Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Rolle der Intellektuellen im Prozeß des osteuropäischen Systemwandels | APuZ 10/1993 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 10/1993 Die politischen Kulturen Ostmitteleuropas im Umbruch Die unvollendete Revolution in Osteuropa: Charakter und Ziele des politischen Umbruchs von 1989 Die Rolle der Intellektuellen im Prozeß des osteuropäischen Systemwandels Auswirkungen des Nationalismus in Osteuropa Die EG, die osteuropäische Herausforderung und die Sicherheit Europas

Die Rolle der Intellektuellen im Prozeß des osteuropäischen Systemwandels

Theo Stammen

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im deutlichen Unterschied zu Deutschland haben in den meisten ost-und südosteuropäischen Ländern die Intellektuellen (Schriftsteller, Künstler, Philosophen und Wissenschaftler) einen maßgeblichen Einfluß auf den Zusammenbruch des Sozialismus sowie auf die Neukonstituierung demokratischer Systeme ausgeübt. Am Beispiel Väclav Havels (ÖSSR), Adam Michniks (Polen) und György Konrads (Ungarn) werden die Subversion und die konstruktiven Aktivitäten und Wirkungen der osteuropäischen Intelligencija im Prozeß des Systemwandels aus den politischen Schriften belegt und interpretiert.

I. Einführung

Der ebenso unerwartete wie plötzlich-abrupte Zusammenbruch der sozialistischen Systeme des Ostblocks 1989/90, den wir als Zeitzeugen mit gebannter Aufmerksamkeit verfolgt haben und weiter verfolgen, kann hinsichtlich seiner entscheidenden Ursachen und Gründe nach wie vor keineswegs schon als hinreichend erklärt und begriffen gelten. Vielmehr wird man Albert O. Hirschman beipflichten müssen, wenn er feststellt: „Allein die Tatsache, daß sie (die Ereignisse des Umbruchs in Osteuropa -T. St.) für Zuschauer und Beteiligte völlig überraschend kamen, deutet darauf hin, daß unsere Fähigkeit, politische und soziale Veränderungen großen Ausmaßes zu verstehen, gänzlich unterentwickelt ist.“ So ist es auch nicht verwunderlich, daß noch heute -zwei Jahre nach der „Wende“ -in Wissenschaft und Publizistik keineswegs Konsens hinsichtlich der maßgeblichen Ursachen dieses universellen politischen Konkurses besteht; je nach Fachrichtung und Weltanschauung liegen für die einen die Gründe mehr im Ökonomischen, für die anderen eher im Politischen, während wieder andere sozialpsychologische Ursachen favorisieren. Man wird sich einerseits in dieser Situation hüten müssen, irgendeine monokausale Erklärung anzubieten, andererseits wird man nicht daran vorbeikommen, einer zahlenmäßig relativ kleinen sozialen Gruppe eine qualitativ hohe Bedeutung als aktivem Faktor in diesen politischen Umbrüchen zuzurechnen, und zwar den Intellektuellen bzw.der Intelligencija. Die These, die den nachfolgenden Erörterungen zugrunde liegt, lautet, daß den Intellektuellen als sozialer Gruppe eine maßgebliche Rolle und entsprechende Bedeutung im Prozeß des Systemwan-dels zukommt, daß diese Gruppe sowohl im Prozeß der Destabilisierung und Auflösung der alten, versteinerten sozialistischen Ordnungen als auch bei der Konzeptualisierung und Konstituierung neuer demokratischer Ordnungen in diesen Ländern eine bedeutende Wirkung erzielt hat und daher als ein maßgeblicher Faktor im osteuropäischen Umbruchsgeschehen gelten muß. Herauszuarbeiten ist, auf welche Weise und mit welchen Mitteln die Intellektuellen, die ja eigentlich nirgends als eine geschlossene und handlungsfähige Gruppe auftreten, diese doppelte Wirkung haben ausüben können.

Drei Beispiele aus drei verschiedenen Ländern sollen im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, anhand derer exemplarisch diese Doppelfunktion der Intellektuellen untersucht werden soll: 1. Adam Michnik für Polen, Vaclav Havel für die Tschechoslowakei und 3. György Konrad für Ungarn.

II. Intellektuelle und Politik

Vor der empirischen Analyse gilt es zunächst, kurz auf ein Problem einzugehen, dessen Nichtbeachtung oder Nichtlösung unseres Erachtens die wichtigste Ursache für die so häufig unbefriedigenden und letztlich fruchtlosen Erörterungen des Verhältnisses von Intellektuellen und Politik ist -auf die Frage nämlich, auf welcher Ebene der komplexen politischen Gesamtrealität eigentlich Politik und Intelligenz so überlagern, wo sie sich so „treffen“, daß sich daraus greifbare und weitreichende Interaktionen mit entsprechenden Folgen für beide Seiten ergeben können.

Die alten, vor allem in Deutschland nach wie vor wiederholten Klischees und Stereotypen vom Gegensatz oder Widerspruch von Geist und Macht, Intelligenz und Politik vermögen heute eigentlich nicht mehr so recht zu überzeugen 2; sie haben für die genauere Analyse und Interpretation dieser Verhältnisse und ihrer Auswirkungen nur eine sehr begrenzte Aussagefähigkeit bewiesen. Nicht zuletzt schon deswegen, weil dieser Ansatz nur zu oft mit der sachlich unbefriedigenden, aber angeblich unabänderlichen Antithese von (geistloser) Macht und Politik gegenüber (machtlosem) Geist arbeitet. Mit einer so groben These kann das problematische und oft auch widersprüchliche Verhältnis von Intelligenz und Politik aber nicht angemessen erfaßt, geschweige denn analytisch bearbeitet werden. Politik und Macht sind -wie ein Blick in Geschichte und Gegenwart leicht verrät -durchaus keineswegs natumotwendig „geistlos“, und der „Geist“ (was immer man im einzelnen darunter verstehen mag) ist auch nicht einfach „machtlos“. Es folgt aus einer derartig extremen Kontraposition von Geist und Politik kaum ein sachdienlicher Hinweis darauf, wie dann der (machtlose) Geist mit der (geistlosen) Macht in eine (wie immer geartete) Beziehung, auch in einen (wie auch immer gearteten) Diskurs, wird eintreten können.

