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Auswirkungen des Nationalismus in Osteuropa | APuZ 10/1993 | bpb.de

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APuZ 10/1993 Die politischen Kulturen Ostmitteleuropas im Umbruch Die unvollendete Revolution in Osteuropa: Charakter und Ziele des politischen Umbruchs von 1989 Die Rolle der Intellektuellen im Prozeß des osteuropäischen Systemwandels Auswirkungen des Nationalismus in Osteuropa Die EG, die osteuropäische Herausforderung und die Sicherheit Europas

Auswirkungen des Nationalismus in Osteuropa

Gerhard Wettig

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Zusammenfassung

Das Ende der Ost-West-Konfrontation hat die Lage in Europa grundlegend verändert und u. a. starke nationalistische Regungen im Osten des Kontinents nach sich gezogen. Vor diesem Hintergrund wird untersucht, welche Probleme im einzelnen auftreten und worauf diese zurückzuführen sind.

In der Nachkriegszeit bildete sich im Westen die Ansicht heraus, daß der Nationalismus in Europa „überwunden“ sei. Selten ist eine Auffassung so gründlich widerlegt worden wie diese. Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation regen sich im früheren sowjetischen Machtbereich kraftvolle nationale Tendenzen und beherrschen weithin die politische Szene. Die nationalen Antriebe, die einst nach der kommunistischen Machtübernahme im Namen des amtlichen Internationalismus verdrängt und unterdrückt worden sind, brechen sich nunmehr Bahn. Zugleich hat die Diskreditierung der bisher geltenden Ideologie ein Vakuum hinterlassen, in das nationalistische Vorstellungen eindringen. Neue politisch-wirtschaftliche Ordnungen, die angestrebt werden, und -in noch höherem Maße -neue Staaten, die gebildet worden sind und die noch der Verankerung im Bewußtsein ihrer Bürger bedürfen, sind auf die Wirksamkeit nationaler Triebkräfte nicht zuletzt deshalb angewiesen, weil demokratische, marktwirtschaftliche, rechtsstaatliche und ähnliche Orientierungen im Volke vielfach völlig fehlen. Wer als handelnder Politiker im Osten Europas auf das psychologische Potential des jeweiligen Nationalismus verzichten wollte, würde kaum Erfolgsaussichten haben.

I. Zwei verschiedene Modelle

Die verallgemeinernd negative Wertung des Nationalismus, die im Westen verbreitet ist, läßt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen. Zum einen denkt man noch an die leidvolle Vergangenheit nationaler Antagonismen vor 1945, die in zwei katastrophalen Weltkriegen kulminiert sind. Die Über-windung dieser Gegensätze durch übernationale Zusammenarbeit und Integration ist unzweifelhaft ein geschichtlicher Fortschritt, der nicht in Frage gestellt werden darf. Zum anderen ist der Nationalismus im Osten Europas aufgrund seiner spezifischen Merkmale ein Phänomen, das mit westlichem Verständnis schwer zu vereinbaren ist. Der Grund dafür liegt in der Andersartigkeit des Nationsmodells und in dessen damit verbundenen unverstandenen Konsequenzen. Nach westlicher Auffassung beruht die Nation auf dem Territorialitätsprinzip und geht einher mit einer „atomistischen“ Beziehung zwischen Staat und Bürger.

Demnach gehört einer Nation an, wer auf ihrem Territorium dauerhaft lebt bzw. auf ihm geboren worden ist. Zugleich stehen sich ohne alle vermittelnde Zwischengewalten eine einheitliche Staatsgewalt und der abstrakt-allgemein auf Staatsbürgermerkmale reduzierte Bürger gegenüber. Der Bürger ist demnach unter Ausschluß aller anderen Merkmale, Loyalitäten und Zuordnungen allein Angehöriger seines Nationalstaates Die territorial definierte, andere Faktoren nicht berücksichtigende Nation erfordert Nationsangehörige, die keine differenzierenden Merkmale aufweisen und daher als „atomisierte“ Einzelne in den Nationalstaat eingegliedert sind.

Das hat weitreichende praktische Konsequenzen. Nation und Staat sind miteinander identisch und gelten als ein undifferenziertes Ganzes; eine zentralistische Struktur erscheint folgerichtig; abweichende Personen-und Gruppenmerkmale werden prinzipiell nicht als berücksichtigenswert anerkannt. Das betrifft nicht zuletzt die Eigentümlichkeiten, die sich aus geschichtlichem Erbe und/oder abweichendem Volkstum ergeben. Denn im Bekenntnis zur einen Nation sind alle gleich; die existierenden Verschiedenheiten sind in diesem Punkte bedeutungslos. Die Gleichgültigkeit gegenüber vorhandenen historischen und ethnischen Unterschieden hat sowohl einen negativen als auch einen positiven Aspekt: Die Angehörigen entsprechender „Minderheiten“ erhalten zwar keine Entfaltungsmöglichkeiten, die eine Pflege ihrer Besonderheiten erlauben würde, aber sie werden auch nicht mit dem Hinweis unterdrückt und/oder verfolgt, daß sie wegen ihrer von der dominanten Gruppe abweichenden Ethnizität außerhalb der Nation stünden. Die Angleichung an die durch das vorherrschende Volk geprägte Nation wird nicht direkt gefordert, aber praktisch weithin angesichts nicht vorgesehener Rechte auf Erhalt der ethnischen Besonderheit vollzogen.

