Aktionen und Diskussionen der zurückliegenden zehn Jahre in gleichem Maße bestimmt wie das Problem der Auslandsverschuldung. Zwar haben die meisten lateinamerikanischen Staaten eine lange Tradition der Kreditaufnahme im Ausland und damit einhergehender Zahlungs(bilanz) -schwierigkeiten, aber die Verschuldungskrise der achtziger Jahre unterscheidet sich sowohl hinsichtlich der Dimension der involvierten Kredite von den historischen Vorläuferkrisen als auch im Hinblick auf die dramatischen Konsequenzen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Lateinamerikas.

Abbildung 3: Wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel

Mit der öffentlichen Erklärung der Zahlungsunfähigkeit des Großschuldners Mexiko im August 1982 wurde erstmalig auch einer breiteren Öffentlichkeit das Verschuldungsproblem Lateinamerikas bewußt, das sich aber schon seit Mitte der siebziger Jahre mit beängstigender Dynamik entwikkelt und verschärft hatte, und nun das gesamte internationale Finanzsystem bedrohte. Vor allem in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre war es zu einem rasanten Anstieg der lateinamerikanischen Kreditverpflichtungen gegenüber dem Ausland gekommen. Das lateinamerikanische „Verschul-dungswachstum“ der siebziger Jahre bedeutete, daß eine Erhöhung des Bruttosozialprodukts (BSP) um je eine Million US-Dollar mit einer durchschnittlichen Zunahme der Auslandsverschuldung um jeweils 324000 US-Dollar einher-ging, die Volkswirtschaften der Region also in großem Stile auf Pump lebten Im Jahre 1981 wurde mit einer Neuverschuldung von 61 Mrd. US-Dollar ein historischer Rekord aufgestellt, und wenig später schnappte die „Schuldenfalle“ zu. Nach 1982 wuchs der lateinamerikanische Schuldenberg dann nur noch vergleichsweise geringfügig. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte die Auslandsverschuldung Lateinamerikas im Jahre 1987 mit 446 Mrd. US-Dollar, um am Ende der achtziger Jahre (1988/89) vorübergehend leicht abgebaut zu werden (vgl. Abbildung 1).

Die lateinamerikanischen Auslandsschulden sind in wenigen Ländern konzentriert. Allein auf die drei „Großschuldner“ Argentinien, Brasilien und Mexiko entfielen 1990 knapp zwei Drittel der externen Kreditverpflichtungen Lateinamerikas; rechnet man noch diejenigen Länder hinzu, die bei der lateinamerikanischen Auslandsverschuldung den vierten und fünften Platz einnehmen (Venezuela, Peru), dann sind damit etwa 80 Prozent der regionalen Auslandsschulden berücksichtigt. Das Verschuldungsproblem Lateinamerikas ist also im wesentlichen ein Problem von nur fünf oder sechs Hauptschuldnerländern, das freilich erhebliche Auswirkungen auch auf die weniger stark exponierten Schuldnerländer der Region hat, die in den Sog der Krise geraten sind.

Etwa die Hälfte der Länder, die im Debtor Reporting System der Weltbank als „Problemschuldner“ (severely indebted) klassifiziert werden, sind Staaten des iberoamerikanischen Raums Im Unterschied zu dem Verschuldungsproblem der zweiten wichtigen „Krisenregion“, Afrika südlich der Sahara (wo staatlichen Schuldnern hauptsächlich staatliche Gläubiger gegenüberstehen), ist das lateinamerikanische Verschuldungsproblem durch die herausragende Bedeutung der öffentlichen Hand als Schuldner gegenüber privaten Gläubigem charakterisiert. Diese Konstellation erschwert tendenziell eine politische Verhandlungslösung des lateinamerikanischen Verschuldungsproblems, da für die privaten Gläubigerbanken Gewinn und Verlust die maßgeblichen Aktionsparameter sind, mithin also die marktkonforme Bewertung des Problems, und nicht politische Opportunitätserwägungen oder die kollektive Wohlfahrt des Schuldnerlandes. 1991 waren 93 Prozent der langfristigen Auslandsschulden Lateinamerikas öffentliche (oder öffentlich garantierte) Verpflichtungen (1980: 75 Prozent), die zu 62 Prozent (1980: 76 Prozent) gegenüber privaten Kreditgebern (Anleihezeichnem, Banken, Lieferanten etc.) bestanden. Der private Sektor, auf den zu Beginn der achtziger Jahre (1981) mit ca. 60 Mrd. US-Dollar noch fast 30 Prozent der langfristigen lateinamerikanischen Auslandsschulden entfallen waren, re-, duzierte seine Verpflichtungen bis zum Beginn der neunziger Jahre (1990) auf 26 Mrd. US-Dollar und damit auf lediglich sechs Prozent der Gesamtverschuldung. Auf der Gläubigerseite der lateinamerikanischen Auslandsverschuldung vollzogen sich im Verlaufe der achtziger Jahre ebenfalls deutliche Veränderungen. Hielten 1980 öffentliche (bi-und multilaterale) Kreditgeber mit 31 Mrd. US-Dollar erst rund 18 Prozent der langfristigen Auslandsforderungen gegenüber Lateinamerika, so verdoppelte sich dieser Anteil innerhalb einer Dekade nahezu. Ausländische Geschäftsbanken, die zeitweilig über 240 Mrd. US-Dollar lang-und kurzfristige Kredit-forderungen gegenüber staatlichen und privaten Schuldnern in Lateinamerika hatten, bauten ihr Engagement bis Ende 1990 fast um die Hälfte auf 126 Mrd. US-Dollar ab. Waren Mitte der achtziger Jahre mehr als 50 Prozent der ausstehenden langfristigen Auslandskredite an Lateinamerika auf kommerzielle Banken entfallen, so reduzierte sich dieser Anteil bis 1990 auf nur noch 30 Prozent; das Lateinamerika-Risiko hat sich also für die beteiligten Geschäftsbanken deutlich vermindert. Zudem haben die Geschäftsbanken erhebliche Rückstellungen für eventuelle weitere Forderungsausfälle im lateinamerikanischen Kreditgeschäft gebildet.