Diese simple und wenig fruchtbare Antithese folgt schlicht aus einer völlig unzureichenden, weil viel zu kurz greifenden Beschreibung und Analyse der komplexen politischen Gesamtrealität und ihrer verschiedenen, aufeinander verweisenden und interagierenden Ebenen oder Dimensionen

In der Regel wird die politische Realität lediglich unter den Dimensionen der Handlungs-und der Institutionen-Realität wahrgenommen und bearbeitet. Eine bewußtseinsmäßige, mentale, „kulturelle“ oder „symbolische“ Realitätsdimension der Politik bleibt vielfach unberücksichtigt. Dabei ist leicht einzusehen, daß -wie für den Aufbau der sozialen Realität überhaupt -diese dritte Dimension, die Dimension des Bewußtseins oder besser: des politischen Wissens, für die politische Realität durchaus konstitutiv ist

Im Hinblick auf unser spezielles Thema bedeutet dies wesentlich, daß die „Intellektuellen“ Politik kritisch reflektieren auf der Ebene der politischen Wissensbestände, die für eine konkrete Gesellschaft konstitutiv (geworden) sind. Insofern man nun davon ausgehen kann, daß die politisch Herrschenden in der Regel ein Interesse an der Stabilität und Bewahrung der politischen Wissensbestände -als Legitimationsbasis ihrer Herrschaft -haben, die Intellektuellen aber durchweg zumindest eine Tendenz, diese Wissensbestände immer wieder kritisch in Frage zu stellen, und damit Destabilisierung und Delegitimierung politischer Herrschaft zugunsten neuer normativer politischer Ordnungskonzeptionen in Kauf zu nehmen bereit sind, kann man von einer „natürlichen“ Spannung zwischen Politik und Intelligenz ausgehen.

III. Intelligencija und Politik im osteuropäischen Systemwandel

Politische Herrschaftssysteme sind mithin nicht nur durch politisches Handeln und politische Institutionen, sondern wesentlich auch durch bestimmte, im historischen Prozeß gesellschaftlich entstandene und weitergegebene politische Wissensbestände konstituiert und werden durch dieses gemeinsame Wissen im Bewußtsein der Gesellschaftsmitglieder stabilisiert, die Gesellschaft als politisches Gemeinwesen so integriert. Die politische Identität eines Gemeinwesens wird wesentlich über diese gemeinsamen politischen Wissensbestände gebildet und garantiert.

Politische Wissensbestände sind -hinsichtlich ihrer Inhalte und Funktionen -nicht starr oder statisch, sondern unterliegen mehr oder weniger stetigen Veränderungen, die nicht zuletzt durch den kontinuierlichen historisch-politischen Erfahrungsprozeß der Gesellschaften in Gang gebracht und gehalten werden. Sie können indes auch -in Umbruchsituationen -in eine Krise geraten, in der sie verfallen und obsolet werden

Die Wissensbestände können natürlich auch -unter bestimmten politischen Herrschaftsformationen -erstarren und auf diesem Wege allmählich ihre eigentlichen Funktionen verlieren. In einer solchen Situation kann in einem politischen Gemeinwesen das Bedürfnis nach Veränderung oder gar Revolutionierung dieses politischen Wissens entstehen und sich politisch artikulieren. In solchen historischen Lagen finden dann die Intellektuellen ihre Stunde der Bewährung und der Wirkung, so in der gesellschaftlichen Produktion und Artikulation (neuen) kritischen politischen Wissens, durch das sich das alte, erstarrte und so nicht eigentlich mehr produktive politische Wissen in Frage gestellt sehen muß.

Ein für die politische Herrschaftsstabilisierung und -durchsetzung wichtiges Verfahren ist die Absicherung bestimmter Wissenssorten und -inhalte durchKanonisierung und durch Zensur. Kanonbildung und Zensur gehören als Verfahren eng zusammen und bedingen sich wechselseitig. Mit den durch dogmatisierten Kanon und rigide Zensur systematisch geschützten Wissensbeständen kann eine Gesellschaft -wegen des erfahrungsverweigernden Charakters solcher dogmatisierter Wissens-systeme -nicht lange bestehen; die Erfahrungsverweigerung beeinträchtigt und unterbindet auf längere Sicht das auf Wahrheit und Einsicht beruhende Wechselverhältnis zur Umwelt mehr und mehr; die soziale und politische Evolution politischer Gemeinwesen wird dadurch blockiert; es kommt zu pathologischen Zuständen der Gesellschaft; sie verliert ihre Fähigkeit der Anpassung und Differenzierung der Systemstrukturen, speziell der Informations-und Kommunikationsstrukturen, an sich verändernde Umwelten -mit dem schließlichen Effekt des Systemzusammenbruchs. Hier liegt eine der wichtigsten Ursachen für den überraschenden Zusammenbruch der einzelnen sozialistischen Staaten und des internationalen Systems des Sozialismus nach sowjetischem Modell.

Aus dieser historisch-konkreten Situation stellten sich zwei Aufgaben für die Intelligencija: 1. die verhärteten und unbrauchbar gewordenen, ideologisch-dogmatischen politischen Wissensbestände in diesen Gesellschaften zu überwinden; 2. für den Aufbau einer neuen offenen und pluralistischen Zivilgesellschaft das erforderliche neue Wissen zu produzieren und zu distribuieren.