Vor dem Hintergrund dieser Vorstellungen erscheinen im Osten Europas sowohl der unmittelbare Druck herrschender Völker auf ethnischeMinderheiten als auch das Verlangen dieser Minderheiten nach ethnischen Gruppenrechten unverständlich und ablehnenswert. Die nationalen Probleme in Osteuropa werden erst begreiflich, wenn man die dortigen Eigentümlichkeiten in den Blick nimmt. Es gilt das Personalitätsprinzip, dem ein „organisches“ Konzept für den Staat entspricht. Dementsprechend wird die nationale Identität des Individuums nicht nach territorialen Kriterien, sondern durch die Zugehörigkeit zu einer kulturell, sprachlich und/oder religiös definierten ethnischen Gruppe festgelegt. Die -im Gegensatz zum westlichen Modell stehende -Trennung zwischen Nation und Staat kommt sinnfällig in der mancher-orts (etwa in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit oder in der früheren Sowjetunion) offiziell gemachten Unterscheidung zwischen Staats-und Nationszugehörigkeit zum Ausdruck. Im Paß der UdSSR stand beispielsweise, daß der Inhaber sowjetischer Staatsbürger sei und die tatarische Nationalität besitze Das logische Korrelat des Dualismus von Staat und Nationalität ist, daß der Staat ein „organisches“ Gemeinwesen mit intermediären Strukturen -föderalen Gliedstaaten, autonomen Teilbereichen und/oder ethnischen Gruppenrechten -bildet. Die Staatsgewalt wird nicht auf eine einzige Zentrale konzentriert, sondern weithin aufgegliedert. Sie geht aus von einem Staatsvolk, das sich nicht als eine kompakte Einheit, sondern als ein differenziertes Ganzes versteht

Die spezifische Identität des Individuums wird dadurch berücksichtigt, daß diese als Zugehörigkeit zu Teilen der staatlichen Gesamtheit in Erscheinung tritt. Auf diese Weise werden die problematischen Konsequenzen vermieden, die dem westlichen Nationsmodell potentiell innewohnen. Es wird keine Einheitlichkeit des Staatsvolkes auf dem Felde der ethnischen Herkunft und der ethnischen Geprägtheit gefordert, wo diese faktisch nicht besteht; ebenso gibt es bei konsequenter Umsetzung in die Praxis kein Risiko, daß kleine ethnische Gruppen mittels demokratischer Mehrheiten unterdrückt werden, über welche die zahlenmäßig dominierende Nationalität in einem zentralisierten Einheitsstaat hinsichtlich aller Fragen verfügt. An diesem Punkt zeigen sich nämlich Grenzen bei der Anwendung des demokratischen Regierungsmodells: Die Dauermehrheit der zahlenmäßig vorherrschenden ethnischen Gruppe beraubt die numerisch unterlegenen ethnischen Gruppen der demokratienotwendigen Chance, die Majorität gewinnen zu können, und wird damit zum Instrument nationaler Unterdrückung.

II. Probleme des im Osten weithin faktisch angewandten Nationskonzepts

Hinter den beiden Modellen stehen unterschiedliche geschichtliche Entwicklungen und Erfahrungen. Länder wie Großbritannien, Frankreich und Spanien sind im Laufe eines langen historischen Prozesses zu Staaten mit einer sich jeweils weithin als Einheit empfindenden Bevölkerung geworden. Als sich in ihnen ein nationales Bewußtsein herausbildete, war der jeweilige Staat bereits vorhanden. Die Idee der Nation bestätigt daher das vorhandene Gemeinwesen; sie hat folglich eine konsolidierende und integrierende Wirkung. Anders liegen die Dinge in jenen Teilen Europas, in denen sich keine Kongruenz zwischen Staat und Nation herausgebildet hat. Es gab dort im 18. und 19. Jahrhundert zwar ebenfalls großräumige Staaten, doch waren diese von vielen unterschiedlichen Völkern ohne ein einigendes Bewußtsein der Gemeinschaft bewohnt. Als sich die nationale Idee von Westen nach Osten ausbreitete, gab es keine Staatsvölker, die sich als Nationen hätten begreifen können. Als Kristallisationskerne der Nationsbildung traten die innerhalb der übernationalen Reiche lebenden verschiedenartigen ethnischen Gruppen hervor -mit der Folge, daß die „nationale Wiedergeburt“ der Völker in eine desintegrierende, auf die Zerstörung der bestehenden multiethnischen Staaten abzielende Richtung ging. An die Stelle der westeuropäischen Kongruenz von Staat und Nation entwickelte sich im Osten des Kontinents ein Kampf der sich als Nationen fühlender Völker gegen die multiethnischen Reiche.

