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Krise oder Wandel? Zur Zukunft der Politik in der postindustriellen Moderne | APuZ 11/1993 | bpb.de

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APuZ 11/1993 Krise oder Wandel? Zur Zukunft der Politik in der postindustriellen Moderne Ist die Kritik an den politischen Parteien berechtigt? Abkehr von den Parteien? Dimensionen der Parteiverdrossenheit Nichtwahl und Protestwahl: Zwei Seiten einer Medaille Rechtsextremismus und Wahlen in der Bundesrepublik

Krise oder Wandel? Zur Zukunft der Politik in der postindustriellen Moderne

Hans-Georg Betz

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die gegenwärtige politische Diskussion in den entwickelten westlichen Demokratien ist vom Thema Krise bestimmt. Parteien, die Politik, ja die Demokratie selbst befinden sich in der Krise. Wachsende Wahlenthaltung, Protest-und Denkzettelwahl sowie die Aufsplitterung der politischen Landschaft sind Symptome einer alarmierenden Entwicklung, deren Ausgang immer noch unbestimmt ist. In der derzeitigen, sehr realen Krise des politischen Systems manifestiert sich ein tiefgreifender Wandel der politischen Konfliktlinien hochentwickelter westlicher Demokratien. Dieser Wandel der Konfliktlinien ist wiederum das Ergebnis einer weitreichenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Transformation westlicher Gesellschaften hin zur postindustriellen Moderne. Unter diesen Bedingungen entwickeln sich neue politische Präferenzen, auf die die etablierten Parteien nur mehr mit Mühe eingehen können. Im daraus resultierenden politischen Freiraum können sich neue Parteien entwickeln und erfolgreich um politische Marktanteile konkurrieren. Prototypen dieser neuen Parteien sind linkslibertäre und radikal rechtspopulistische Parteien. Ihre Wähler rekrutieren sich aus den Kemschichten der postindustriellen Moderne. Aus diesem Grund stellen diese Parteien auch die größte Herausforderung an ihre etablierten Mitkonkurrenten dar.

I. Krisensymptome in westlichen Demokratien

Tabelle 1: Sozialstruktur der Wählerschaft linkslibertärer Parteien (in Prozent)

Quellen: Claude Longchamp/Sibylle Hardmeier, Analyse der Nationalratswahlen 1991, Vox Publikation Nr. 43, Adliswil 1992, S. 26; Henry Valen/Bernt Aardal/Gunnar Vogt, Endring of kontinuitet: Stortingsvalget 1989, Oslo 1990, S. 99; Petra Bauer/Hermann Schmitt, Die Republikaner. Eine empirische Analyse von Wählerpotential und Wahlmotiven, Zentrum für Europäische Umfragen und Studien (ZEKS), Universität Mannheim, 1990, S. 19f.; 犸݇?

Die aktuelle politische Diskussion ist vom Thema „Krise“ bestimmt. Parteien, Politik, ja sogar die Demokratie befinden sich demnach heutzutage in einer tiefgreifenden Krise. Und dies nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland. Eine neuere Analyse des politischen Klimas zitiert das Ergebnis einer kurz vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen erstellten Umfrage zum Thema Politikverdrossenheit. Drei Viertel der befragten US-Bürger stimmten dabei der Behauptung zu, das politische System sei kaputt, es sei von Insidern dominiert, die weder der arbeitenden Bevölkerung Gehör schenkten noch deren Probleme zu lösen in der Lage seien. Noch schlimmer stellt sich die Situation in Italien dar. Dort warnte im November letzten Jahres der Präsident der Abgeordneten-kammer, Giulio Amato, das Parteiensystem stehe kurz vor dem Ende

Anzeichen für die Richtigkeit der Krisenthese gibt es scheinbar viele. Der Rückgang der Wahlbeteiligung ist auch in Westeuropa symptomatisch geworden. Westeuropas Demokratien nähern sich langsam auch auf diesem Gebiet den Vereinigten Staaten, die bereits seit Jahrzehnten eine notorisch niedrige Wahlbeteiligung aufweisen. Die etablierten Parteien vermögen immer weniger, Stamm-wähler an sich zu binden. Das Gespenst des Dealignments, der Auflösung überkommener Parteienbindungen, geht um. Zur selben Zeit steigt die Bereitschaft zur Protest-und Denkzettelwahl, zersplittert sich die Parteienlandschaft. Unter dem Banner eines wiedererstarkten Populismus drängen neue Rechtsparteien in die Parlamente und legitimieren damit latente gruppenegoistische Tendenzen. Last, not least sammeln sich allerorts Politik-und Parteienverdrossenheit zu einer Woge des Mißtrauens und der Verärgerung gegenüber der politischen Klasse, was über kurz oder lang nicht ohne negative Auswirkungen auf die Demokratie selbst bleiben kann

Sicherlich wäre es falsch zu leugnen, daß sich das politische System hochentwickelter westlicher Demokratien zur Zeit in großen Schwierigkeiten befindet. Doch ist zu fragen, ob sich dieses System dabei in eine Sackgasse manövriert hat und somit mobilisierungsunfähig geworden ist oder ob es sich bei den durchaus realen Schwierigkeiten des politischen Systems nicht vielmehr um Schwierigkeiten der Anpassung an sich von Grund auf ändernde gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen moderner Demokratien handelt. Im ersten Fall wären Politik-und Parteienverdrossenheit, Wahlenthaltung sowie Protest-und Denkzettel-wahl eine direkte Reaktion auf eine nunmehr generelle Unfähigkeit des politischen Systems, Interessen wahrzunehmen und in Politik umzusetzen. Im zweiten Fall wären sie zum einen ein direktes Ergebnis struktureller Veränderungen, zum anderen eine Reaktion auf die Probleme der etablierten politischen Akteure, sich diesen strukturellen Veränderungen anzupassen.

Im folgenden soll dem zweiten Interpretationsansatz nachgegangen werden. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die These, daß die aktuelle Krise des politischen Systems entwickelter westlicher Gesellschaften die Folge eines tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandlungsprozesses von der industriegesellschaftlichen Moderne hin zur „postindustriellen Moderne“ darstellt Auf das politische System wirkt sich dieser Wandel zum einen über das Aufbrechen traditioneller Konflikt-strukturen, zum anderen über die Infragestellung traditioneller Formen der Politikvermittlung aus. Die Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen schlagen dabei am schnellsten und tiefgreifendsten auf die politischen Parteien durch, obliegt ihnen doch die Aufgabe, latente Probleme aufzugreifen und in kompromißfähige Lösungsansätze umzusetzen. Das Ergebnis dieser Veränderungen ist eine temporäre Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der etablierten Parteien. Damit bietet sich neuen Parteien genügend Raum, sich im Parteiensystem festzusetzen und zu etablieren. Nutznießer dieser Entwicklung sind heutzutage vor allem linkslibertäre und rechtspopulistische Parteien.