In den ehemaligen sozialistischen Ländern in Ost-und Südosteuropa kann man beobachten, wie -allerdings in deutlich unterschiedlicher Weise und Intensität -die Intellektuellen versucht haben, diese beiden Aufgaben wahrzunehmen und so eine neue Ära der bürgerlich verantwortlichen Politik und der Demokratiegründung einzuleiten.

IV. Intellektuelle und Subversion

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Intellektuellen in den verschiedenen osteuropäischen Ländern, besonders in Polen, Ungarn und der SFR, in der Vorbereitungsphase der „Wende“ oder der „samtenen Revolution“ durch die argumentative Infragestellung und Kritik der sozialistischen Systeme für deren Destabilisierung und Delegitimierung eine herausragende und bleibende Leistung erbracht haben. Dies vor allem durch die Wahrnehmung zweier verschiedener, untereinander indes verbundener und sich ergänzender Aktivitäten: einmal durch eine präzise zeitkritische Analyse der bestehenden politischen Verhältnisse und der kritischen Reflexion ihrer Ordnungsproblematik; zum anderen durch die penetrierende Erneuerung des politischen Diskurses über die Ideen und Werte der „Civil Society“ („Bürgergesellschaft“) oder „offenen Republik“ Die Ausübung dieser beiden intellektuellen Tätigkeiten verhielt sich gegenüber den noch bestehenden realsozialistischen Systemen notwendig „subversiv“; insofern es sich speziell bei der Rezeption und Reflexion dieser politischen Ideen und Wertvorstellungen, deren Herkunft aus der Tradition der westeuropäischen Aufklärung unverkennbar ist, um eine stark philosophisch-ideengeschichtliche Unternehmung handelte, konnten sich die Intellektuellen in doppelter Weise dieser Dinge annehmen: einmal als Gegenstand und Thema intellektueller Diskussionen, zum anderen als konkrete und aktuelle Aufgabe und Verpflichtung. Es ist durchaus bemerkenswert, daß in den genannten Ländern sich im Jahrzehnt vor der „Wende“ das öffentliche intellektuelle Engagement zunehmend intensiver auf die Idee der „Bürgergesellschaft“ konzentrierte: als einer „regulativen Idee“ (im Verständnis Kants), an der sich praktisch-politische Vernunft und Urteilskraft, aber auch politische Praxis, zu orientieren habe, um dem erfahrenen akuten Mangel an diesen Ideen im System des realexistierenden Sozialismus abzuhelfen.

Adam Michnik in Polen, Väclav Havel in der ÖSSR und György Konrad in Ungarn haben in ihren politischen Essays (aus der Zeit vor der „Wende“) diese Ausgangsposition und die Rahmenbedingungen der „Civil Society“ in ihren Ländern zeitkritisch analysiert und sie auf diese Weise auch für das westliche Ausland plausibel gemacht. Entscheidende Voraussetzung dafür, daß es in Osteuropa nirgends eine „Bürgergesellschaft“ gab, war die Tatsache, daß die sozialistischen Regime überall die Gesellschaft zum reinen Objekt in den Händen von Staatsapparat und Partei degradiert und alle echten Partizipationschancen ausgeschaltet hatten. Entsprechend gab es nirgends Formen und Einrichtungen politischer Öffentlichkeit, durch die sich die Gesellschaft unabhängig und frei hinsichtlich ihrer politischen Ideen und Interessen hätte artikulieren können. György Konrad hat in seinem für die Diagnose und Therapie derartiger Zustände gleichermaßen wichtigen Buch „Antipolitik-Mitteleuropäische Meditationen“ den Gegenstand von „offizieller (durch die Interventionen von Partei, Staat und Zensur) funktionsloser Öffentlichkeit“ und aus privaten Kommunikationsformen sich entwickelnder, politisch-kritischer „Gegen-“ oder „Anti-Öffentlichkeit“ als wichtigesElement im Kontext einer umfassenden intellektuellen „Antipolitik“ analysiert. In dem Essay „Wir haben eine Demokratie -untereinander“ charakterisiert er zunächst den Zustand der Gesellschaft unter dem Sozialismus: „Wenn es keinerlei Selbstverwaltung gibt, wird die Gesellschaft unbeholfen. Sie unternimmt nichts ohne Anweisung, doch selbst auf die Anweisung reagiert sie mit Trägheit.“ Unter diesen Bedingungen ist „die Forderung nach (gesellschaftlicher) Selbstverwaltung ... das organisatorische Zentrum der mitteleuropäischen Ideologie“, die Konrad als oppositioneller Intellektueller vertritt

Die Herstellung einer solchen „Selbstverwaltung“ der Gesellschaft ist schwierig; es bedarf dazu einer vorsichtigen Aufbaustrategie, die zugleich eine Strategie der Subversion des alten Regimes mit seinen Mechanismen der Repression und Zensur ist. „Die aus der Öffentlichkeit verdrängte Meinung hat sich in das Medium der Unterhaltungen verlagert, vom Massen-in den persönlichen Bereich. Gerade diese intime und lebendige mündliche Überlieferung unserer Kultur verleiht ihr den ursprünglichen Charakter. Die Vorschläge und Mißbilligungen der offiziellen Propaganda werden von der Öffentlichkeit von vornherein mit Argwohn aufgenommen, weil es keinen legalen Gegenvorschlag und keine legale Mißbilligung gibt... Im unkontrollierten Meer der Privatgespräche nimmt unser eigenes Wertsystem Gestalt an; es ist mit dem staatlichen Wertsystem nicht identisch... Da die Öffentlichkeit der Publikumsorgane und der Sitzungssäle unter politischer Zensur steht, ist das Netzwerk der Freunde in Osteuropa die Vermittlungssphäre der spontanen Öffentlichkeit.“