Die Auflösung der drei in Frage gestellten Imperien -des Russischen und des Osmanischen Reiches sowie Österreich-Ungarns -nach dem Ersten Weltkrieg beendete den Konflikt nicht. Es entstanden sowohl neue Vielvölkerstaaten imperialen Charakters (Sowjetunion und Jugoslawien) als auch neue Mittel-und Kleinstaaten, die zwar nationalstaatliche Ansprüche erhoben, faktisch aber multiethnisch besiedelt waren und damit multinationalen Charakter trugen. Die nationalen Probleme der osteuropäischen Regionen hätten sichangesichts der vielen untrennbaren ethnischen Durchmischungen nur durch eine konsequente Trennung von Staat und Nation auf der Basis des Personalitätsprinzips lösen lassen -wenn die beteiligten Völker fähig und bereit gewesen wären, auf nationalstaatliche Ambitionen nach westeuropäischem Vorbild zu verzichten.

Hierin lag ein wesentlicher Teil der Schwierigkeiten. Die nationale Idee, die den Osten Europas von Westen her erreichte und mit westlichen Vorstellungen befrachtet war, widersprach den osteuropäischen Gegebenheiten. Die westlichen Vorstellungen eines einheitlichen, zentral gelenkten Nationalstaates, welche die westlich beeinflußten Intellektuellen in den östlichen Ländern des Kontinents übernahmen, paßte nicht zu dem dortigen ethnischen Nationsmodell. Die Grundlagen des westlichen Nationalstaates -eine bereits existente Kongruenz von Staat und Nation, die Definition der nationalen Zugehörigkeit nach territorialen Kriterien und die Nation als Gesamtheit der sich ohne Rücksicht auf ihre objektive Herkunft und Geprägtheit subjektiv zu ihr Bekennenden -fehlen im östlichen Teil des Kontinents.

Wenn man gleichwohl so tut, als wären diese Voraussetzungen vorhanden, indem man das darauf gegründete westliche Nationsmodell zu verwirklichen sucht, dann kann man dies nur auf die Weise tun, daß man die fehlenden Voraussetzungen mittels irgendwelcher Erzwingungsmaßnahmen gewaltsam nachschiebt. Gegen eine Verwirklichung des westlichen Nationsmodells spricht auch der Umstand, daß die eine nationalstaatliche Eigenexistenz beanspruchenden ethnischen Gruppen vielfach zu klein sind für die Errichtung eines separaten Gemeinwesens. Das westliche Modell erscheint gleichwohl weithin in Osteuropa als unbedingt anzustrebendes Ideal. Obwohl weder eine äußere Kongruenz des westlichen Nationsmodells mit der osteuropäischen Realität noch eine innere Kongruenz zwischen den einzelnen Elementen dieses Modells (insbesondere zwischen der personalen Definition der Nation und der territorialen Definition des mit ihr ineinsgesetzten Staates) vorhanden ist und obwohl das zugrunde gelegte Leitbild eines homogenen nationalen Territoriums in Osteuropa weithin Fiktion ist, wird fast überall daran festgehalten. Das Nationale wird gewöhnlich gemäß westeuropäischem Vorbild als gleichbedeutend mit Einheitlichkeit und Zentralismus verstanden, so daß jede Differenzierung zwischen Staat und Nation als mit den nationalen Loyalitätserfordernissen unvereinbar gilt.

Die jeweils staatsdominierenden Nationen neigen weithin dazu, sich in Staatsaufbau und Alltagspolitik mehr an Fiktionen der nationalen Geschlossenheit als an den multiethnischen Realitäten zu orientieren. Wenn Pöstulate der westlich-national-staatlichen Logik wie die Unzulässigkeit von -aus dem östlichen Personalitätsprinzip notwendig folgenden -Autonomieregelungen und Rechtszusicherungen aufgrund des Drucks der Realitäten tatsächlich einmal durchbrochen werden, kommen dann nur widerwillig gemachte Konzessionen heraus, so daß sich keine friedensstiftende Wirkung ergibt. Gerade diejenigen Maßnahmen also, die den tatsächlichen Verhältnissen angepaßt sind und Problemlösungen ermöglichen könnten, werden als Anomalien behandelt und in einen Gegensatz zur nationalen Sache gerückt. Die aus nationalen Motiven massenweise vorgenommenen Umsiedlungen, Verfolgungen, Vertreibungen und Tötungen während des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren sind ebenso wie die heutigen „ethnischen Säuberungen“ der Serben in Kroatien und Bosnien-Herzegowina die logische praktische Konsequenz aus jener Konfusion, die sich mit der Übertragung des westlichen Nationalstaatsmodells auf die andersartigen osteuropäischen Verhältnisse verbindet.

Es sollte darum nicht erstaunen, daß gegenwärtig nach Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft, welche die nationalen Probleme unter der verhüllenden Decke einer internationalistischen Phraseologie konserviert hatte und die mit ihrer Hinterlassenschaft ethnisch willkürlich gezogener Grenzen viele Streitigkeiten geradezu erst provoziert hat, nationale Konflikte und Konfrontationen in Osteuropa erneut offen ausbrechen. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Länder der Region angesichts des eingetretenen akuten Mangels an Werten und Impulsen gleichzeitig nicht auf die positiven Triebkräfte verzichten können, die der Nationalismus mobilisiert. Es gibt in den osteuropäischen Ländern auf absehbare Zeit kaum etwas, was breite Bevölkerungsschichten zu Akzeptanz von Staat und/oder Regime, zu politischem Engagement und zu wirtschaftlicher Leistung veranlassen könnte.