II. Sozialstruktur und Parteipräferenzen im Wandel

Tabelle 2: Wahlergebnisse rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa (in Prozent)

Quelle: Offizielle Wahlstatistiken.

1. Sozialstrukturelle Determinanten politischer Präferenzen Makrosoziologische Erklärungsmodelle gehen davon aus, daß das Wahlverhalten entscheidend von sozialen Konfliktstrukturen geprägt wird. Nach der einflußreichen Cleavage-Theorie von Seymour M. Lipset and Stein Rokkan bildeten sich die im wesentlichen noch heute existierenden Parteien westlicher Demokratien im Zuge sozialer Mobilisationsschübe entlang von vier Konfliktlinien (Cleavages) heraus Die ersten beiden Cleavages entstanden während der Herausbildung des modernen Nationalstaats und entzündeten sich am Konflikt zwischen nationalem Zentralstaat und regionaler Peripherie. Die beiden übrigen entstanden im Zuge der industriellen Revolution aus Konflikten zwischen Agrar-und Industrieinteressen sowie zwischen Arbeitern und Kapital.

Diese relativ kleine Zahl von Cleavages erklärt nicht nur die Unterschiede zwischen den einzelnen Parteiensystemen, die sich als Folge des allgemeinen Wahlrechts herausbildeten, sondern auch ihre Langlebigkeit. Denn die „Einführung des allgemeinen Wahlrechts am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war der entscheidende Katalysator, der diese Cleavagestrukturen sozusagen , einfrorund damit eine Sprache der Politik institutionalisierte, die sich als mehr oder minder unveränderbar erwies“ Der Grund dafür war für Lipset und Rokkan in der Einengung des Wählermarkts durch die politischen Eliten zu suchen, die -nachdem sie die verfügbare Wählerschaft mobilisiert und in Koalitionen gebunden hatten -neue Parteienwählerverbindungen bis in die Gegenwart hinein effektiv unterbanden.

Seit einigen Jahren häufen sich jedoch die Anzeichen, daß der politische Markt in Bewegung gekommen ist. So weist vor allem die umfangreiche Dealignment-Literatur auf die Auflösung traditioneller Parteiloyalitäten (Dealignment), das Absinken der Anzahl von Stammwählern sowie ein Anwachsen von Wechselwählern hin Diese Entwicklungen, die in allen fortgeschrittenen westlichen Demokratien mehr oder minder stark ausgeprägt sind, lassen sich nur sehr schwer mit der zentralen Lipset/Rokkanschen These des Einfrierens der Parteisysteme vereinbaren. Im Gegenteil, sie weisen auf einen grundlegenden Destabilisierungsund Transformationsprozeß überkommener Cleavagestrukturen hin, der eng mit dem Eintritt moderner Gesellschaften in die postindustrielle Moderne verbunden ist.

Trotz vielfältiger Versuche, die Auswirkungen des sozialen Wandels im Zeichen der postindustriellen Moderne auf das politische System zu thematisieren und theoretisch zu untermauern, ist das Ergebnis noch immer lückenhaft. Jedoch finden sich in der neueren Literatur genügend Hinweise, wie eine solche Theorie aussehen könnte. Die folgende Skizzierung stützt sich dabei vor allem auf neuere Überlegungen zur Frage der Herausbildung politischer Präferenzen in postindustriellen Gesellschaften 2. Strukturwandel und postindustrielle Moderne Die gegenwärtige Entwicklung fortgeschrittener Gesellschaften ist wohl am treffendsten als eine Beschleunigung eines seit zwei Jahrzehnten anhaltenden postindustriellen Modernisierungsprozesses zu beschreiben. Dabei lassen sich zumindest drei zentrale Kennzeichen dieses Prozesses ausmachen: 1. Die rasche Verbreitung informationsgestützter Technologien, die die Ablösung hergebrachter standardisierter industrieller Massenproduktion („Fordismus“) zugunsten flexibler Spezialisierung erlaubt und die die Herausbildung jener „schichtunspezifischen Konsumgesellschaft“ erst ermöglicht hat, die das Erscheinungsbild westli-eher Demokratien prägt 2. Die beschleunigte Ausweitung des tertiären Sektors, vor allem in den humanorientierten Bereichen (soziale Dienste, Gesundheit, Erziehung und Bildung, Freizeit, Kultur) und den neuen Professionen (Forschung und Entwicklung, Finanzen, Marketing, Consulting). 3. Die Ausreifung des Wohlfahrtsstaats sowohl hinsichtlich des Anteils der staatlichen Transferleistungen am Bruttosozialprodukt als auch des Anteils der Beschäftigten im öffentlichen Dienst.

Diese strukturellen Veränderungen sind nicht ohne Folgen auf Arbeitsmarkt und Konsum geblieben. Generell hat die Diffusion informationsgestützter Technologien zu einer Dualisierung des Arbeitsmarktes geführt: Ein zentraler Arbeitsmarkt mit sicheren, relativ konjunkturunabhängigen Arbeitsplätzen, deren Inhaber über gute Bildung, Ausbildung sowie Weiterbildungsmöglichkeiten, Aufstiegschancen und eine großzügige soziale Absicherung verfügen, steht einem peripheren Arbeitsmarkt mit unsicheren, wenn nicht auf Dauer gefährdeten Arbeitsplätzen gegenüber, deren Inhaber zum großen Teil über wenig formale Bildung und Ausbildung verfügen. Diese Tendenzen sind nicht nur auf den verarbeitenden Sektor beschränkt. Sie lassen sich auch im Dienstleistungsbereich nachweisen. Dessen Expansion hat einerseits zu einer wachsenden Anzahl von neuen Dienstleistungsspezialisten mit hohen Bildungsabschlüssen und Beschäftigung in human-und kulturorientierten Organisationen geführt, in denen zunehmend auch Frauen attraktive Arbeitsplätze finden. Andererseits hat sie zu einer wachsenden Anzahl von unqualifizierten Tätigkeiten geführt, die teilweise als „junk jobs" (minderwertige Jobs) bezeichnet werden und einen überproportionalen Anteil an weiblichen Arbeitskräften aufweisen