Der Rückzug ausländischer Banken aus dem lateinamerikanischen Kreditgeschäft hatte zur Folge, daß sich der Zufluß externen Kapitals zeitweise dramatisch verringerte. Verstärkt wurdediese negative Entwicklung des Kapitalzuflusses nach Lateinamerika durch einen vorübergehend akzentuierten Rückgang der ausländischen (Netto-) Direktinvestitionen auf bis zu 3, 3 Mrd. US-Dollar im Jahre 1984; noch 1981 hatten ausländische Direktinvestoren fast acht Mrd. US-Dollar angelegt. Die externen Finanzierungsbeiträge, die Lateinamerika insgesamt durch (Netto-) Kreditaufnahme, Direktinvestitionen und ausländische Finanzierungszuschüsse zuflossen, erreichten 1986 lediglich zehn Mrd. US-Dollar. Im Durchschnitt der Jahre 1980-1982 hatte das Ausland Lateinamerika Nettofinanzierungsbeiträge in Höhe von 38 Mrd. US-Dollar pro Jahr zur Verfügung gestellt, 1983-1990 waren es hingegen nur noch 16 Mrd. US-Dollar pro Jahr.

Stellt man den empfangenen Nettofinanzierungsbeiträgen die Zinszahlungen und Gewinnüberweisungen an das Ausland gegenüber, dann wird das Ausmaß des Nettoressourcentransfers (NRT) erkennbar. Dieser NRT bildet den entwicklungspolitisch brisanten Kern des Verschuldungsproblems; denn NRT aus den Schuldnerländern bedeutet, daß knappe inländische Ressourcen an die ausländischen Forderungsinhaber transferiert werden und damit der internen Verfügbarkeit entzogen sind, d. h., die Verwendungsansprüche an das Bruttoinlandsprodukt (BIP) müssen reduziert werden

Vor allem infolge drastisch steigender Zinszahlungen auf die Auslandsschulden leistete Lateinamerika ab 1982 einen NRT zugunsten der übrigen Welt, der sich bis Ende 1990 auf 163 Mrd. US-Dollar summierte (vgl. Tabelle 1). Dieser Betrag entspricht etwa der gesamtwirtschaftlichen Wert-schöpfung Schwedens oder einem Fünftel des lateinamerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahre 1989. Der negative NRT bedeutete während der Periode 1982-1990 eine durchschnittliche jährliche Belastung von rund 18 Mrd. US-Dollar pro Jahr bzw. 2, 5 Prozent des aggregierten Bruttosozialprodukts (BSP) Lateinamerikas.

Die Entwicklungshilfe (Official Development Assistance/ODA), die Lateinamerika von den OECD-Ländern erhielt, nimmt sich im Verhältnis zu dem gleichzeitig zu leistenden NRT an die Gläubiger bescheiden aus: Insgesamt erhielt Lateinamerika in den Krisenjahren 1983-1989ODA-Leistungen der OECD-Länder in Höhe von 24, 9 Mrd. US-Dollar -das sind etwa sieben Prozent des Schuldendienstes (343 Mrd. US-Dollar), den die lateinamerikanischen Länder während dieser Periode an die Gläubiger zu leisten hatten, die überwiegend in den OECD-Ländem residieren. Entgegen dem entwicklungsstrategischen Erfordernis fortlaufenden Kapitalimports waren etliche lateinamerikanische Schuldnerländer (wie z. B. Brasilien, Mexiko und Venezuela) gezwungen, im Verlaufe der achtziger Jahre per Saldo Kapital zu exportieren.

Bei anhaltendem verschuldungsbedingten Kapital-export aus dem Schuldnerland, der nicht durch einen Leistungsbilanzüberschuß ausgeglichen werden kann, entsteht zwangsläufig ein Zahlungsbilanzproblem; denn bei fortschreitender Verminderung der zentralen Währungsreserven tritt schließlich internationale Zahlungsunfähigkeit des Schuldnerlandes ein. Die unmittelbare Reaktion auf die verschuldungsbedingten Zahlungsbilanz-probleme in den betroffenen Ländern war eine möglichst rasche Anpassung der Außenhandels­ ströme, um durch Exportsteigerung und Import-drosselung einen Aktivsaldo der Handelsbilanz zu erreichen. Tatsächlich gelang es, die Aufwendungen für Wareneinfuhren kräftig zu reduzieren, so daß bei gleichzeitiger Erhöhung der Ausfuhrerlöse das jahrzehntelange Handelsbilanzdefizit Lateinamerikas ab 1982 in einen beachtlichen Überschuß umgekehrt werden konnte (vgl. Abbildung 2). In den Jahren 1983-1990 erzielte Lateinamerika im Warenhandel mit der übrigen Welt einen Aktivsaldo von durchschnittlich 27, 5 Mrd. US-Dollar pro Jahr. Allerdings wurde die nachhaltige Verbesserung der aggregierten Handelsbilanz Lateinamerikas hauptsächlich von nur fünf Ländern der Region -Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko und Venezuela -herbeigeführt; allein die brasilianischen Handelsbilanzüberschüsse in Höhe von jährlich 12, 1 Mrd. US-Dollar im Durchschnitt der Jahre 1983-1990 machten 44 Prozent des lateinamerikanischen Aktivsaldos im Warenverkehr mit der übrigen Welt aus.