III. Verhältnis zwischen Ethnos, Nation und Staat

Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist eine Situation entstanden, in der die Kräfte der Autorität und des Beharrens entscheidend geschwächt sind. Grundlegende Veränderungen sind möglich geworden. Das gilt nicht nur im Blick auf die Herrschaftsverhältnisse und Gesellschaftsordnungen. Im ehemaligen Jugoslawien und in der früheren UdSSR werden Grenzen offen in Fragegestellt. Es geht zum einen um die -im Falle der Serben aller Welt offenkundige -Weigerung großer Teile der Führungsschichten in den bisher imperial herrschenden Völkern, den Verlust ihrer Rolle zu akzeptieren. Zum anderen werfen die Existenz von zwar bereits international anerkannten, aber innerlich noch nicht konsolidierten neuen Staaten sowie die Sezessionsbestrebungen in verschiedenen multiethnisch zerrissenen Staaten (wie Rußland und Georgien) Zusammenhaltsprobleme auf. Alle diese Auseinandersetzungen werden mit nationalstaatlichen Argumenten motiviert. Nationen fordern den ihren jeweiligen Vorstellungen entsprechenden Staat und berufen sich, soweit sie Änderungen des bestehenden Gebietsstandes im Auge haben, auf demographische, territoriale, rechtliche, historische und/oder andere Gegebenheiten. Wie weit hergeholt derartige Rechtfertigungen manchmal sind, zeigt der serbische Anspruch, daß der Nationalstaat alle Länder erfassen müsse, in denen es „serbische Gräber“ gebe. Das zielt insbesondere auf das Kosovo, das zwar im Mittelalter zum serbischen Reich gehörte, heute aber zu über 90 Prozent von Albanern bewohnt wird.

Auf der Grundlage der Vorstellung, daß jede osteuropäische Nation ihren eigenen exklusiven Staat im Sinne eines einheitlich gestalteten und zentral gelenkten Gemeinwesens möglichst aller Nationsangehörigen haben müsse, kann es nur zu heillosen Konflikten kommen. Es ist in jedem Falle eine Vielzahl von territorialen Abgrenzungen denkbar, die sich alle unter irgendeinem Gesichtspunkt als gerecht bezeichnen lassen. Desgleichen sind die Siedlungsgebiete der verschiedenen Völker so miteinander verzahnt, daß es bei jeder denkbaren Regelung „nationale Minderheiten“ geben muß, welche die staatsdominierende Nation dann als lästige oder sogar gefährliche Fremdkörper betrachtet. Ein anderes Resultat ist von vornherein nicht denkbar, wenn man in den ethnisch durchmischten Gebieten Osteuropas gemäß östlichem Personalitätsprinzip Ethnos und Nation gleichsetzt und gleichzeitig gemäß westlichem Territorialitätsprinzip für die jeweiligen Nationen einen einheitlichen und zentralisierten Staat fordert.

Auf tschechischem und polnischem Territorium hat das Problem durch die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg viel von seiner Schärfe verloren. In Ungarn ist die Frage kaum noch virulent, nachdem das Land 1919 fast alle ethnisch gemischten Gebiete an seine Nachbarn abgetreten hat und so auf seine Innenbezirke reduziert worden ist. Dagegen ist die Frage der ethnischen Abgrenzung überall in den Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawien brennend, wenn man einmal von Slowenien absieht. Das Serbien Miloevis hat daraus die Konsequenz gezogen, daß es die beanspruchten Territorien erobert, dort „ethnische Säuberungen“ vornimmt und die eigene Bevölkerung ansiedelt. Anderswo auf dem Balkan, insbesondere im rumänischen Siebenbürgen, sucht die staatsdominierende Nation ihre Positionen mit administrativen Maßnahmen auszubauen, welche die Entwicklungsmöglichkeiten der ethnisch andersartigen Staatsbürger beschneiden und sie zur verstärkten Anpassung an das herrschende Volk nötigen. Die Slowaken, die sich seit Bestehen des tschechoslowakischen Staates nie als wirklich gleichberechtigte Nation gefühlt haben, lösen sich aus der ungeliebten Föderation. Als benachteiligte Minderheit fühlen sich auch die Polen in Litauen. Das zentrale Problem in Lettland und Estland sind die Russen, die in sowjetischer Zeit zur Überfremdung dieser beiden kleinen Länder dorthin gebracht worden sind. Ihre Zahl ist so groß, daß Letten und Esten fürchten, nicht mehr Herren im eigenen Land zu sein, wenn sie die Russen an den politischen Angelegenheiten beteiligen würden

Die Russische Föderation ist in ihrer Integrität durch 25 Mio. Angehörige von mehr als hundert Ethnien potentiell gefährdet, die über einen sehr großen Teil des Landes verstreut sind und in verschiedenen, meist islamisch geprägten Regionen Unabhängigkeitsbestrebungen zu zeigen beginnen. Dem stehen mindestens 20 Millionen Russen im früher sowjetischen Ausland gegenüber, die -außer im Baltikum -vor allem in der Ukraine, in Moldova (das sich möglicherweise eines Tages mit Rumänien zusammenschließen wird) und in den zentralasiatischen Staaten leben. In den letzteren sind die Russen -und ebenso die anderen Europäer -zumindest latent von Verdrängungstendenzen der einheimischen Bevölkerung bedroht. In Moldova haben russische Armeeangehörige und Kosaken zur Bildung einer sezessionistischen „Republik Transnistrien“ beigetragen, die von Vertretern des russischen Bevölkerungsteils proklamiert worden ist.