Die Einführung flexibler Produktionsweisen und die Ausweitung und Ausdifferenzierung sowohl des privaten wie auch des öffentlichen Dienstleistungssektors haben zu einer Ausweitung des Konsums beigetragen und neue Möglichkeiten des Konsums erschlossen. Dabei kommt es zu einer Neubestimmung der jeweiligen Gewichtung privaten und kollektiven Konsums. So ermöglicht die Einführung flexibler Produktionsweisen die Herstellung konsumentenbezogener, individualisierter Güter. Ähnlich gestaltet sich die Expansion des privatwirtschaftlichen tertiären Sektors mit seiner Vielfalt, an konsumentenorientierten Dienstleistungen. Beide Tendenzen tragen zu generellen Individualisierungstendenzen postindustrieller Gesellschaften bei. Dagegen erweitert sich mit dem Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen auch die Bandbreite kollektiven Konsums. Dies wird noch verstärkt durch das gestiegene Bewußtsein dafür, daß individuelles Wohlbefinden immer mehr auch von kollektiven Gütern wie intakte Umwelt, saubere Luft und reines Wasser abhängt.

Neben der Dualisierung des Arbeitsmarktes scheint der Strukturwandel entwickelter westlicher Gesellschaften schließlich unweigerlich die Herausbildung einer permanenten Unterklasse zur Folge zu haben. Zu ihr gehören unter anderem die wachsende Zahl der neuen Armen, Asylbewerber, Langzeitarbeitslosen, jugendlichen und ausländischen Arbeitslosen, Obdachlosen, Alkohol-und Drogenabhängigen. Allen diesen Gruppen ist gemein, daß sie über wenig oder kein materielles, kulturelles oder politisches Kapital verfügen, somit vor allem vom privaten, aber immer mehr auch vom kollektiven Konsum ausgeschlossen sind und deshalb für den Rest der Gesellschaft, einschließlich der Parteien und sonstiger Interessenverbände, weitgehend bedeutungslos und überflüssig sind 3. Postindustrielle Moderne und politische Präferenzen Es ist zu fragen, ob und inwieweit die sozialen Veränderungen, die mit dem Eintritt in die postindustrielle Moderne verbunden sind, Einfluß auf die politischen Präferenzen der Wählerschaft haben. Generell ist zu erwarten, daß vor allem die Dualisierung des Arbeitsmarktes und damit der Arbeitnehmerschaft nicht ohne Folgen auf politische Orientierungen und somit das Wahlverhalten bleibt. So könnte man annehmen, daß Beschäftigte in den technologisch und wirtschaftlich wettbewerbsfähigen Kernsektoren des Produktionsund Dienstleistungssektors eine weitaus positivere Einstellung gegenüber dem freien Markt zeigen als die Belegschaften der gefährdeten Sektoren. Während die ersteren eine marktorientierte Politik bevorzugen dürften, die den einzelnen Unternehmen möglichst freie Hand in bezug auf Investitionen und Lohnverhandlungen läßt, dürften letztere eine staatsinterventionistische und redistributive Politik bevorzugen, die Arbeitsplätze, Lohnniveau und Möglichkeiten der Weiterbildung und Umschulung gewährleistet. Ebenso sollte man annehmen, daß Beschäftigte im öffentlichen Dienst eine redistri-butive, eher den Konsum kollektiver Güter als Investitionen fördernde Politik bevorzugen

Eine zweite Quelle politischer Orientierungen, die besonders in postindustriellen Gesellschaften von steigender Bedeutung ist, sind Arbeitsbedingungen und Arbeitsinhalte. Dies bezieht sich vor allem auf das Ausmaß der Möglichkeiten individueller Autonomie am Arbeitsplatz, des Spielraums für Eigeninitiative und Kreativität, und der Möglichkeiten der Teilnahme an kommunikativer Interaktion Arbeitsbedingungen und -inhalte hängen wiederum vom Bildungsstand der Beschäftigten und vom Arbeitsgegenstand ab. Tätigkeiten, die für persönliche Interaktion mit Mitarbeitern und/oder Klienten offen sind oder sie gar voraussetzen (z. B. im Bereich der Bildung, Gesundheit, Beratung oder die neuen Professionen wie Tourismus, körperliche Fitness oder Marketing) sind in der Regel kommunikationsintensiver als Tätigkeiten, die Klienten als standardisierte Fälle behandeln (z. B. Finanz, Versicherungen, aber auch viele juristische Tätigkeiten), oder Tätigkeiten, die materielle Gegenstände zum Objekt haben (z. B. Produktion, Forschung und Entwicklung, Design).

Im Gegensatz zu politischen Orientierungen, die in der Segmentierung des Arbeitsmarktes begründet sind, beziehen sich politische Orientierungen, die in Arbeitsinhalten und -bedingungen begründet sind, nicht auf die Frage nach der bestmöglichen und gerechtesten Verteilung von Chancen und Gütern (d. h. auf die klassische Rechts-Links-Achse), sondern auf Partizipationsmöglichkeiten am öffentlichen Leben und an der Politik. Diese wird auf einer neuen politischen Konfliktachse ausgetragen, die auf der einen Seite libertäre Positionen, auf der anderen autoritäre Positionen einschließt Es ist zu erwarten, daß diejenigen Personen libertär eingestellt sind, die über einen höheren Bildungsgrad verfügen und in Bereichen beschäftigt sind, die kommunikationsintensiv sind und Spielraum für Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Kreativität lassen. Das Gegenteil sollte der Fall sein für Beschäftigte mit niedrigem Bildungsgrad und Beschäftigung in kommunikationsarmen Bereichen, die darüber hinaus hierarchisch gegliedert sind.