Die hier beschriebene und geforderte Entstehung und Ausdehnung einer politischen Gegenöffentlichkeit und eines neuen politischen Diskurses der „Antipolitik“, d. h. eines gegen die offizielle Politik und gegen die offizielle politische Öffentlichkeit gerichteten politischen Diskurses in der Gesellschaft, die auf diese Weise allmählich wieder zu einer aktiven Gesellschaft werden soll, ist die notwendige Voraussetzungund Durchgangsstufe auf dem Wege zu einer „Civil Society“. Ziel ist eine bürgerliche Gesellschaft, die sich aus ihrer reinen Objekt-Situation befreit und sich eine Subjekt-Position in Öffentlichkeit und Politik zurückgewinnt, von der her sie an der Gestaltung der Politik und politischer Öffentlichkeit aktiv partizipieren und mitgestalten kann und dadurch das erreicht, was Konrad als „Selbstverwaltung“ bezeichnet. Kommunikationstheoretisch interpretiert heißt das: Die wachsende „Wortergreifung“ und Einmischung der gesellschaftlichen Gruppen, zuerst in privaten, dann in verschiedenen gesellschaftlichen Lebensformen, in den bisher von der herrschenden Partei-und Staatsmacht monopolisierten offiziellen politischen Kommunikationsprozeß wirkt subversiv auf diese Kommunikationsstrukturen. Die Einmischung und Wortergreifung haben auf längere Sicht einen wichtigen aktiven Anteil am politischen Diskurs für die bürgerliche Gesellschaft.

Bedeutsam für die konkrete politische Arbeit der Intellektuellen in den sozialistischen Ländern vor der „Wende“ war, daß diese universalistischen Ideen, wie sie die Grundlage für die „Civil Society“ bilden, in entscheidender Weise durch die „Helsinki-Akte“ der KSZE (1975) neu in den politischen Gedankenkreis der osteuropäischen Intellektuellen traten. Durch die Menschenrechts-Erklärungen von Helsinki, die ja auch von den sozialistischen Regierungen Osteuropas, an der Spitze die Sowjetunion, unterschrieben worden waren, gewannen die Intellektuellen eine zusätzliche wichtige Legitimation für ihren innenpolitischen Kampf gegen die freiheitsfeindlichen Regime des sozialistischen Totalitarismus. So erklärt sich das Entstehen von „Helsinki-Komitees“ nach 1975 überall in den sozialistischen Staaten -man denke an die Initiativen von Sacharov in der Sowjetunion oder an die Gründung der „Charta 77“ in der ÖSSR, an der V. Havel als Gründungsmitglied und wichtiger, aktiver Repräsentant maßgeblich beteiligt war und die sich erst im November 1992 selbst aufgelöst hat, nachdem sie ihre selbstgesteckten Ziele und Zwecke erreicht hatte.

Den Prozeß der von den Intellektuellen angeregten und maßgeblich bestimmten „Civil Society“, wie ihn György Konrad für Ungarn beschrieben hat haben Adam Michnik und Vaclav Havel für Polen und die CSSR auf durchaus vergleichbare Weise analysiert. In Adam Michniks Buch „Der lange Abschied vom Kommunismus“ ist der einleitende Teil mit dem bezeichnenden Titel „Rückkehr der Politik“ überschrieben; er führt aus, daß der „Abschied vom Kommunismus“ die notwendige Voraussetzung für die „Rückkehr der Politik“ sei.

Auch in Polen galt es, zuerst eine „Gegenöffentlichkeit“ aufzubauen; dazu bedurfte es Menschen, „die Tag für Tag in der menschlichen Begegnung, im Kreise von Kollegen und Freunden eine nichtformale Welt schufen, eine Welt, in der kein Platz war für kommunistische Doktrinen, Routine und Gepflogenheiten“.„Das war unser zweites Leben. Wir lebten ... im Versteck. Dort waren wir wir selbst“. Michnik beschreibt den Prozeß des „Erwachens“: „Diese Menschen erwachten nicht, weil sie plötzlich die Wahrheit über den Kommunismus entdeckten; sie wußten um die Wahrheit, sie erwachten, weil sie allmählich Hoffnung schöpften -Hoffnung, daß sie vielleicht doch etwas ausrichten könnten und womöglich imstande seien, ihr eigenes Schicksal zu verbessern und der kommunistischen Diktatur entgegenzusetzen.“ So ist dieser „Prozeß des Erwachens“ auch für die intellektuellen Dissidenten in Polen eine Subversion des Sozialismus; er setzte „zugleich einen Erosionsprozeß des Systems in Gang“. Das sozialistische System erschien zwar noch als „omnipotent und von ewiger Dauer, und doch höhlte der stete Tropfen des Widerspruchs den Stein der Diktatur. Der Kommunismus bekam Risse“ -unter anderem durch die subversiv aufklärerische Tätigkeit der dissidierenden Intellektuellen

Auf besonders eindrucksvolle Weise hat Väclav Havel Anfänge und Entfaltung der „Bürgergesellschaft“ in der SSR analysiert -einmal in dem großen Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ und „Am Anfang war das Wort“; dort vor allem in dem „Offenen Brief an Gustäv Husäk“

Der „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ dient dem doppelten Zweck: einmal „das Wesen der Macht“ im sozialistischen System, zum andern (darauf bezogen) die Phänomene „Dissidententum“ und „Opposition“ zu erklären: „Mit der Absage an seinen eigenen Verstand, sein Gewissen und seine Verantwortung“ wird das System als „System der Lüge“ entlarvt. Die Ideologie als ein Denksystem der Erfahrungs-und Wahrheitsverweigerung „verdeckt den Abgrund zwischen den Intentionen des Systems und den Intentionen des Lebens“. So wird das Leben in diesem System „von einem Gewebe der Heuchelei und Lüge durchsetzt: Die Macht der Bürokratie wird Macht des Volkes genannt; im Namen der Arbeiterklasse wird versklavt; die allumfassende Demütigung des Menschen wird für seine definitive Befreiung ausgegeben; Isolierung von der Information wird für den Zugang zur Information ausgegeben; die Manipulierung durch die Macht nennt sich öffentliche Kontrolle der Macht, und die Willkür nennt sich die Einhaltung der Rechtsordnung; die Unterdrükkung der Kultur wird als ihre Entwicklung gepriesen ...“. Zwar müsse der Mensch nicht alle diese Mystifikationen gleichzeitig für sich akzeptieren; er müsse sich aber so benehmen, als ob er an sie glaube, er müsse sie zumindest schweigend tolerieren oder sich wenigstens gut mit denen stellen, die mit Mystifikationen operieren. „Schon deshalb muß er aber in Lüge leben. Er muß die Lüge nicht akzeptieren. Es reicht, daß er das Leben mit ihr und in ihr akzeptiert. Schon damit nämlich bestätigt er das System, erfüllt es, macht es -er ist das System.“