Am unkompliziertesten erscheinen die ethnischen Verhältnisse in der Ukraine. Die -im östlichen Landesteil und auf der Krim in großer Überzahl befindlichen -russischen Einwohner haben sich ganz überwiegend für den ukrainischen Staat ausgesprochen und werden umgekehrt von den ukrainischen Behörden bisher nicht an der Pflege ihrer Kultur, ihrer Sprache und ihres Volksstums gehindert. Es gibt jedoch im Westen des Landes einen harten Kem von ukrainischen Nationalisten, dieauf eine chauvinistische Gangart dringen. Das freilich würde die Integrität und den Zusammenhalt des Landes in Gefahr bringen.

Dieser kurze Überblick, der die meisten Konflikte ungenannt läßt und nur auf besonders neuralgische Punkte hinweist, deutet Art und Größe des nationalen Problems im Osten Europas lediglich an (wobei die außereuropäischen Regionen der früheren UdSSR nicht berücksichtigt worden sind). Die knappe Liste der wichtigsten Konflikte mag aber verdeutlichen, welcher Flächenbrand ausbrechen würde, wenn die bestehenden nationalen Konflikte von den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion genauso wie im jugoslawischen Fall mit Waffengewalt ausgetragen werden sollten.

IV. Das imperiale Erbe

Zu dem allgemein-nationalen Faktor kommt bei den auseinandergebrochenen Reichen Sowjetunion und Jugoslawien als „imperiale Differenz“ noch der Gegensatz zwischen den Nationen hinzu, die in diesen Imperien bisher herrschend und beherrscht gewesen sind Die letzteren sehen sich nicht nur von kommunistischer, sondern auch von sowjetischer bzw. jugoslawischer Unterdrückung befreit. Russen und Serben -oder vielmehr deren staatstragende Führungsschichten -neigen dagegen weithin dazu, sich ihrer bisherigen Rolle beraubt zu fühlen. In Moskau empfinden viele Demokraten, die sich früher heftig gegen das alte Regime gewandt hatten, das Ende der UdSSR so sehr als einen Verlust, daß sie inzwischen zusammen mit gewendeten und sogar ungewendeten Kommunisten für ein so oder so neu zu errichtendes Reich eintreten. Am Anfang der serbischen Aggressionskriege stand die Hoffnung der Initiatoren, den alten großserbischen Staat Jugoslawien zurückholen zu können. Das heute verfolgte Ziel, ein territorial stark ausgeweitetes und ethnisch einheitliches Serbien zu schaffen, wurde erst später ersatzweise ins Auge gefaßt, nachdem deutlich geworden war, daß sich der jugoslawische Vielvölkerstaat nicht restaurieren ließ. Die Perspektive eines kleineren, dafür aber ethnisch homogenen Serbien soll dem einstigen Herrschaftsvolk auf andere Weise jene Bedeutung und jene Macht zurückgeben, die es früher hatte.

Während sich das serbische Vorgehen im einstigen Jugoslawien durch besondere Brutalitäten auszeichnet, würde ein Durchbruch der imperial-revisionistischen Tendenz in Rußland auch dann, wenn er sich in weniger grausigen Formen vollziehen sollte, auf jeden Fall eine international noch ungleich größere Bedeutung erlangen. Das Verhältnis der Zusammenarbeit und des Einverständnisses, das trotz aller Spannungen zwischen Moskau und den westlichen Ländern derzeit überwiegend besteht, würde sich nicht fortsetzen lassen. Denn die westlichen Länder würden sich wenigstens zu Ablehnung und Abscheu veranlaßt sehen, wenn sich die russische Seite auf einen Kurs der Gewaltanwendung gegen andere aus der früheren UdSSR hervorgegangene Staaten -etwa gegen die Ukraine und/oder die baltischen Länder -begeben sollte, und das würde-in Ruß-land nicht ohne Reaktion bleiben. Auch ohne antirussische Tendenzen im Westen sehen sich zumindest die radikaleren Kräfte der imperial-revisionistischen Gruppierung in Moskau bereits heute in einem grundlegenden Gegensatz zur westlichen Welt und verleihen ihren Vorstellungen offenen Ausdruck.