Eine dritte Quelle politischer Orientierungen in der postindustriellen Moderne sind Konsumformen. Dabei sollte man erwarten, daß diejenigen, die vor allem in private Konsumgüter investieren, eine positivere Einstellung zum freien Markt haben, als diejenigen, die von kollektiven Gütern abhängig sind. William Schneider hat dies kürzlich anhand der politischen Orientierungen von Bewohnern der amerikanischen Vorstädte (suburbs) verdeutlicht. Da amerikanische Vorstädte den Inbegriff des Individualismus und der Isolierung gegenüber einer als gefährlich eingeschätzten Umwelt darstellen, ist es nicht verwunderlich, daß die Mehrheit ihrer Bewohner private Ausgaben (z. B. für Sicherheit, Freizeiteinrichtungen) denen der öffentlichen Hand vorziehen

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Eintritt in die postindustrielle Moderne zu tiefgreifenden Veränderungen der sozialen Strukturen wie der politischen Konfliktlinien geführt hat. War die politische Auseinandersetzung der letzten Jahrzehnte vor allem vom Gegensatz zwischen mehr marktorientierten (kapitalistischen) oder mehr staatsinterventionistischen (sozialistischen) Politikansätzen geprägt, so erweitert sich die politische Auseinandersetzung in der postindustriellen Moderne um gegensätzliche Positionen auf der libertär-autoritären Konfliktachse. Dabei lassen sich theoretisch vier Kombinationen bestimmen, die zumindest idealtypisch den jeweiligen Segmenten der sich herausbildenden postindustriellen Sozialstruktur zugeordnet werden können: 1. Linkslibertäres Segment: Hier verbindet sich die Ablehnung marktorientierter Verteilungs-sowie bürokratisch-hierarchischer Entscheidungsmechanismen mit der Forderung nach „partizipativen, dezentralisierten Formen der Entscheidungsfindung, die die Autonomie der Individuen bei kollektiven Entscheidungsprozessen respektieren“ Soziologisch ist dieses Segment im Bereich der neuen Dienstleistungsspezialisten in den human-und kulturorientierten Bereichen des öffentlichen Sektors sowie in den von Zuwendungen der öffentlichen Hand abhängigen human-und kulturorientierten Bereichen des Privatsektors beheimatet. 2. Linksautoritäres Segment: Hier verbindet sich die Ablehnung marktorientierter Verteilungsmechanismen mit der Befürwortung zentralisierter, bürokratisch-hierarchischer Entscheidungsmechanismen. Soziologisch ist dieses Segment in den administrativen Bereichen des öffentlichen Dienstes sowie in den gefährdeten Bereichen der Wirtschaft beheimatet. 3. Rechtslibertäres Segment: Hier verbindet sich die Befürwortung marktorientierter Verteilungsmechanismen mit der Ablehnung zentralisierter, bürokratisch-hierarchischer Entscheidungsmechanismen. Soziologisch ist dieses Segment im Bereich der Mehrzahl der neuen Dienstleistungsspezialisten des Privatsektors sowie traditioneller freier Berufe beheimatet. 4. Rechtsautoritäres Segment: Hier verbindet sich die Ablehnung staatsinterventionistischer Verteilungsmechanismen mit der Befürwortung zentralistischer, hierarchisch-autoritärer Entscheidungsmechanismen. Soziologisch ist dieses Segment in der Arbeiterschaft und im Management des wettbewerbsfähigen Sektors der Privatwirtschaft sowie im traditionellen Kleinbürgertum beheimatet.

Natürlich stellt diese Klassifizierung nur eine grobe Annäherung an die komplexe Wirklichkeit postindustrieller Gesellschaften dar. So ist zum Beispiel zu erwarten, daß Beschäftigte in den neuen konsumorientierten Dienstleistungsbetrieben des Privatsektors generell libertärer orientiert sind als Mitglieder traditioneller freier Berufe, die vor allem mit standardisierten Fällen betraut sind. Ähnliches gilt für die anderen Segmente

III. Der Aufstieg neuer Parteien

Tabelle 3: Sozialstruktur der Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien (in Prozent)

Anmerkungen und Quellen: vgl. Tabelle 1.

1. Linkslibertäre Parteien Welche Auswirkungen hat diese Ausdifferenzierung des Wählermarktes auf die etablierten Parteien? Generell hat die steigende Bedeutung libertärer Einstellungen zu einer Verschiebung der Hauptachse politischer Konflikte geführt. Waren politische Auseinandersetzungen in der Vergangenheit vor allem vom klassischen Verteilungskonflikt geprägt, so verschiebt sich die Hauptkonfliktachse postindustrieller Gesellschaften in Richtung libertär-autoritäre Achse. Damit sind die etablierten Parteien gezwungen, ihre politischen Prioritäten neu zu überdenken und gegebenenfalls neu zu ordnen. Dies verlangt von ihnen, eine Wahl zu treffen. Sie können entweder versuchen, die neuen, aufstrebenden, libertären Dienstleistungsspezialisten für sich zu gewinnen, auf die Gefahr hin, damit Teile ihrer traditionellen, autoritären Klientel zu verprellen. Oder sie halten fest an traditionellen Politikmustern und laufen damit Gefahr, daß neue, aufstrebende Wählersegmente zu politischen Alternativen abdriften. Eine dritte Möglichkeit ist, zwischen verschiedenen Segmenten zu rochieren, d. h. sich auf keine Position permanent festzulegen, auch auf die Gefahr hin, neue und traditionelle Wählergruppen gleichzeitig zu verspielen.

Am Ende der siebziger Jahre und in den frühen achtziger Jahren standen vor allem sozialistische und sozialdemokratische Parteien vor der Frage, wie sie den Partizipationsforderungen aufsteigender sozialer Gruppen begegnen sollten. Aufkommen und Etablierung grüner und anderer linkslibertärer Parteien in den meisten westeuropäischen Demokratien können als der augenfälligste Beweis für die These gelten, daß die etablierten Parteien bisher keine ausreichende Antwort auf diese Herausforderung gefunden haben.

Trifft diese These zu, so würde man erwarten, daß sich sowohl die Mitgliederschaft als auch Sympathisanten grüner und ähnlicher Parteien zu einem großen Teil aus dem linkslibertären Segment post-industrieller Gesellschaften rekrutieren. Eine Reihe von empirischen Studien haben dies eindrucksvoll belegt (siehe Tabelle 1). Generell unterscheiden sich die Wähler grüner/linkslibertärer Parteien von denen anderer Parteien durch ihr niedrigeres Alter, ihr überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau, und (falls nicht mehr in Ausbildung) ihren überdurchschnittlich hohen Anteil an Beschäftigten im öffentlichen Dienst, und hier wiederum in humanorientierten Bereichen. So ist ein Drittel der Wähler der Schwedischen Grünen im Gesundheits-und Bildungsbereich beschäftigt (14 Prozent mehr als im Durchschnitt der Bevölkerung), dagegen nur knapp ein Zehntel in Berufen der öffentlichen und privaten Verwaltung Da humanorientierte Dienstleistungsberufe zunehmend Frauen Arbeitsplätze bieten, sollte es nicht verwundern, daß linkslibertäre Parteien immer mehr von (vor allem jungen) Frauen gewählt werden. Ein weiterer Grund für diesen Trend dürfte sein, daß Frauen öfter als Männer mit sozialstaatlichen Leistungen in Berührung kommen.