Für das Zustandekommen der lateinamerikanischen Handelsbilanzüberschüsse war die Drosselung der Importe bedeutsamer als die Steigerung der Exporte. Die Importquote (d. h. die Wareneinfuhr in Prozent des BSP) ist von etwa 13 Prozent zuBeginn der achtziger Jahre auf unter neun Prozent im Jahre 1990 abgesunken; die Weltmarktintegration Lateinamerikas, gemessen durch die Außenhandelsquote (Wareneinfuhr plus -ausfuhr in Prozent des BSP), ist im Verlaufe des Verschuldungsjahrzehnts signifikant zurückgegangen (vgl. Tabelle 2). Zudem mußten die Ausfuhrmengen zur Erzielung steigender Ausfuhrerlöse überproportional erhöht werden, da die Weltmarktpreise wichtiger lateinamerikanischer Agrarerzeugnisse (z. B. Kakao, Baumwolle, Rindfleisch) und Rohstoffe (z. B. Kupfer, Eisenerz, Bauxit) stark rückläufig waren Die gegenläufige Preisentwicklung bei Ein-und Ausfuhrgütern schlug sich in zeitweise dramatisch verschlechterten Terms of Trade nieder

II. Strategien des Krisenmanagements

Tabelle 1: Externe Finanzierungsbeiträge und Nettoressourcentransfer Lateinamerikas 1980-1990 (in Mrd. US-Dollar) Quelle: World Bank, World Debt Tables 1991-1992, Washington D. C. 1991, sowie eigene Berechnungen. 1989

In dem Maße, in dem das lateinamerikanische Verschuldungsproblem Dimensionen erreichte, die über das zahlungsbilanztechnische Problem einer temporären Zahlungsunfähigkeit mangels Devisen hinausgingen, waren längerfristige, ursachenorientierte Problemlösungsstrategien erforderlich, die auf die strukturelle Anpassung der Volkswirtschaft des Schuldnerlandes an die verschuldungsinduzierte Veränderung der makroökonomischen Rahmenbedingungen abzielen. Gesamtwirtschaftliche Strukturanpassungsprogramme, die zu höherer Produktivität und einer Beschleunigung des Wirtschaftswachstums, zu Ausfuhrsteigerungen und Verbesserungen der Zahlungsbilanz führen sollen, setzen allerdings eine erhebliche wirtschaftspolitische Gestaltungs-und Durchführungskompetenz voraus; zudem können solche Strukturanpassungsprogramme mit hohen sozialen Kosten verbunden sein, wenn sie verteilungspolitisch unausgewogen durchgeführt werden. Und es kann auch erhebliche Zeit verstreichen, bis umfassende Strukturanpassungsprogramme Erfolge zeigen, so daß die innenpolitische Akzeptanz tendenziell immer geringer wird. Es kann daher kaum überraschen, daß die Regierungen lateinamerikanischer Schuldnerländer zunächst überwiegend gezögert haben, eine konsequente, ursachenorientierte Strategie zur Lösung ihrer Verschuldungsprobleme durchzuführen. Vorherrschend waren eher kurzfristig orientierte Strategien des muddling through, die mittels fortlaufender Umschuldungen und Umfinanzierungen geeignet erschienen, die zahlungstechnischen Probleme der Verschuldungskrise zu managen, die aber keinen Beitrag zur Beseitigung der Krisenursachen leisteten. Das Fehlen einer mittel-bis längerfristig angelegten Lösungsstrategie zeigt sich in der hohen Zahl der Umschuldungsabkommen zwischen Schuldnern und Gläubigern: Von 1983 bis Herbst 1991 wurden von 19 lateinamerikanischen Schuldner-ländern 104 multilaterale Umschuldungsabkommen geschlossen, davon 64 mit kommerziellen Banken und 40 mit öffentlichen Gläubigern Besonders in der Anfangsphase der Verschuldungskrise gelang es nur selten, Umschuldungsvereinbarungen mit mehljährigen Laufzeiten zu treffen, so daß beständig Neuverhandlungen erforderlich wurden, die erhebliche Managementkapazitäten banden und hohe Kosten verursachten.

Während die öffentlichen und kommerziellen Gläubiger strikt darauf achteten, im Rahmen des Pariser Clubs bzw.des Bank Advisory Committee den einzelnen lateinamerikanischen Schuldnerländern mit einer einheitlichen, abgestimmten Verhandlungsstrategie entgegenzutreten, verfolgten die Regierungen der betroffenen Schuldnerländer sowohl kooperative als auch konfrontative Strategien des Krisenmanagements Die Bildung eines lateinamerikanischen Schuldnerkartells kam über wohlfeile Rhetorik -wie etwa bei dem „Konsensus von Cartagena“ (1984) oder bei der lateinamerikanischen „Schuldenkonferenz“ vom November 1987 in Acapulco -nie ernsthaft hinaus. Zwar wurden Richtlinien für künftige Schuldenverhandlungen erarbeitet, ohne daß es jedoch zu einem konzertierten Verhalten gegenüber den Gläubigem gekommen wäre. Zwischen der strategischen Extremposition „optimale Anpassung an die Gläubigerwünsche“ (wie sie vor allem Mexiko und Chile verfolgten) auf der einen Seite und Konfrontation „gegen das Diktat des IWF“ (wie z. B. zeitweise von den Regierungen des brasilianischen Präsidenten Jos 6 Samey und des peruanischen Präsidenten Alan Garcfa favorisiert) auf der anderen Seite betrieb die Mehrzahl der Schuldner eine Politik des Durchlavierens mit dem Ziel, rechtzeitig Umschuldungs-und Neufinanzierungspakete zusammenzustellen und die Begleichung der realen Kosten der Verschuldungskrise soweit wie möglich ad calendas graecas zu verschieben.