Die radikal imperial-revisionistischen „Nationalpatrioten“ betrachten die vielfachen ethnischen Konflikte in der früheren UdSSR, aus denen sich die Russische Föderation unter Jelzin so weit wie möglich herauszuhalten sucht, als zweckmäßige Instrumente für das Vorantreiben ihrer Ambitionen. So ist insbesondere von der Pflicht Moskaus die Rede, die bedrohten Rechte der Russen in den aus der einstigen Sowjetunion hervorgegangenen Staaten zu schützen -woraus sich dann ohne Mühe eine Notwendigkeit zur Intervention ableiten läßt, wenn dies angebracht erscheinen sollte. Auch mit ethnischen und/oder historischen Argumenten gerechtfertigte Forderungen nach Grenzänderung, etwa bezüglich der Halbinsel Krim, dienen ihren Urhebern vielfach. zur Verfolgung weiter gespannter Absichten. Des innenpolitischen Drucks ungeachtet, steuert Präsident Jelzin trotz aller Kontroversen, die er mit dem ukrainischen Präsidenten Krawtschuk aus-ficht, einen gemäßigten Kurs. Er ist daher, solange er über die notwendige Handlungsfreiheit verfügt, ein entscheidender Garant für die Eindämmung der imperial-revisionistischen Tendenz in Rußland. Insgesamt lautet die entscheidende Frage, ob Frieden und Einvernehmen zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine einigermaßen aufrechterhalten werden. Wäre dies nicht der Fall, würde die Lage in der früheren UdSSR und darüber hinaus bedrohlich werden.

Gerade an diesem Punkt jedoch liegen besondere psychologische Schwierigkeiten. In der russischen Intelligenzschicht ist die Vorstellung einer unauflöslichen nationalen und geschichtlichen Einheit mit den Ukrainern verbreitet. Die Verselbständigung des ukrainischen Staates erscheint daher weithin als ein Verrat an einem gemeinsamen Erbe, das von der Kiewer Rus’ im vormongolischen Mittelalter bis in die Gegenwart reicht. Als sehr schmerzhaft oder sogar als nicht hinnehmbar wird vielfach auch der Verlust der baltischen Länder empfunden, die seit dem frühen 18. Jahrhundert mit Rußland zusammengewachsen seien. Unproblematisch ist dagegen aus Moskauer Perspektive die Gemeinschaft mit Weißrußland (Belarus), das sich psychologisch noch nicht voll als Nation konstituiert hat und das zum Teil wegen fortbestehender gravierender Abhängigkeiten von Ruß-land, vor allem aber wegen des Strebens der alten Partei-und Staatsnomenklatura nach einem quasi-imperialen Rückhalt an Rußland (womit eine politische Isolierung und Entmachtung des aus Dissidentenkreisen stammenden Präsidenten Schuschkewitsch herbeigeführt wurde) 6, institutioneile Gemeinsamkeiten akzeptiert.

Das Auseinanderbrechen des früheren sowjetischen Imperiums steht in Parallele zu dem ersatz-losen Ende der beiden multiethnischen Imperien Osmanisches Reich und Österreich-Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg. Die Analogie macht deutlich, daß Reichsvölker, die ihre dominante Position verlieren, darauf in zweierlei Weise reagieren können. Die Türken beantworteten die Herausforderung damit, daß sie in ihrem Kerngebiet einen Nati institutioneile Gemeinsamkeiten akzeptiert.

Das Auseinanderbrechen des früheren sowjetischen Imperiums steht in Parallele zu dem ersatz-losen Ende der beiden multiethnischen Imperien Osmanisches Reich und Österreich-Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg. Die Analogie macht deutlich, daß Reichsvölker, die ihre dominante Position verlieren, darauf in zweierlei Weise reagieren können. Die Türken beantworteten die Herausforderung damit, daß sie in ihrem Kerngebiet einen Nationalstaat schufen und auf die früher reichsuntertanen Völker verzichteten. Österreicher und Ungarn dagegen fanden sich nicht mit der neuen Lage ab und suchten schließlich -zusammen mit dem ebenfalls revisionistischen Deutschland Hitlers -die Verhältnisse mit allen verfügbaren Mitteln wieder zu verändern.

Sowohl dieser Versuch, der in den Zweiten Weltkrieg mündete, als auch die Konflikte, welche die aus den beiden untergegangenen Imperien hervorgegangenen Staaten untereinander hatten, machen -ebenso wie die gewaltsame Wiedervereinigung des Russischen Reiches zur Sowjetunion in den Jahren des Bürgerkriegs und danach -deutlich, welche Konfrontationspotentiale beim Zusammenbruch von Imperien entstehen und wie wenig wahrscheinlich bei solchen Schwierigkeiten friedliche Austragungsmodalitäten sind, wenn keine besonderen Vorkehrungen getroffen werden.