Neben ihrer Wählerstruktur weist die politische Programmatik dieser Parteien auf die Verankerung im linkslibertären Segment hin. Unterteilt man diese Programmatik nach den drei Hauptfragen der Politik (wer ist berechtigt zur Teilnahme an kollektiven Entscheidungen, wie werden Entscheidungen getroffen, wie sollen Ressourcen verteilt werden, um den einzelnen Bürgern die Teilnahme an kollektiven Entscheidungen erst zu er-möglichen so unterscheidet sich die Programmatik linkslibertärer Parteien von der Programmatik der etablierten Parteien vor allem durch ihren radikalen Anspruch auf Inklusivität: Niemand soll nach Möglichkeit ausgeschlossen werden, alle sollen an den gesellschaftlichen Ressourcen partizipieren, gleichgültig ob man sie auch „verdient“.

Dieser radikale inklusive Anspruch spiegelt sich wider im politischen Programm linkslibertärer Parteien, das Fragen des kollektiven Konsums wie der Umweltprogrammatik breiten Raum gewährt. Am eindrucksvollsten kommt er in der Frage der Integration der ausländischen Bevölkerung zum Ausdruck. Linkslibertäre Politik bedeutet nicht nur Eintreten für eine multikulturelle Gesellschaft, in der kulturelle Vielfalt akzeptiert wird und sich entwickeln kann. Es bedeutet auch den Anspruch auf volle wirtschaftliche, soziale, kulturelle und vor allem politische Integration der ausländischen Be-völkerung. Dies wiederum schließt nicht nur die Gewährung von gleichen Chancen und, falls notwendig, spezielle Förderung (zum Beispiel im Bildungswesen) ein. Sie beinhaltet auch die Gewährleistung des Rechts auf volle und gleichberechtigte Beteiligung am politischen Leben (sprich des Wahlrechts), da „gleiche Rechte nicht von der Nationalität abhängig sind“

Am Beispiel des radikalen Inklusivitätsanspruchs grüner Ausländerpolitik zeigt sich das Dilemma traditioneller sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien sehr deutlich. Denn die Integration der ausländischen Bevölkerung stellt gerade für Beschäftigte im unsicheren Wirtschaftssektor eine potentielle Bedrohung dar. Vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit fühlen sie sich von der (oftmals nur vermeintlichen) Konkurrenz um Arbeitsplätze bedroht und reagieren auf Immi-granten besonders negativ Bewegen sich etablierte linksgerichtete Parteien auf ihre linkslibertären Konkurrenten zu, um sie zu reintegrieren, so laufen sie Gefahr, ihre traditionelle Klientel zu verprellen und an linksautoritäre (sprich orthodox zentralistisch-leninistische) Parteien zu verlieren. Dies dürfte eine Erklärung sein für das relativ gute Abschneiden orthodox kommunistischer Parteien wie der PCF in Frankreich oder der neugegründeten Rifondazione communista in Italien 2. Radikal rechtspopulistische Parteien Waren in der Vergangenheit besonders linksgerichtete Parteien vom Wandel der Konfliktstrukturen betroffen, so kommt zwischen dem Ende der achtziger und dem Anfang der neunziger Jahre vor allem die etablierte Rechte in politischen Zug-zwang. Grundsätzlich ist auch diese vor die Entscheidung gestellt, sich entweder den aufsteigenden libertären, marktorientierten Gruppen zu nähern und damit den Verlust traditioneller Wähler-gruppen (z. B.des Kleinbürgertums) in Kauf zu nehmen, oder an den traditionellen Wählergruppen festzuhalten und somit die Gefahr hinzunehmen, daß aufsteigende Wählergruppen zu eventuellen neuen Rechtsparteien abwandern.

Das Erstarken radikal rechtspopulistischer Parteien während der letzten Jahre in einer wachsenden Zahl westlicher Demokratien (vgl. Tabelle 2) zeigt, daß die etablierten Rechtsparteien immer weniger in der Lage sind, eine überzeugende Antwort auf dieses Dilemma zu finden. Radikal rechtspopulistische Parteien unterscheiden sich von den etablierten Parteien durch ihre radikale Ablehnung des etablierten soziopolitischen und soziokulturellen Systems, ohne dabei jedoch die Demokratie selbst in Frage zu stellen. Sie sind rechts in ihrer Ablehnung individueller und sozialer Gleichheit und derjenigen politischen Projekte, die die etablierten Parteien zu verwirklichen suchen. Sie sind populistisch in ihrem Anspruch, die Interessen des kleinen Mannes zu vertreten, wobei sie sich auf.dessen angeblich vernünftigeren Allgemeinverstand berufen. Die Mehrzahl radikal rechtspopulistischer Parteien ist darüber hinaus dezidierter Vertreter eines wirtschaftlichen Neoliberalismus. Zu ihnen gehören die Dänische und die Norwegische Fortschrittspartei, die Schwedische Neue Demokratie, die Schweizer Autopartei und die Tessiner Lega, die Italienische Lega Nord, die Freiheitliche Partei Österreichs und die Kanadische Reformpartei. Eine Minderheit vertritt eher nationalistisch-korporatistische Modelle. Dies trifft zum Teil für den Belgischen Vlaams Blök und die Französische Front National zu, aber auch für die bundesdeutschen Republikaner

Die soziale Zusammensetzung ihrer Wählerschaft zeigt, daß vor allem neoliberale rechtspopulistische Parteien mit den etablierten Rechtsparteien um politische Marktanteile konkurrieren. Ihre Wählerschaft rekrutiert sich nicht größtenteils aus marginalisierten sozialen Gruppen, sondern aus den Kernschichten der postindustriellen Moderne. Ein überdurchschnittlicher Anteil ihrer Wähler ist männlich, jung, mit mittleren Schulabschlüssen und im privaten Sektor der Wirtschaft beschäftigt. Einige neoliberale Parteien (Autopartei, Neue Demokratie, Lega Nord) weisen einen großen Anteil an Kleinunternehmern und Personen in leitenden Positionen unter ihren Wählern auf. Auf der anderen Seite gelingt es ihnen jedoch auch, einen nicht unbeträchtlichen Anteil an Arbeitern für sich zu gewinnen. Dagegen weisen besonders nationalpopulistische Parteien wie die bundesdeutschen Republikaner eine weitaus ältere und weniger gebildete Wählerschaft auf (vgl. Tabelle 3).