Eine Strategie fortlaufender Überbrückungsfinanzierungen wäre allerdings nur bei einer vorübergehenden Liquiditätskrise der Schuldnerländer zu rechtfertigen; tatsächlich sind aber die meisten lateinamerikanischen „Problemschuldner“ in eine Solvenzkrise geraten, d. h., der Gegenwartswert ihrer zukünftigen Schuldendienstzahlungen übersteigt den Gegenwartswert ihrer zu erwartenden zukünftigen Handelsbilanzsalden

Die Einsicht hat sich nur sehr langsam durchgesetzt, daß es sich bei der Verschuldungskrise La­ teinamerikas (und anderer Entwicklungsländer) um ein Insolvenzproblem handelt und nicht lediglich um einen vorübergehenden Liquiditätsengpaß. Der Plan des US-Finanzministers Brady (vom März 1989) griff diese Einsicht auf und forderte von den Gläubigern einen stärkeren Beitrag zur Problemlösung, indem er einen substantiellen Abbau der Schulden bzw.des Schuldendienstes vorschlug, der von IWF und Weltbank mit Neukrediten unterstützt werden soll. Als erstes lateinamerikanisches Schuldnerland einigte sich Mexiko 1989 mit seinen kommerziellen Bankgläubigem auf einen „Brady-Deal“, d. h. auf ein mehrjähriges Debt and Debt Service Reduction Agreement (DDSR), das mit finanzieller Unterstützung von IWF, IDB und Weltbank einen Abbau der mexikanischen Auslandsschulden um rund zehn Prozent sowie substantielle Erleichterungen des Schuldendienstes beinhaltet Im Rahmen des Brady-Plans Unterzeichneten Costa Rica und Venezuela im Jahre 1990 ebenfalls DDSR-Abkommen, Uruguay 199113. Argentinien und Brasilien haben sich im Laufe des Jahres 1992 mit den kommerziellen Gläubigerbanken grundsätzlich auf Schuldenreduzierungsabkommen ä la Brady verständigt und von den öffentlichen Gläubigern größere Zugeständnisse angeboten bekommen.

Diejenigen lateinamerikanischen Schuldnerländer mit mittlerem Einkommen, deren Kreditverbindlichkeiten hauptsächlich gegenüber öffentlichen Gläubigem bestehen (wie z. B. Bolivien, die Dominikanische Republik, Honduras, Jamaika), sind für DDSR-Abkommen im Rahmen der Brady-Initiative nicht vorgesehen, so daß sie auch keinen Nutzen aus den Finanzierungsprogrammen von IWF und Weltbank zur Reduzierung der kommerziellen Schulden ziehen können. Um dieser Schuldnergruppe entgegenzukommen, hat der Pariser Club der öffentlichen Gläubiger 1990 eingewilligt, die Toronto Terms vergünstigter Umschuldungsvereinbarungen auf Bolivien und Guyana anzuwenden, und damit erstmalig auf Länder außerhalb Afrikas südlich der Sahara.

Konnte vor einiger Zeit noch darüber spekuliert werden, ob lateinamerikanische Schuldnerländer als „Chaosmächte“ möglicherweise mehr Chancen hätten, bei intransigenten Gläubigern politische Resonanz und Entgegenkommen am Verhandlungstisch hervorzurufen, so gibt es derzeit für solche Spekulationen kaum mehr eine Basis. Die relativ günstigen Konditionen, die beispielsweise Mexiko und Chile im Vergleich zu anderen latein-amerikanischen Großschuldnern in den neueren Umschuldungs-und Schuldenreduzierungsabkommen eingeräumt wurden, sind vermutlich durch die Bereitschaft dieser Länder befördert worden, die von den Gläubigern geforderten wirtschaftspolitischen Reformen konsequent durchzuführen. Denn eine der Lektionen, die sich aus zehn Jahren Schuldenkrise ziehen lassen, lautet: Versuche, das Schuldenproblem durch Konfrontation, durch Abbruch der Beziehungen zu den Kreditgebern und Einstellung des Schuldendienstes, durch Abkoppelung vom internationalen Finanzsystem zu lösen, haben eher negative Auswirkungen für die Schuldnerländer gehabt

III. Gesamtwirtschaftliche Strukturanpassung

Abbildung 2: Der Außenhandel Lateinamerikas 1980-1990

Für außenverschuldete Volkswirtschaften, die einen NRT in signifikanter Größenordnung an die übrige Welt zu erbringen haben, führt kein Weg daran vorbei, die internen Verwendungsansprüche an das BIP einzuschränken zu Lasten des Konsums und/oder zu Lasten der Investitionen. In Lateinamerika sank die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote (d. h.der Anteil der Bruttoinvestitionen am BIP) von ca. 24 Prozent zu Beginn der achtziger Jahre auf einen Tiefststand von unter Prozent (im Jahre 1984), um sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre allmählich wieder auf etwa 20 Prozent zu erholen.

Der Rückgang der Investitionen in Lateinamerika war überwiegend durch Einschränkungen der staatlichen Investitionstätigkeit bedingt. Denn die wachsenden Schuldendienstverpflichtungen der öffentlichen Haushalte gingen zunächst hauptsächlich zu Lasten der öffentlichen (Infrastruktur-Investitionen, da Kürzungen von Transferzahlungen und/oder Subventionen auf politischen Widerstand stießen ebenso wie Versuche, die konsumtiven Verwaltungsausgaben zu vermindern. Auf die privaten Investitionen, deren Anteil am gesamtwirtschaftlichen Investitionsvolumen sich auf knapp 52 Prozent (1983) reduziert hatte, entfallen mittlerweile wieder über 60 Prozent. Inzwischen würde die Bruttoinlandsersparnis Lateinamerikas eine wesentlich höhere Investitionsquote als die tatsächlich realisierte ermöglichen, wenn nicht die verschuldungsbedingten Transfers an das Ausland zu leisten wären. Zudem hat sich die „Sparlücke“, d. h. die Differenz zwischen Bruttoinvestition und Inländerersparnis, am Ende der achtziger Jahre (1987-1989) auf rund ein Prozent des BIP reduziert, während sie zu Beginn der Dekade (1980-1982) noch fünf Prozent des BIP betragen hatte.