V. Schlußfolgerungen

Die potentiell explosive Lage, die mit dem Nationalismus in Osteuropa einhergeht, ist vor allem auf zweierlei zurückzuführen: auf die Unstimmigkeit einer zugleich personal-ethniebezogenen und territorialen Definition des Nationalstaates und auf den Widerstreit zwischen den bisher imperial herrschenden und den bisher imperial beherrschten Nationen. In beiden Fällen müßte man sich entweder für das Territorialitäts-oder das Personalitätsprinzip mit jeweils allen daraus logisch folgenden Konsequenzen entscheiden, wenn es zu einer konsistenten, nicht von strukturell vorgegebenen Dauerkonflikten bestimmten Politik kommen soll. Eine Nation, die sich auf ethnischer Grundlage definiert und konstituiert, muß logischerweise das Personalitätsprinzip bei allen nationalen Fragen in einem multiethnischen Staat gelten lassen und einen Staat ohne Zentralisierung, mit Zwischengewalten und mit Gruppenrechten aufbauen 7. Ein Volk, das durch seine Dominanz ein Imperium getragen hat und das dann dieses Reich infolge nicht mehr durchgesetzten Zwanges verliert, wird zu einer Gefahr für die internationale Sicherheit, wenn es seine frühere Position mit allen Mitteln -einschließlich denen der militärischen Gewalt -wiederzugewinnen sucht. Im Interesse sowohl des Friedens zwischen den Staaten als auch der Entwicklung im eigenen Land sollte es sich zu einem Verzicht vergangener Herrschaftspositionen bereit finden und wie die Türken nach dem Ersten Weltkrieg die Wahl treffen, ohne imperiale Privilegien eine Nation unter anderen Nationen zu werden.

Es bleibt zu hoffen, daß die katastrophalen Folgen, die sowohl mit dem Scheitern der imperialen Restitutionsversuche Deutschlands in den Jahren 1933-1945 als auch mit den jahrzehntelang nach außen hin erfolgreichen Bemühungen der UdSSR um Restaurierung des Russischen Reiches verbunden waren, als Lehre der Geschichte beherzigt werden. In diesem Zusammenhang kommt es entscheidend darauf an, daß allen jetzigen und künftigen imperialen Revisionisten keine Hoffnung gelassen wird, ihre Ziele mit dem einzig aussichtsreichen Mittel, nämlich dem zerstörender Gewalt, erreichen zu können. Angesichts dessen ist es fatal, daß die aus Uneinigkeit und Unentschiedenheit resultierende westliche Handlungsschwäche im früheren Jugoslawien genau diese Botschaft bisher nicht vermittelt hat.

Die Schlüsse, die hinsichtlich der nationalen Probleme in Osteuropa zu ziehen sind, sind auch für Westeuropa relevant. Dabei geht es nicht darum, den westlichen Nationalstaaten Rezepte anzubieten. Vielmehr gilt es, die Implikationen zu berücksichtigen, die sich dort ergeben, wo die westeuropäischen Länder ihrerseits mit dem Problem der Multinationalität -nämlich in einem Verband oberhalb des klassischen Nationalstaates -konfrontiert sind: in der Europäischen Gemeinschaft. Das Modell des zentralistischen Nationalstaats, der alle Vorgänge von einem Ort aus steuern muß und daher keine intermediären Gewalten dulden kann, ist für einen multinationalen Zusammenschluß grundsätzlich ungeeignet. Der entscheidende Grund dafür ist darin zu sehen, daß sich die Europäer nicht als nationale europäische Einheit fühlen. Ihre Loyalität gilt bislang wesentlich dem eigenen Staat und Volk als der Nation, zu der man gehört, bevor man in einem größeren, nachrangigen Zusammenhang Europäer ist. Diese Einstellung ist unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten so lange berechtigt, wie sich der Wähler-wille nur in den einzelnen zur EG gehörenden Nationalstaaten politikbestimmend äußern kann. Das Empfinden der Europäer läßt es vorerst auch zweifelhaft erscheinen, ob sich an der primär nationalen Loyalitätsbindung Entscheidendes ändern würde, wenn man die EG-Institutionen mit einer überzeugenden demokratischen Legitimation versehen würde. Denn alle Indizien deuten darauf hin, daß in den westeuropäischen Ländern nur die Angehörigen der eigenen Nation als Mitglieder der Eigengruppe angesehen werden, von denen man eine -in der Politik immer wieder unvermeidlich werdende -Zurückweisung eigener Wünsche und Interessen zu akzeptieren bereit ist.

Nun mag es auf den ersten Blick so scheinen, als wenn der -trotz vieler Souveränitätsübertragungen auf die übernationale Gemeinschaft fortdauernde -Vorrang der nationalen Entscheidungszentren die Existenz einer zentralistischen EG von vornherein ausschlösse. Mit dem Bestehen der weiterhin viele Souveränitätsrechte wahrnehmenden Mitgliedstaaten kommt die Möglichkeit nicht in Betracht, daß die EG als ein einheitlicher Nationalstaat ohne intermediäre Gewalten fungiert. Das Problem stellt sich jedoch anders: Wie organisiert die EG Entscheidungsbildung und Maßnahmen-vollzug in denjenigen Bereichen, die in ihre Zuständigkeit fallen? Wird dieses Kriterium angelegt, zeigt sich, daß die EG-Strukturen in einem nicht unbeträchtlichen Maße von der Leitvorstellung einer quasi-nationalstaatlichen Einheitlichkeit bestimmt werden. Auch das neuerdings beschworene Subsidiaritätsprinzip ändert daran im praktischen Detail nur wenig. Der die EG verkörpernde und zusammenhaltende Kern der Gemeinschaft, die Kommission und die ihr nachgeordnete Bürokratie, sind nach den Prinzipien der Einheitlichkeit und des Zentralismus aufgebaut.