Die Zusammensetzung der Wählerschaft radikal rechtspopulistischer Parteien verdeutlicht, daß es diesen Parteien gelungen ist, sowohl in die rechtslibertären als auch in die rechtsautoritären Segmente des politischen Marktes einzubrechen. Welches dieser Segmente dominiert, hängt mit der Reaktion der etablierten Rechtsparteien auf die Umstrukturierung der Konfliktachsen zusammen. Versuchen die etablierten Parteien, die neuen libertären Kerngruppen der Privatwirtschaft für sich zu gewinnen, so laufen sie Gefahr, eher autoritär eingestellte Wählergruppen zu verlieren. Der Grund dafür ist, daß kapitalistische Modernisierung immer auch die Schwächung, wenn nicht den Verlust traditioneller Institutionen und Werte bedeutet, für deren Kompensation traditionelle rechtsgerichtete Parteien anscheinend wenig zu bieten haben. Das Ergebnis bedeutet einen Freiraum für autoritären Rechtspopulismus, wie ihn zum Beispiel die bundesdeutschen Republikaner repräsentieren. Seine Kernpunkte sind restriktiver Nationalismus, Ausländerfeindlichkeit, strikte Ablehnung der Abtreibung sowie ein dezidiertes Eintreten für Gesetz und Ordnung als Kompensation für verlorene Sicherheit. Dagegen spielen marktorientierte Punkte, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle.

Gelingt es den etablierten Parteien dagegen nicht, rasch auf den Wandel der Konfliktstrukturen zu reagieren, oder verharren sie in einer konservativen Defensivstellung, so öffnet sich radikal rechtspopulistischen Parteien die Chance der direkten Herausforderung, indem sie beide, rechtslibertäre und rechtsautoritäre Positionen gleichzeitig besetzen. Dies ist zum Beispiel in Österreich und vor allem in Norditalien der Fall, wo FPÖ und Lega Nord mit einer Mischung aus Neoliberalismus und Fremdenfeindlichkeit zu ernsthaften Konkurrenten der ÖVP und der Democrazia Cristiana geworden sind. Sie könnten somit durchaus in der Lage sein, die etablierten Rechtsparteien zu verdrängen und, zumindest partiell, zu ersetzen Dabei dürfte ihr neoliberales Programm vor allem aufstiegsorientierte Gruppen in der Privatwirtschaft anziehen, während ihr ausländerfeindliches Programm (das im Falle der Lega Nord auch auf weit-verbreitete Ressentiments gegenüber den Süditalienern abstellt) vor allem darauf abzielt, Arbeiter-gruppen für sich einzunehmen Es ist deshalb kaum verwunderlich, daß neoliberale Parteien generell eine weniger eindeutige Position zu den Themen Abtreibungsrecht oder Gesetz und Ordnung einnehmen als nationalpopulistische Parteien. Dagegen kompensieren sie eventuelle Modernisierungsängste eines Teils ihrer Klientel zumindest teilweise mit einem Rekurs auf (nationale oder regionale) Identität und Ausländerfeindlichkeit. Am Beispiel der französischen Front National läßt sich nachzeichnen, daß auch radikal rechtspopulistische Parteien keineswegs eine statische Position im politischen Markt einnehmen. So war die Front National am Anfang der achtziger Jahre durchaus neoliberalen Positionen zugänglich, vor allem deshalb, weil sich ihre Wählerbasis zu dieser Zeit sehr stark auf Kleinunternehmer und Angestellte konzentrierte. Jedoch spätestens seit Jean-Marie Le Pens Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen 1988 veränderte sich die Struktur der Wählerschaft zugunsten der Arbeiterschaft Zur selben Zeit nahmen Le Pens ausländerfeindliche und rassistische Ausfälle zu, bis sich die Partei zu Beginn der neunziger Jahre immer mehr vom neoliberalen Programm verabschiedete und korporatistische Positionen aufnahm Ähnliche Wandlungsprozesse, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen, hat die Lega Nord durchlaufen. Dominierten am Anfang noch ausländerfeindliche Positionen, so sind diese während der letzten beiden Jahre immer mehr libertären Positionen gewichen Das dürfte auch damit Zusammenhängen, daß die Lega Nord immer stärker Zuspruch bei den rechtslibertären Aufsteigern der wirtschaftlichen Leistungszentren Norditaliens findet.

IV. Politikvermittlung in der postindustriellen Moderne

Die Erfolge sowohl linkslibertärer als auch radikal rechtspopulistischer Parteien sind vielleicht der eindeutigste Beweis für die These, daß die Parteiensysteme moderner westlicher Demokratien gegenwärtig einen grundlegenden Wandlungsprozeß durchlaufen. Dieser Prozeß ist Ausfluß weitreichender sozialer Veränderungen, die eng mit dem Eintritt in die postindustrielle Moderne verbunden sind. Doch wäre es verkürzt, die daraus folgenden politischen Turbulenzen, die das gegenwärtige Bild westlicher Demokratien bestimmen, allein mit dem Aufbrechen traditioneller Konflikt-linien zu begründen. Die Erfolge linkslibertärer und radikal rechtspopulistischer Parteien sind zumindest zum Teil Ausdruck einer Infragestellung traditioneller elitendominierter Politikvermittlung.

Der amerikanische Kommunikationsspezialist Rosen hat diese Infragestellung als Ergebnis eines Wandels von „selling“ zu „marketing“ von Politik beschrieben Selling von Politik heißt, die Wäh-ler von der Richtigkeit bereits vorgefaßter Programme zu überzeugen, auf die die Wähler wenig Einfluß haben. Marketing heißt dagegen, bereits in der Bevölkerung vorherrschende Stimmungen und Ansichten abzurufen, zu kanalisieren, zu konkretisieren und in griffige Schlagworte und programmatische Fragmente umzusetzen. „Alte Politik“ war hauptsächlich von einer Strategie des selling von Politik bestimmt, „neue Politik“ ist dagegen marketingorientiert. Der amerikanische Präsidentschaftskandidat Ross Perot verdankte seinen Erfolg zum großen Teil dieser Strategie einer konsumentenbewußten Politikvermittlung. Diese setzte er ganz bewußt ein, wie ein von ihm verfaßter Artikel in der New York Times beweist. In ihm führt er aus, wie Sam Walton einer der reichsten Männer Amerikas wurde, indem er den Kunden zuhörte und schnell deren Wünsche befriedigte. Und weiter: „Leider haben die Parteien den Kontakt mit dem amerikanischen Volk verloren. Keine von ihnen hat einen Sam Walton.“