Die entscheidende subversive Tat des Dissidenten im „System der Lüge“ ist für Havel die, aus dem „Leben in Lüge“ auszutreten, das eingeübte Ritual abzulehnen und die „Spielregeln“ des Systems der Lüge bewußt zu durchbrechen und zu verletzen. Diese Tat, die Havel in den verschiedenen Schritten experimentell vorführt, hat -so sie gelingt -den doppelten Effekt: Der, der sie ausführt, wird einmal seine unterdrückte und schon verlorene Identität und Würde wiederfinden und die Chance gewinnen, seine Freiheit zu gewinnen. „Seine Rebellion wird ein Versuch um das Leben in Wahrheit sein.“ Zum anderen hat er zugleich etwas „unvergleichlich Gewichtigeres“ getan: Dadurch, daß er die „Spielregeln“ verletzte, hat er das Spiel als solches abgeschafft. Er hat entlarvt, daß es nur ein Spiel ist. Er hat die Welt des „Scheins“ zerstört, die Grundlage des Systems; er hat die Machtstrukturen dadurch verletzt, daß er ihre Bindungen durchlöchert hat; er zeigte, daß das „Leben in Lüge“ ein „Leben in Lüge ist“.

Wichtig für Havel ist, daß der Dissident durch seine Tat im Grunde die ganze Welt angesprochen und jedem ermöglicht hat, „hinter die Kulissen zu schauen“; er hat jedem gezeigt, daß man in der Wahrheit leben kann. „Leben in Lüge“ kann als konstitutive Stütze des Systems nur unter der Voraussetzung seiner eigenen Universalität fungieren; es muß alles umfassen und alles durchdringen. Es verträgt keinerlei Koexistenz mit dem „Leben in Wahrheit“. Entscheidend ist: „Durch jedes Heraustreten aus dem , Leben in Lüge wird es als Prinzip negiert und als Ganzes bedroht.“ Insofern löst dieser Versuch, in der Wahrheit zu leben, eine befreiende Dynamik aus, die zur Begründung der „Civil Society“ wird. Denn: „Die besondere, explosive und unberechenbare politische Macht des , Lebens in Wahrheit besteht darin, daß das offene , Leben in Wahrheit einen zwar unsichtbaren, dabei aber allgegenwärtigen Verbündeten hat -eben die , verborgene Sphäre. Aus ihr nämlich wächst das , Leben in Wahrheit . Sie spricht es an, in ihr findet es Verständnis. Dort liegt der Raum für eine potentielle Anteilnahme am Leben in Wahrheit.“ Dieser Raum ist freilich verborgen und deshalb vom Standpunkt der Macht aus sehr gefährlich, weil er auf längere Sicht das Regime erschüttert. Väclav Havel bietet nicht nur eine zeitkritische Diagnose des politischen Systems des Sozialismus als „System der Lüge“, sondern er geht auch der anthropologischen Krise nach, die das „Leben in Lüge“ unweigerlich auf die Dauer auslöst. So spricht er von einer „tiefen Krise der menschlichen Identität, die das , Leben in Lüge'bewirkt“, und die sich als „tiefe moralische Krise der Gesellschaft“ auswirke. Der Mensch im „System der Lüge“ werde unweigerlich zu einem demoralisierten Menschen. „Das System der Lüge stützt sich auf diese Demoralisierung des Menschen, es vertieft sie noch.“ Demgegenüber stellt der Weg, in der Wahrheit zu leben „als Rebellion des Menschen gegen die ihm aufgezwungene Position, den Versuch dar“, wieder die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen; es ist also ein deutlich moralischer Akt. Nicht nur deshalb, weil der Mensch dafür so teuer zahlen muß, sondern vor allem deshalb, weil er uneigennützig ist: Dieser Akt kann sich sozusagen „lohnen“, indem er zur allgemeinen Besserung des Verhältnisses führt. Da das „Leben in Wahrheit“ in den posttotalitären Systemen zum Hauptnährboden jeglicher unabhängigen und alternativen Politik wurde, müßten alle Überlegungen über den Charakter und über die Perspektive dieser Politik zwangsläufig auch diese seine moralische Dimension als politisches Phänomen reflektieren.

V. Havel gelangt mithin zu einer ähnlichen zeitkritischen Diagnose wie G. Konrad und A. Michnik. Die erste Feststellung, die er trifft, ist, daß „in den Gesellschaften des posttotalitären Systems ... jegliches politische Leben im traditionellen Sinn des Wortes ausgerottet ist“. Die Menschen hätten dort keine Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern, geschweige denn, sich politisch zu organisieren. Die Lücke, die dadurch entstehe, werde voll mit dem ideologischen Ritual gestopft. Das Interesse der Menschen für politische Angelegenheiten werde in dieser Situation selbstverständlich geringer. Das unabhängige politische Denken und die politische Arbeit, falls so etwas in irgendeiner Art überhaupt existiere, komme den meisten Menschen irreal und abstrakt vor, als Spiel um des Spiels willen, das ihren harten alltäglichen Sorgen hoffnungslos fern stehe. Im Kontext dieser desolaten Verhältnisse nimmt V. Havel gleichwohl vereinzelt und zerstreut einzelne und Gruppen wahr, „die auf die Politik, als auf ihre Lebensaufgabe, nicht verzichten“ wollen, „die versuchen, auf diese oder jene Art politisch unabhängig zu denken, sich zu äußern und eventuell auch zu organisieren“ -denn eben dies gehöre zu ihrem „Leben in Wahrheit“.