Nicht zufällig entzündet sich die jetzt zunehmend artikulierte Kritik an der EG weithin an diesem Tatbestand. Ein multinationaler Verband setzt sich auch dann, wenn es sich nicht um ein repressives Imperium, sondern um einen freien Zusammenschluß handelt, bei seinen Mitgliedern leicht dem Vorwurf einer fremdbestimmenden Einwirkung aus, wenn die Entscheidungen von einer übernationalen Zentrale „oben“ ohne nationale Teilnahme von „unten“ getroffen und dann vor Ort nach unterschiedslos zentral gehandhabten Maßstäben ausgeführt werden. Da die Nation im allgemeinen Bewußtsein der Westeuropäer nach wie vor die entscheidende Vorstellung ist, nach der Eigen-und Fremdgruppe definiert werden, sind mißliebige Entscheidungen einer ohne die ständige Einbeziehung der Gemeinschaftsmitglieder allein und zentral handelnden europäischen Zentrale von vornherein automatisch mit dem Verdacht belastet, die einer fremden Macht nach fremden Gesichtspunkten zu sein. Da sich der Einfluß der eigenen Nation in der Regel nicht vollständig, zuweilen auch überhaupt nicht durchsetzen kann, werden die getroffenen Maßnahmen dann als Ergebnisse fremder Einwirkung empfunden und rufen dementsprechende Ablehnung hervor.

Der weithin schlechte Ruf der „Brüsseler Bürokratie“ und der „selbstherrlichen Bürokraten“ hat in dieser Außerachtlassung einer wichtigen völker-psychologischen Gegebenheit ihren hauptsächlichen Grund. Nur soweit die Mitwirkung intermediärer Strukturen und der Verzicht auf zentralistische Undifferenziertheit in den Mitgliedsländern das Gefühl unmittelbarer Beteiligung der eigenen Gruppe schaffen, läßt sich das Gefühl Bürokratischer Fremdbestimmung vermeiden. Hinsichtlich der Empfindlichkeit, mit welcher der Eindruck quittiert wird, man unterliege außernationaler Fremdbestimmung, stehen die westeuropäischen Völker den neuen, ihre Emanzipation erlebenden Nationen im Osten des Kontinents kaum nach. Was in Westeuropa anders ist, ist vor allem die ständig praktizierte Aufeinander-Angewiesenheit, die seit langem eingeübte Kooperation, für die es weiter östlich bisher noch keine Entsprechung gibt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dies geht weithin zurück auf das politische Pathos der Französischen Revolution, die den Bürger als Teilhaber „seines“ nationalen Staates postulierte. Wie die Widerstände gegen den „einen und unteilbaren“ Nationalstaat in einigen besonders geprägten Regionen Frankreichs, Italiens, Spaniens und Großbritanniens zeigen, ist dieses Verständnis mittlerweile auch in Westeuropa nicht mehr völlig unumstritten.

  2. Damit kontrastiert besonders augenfällig die amerikanische Terminologie, in welcher der Bürger eines Staates ausdrücklich als „national“, also als Angehöriger der Staatsnation, bezeichnet wird.

  3. Vgl. Uri Ra’anan, Nation und Staat. Ordnung aus dem Chaos, in: Erich Fröschl/Maria Mesner/Uri Ra’anan (Hrsg.), Staat und Nation in multiethnischen Gesellschaften, Wien 1991, S. 23-59. Ra’anan kennt neben dem „westlichen“ und „östlichen“ Nationsmodell noch ein „südliches“, das sich von dem des Ostens im wesentlichen nur dadurch unterscheidet, daß sich die Nation primär aufgrund religiöser -statt ethnischer -Zugehörigkeit konstituiert.

  4. Einen Überblick über die Lage, wie sie sich in ihrer Entstehungsphase darstellte, vermittelt Magarditsch Hatschikjan, Osteuropa -ein nationalistischer Hexenkessel?, in: Außenpolitik, (1991) 3, S. 211-220.

  5. Eine interessante Darstellung der Frage unter dem Gesichtspunkt des -anhand der Parallelen zu entsprechenden Entwicklungen in Ländern der Dritten Welt nach deren Her-auslösung aus den westlichen Kolonialreichen analysierten -Kolonialismusproblems gibt Mir A. Ferdowsi, Blutige Kosten der Freiheit, in: Frankfurter Rundschau vom 17. 11. 1992.

  6. Vgl. Michael Ludwig, Kräfte von gestern warten auf ihre Stunde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 12. 1992.

Weitere Inhalte

Gerhard Wettig, Dr. phil., geb. 1934; Leiter des Forschungsbereichs Außen-und Sicherheitspolitik der osteuropäischen Länder am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: High Road, Low Road. Diplomacy and Public Action in Soviet Foreign Policy, Washington 1989; (Hrsg.) Die sowjetische Militärmacht und die Stabilität in Europa, Baden-Baden 1990; Changes in Soviet Policy Towards the West, London -Boulder 1991.