Die Regierungen der meisten Schuldnerländer haben relativ lange gezögert, bis sie die gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen zu akzeptieren bereit waren, die sich aus der Verschuldungskrise zwangsläufig ergeben -und es bedurfte in vielen Fällen weiterer Zeit und/oder eines Regierungswechsels, bis auf diese Konsequenzen mit angemessenen wirtschafts-und finanzpolitischen Maßnahmen reagiert wurde. So wird es erklärlich, daß die lateinamerikanische Staatsquote, d. h.der Anteil des Staatsverbrauchs am BIP, im Verlaufe der achtziger Jahre keineswegs im erforderlichen Umfange zurückgeschraubt wurde, sondern vorübergehend sogar stieg.

Ein wesentlicher Schritt des strukturellen Anpassungsprozesses an die seit dem Ausbruch der Verschuldungskrise veränderten makroökonomischen Bedingungen steht also in mehreren lateinamerikanischen Schuldnerländern noch bevor oder ist bislang nicht entschieden genug erfolgt: die Reduzierung der staatlichen Konsumquote, damit die öffentliche Investitionsquote als Voraussetzung einer Dynamisierung zukünftigen Wirtschaftswachstums gesteigert werden kann bzw. damit eine weitere Einschränkung der privaten Konsumquote nicht erforderlich wird. Denn angesichts des absoluten Konsumniveaus in Lateinamerika birgt eine Reduzierung der privaten Konsumquote, die verteilungspolitisch unausgewogen erfolgt, erheblichen sozialen Sprengstoff. Im statistischen Durchschnitt liegen die (preisbereinigten) privaten Konsumausgaben pro Kopf der lateinamerikanischen Bevölkerung zu Beginn der neunziger Jahre um ca. sieben Prozent unter dem Niveau des Jahres 1980 (1980: 1270 US-Dollar; 1990: 1180 US-Dollar) Hinter diesen Durchschnittswerten verbirgt sich das Schicksal der schätzungsweise 108 Millionen Armen Lateinamerikas mit jährlichen Einkommen von unter 420 US-Dollar deren „Konsumquote“ nicht mehr erlaubt als das nackte Überleben unter menschenunwürdigen Bedingungen. Den Armen, die in vielen Staaten Lateinamerikas einen großen Anteil der Gesamtbevölkerung stellen (z. B. in Panama 25 Prozent, in Paraguay 35 Prozent, in der Dominikanischen Republik 44 Prozent 17) und teilweise sogar die Bevölkerungsmehrheit bilden (z. B. in Ecuador mit51 Prozent, in Guatemala mit 71 Prozent, in Haiti mit 76 Prozent), darf und kann durch Steuererhebungen und/oder Kürzungen von Subventionen und Transferzahlungen kein weiterer Beitrag zur Bewältigung der Verschuldungskrise abverlangt werden.

Die unumgängliche Korrektur der makroökonomischen Verwendungsstruktur, die sich der Wirtschafts-und Finanzpolitik in Lateinamerika weiterhin als Aufgabe stellt, muß hauptsächlich an den konsumtiven Staatsausgaben ansetzen sowie unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten aus-tariert erfolgen. Dies setzt eine grundsätzliche Neuabgrenzung der staatlichen Funktionen voraus und macht umfassende Reformen der öffentlichen Verwaltung sowie des Steuersystems erforderlich. Denn von der Einnahmenseite her läßt sich ein spürbarer Beitrag zur Konsolidierung der Staatshaushalte nur erwarten, wenn die Steuertarifsysteme reformiert und materielle Verbesserungen bei der Steuererhebung erreicht werden.

Bislang haben die Maßnahmen zur Herstellung des Budgetgleichgewichts vorrangig bei Kürzungen auf der Ausgabenseite angesetzt; dies bedeutete in der Praxis, daß hauptsächlich Ausgabenpositionen verringert wurden, die für sozial benachteiligte Gesellschaftsgruppen ohne größeres politisches Einflußpotential bestimmt waren. Das Fehlen umfassender Systeme sozialer (Ver-) Sicherung, die von den staatlichen Budgets weitgehend unabhängig sind, hat sich während der Dauerkrise der achtziger Jahre in vielen lateinamerikanischen Staaten katastrophal ausgewirkt. Nach den wirtschaftlichen Reformen, die in der Region erfolgreich eingeleitet wurden, müssen nunmehr dringend die sozialen Reformen folgen, ohne die sich die „sozialen Schulden“ der lateinamerikanischen Gesellschaften zu einem mindestens ebenso dramatischen Problem auswachsen wie die externe Verschuldung.

IV. Das neoliberale Reformprojekt

Tabelle 2: Die lateinamerikanische Zahlungsbilanz 1980-1990 (in Mrd. US-Dollar) Quelle: CEPAL, Economic Panorama of Latin America 1991, Santiago de Chile 1991; Inter-American Development Bank, Economic and Social Progress in Latin America 1990 Report, Washington, D. C. 1991; Inter-American Development Bank, Annual Report 1991, Washington, D. C. 1992; World Bank, World Debt Tables 1991-1992, Washington, D. C. 1991.