Die Existenz solcher einzelner oder Gruppen ist für Havel ein wichtiges Indiz für die verborgene Möglichkeit in dieser Gesellschaft, sich politisch zu reaktivieren. Sie „erhalten auch in den schlimmsten Zeiten die Kontinuität des politischen Denkens aufrecht. Wenn irgendeine reale politische Strömung, die aus diesen oder jenen . vorpolitischen Konfrontationen (mit dem System) entstand, anfängt, sich selbst schnell und effektiv politisch zu reflektieren, und somit ihre Chancen auf einen relativen Erfolg verbessert, ist es oft ein Verdienst eben dieser vereinsamten , Generale ohne Armee. Sie haben, trotz aller schweren Opfer, die Kontinuität des politischen Denkens (im Untergrund und , Versteck*) erhalten und die Bürgerinitiative oder Bewegung, die daraus entstand, im richtigen Moment um das Element der politischen Selbstreflexion bereichert -so die Dissidenten und Anhänger der . Charta 77 in der ÖSSR.“

Bemerkenswert ist, daß diese kritische Analyse der Situation und die Aufgabenbestimmung für die Oppositionellen und Dissidenten aus dem Jahr 1978 stammt. Das wirft auch ein Licht auf den persönlichen Mut V. Havels und erklärt, daß das Regime Husäks diesen aufsässigen Schriftsteller und Theaterautor mehrfach ins Gefängnis warf. Eher noch eindringlicher und mutiger ist der „Offene Brief“ an Gustav Husäk vom April 1975, also vor Gründung der „Charta 77“

In der zeitkritischen Diagnose unterscheidet sich dieser Text wenig vom vorher analysierten; bemerkenswert ist aber die Tatsache, daß Havel (bereits) hier der Kultur und Kulturarbeit (etwa der Schriftsteller, Theatermacher etc.) eine maßgebliche, verantwortliche Rolle in dem Prozeß des „Sichselbstbewußtwerdens einer Gesellschaft“ beimaß. Für Havel ist sie „das Hauptinstrument dieses Prozesses des Sichselbstbewußtwerdens“. Er versteht unter Kultur dabei jenes konkrete „Gebiet menschlicher Tätigkeit, die den allgemeinen Zustand des Geistes beeinflußt -wenn auch oft sehr indirekt -und zugleich von diesem Zustand ständig beeinflußt wird“. Durch die Kultur vertiefe die Gesellschaft ihre Freiheit und entdecke die Wahrheit. Das sozialistische System habe aus eben diesen Gründen die gegenwärtige Kultur „verwüstet“ und zu einer Kultur der Banalität verkommen lassen; es habe der Kultur die Aufgabe auferlegt, „nicht durch die Wahrheit zu beunruhigen, sondern durch Lüge zu beruhigen“. Diese Veräußerlichung der Kultur habe ihre weitgehende Entfremdung von ihrem eigenen Wesen bewirkt: „durch ihre totale Kastrierung eben als Instrument des menschlichen als auch des gesellschaftlichen Sichselbstbewußtwerdens".

Die offizielle parteiliche oder staatliche Kulturpolitik entpuppt sich mithin als „die Liquidierung eines bestimmten Selbsterkenntnisorgans der Gesellschaft“. Dadurch entsteht die Frage: „Wie groß wird morgen die geistige und moralische Impotenz der Nation sein, deren Kultur man heute kastriert?“ Wenn unterstellt wird, daß die Kultur (Literatur, Theater, Kunst, aber auch Philosophie und Wissenschaft) das „Hauptinstrument dieser Prozesse des Sichselbstbewußtwerdens einer Gesellschaft“ in der Wahrheit ist, hat sie (die Kultur) einen entsprechend hohen Stellenwert im Kontext der Befreiung und Erneuerung der Gesellschaft als „Civil Society“. Denn: „Durch die Kultur vertieft die Gesellschaft ihre Freiheit und entdeckt die Wahrheit.“ Gelingt es, der Kultur in ihren verschiedenen Erscheinungsformen diese gesellschaftliche Funktion zurückzugeben -auch nur in einem oder wenigen Werken -, so bedeutet das viel. Denn „der Freiraum des geistigen Sichselbstbewußtwerdens ist unteilbar“! Auch einzelne kulturelle Aktivitäten wirken sich aufs Ganze aus. Diese allgemein gemeinten Sätze lesen sich zugleich auch wie eine gesellschaftspolitische Dramaturgie des Theatermachers und Stückeschreibers Havel. Auch seine literarischen, dramatischen und politischen Tätigkeiten sind unteilbar in ihrer Intention, den Versuch, in der Wahrheit zu leben, in seinem Heimatland wieder möglich zu machen.

V. Das politische Ordnungskonzept der „Civil Society“

Die bisher vorgetragenen Gedanken von Michnik, Konrad und Havel kreisen alle um dasselbe doppelte Problem: einmal um die zeitkritische Analyse der späten („posttotalitären“) sozialistischen Regime in Osteuropa; zum andern um die Reaktivierung der durch den Sozialismus zerstörten Gesellschaften zu einer aktiven „Bürgergesellschaft“, die nicht mehr Objekt, sondern wieder Subjekt der Politik ist; um die Erörterungen der Bedingungen der Möglichkeit eines neuen politischen „Lebens in der Wahrheit“.

Es kommt jetzt abschließend noch darauf an, die zitierten Texte der oppositionellen Autoren nach inhaltlichen Aussagen über ihre konstruktiven politischen Ordnungsvorstellungen der „Civil Society“ durchzugehen und im Zusammenhang zu interpretieren. .