Gerade rechtspopulistische Parteien repräsentieren diesen neuen Stil der Politikvermittlung, indem sie den Wählern den Eindruck zu vermitteln suchen, die Vorstellungen der Durchschnittsbürger nicht nur zu verstehen, sondern auch ernst zu nehmen und sozusagen nur als Transmissionsriemen ihrer Nöte, Werte und Interessen zu fungieren. Dabei wehren sie sich einerseits gegen den Vorwurf des Populismus, auf der anderen Seite berufen sie sich auf ihn. So Jörg Haider, wenn er sagt: „So gesehen sind wir populistisch, weil wir mit dem Kopf der Bürger denken, weil wir um die Zustimmung der Bürger kämpfen, weil wir uns nicht wie die Altparteien auf Macht und Anpassungsdruck verlassen, der den Bürger gefügig machen soll. Wir sprechen Dinge an, für die es dem Bürger oft an Zivilcourage mangelt, seine Meinung offen und ehrlich herauszusagen.“ So gesehen könnte der Aufstieg des radikalen Rechtspopulismus durchaus als ein Ergebnis jener Partizipationsrevolution interpretiert werden, die auch den Aufstieg linkslibertärer Parteien erst ermöglichte.

Gerade neoliberale Parteien wie die Lega Nord oder die Autopartei verdanken einen Großteil ihres Erfolgs nicht nur einer allgemeinen Parteien-verdrossenheit, sondern auch der zunehmenden Bereitschaft von Bürgern, eigenständige politische Unternehmer zu werden nach dem Motto „Wählen wir uns doch selbst“. Es ist deshalb kaum verwunderlich, daß sich ein beträchtlicher Teil der gewählten Vertreter dieser Parteien aus denjenigen Gruppen rekrutieren, deren politische Orientierungen und Interessen sie repräsentieren Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß -im Unterschied zu linkslibertären Parteien -radikal rechtspopulistische Parteien in ihrer Organisation generell hierarchisch und autoritär geführt sind, so daß der Anspruch der Partizipation und Bürgernähe mehr Schein als Wirklichkeit ist, was durchaus den autoritären Einstellungen zumindest eines Teils ihrer Klientel entsprechen mag.

V. Krise der Parteien Krise der Demokratie

Die vorausgegangenen Überlegungen stellen einen Versuch dar, die gegenwärtige Diskussion zum Thema Parteienkrise in einen theoretisch weitläufigeren Kontext zu stellen. Aus dieser Sicht zeigt sich die Krise der Parteien vor allem als eine Krise der etablierten Parteien, die zum Großteil den Anforderungen eines sich grundlegend verändernden politischen Marktes (noch) nicht gewachsen sind. Die Veränderungen sind das Ergebnis einer Aus-differenzierung der Sozialstruktur moderner post-industrieller Gesellschaften, aber auch der neuen Formen der Politikvermittlung im Zeitalter mediendominierter Öffentlichkeit. Die Veränderungen der Sozialstruktur wiederum haben zu einem tiefgreifenden Wandel der Konfliktstrukturen geführt, der die etablierten Parteien vor die anscheinend unlösbare Aufgabe stellt, neue Wählergruppen anzusprechen ohne gleichzeitig traditionelle Wählergruppen zu verlieren. Nutznießer dieses Dilemmas sind linkslibertäre und radikal rechtspopulistische Parteien.

Es wäre aber eine Vereinfachung, diese Parteien als einen Ausdruck des Wählerprotests und der Parteienverdrossenheit abzutun. Beide Parteitypen repräsentieren die Wertorientierungen und Interessen klar umrissener gesellschaftlicher Gruppen, die zum Kern der postindustriellen Moderne gehören. Mögen sich auch einige dieser Gruppen durch den raschen Wandel moderner hochentwikkelter Gesellschaften bedroht fühlen, so gehören sie doch größtenteils nicht zu der wachsenden marginalisierten Unterklasse. Die Unterklasse dürfte eher Teil jenes Anteils der Bevölkerung sein, der sich weitgehend aus der Beteiligung am öffentlichen Leben zurückgezogen hat. Dagegen ist es durchaus möglich, daß linkslibertäre und radikal rechtspopulistische Parteien Wähler mobilisieren, die entweder aus Enttäuschung über die etablierten Parteien in der Vergangenheit nicht mehr an Wahlen teilnahmen oder als Erstwähler nicht teilnehmen würden Damit leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung und institutionellen Konsolidierung der Demokratie, wenn auch einige der politischen Ziele und Vorstellungen radikal rechtspopulistischer Parteien (vor allem hinsichtlich rassistischer Positionen) kaum mit der offenen politischen Kul-tur einer pluralistischen westlichen Demokratie vereinbar sind. Dies zu überprüfen und gegebenenfalls Maßnahmen gegen diese Tendenzen zu ergreifen, ist sicherlich (auch in Anbetracht der wachsenden Ausländerfeindlichkeit in ganz Europa) dringend geboten. Dagegen sollte man sich hüten, alle rechtspopulistischen Parteien und ihre Wähler zu marginalisieren. Nur wer Demokratie mit der Permanenz einer bestimmten Parteien-struktur gleichsetzt, wird in den gegenwärtigen Veränderungen eine Krise der Demokratie ausmachen. Unter den gegebenen gesellschaftlichen und kulturellen Umständen ist es kaum zu erwarten, daß die etablierten Parteien in absehbarer Zeit wieder an jene Zeiten anknüpfen können, in denen sie den politischen Markt fast ausschließlich monopolisierten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. America Changes the Guard, in: Newsweek, Special Election Issue vom November-Dezember 1992, S. 23; Corriere della sera vom 29. November 1992, S. 1.

  2. Vgl. Karl Starzacher/Konrad Schacht/Bemd Friedrich/Thomas Leif (Hrsg.), Protestwähler und Wahlverweigerer: Krise der Demokratie?, Köln 1992.

  3. Vgl. Stefan Hradil, Postmoderne Sozialstruktur?, in: Peter A. Berger/Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990, S. 135 ff.

  4. Vgl. Seymour M. Lipset/Stein Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments. An Introduction, in: dies. (Hrsg ), Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives, New York 1967, S. 1-64.