Am Ende der dtcada perdida, des verlorenen Jahrzehnts, ist unstrittig, daß die „Schuldenfalle“, in die Lateinamerika zu Beginn der achtziger Jahre geraten war, eine grundlegende Restrukturierung der Volkswirtschaften erzwungen hat, einschließlich einer Neuabgrenzung der wirtschafts-und entwicklungspolitischen Rolle des Staates. Denn spätestens mit dem offenen Ausbruch der Verschuldungskrise war für die bislang in Lateinamerika favorisierte Strategie staatlich initiierter und extern finanzierter Industrialisierung durch Importsubstitution der Schlußpunkt gekommen, da sie die weitere sozio-ökonomische Entwicklung der Region blockierte.

An die Stelle des ein halbes Jahrhundert lang favorisierten Modells binnenorientierter, industrieller Importsubstitution ist das neue Paradigma exportorientierter Weltmarktintegration getreten. Dies bedeutet keineswegs eine Rückkehr zu der „Ergänzungsstrategie“ des Kolonialzeittyps (d. h. Nutzung vorhandener natürlicher Ressourcen und niedriger Reallöhne), sondern die Herausbildung und Sicherung einer selektiven nationalen Vorteils-basis im internationalen Standortwettbewerb, die auf Lernfähigkeit, Innovationsbereitschaft, Produktdifferenzierung sowie Konzentration auf Produktionsschwerpunkte mit komparativen Kostenvorteilen beruht.

Bei der gegebenen Ausstattung mit natürlichen Ressourcen, menschlichem „Kapital“ sowie Sachund Finanzkapital läuft eine Strategie selektiver Weltmarktintegration für die meisten Volkswirtschaften Lateinamerikas auf eine ressourcenbasierte Spezialisierung hinaus. Zumindest für die kleineren, strukturschwachen Länder der Region muß dies den Verzicht auf den Ausbau kohärenter, integrierter nationaler Produktionskreisläufe bedeuten, da diese -bei begrenzter Kapazität -nicht wettbewerbsfähig sein können. Regionale Integration und Kooperation bieten gerade diesen Staaten eine Möglichkeit, die intendierte Weltmarktintegration durch Regionalisierungsprozesse zu unterstützen, die Binnenmarktpotentiale vergrößern und den Übergang zur Massenproduktion erleichtern können.

Die konzeptionelle Neuorientierung in Lateinamerika macht grundlegende Reformen der Wirtschaftspolitik erforderlich (vgl. Abbildung 3). Die Wirtschaftspolitik der zurückliegenden Dekaden hat den Staat überfordert und die privaten Unternehmen unterfordert, sie hat sich letztendlich entwicklungsblockierend und nicht entwicklungsfördernd ausgewirkt. Die Verschuldungskrise Lateinamerikas der achtziger Jahre ist auch endogen verursacht worden, durch eine unangemessene Wirtschafts-und Finanzpolitik

Mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die sich in Lateinamerika durchzusetzen beginnt, wird die bisherige charakteristische Mixtur aus Staatsinterventionismus und Marktsteuerung weitgehend aufgegeben. Dies darf allerdings keineswegs einen „Konservativismus der Sorglosigkeit“ bedeuten, keine undifferenzierte Einschränkung der staatlichen Aktivitäten, sondern muß ihre problemorientierte Umgestaltung zum Inhalt haben. Denn in vielen Problembereichen der lateinamerikanischen Gesellschaften mangelt es an staatlicher Regulierungskompetenz, während in anderen Aktivitätsfeldem staatliche Oberverwaltung die Entfaltung privater Initiative hemmt.

Die Risiken des neoliberalen Reformprojektes sind erheblich und seine Realisierungschancen hängen nicht zuletzt auch davon ab, wie lange es in den einzelnen Ländern innenpolitisch durchgehalten werden kann. Ausreichende internationale Finanzhilfen zur Ergänzung und Unterstützung der nationalen Reformbemühungen könnten dazu beitragen, deren interne Akzeptanz zu erhöhen.

Nicht nur die Regierungen der Schuldnerländer müssen ein starkes Interesse an dauerhaften Erfolgen ihrer wirtschafts-und finanzpolitischen Reformanstrengungen haben, sondern auch die Kreditgeber. Allerdings zeigt die Erfahrung des „Verschuldungsjahrzehnts“, daß die einzelnen kommerziellen Gläubiger es im allgemeinen vorziehen, von den Aktivitäten und dem Entgegenkommen anderer Kreditgeber zu profitieren und sich bei der Zustimmung zu Schuldendienstreduzierungen und/oder der Vergabe von fresh money eher zurückhalten; Unterstützungsmaßnahmen bedürfen daher der aktiven Konzertierung durch öffentliche Kreditgeber mit langfristigem Interesse an einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung in dem Schuldnerland.

Ein gangbarer Ausweg aus der Schuldenkrise zeichnet sich jetzt zumindest für diejenigen lateinamerikanischen Volkswirtschaften ab, die in eine Phase weltmarktorientierter, vorrangig durch private Initiative strukturierte Entwicklung eintreten und den eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Reformkurs konsequent fortführen. Die Erfolgsaussichten hierfür sind freilich nach Dekaden staatlichen Interventionismus, Paternalismus und Klientelismus in den meisten Gesellschaften Lateinamerikas durchaus ambivalent einzuschätzen. Denn der Übergang von binnenmarktorientierten Strategien industrieller Importsubstitution zu restrukturierenden Strategien selektiver Weltmarkt-integration ist ja nicht lediglich eine Frage des wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsels, sondern macht eine grundsätzliche Neudefinition der Funktionen und des Selbstverständnisses der wirtschaftlichen Akteure erforderlich. Ein „Kapitalismus ohne leistungsfähige private Akteure“ kann vermutlich keine tragfähigen Lösungen für die gravierenden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme der Region produzieren. Ein marktwirtschaftliches System, das wirtschaftlich erfolgreich sowie sozial und ökologisch verträglich sein soll, ist nicht denkbar ohne funktionsfähige Mechanismen organisierten Interessenausgleichs durch Verhandlungen und ohne staatliche Orientierungs-und Steuerungskompetenz, die demokratisch legitimiert sowie funktional integer ist. Gerade hier bestehen aber in sehr vielen Ländern Lateinamerikas nach wie vor erhebliche Defizite: In stark fragmentierten Gesellschaften lassen sich konsensfähige Problemlösungsstrategien nur schwer finden und „schwache“ öffentliche Institutionen, die vornehmlich den Eigeninteressen einer „starken“ Staatsklasse dienen, sind zur Umsetzung komplexer Industrialisierungs-und Entwicklungsstrategien kaum in der Lage.