Die Idee der „Civil Society“ oder „Bürgergesellschaft“ enthält zwei zentrale, dezidierte Stellungnahmen: Die eine betrifft das Verhältnis „Bürger“ (als dem Subjekt der Bürgergesellschaft und Inhaber vorstaatlicher Menschenrechte) und „Staat“ (als dem Zentrum politischer Herrschaft und Entscheidung). Auf eine handliche Formel gebracht lautet diese Positionsbestimmung: „Der Mensch ist nicht für den Staat, sondern der Staat ist für den Menschen da.“

Die politische Bedeutung eines so simplen Satzes wird erst vor dem Hintergrund der totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, der Erfahrungen mit Faschismus und Nationalsozialismus in Italien und Deutschland sowie mit dem Kommunismus in der Sowjetunion und den sozialistischen Ländern Osteuropas, verständlich. Daher wurde sie auch von den oppositionellen Intellektuellen überall in Osteuropa aufgegriffen. Die Erfahrungen totalitärer Regime hatten überall klargemacht, daß diese plausible normative Feststellung der Funktionalität des Staates in bezug auf die bürgerliche Gesellschaft und den Bürger als autonomes Subjekt und Vernunftwesen, wie sie im 17. Jahrhundert von Locke in England und im 18. Jahrhundert auf dem europäischen Kontinent von Montesquieu und Kant philosophisch begründet worden war, auch als Leitidee beim Neubau republikanischer Verfassungsstaaten nach dem Ende des totalitären Sozialismus weiterhin Geltung hat.

Die zweite inhaltliche Stellungnahme zur Idee der „Civil Society“ bezieht sich auf die Staatsorganisation und die sie tragenden Prinzipien des Verfassungsstaates: Republiks-, Demokratie-und Rechtsstaatsprinzip. Die Erfahrungen des realexistierenden Sozialismus in den osteuropäischen Ländern belegen, daß das Fehlen und Mißachten dieser normativen Grundsätze der Staatsorganisation nicht nur den Verfassungsstaat als gewalten-teilende und gewaltenkontrollierende Orgänisationsform politischer Macht zerstören und politische Macht totalitär werden lassen, sondern zugleich auch die individuelle bürgerliche Freiheit aufheben, ja vernichten. Die meisten Intellektuellen hatten diesen Mechanismus am eigenen Leib erfahren -durch Verfolgung, Unterdrükkung, Inhaftierung. Entsprechend besteht eine Hauptfunktion der Idee der „Civil Society“ darin, den Staat als Instrument gesamtgesellschaftlich verbindlicher politischer Entscheidungsfindung neu zu konstituieren: auf der normativen Basis des Republiks-, Rechtsstaats-und Demokratieprinzips und ihn (den Staat) so von Seiten einer aktiv gewordenen bürgerlichen Gesellschaft bestimmbar, kontrollierbar und partizipierbar zu machen und zu halten. Darauf richtete sich das Bemühen der intellektuellen Vertreter in der Opposition gegen den noch bestehenden Sozialismus, das war auch die Grundlage für ihre leitenden und inspirierenden Aktivitäten im Kontext der Bürgerbewegungen und in den Auseinandersetzungen mit der alten Staats-und Parteimacht an dem sogenannten „runden Tisch“. An ihm wurde der friedliche Übergang der Staatsmacht von einer monopolistischen Partei an eine pluralistische Gesellschaft und der Wandel von einem totalitären Herrschaftssystem ohne Bürger-rechte zu einer rechtsstaatlichen Demokratie auf der Basis politischer Bürgerrechte und demokratischer Partizipation vollzogen. Es kann in diesen Ländern kein Zweifel darüber aufkommen, daß für das Gelingen der „samtenen Revolution“ und Systemwende, für die ersten Schritte auf dem Wege zu einer Demokratisierung der politischen Systeme und der Gesellschaften und für den konstruktiven Entwurf neuer Verfassungsordnungen oppositionelle Intellektuelle wie Adam Michnik, György Konrad und Vaclav Havel bleibende Verdienste beim demokratischen Wiederaufbau ihrer Länder erworben haben.

VI. Intellektuelle und Politik hach der Wende in Osteuropa

Zum Jahreswechsel 1992/93 hat sich die politische Stimmung grundlegend ins Negative und Düstere gewandelt: Ethnische und nationale Konflikte, Bürgerkriege in Europa und anderswo oder auch extreme wirtschaftliche Notlagen nie geahnten Ausmaßes beherrschen die Wirklichkeit und das aktuelle Denken; sie bestimmen die Politik -auch in den westlichen Staaten, besonders aber in den Nachfolgestaaten des realen Sozialismus, in denen die politische, soziale und ökonomische Konsolidierung große Schwierigkeiten macht und entsprechende Krisen die Tagespolitik beherrschen -ohne Aussichten auf Bewältigung in naher Zukunft. Die während der „Wende“ im Vordergrund der politischen Diskussionen der oppositionellen Intellektuellen stehende Idee bzw. das Konzept der „Bürgergesellschaft“ (Civil Society) scheint vergessen. Angesichts der allgemeinen und großen materiellen Notlagen in nahezu allen Politikfeldern spielen die grundlegenden Ideen der „Bürgergesellschaft“ keine nennenswerte Rolle mehr. Statt dessen haben partikulare nationalistische Leitideen neue Kraft und Anerkennung gefunden, und wo sind die „Vordenker“ jener anderen Ideen, die Intellektuellen, in diesen Ländern geblieben? Sie scheinen sich resigniert aus der Politik und politischen Öffentlichkeit ins Private zurückgezogen und den politischen „Machern“ das Feld geräumt zu haben.