  5. Peter Mair, The Problem of Party System Change, in: Journal of Theoretical Politics, 1 (1989) 3, S. 260.

  6. Vgl. Russell J. Dalton/Scott C. Flanagan/Paul Allen Beck (Hrsg.), Electoral Change in Advanced Industrial Democracies: Realignment or Dealignment?, Princeton, N. Y., 1984.

  7. Vgl. Herbert Kitschelt, Class Structure and Social Democratic Party Strategy, Paper presented at the 1992 Annual Meeting of the American Political Science Association, Chicago 1992; ders., The Formation of Party Systems in East Central Europe, in: Politics & Society, 20 (1992) 1, S. 7-50; Scott C. Flanagan, Changing Values in Industrial Society, in: American Political Science Review, 81 (1987) 4, S. 1303-1319; Ronald Inglehart, Culture Shift in Advanced Industrial Society, Princeton, N. Y., 1990.

  8. Vgl. Ursula Feist/Klaus Liepelt, Was die Dynamik des Arbeitsmarktes für das Wählerverhalten bedeutet, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1987, Opladen 1990, S. 89.

  9. Vgl. Goesta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton, N. Y. 1990, S. 205f.

  10. Vgl. Ralf Dahrendorf, zitiert bei Barbara Schmitter Heisler, A Comparative Perspective on the Underclass: Questions of Urban Poverty, Race, and Citizenship, in: Theory and Society, 20 (1991) 4, S. 460.

  11. Vgl. H. Kitschelt, Class Structure (Anm. 7).

  12. Vgl. ebd., S. 18f.

  13. Vgl. S. Flanagan (Anm. 7); R. Inglehart (Anm. 7), S. 338-339.

  14. Vgl. William Schneider, The Suburban Culture Begins, in: The Atlantic, 270 (1992), S. 33-44.

  15. H. Kitschelt, The Formation of Party Systems (Anm. 7), S. 13.

  16. Vgl. Hans-Georg Betz, Postmodemism and the New Middle dass, in: Theory, Culture & Society, 9 (1992) 2, S. 93-105.

  17. Vgl. Paul Taggart, Green Parties and Populist Parties and the Establishment of New Politics in Sweden, Paper presented at the Annual Meeting of the American Political Science Association, Chicago 1992, S. 22; s. a. Herbert Kitschelt, New Social Movements and the Decline of Party Organization, in: Russell J. Dalton/Manfred Kuechler (Hrsg.), Challenging the Political Order, New York 1990, S. 188.

  18. Vgl. H. Kitschelt, Formation of Party Systems (Anm. 7), S. 10-14.

  19. Vgl. Die Grünen, Das Programm zur 1. gesamtdeutschen Wahl 1990, Bonn 1990, S. 38; Agalev, May We Present Agalev, Brüssel 1991, S. 20; Ecolo, Integration: La rponse des cologistes, Brüssel 1991.

  20. Vgl. Gudmund Hernes/Knud Knudsen, Norwegians’ Attitudes Toward New Immigrants, in: Acta Sciologica, 35 (1992) 2, S. 130-132; Marilyn Hoskin, New Immigrants and Democratic Society: Minority Integration in Western Democracies, New York u. a. 1991, S 104-107.

  21. Zur PCF vgl. George Ross, Party Decline and Changing Party Systems: France and the French Communist Party, in: Comparative Politics, 25 (1992) 1, S. 43-61; zur Rifondazione communista vgl. Stephen Hellman, La difficile nascita del PDS, in: Stephen Hellman/Gianfranco Pasquino (Hrsg.), Politica in Italia, Bologna 1992.

  22. Zur Wahlentwicklung und Programmatik dieser Parteien vgl. Hans-Georg Betz, Aufstand auf der Wohlfahrtsinsel: Der Aufstieg des radikalen Rechtspopulismus in Westeuropa, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 39 (1992) 7, S. 633-639; ders., The New Politics of Resentment: Radical Right-Wing Populist Parties in Western Europe, in: Comparative Politics, i. E. 1993.

  23. Vgl. Dwayne Woods, The Center No Longer Holds: The Rise of Regional Leagues in Italian Politics, in: West European Politics, 15 (1992) 2, S. 56-76; Fritz Plasser/Peter A. Ulram, Überdehnung, Erosion und rechtspopulistische Reaktion, in: österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, (1992) 2, 147-164.

  24. Vgl. Fritz Plasser/Peter A. Ulram/Alfred Graushuber, The Decline of „Lager Mentality" and the New Model of Electoral Competition in Austria, in: West European Politics, 15 (1992) 1, S. 40f.

  25. Vgl. Pascal Perrineau, Le Front national d’une lection ä l’autre, in: Regards sur l'actualit, 161 (1990), S. 17-32; Nonna Mayer, Le Front National, in: Bilan: Politique de la France, Paris 1991, S. 115f.

  26. Vgl. Jean-Franois Kahn, A propos du Front national: Des vrits qui font mal, in: L'vnement du jeudi vom 18. März 1992, S. 38-44.

  27. Vgl. das Interview mit Umberto Bossi in Oggi vom 21. Dezember 1992, S. 66-71.

  28. Vgl. Jay Rosen, The Return of the Expressed, in: Boston Review, 17 (1992) 1, S. 14-15.

  29. Ross Perot, „How Stupid Do They Think We Are?“, in: New York Times vom 30. August 1992, S. 15.

  30. Wiener Erklärung zur Situation von Staat und Gesellschaft am Vorabend der Beitrittsentscheidung über ein gemeinsames Europa, Wien 1992, S. 6.

  31. Im Falle der Lega Nord sind dies vor allem junge (bis 30 Jahre) Kleinuntemehmer im produzierenden Gewerbe und Handel und Arbeiter; vgl. Valerio Belotti, La representanza politica locale delle leghe, in: Polis, 6 (1992) 2, S. 281-290.

  32. So erhöhte sich in Mailand die Wahlbeteiligung zwischen 1990 und 1992 von 80, 5 auf 84, 6 Prozent, was zum Teil auf den Aufstieg der Lega Nord zurückgeführt werden kann; vgl. Corriere della sera, 7. Dezember 1992, S. 2.

Weitere Inhalte

Hans-Georg Betz, geb. 1956, Dr. phil.; Assistenzprofessor am Rome Center of Liberal Arts der Loyola University Chicago, Rom. Veröffentlichungen: Postmodern Politics in Germany, New York 1991; zahlreiche Beiträge in amerikanischen und deutschen Zeitschriften.