Nach einem Jahrzehnt der Krise, nach wirtschaftsund entwicklungspolitischem Attentismus, mehren sich die Anzeichen, daß Lateinamerika wieder an wirtschaftlicher Dynamik gewinnt. Hatte die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des regionalen BIP im Zeitraum 1983-1990 lediglich 1, 5 Prozent erreicht, so konnte 1991 eine deutlich höhere Wachstumsrate von 2, 7 Prozent registriert werden

Die positive Entwicklung verschiedener Indikatoren mag vorsichtigen Optimismus hinsichtlich der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas in den neunziger Jahren rechtfertigen, aber das nach wie vor ungelöste Problem der Auslandsverschuldung kann erneut destabilisierend wirken. Zwar zeigen die Schuldenlastindikatoren seit 1989 eine Entschärfung der Situation an, aber es ist nicht auszuschließen, daß mehrere Schuldnerländer Lateinamerikas im Verlaufe der neunziger Jahre wieder mit erheblichen Schuldendienstproblemen zu kämpfen haben werden.

Bei vertragsgemäßer Abwicklung der bestehenden langfristigen Kreditverpflichtungen gegenüber dem Ausland müßte Lateinamerika in den Jahren 1992 bis 2000 einen Schuldendienst von 342 Mrd. US-Dollar leisten. Bei dieser Modellrechnung ist unterstellt, daß es zwischenzeitlich lediglich zu neuen Kreditauszahlungen in Höhe von insgesamt 18, 7 Mrd. US-Dollar kommt, so daß also der projektierte jährliche Devisenbedarf für Amortisations-und Zinszahlungen von durchschnittlich 21, 1 Mrd. bzw. 16, 8 Mrd. US-Dollar ganz überwiegend durch Außenhandelsüberschüsse und/oder ausländische Direktinvestitionen gedeckt werden müßte. Die ausländischen Investoren zeigen in den letzten Jahren zunehmend wieder Vertrauen in das wirtschaftliche Potential der Region, so daß sich die (Netto-) Direktinvestitionen aus dem Ausland seit 1987 verdoppelt haben, auf schätzungsweise 11, 5 Mrd. US-Dollar im Jahre 1991 Bei Fortführung des eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Reformkurses wird bis Ende der neunziger Jahre ein Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen in Lateinamerika auf über 20 Mrd. US-Dollar pro Jahr erwartet Zudem könnte die Repatriierung von Fluchtkapital dazu beitragen, den externen Finanzierungsbedarf Lateinamerikas in der laufenden Dekade zu decken. Immerhin wurde der Bestand an lateinamerikanischem Fluchtkapital im Ausland für 1989 auf über 155 Mrd. US-Dollar geschätzt so daß bereits ein jährlicher Rückfluß von nur vier Prozent einen Kapitalzufluß nach Lateinamerika in Höhe von 6, 2 Mrd. US-Dollar bedeutet, und damit weit mehr als die gesamten ODA-Leistungen, die der Region zufließen. Einigen lateinamerikanischen Ländern (vor allem Chile und Mexiko) ist es inzwischen gelungen, in steigendem Maße wieder Zugang zu privaten Finanzierungen auf den internationalen Kapitalmärkten zu gewinnen.

Aber auch wenn die Finanzierungsbeiträge, die Lateinamerika vom Ausland zur Verfügung gestellt werden, in den kommenden Jahren weiterhin ansteigen, wären zur Deckung des projektierten Schuldendienstes Handelsbilanzüberschüsse in Größenordnungen erforderlich, wie sie die Region in den kommenden Jahren kaum erwirtschaften kann; denn die für die internationale Konkurrenzfähigkeit unerläßliche Modernisierung der Produktionsanlagen läßt sich nur durch eine entsprechende Ausweitung der Importe realisieren. Ein verringerter Handelsbilanzüberschuß oder gar die Rückkehr zu einem Handelsbilanzdefizit hätten zur Folge, daß sich die chronisch defizitäre Leistungsbilanzsituation weiter verschlechterte. Da in der lateinamerikanischen Leistungsbilanz vor allem die Zinszahlungen auf die Auslandsschulden negativ zu Buche schlagen, wirkt ein wesentlicher Verursachungsfaktor des Leistungsbilanzungleichgewichts weiterhin fort. Ohne anhaltenden Nettokapitalimport bleibt daher die Zahlungsbilanzsituation Lateinamerikas auch in den kommenden Jahren prekär, sofern nicht weitere, umfassende Schulden-bzw. Schuldendienstreduzierungen vereinbart werden. Allerdings läßt sich aus dem bisherigen Verlauf der Schuldenkrise auch die Lehre ziehen, daß Schulden(dienst) reduzierung zwar manchmal eine notwendige Bedingung zur Lösung des Problems sein kann, aber ohne angemessene Wirtschafts-und Finanzpolitik nicht hinreichend ist.