Ihr vor und unmittelbar nach der Wende so beachtlicher gesellschaftspolitischer Einfluß, die Resonanz ihrer Ideen und Reden bei den einfachen Menschen scheint inzwischen verblaßt und verkümmert. Soweit sie noch publizieren, herrschen resignative Titel vor: György Konrads letztes Buch nennt sich „Die Melancholie der Wiedergeburt“; der wichtigste und längste Essay, die Textfassung der Frankfurter Friedenspreisrede, ist mit „Sondermeinungen eines Urlaubers“ überschrieben. Vaclav Havel hat sein jüngstes Buch „Sommermeditationen“ genannt. Im Vorwort dazu schreibt er: „Die Zeit hat sich geändert, der Himmel hat sich bewölkt, die Klarheit und die allgemeine Überein-stimmung sind verschwunden, und auf unser Land warten nicht geringe Prüfungen.“ „Es ist die Zeit der schweren Tagesarbeit gekommen, der Widersprüche und der Interessenkonflikte, die Zeit der Ernüchterung, die Zeit, in der alle -und die Politiker vor allen anderen -immer wieder klar und deutlich machen müssen, worum es ihnen geht.“ Im Nachwort dieses Buches reflektiert Havel darüber, wohin er sich zukünftig wenden soll: „Die Zeit, da ich durch mein Präsidentsein nur die Revolution vollendet habe, geht unwiederbringlich vorbei; ebenfalls geht offenbar langsam die Zeit oppositioneller Intellektueller in politischen Funktionen zu Ende, die in dem kritischen Augenblick, als es hier keine demokratischen politischen Professionellen gab, für sie eingesprungen sind. Es kommt die Zeit derer, die sich wirklich der praktischen Politik widmen wollen, auf Dauer und mit ihrem ganzen Wesen, und die bereit sind, um ihre politischen Funktionen auch zu kämpfen.“ Angesichts dieser Lage fragt Havel sich: „Soll ich zu meiner schriftstellerischen Arbeit zurückkehren? Oder soll ich in der praktischen Politik bleiben und erneut für das Amt des Präsidenten kandidieren?“

Die Entwicklung in den ehemals sozialistischen Ländern Osteuropas scheint den Intellektuellen eine neue und zugleich ihre alte, zeitlose Funktion zugewiesen zu haben. Vaclav Havel hat diese Aufgabe für sich und seine Intellektuellenkollegen so formuliert: „Ich habe nie in meinem Leben um irgendwelche Machtpositionen gekämpft und werde das auch jetzt nicht tun, weil das einfach meinem Charakter widerstrebt. Ich sage damit nur, daß ich mir als Bürger keine Ruhe gebe. Die Zeit wird zeigen, wo ich meinen Vorstellungen am besten dienen kann und wo mir dazu Gelegenheit gegeben wird. De facto ist das für mich ... Nebensache; wesentlich sind die Werte, um die es mir geht!“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Aufsatz ist hervorgegangen aus einem politikwissenschaftlichen Seminar, das der Autor gemeinsam mit Mirjana Eilers, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Augsburg, durchgeführt hat, und sucht die Ergebnisse der Seminararbeit und -diskussionen auszuwerten. Der Autor hat Frau Eilers und den Seminarteilnehmern für Mitarbeit und Anregungen zu danken. AlbertO. Hirschman, Wir weinen diesen keine Träne nach, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 8. 1992.

  2. Gleichwohl wird dieses Klischee immer wieder erneut bemüht; so von Walter Jens, Geist und Macht -Aspekte eines deutschen Problems, in: ders. /W. Graf Vitzthum, Dichter und Staat, Berlin 1991, S. 61 ff.

  3. Vgl. zu diesem Problem der politikwissenschaftlichen Theoriebildung Dirk Berg-Schlosser/Theo Stammen, Einführung in die Politikwissenschaft, München 19925; grundlegend: Eric Voegelin, Was ist politische Realität?, in: ders. Anamnesis, München 1963; Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1972.

  4. Vgl. Theo Stammen, Verfall und Neukonstituierung politischen Wissens, in: M. Hättich (Hrsg.), Politische Bildung nach der Wiedervereinigung, München 1992, S. 9-26.

  5. Vgl. ebd.

  6. Zu diesem Thema allgemein vgl. Dieter Oberndorfer, Die offene Republik, Freiburg 1992.

  7. Vgl. György Konrad, Antipolitik, Frankfurt 1985, ders. Stimmungsbericht, Frankfurt 1988.

  8. Ders., Antipolitik, ebd., S. 1985.

  9. Vgl. ergänzend die politischen Schriften von György Dalos, Archipel Gulasch. Die Entstehung der demokratischen Opposition in Ungarn, Bremen 1986; ders., Ungarn -Vom Roten Stern zur Stephanskrone, Frankfurt/M. 1991.

  10. Adam Michnik, Der lange Abschied vom Kommunismus, Reinbek 1992, S. 17, 19. Vgl. dazu auch Timothy Gar-ton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, München 1990.

  11. Die nachfolgenden Zitate stammen aus Väclav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Reinbek 1980.

  12. So bezeichnet Väclav Havel die letzte Phase der sozialistischen Regime vor dem Zusammenbruch.

  13. Die nachfolgenden Zitate sind aus diesem „Offenen Brief an Gustäv Husäk“, wie er in der Essaysammlung „Am Anfang war das Wort“ abgedruckt ist.

  14. Vaclav Havel, Sommermeditationen, Berlin 1992, S. 12. Die folgenden Zitate entstammen diesem Buch.

Weitere Inhalte

Theo Stammen, Dr. phil., geb. 1933; Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft an den Universitäten Freiburg, Bonn und Manchester; seit 1973 o. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Augsburg. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit D. Berg-Schlosser) Einführung in die Politikwissenschaft, München 19925; (Hrsg.) Die Weimarer Republik: Das schwere Erbe 1918 -1923, Bd. I, München 1987; (Hrsg. zus. mit H. -O. Mühleisen) Politische Tugendlehre und Regierungskunst -Studien zum Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit, Tübingen 1990.