Im Jahre 2000 werden schätzungsweise 515 Millionen Menschen in Lateinamerika und der Karibik leben die einen Anspruch wenigstens auf ein Minimum an materiellem Wohlstand haben. Eine Versorgung dieser Millionenbevölkerung mit den Gütern des Grundbedarfs ist ohne eine solide regionale Basis industrieller Massenproduktion, die internationalen Standards entspricht, kaum möglich. Vor dieser Perspektive stellt sich die entwicklungsstrategische Kernfrage in dem Transitionsprozeß, den die iberoamerikanische Region gegenwärtig durchläuft: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit die intendierte Weltmarktintegration intern einen dynamischen industriellen Spezialisierungsprozeß in Gang setzt?

Dynamische Prozesse industrieller Spezialisierung (wie sie beispielsweise in einigen asiatischen Entwicklungsländern relativ erfolgreich ablaufen) sind u. a. Resultat komplexer gesellschaftlicher Lernund Suchprozesse. Ein Teilbereich dieser Lernprozesse ist die optimale Gestaltung der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen; in diesem Teilbereich erscheint die Kompetenz der nationalen Akteure in sehr vielen lateinamerikanischen Ländern noch unzureichend. Hinzu kommt, daß die neoliberalen Reformprojekte, die in zahlreichen Ländern Lateinamerikas in Gang gesetzt wurden, nur dann zu einem nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg führen können, wenn sie auch sozial abgesichert werden und ökologisch verträglich sind

Fussnoten

Fußnoten

  1. Carlos Brezina, Closing the chapter on debt, in: The IDB, 19 (1992) 6, S. 3.

  2. Vgl. Masood Ahmed/Lawrence Summers, Zehn Jahre Schuldenkrise -eine Bilanz, in: Finanzierung & Entwicklung, 29 (1992) 3, S. 5.

  3. Vgl. Hartmut Sangmeister, Auslandsverschuldung als strukturelles Entwicklungshemmnis: Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay im Vergleich, in: Dieter Nohlen/Mario Fernändez/Alberto van Klaveren (Hrsg.), Demokratie und Außenpolitik in Lateinamerika, Opladen 1991, S. 181.

  4. Vgl. World Bank, World debt tables, Vol. 1: Analysis and summary tables, Washington D. C. 1991, S. 116.

  5. Zur Makroökonomik externer Verschuldungsprozesse vgl. Hartmut Sangmeister, Das Verschuldungsproblem, in: Dieter Nohlen/Franz Nuscheler (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1: Grundprobleme, Theorien, Strategien, Bonn 19933, S. 342 ff.

  6. Vgl. WorldJBank, World development report 1991, New York 1991, S. 243.

  7. Vgl. Inter-American Development Bank, Annual report 1988, Washington, D. C. 1989, S. 118.

  8. Vgl. World Bank, World development report 1989, New York 1989, S. 151.

  9. Vgl. World Bank (Anm. 4), S. 73ff.

  10. Vgl. Walter Eberlei, Wege aus der Schuldenkrise: Perspektiven und Optionen für die Großschuldner Lateinamerikas (Interdependenz, 9), Duisburg 1991, S. 11 ff.

  11. Vgl. Michael Bohnet, Umschuldungen öffentlicher und privater Forderungen an Entwicklungsländer (Duisburger Volkswirtschaftliche Schriften, 7), Hamburg 1990, S. 76ff.

  12. Vgl. Mohamed A. El-Erian, Das Finanzpaket der Geschäftsbanken für Mexiko, in: Finanzierung & Entwicklung, 27(1990) 3, S. 26ff.

  13. Vgl. M. Ahmed/L. Summers (Anm. 2), S. 3.

  14. Vgl. United Nations Development Programme, Human development report 1991, New York-Oxford 1991, S. 152 ff.

  15. Vgl. World Bank, World tables 1991, Baltimore-London 1991, S. 13.

  16. Vgl. World Bank, World development report 1992, New York 1992, S. 30.

  17. Vgl. Eduardo Wiesner, Ursachen der lateinamerikanischen Schuldenkrise, in: Finanzierung & Entwicklung, 22 (1985) 1, 8. 24 ff.

  18. Klaus Eßer, Lateinamerika -Industrialisierung ohne Vision, in: Nord-Süd aktuell, 6 (1992) 2, S. 238.

  19. Vgl. Hartmut Sangmeister, Reformpolitik in Lateinamerika: Chancen und Risiken des wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsels, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39/91, S. lSff.

  20. K. Eßer (Anm. 19), S. 230.

  21. Vgl. Inter-American Development Bank, Annual report 1991, Washington D. C. 1992, S. 2.

  22. Vgl. Vikram R. Khanna, Mexico’s economic restirgence highlighted at World Bank Conference, in: IMF Survey, 21 (1992), S. 174.

  23. Vgl. Inter-American Development Bank, Economic and social progress in Latin America 1991 report, Washington D. C. 1992, 8. 18.

  24. Vgl. Nohra Rey de Marulanda, Extemal financial requirements for Latin America in den nineties: alternative scenarios, in: Louis Emmerij/Enrique Iglesias (Hrsg.), Restoring financial flows to Latin America, Paris 1991, S. 106.

  25. Vgl. World Bank (Anm. 16), S. 269.

  26. Vgl. Klaus Eßer, Lateinamerika: Von der Binnenmarkt-orientierung zur Weltmarktspezialisierung, in: Albrecht von Gleich u. a. (Hrsg.), Lateinamerika Jahrbuch 1992, Frankfurt/M. 1992, S. 51.

  27. Vgl. hierzu Comisiön Econömica para America Latina y el Caribe, Sustainable development: changing production pattems, social equity and the environment (Libros de la CEPAL, 31), Santiago de Chile 1991.

Weitere Inhalte

Hartmut Sangmeister, Dr. rer. pol. habil., geb. 1945; Privatdozent für Entwicklungsökonomie und Wirtschaftsstatistik an der Universität Heidelberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu entwicklungsökonomischen und wirtschaftsstatistischen Fragen; Mitherausgeber des Jahrbuchs Lateinamerika, Frankfurt am Main.