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Die politischen Kulturen Ostmitteleuropas im Umbruch | APuZ 10/1993 | bpb.de

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APuZ 10/1993 Die politischen Kulturen Ostmitteleuropas im Umbruch Die unvollendete Revolution in Osteuropa: Charakter und Ziele des politischen Umbruchs von 1989 Die Rolle der Intellektuellen im Prozeß des osteuropäischen Systemwandels Auswirkungen des Nationalismus in Osteuropa Die EG, die osteuropäische Herausforderung und die Sicherheit Europas

Die politischen Kulturen Ostmitteleuropas im Umbruch

Gerd Meyer

/ 29 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Transformationsprozeß der politischen Kulturen Ostmitteleuropas (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei) ist gekennzeichnet durch die enge Verbindung und spontane Ungleichzeitigkeit von politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kulturell-mentaler Umgestaltung. Die jungen Demokratien im Osten geraten in diesem historisch einmaligen, schwer steuerbaren und quasi-experimentellen Transformationsprozessen in immer größere Legitimationsprobleme. Doch gibt es in Ostmitteleuropa insgesamt genug positive Potentiale für die Entwicklung demokratischer politischer Kulturen. Dieses Ziel ist nur in einem langfristigen gesamteuropäischen Lernprozeß zu erreichen.

I. Einführung

Wer heute den Umbruch der politischen Kulturen in Ostmitteleuropa wissenschaftlich untersuchen will, muß von vornherein einräumen, daß im Augenblick meist nur vorläufige und unzureichend abgesicherte Aussagen über den Wandel der politischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung möglich sind. Deshalb können hier nur einige allgemeine Tendenzen, Strukturbedingungen und Hindernisse auf dem Weg zu einer demokratischen politischen Kultur in Ostmitteleuropa beschrieben werden. Dieser Überblick basiert u. a. auf den Ergebnissen einer Konferenz des „Internationalen Zentrums Mittel-/Osteuropa" an der Universität Tübingen, die zu diesem Thema im August 1992 stattfand.

Drei Länder stehen im Mittelpunkt der Analyse: Polen, die Tschechoslowakei (seit dem 1. Januar 1993 existieren auf deren ehemaligem Territorium die Tschechoslowakische Republik und die Slowakische Republik) und Ungarn. Dieser Überblick muß gewichtige Unterschiede der Geschichte, der Mentalität, der augenblicklichen Verfassung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dieser Staaten weitgehend vernachlässigen. Ausgeblendet bleibt auch die zum Teil dominierende, konfliktgeladene Thematik des Nationalismus, ferner Rechtsradikalismus und Antisemitismus.

Das Konzept der politischen Kultur soll hier -ohne theoretischen Anspruch -die subjektive Dimension der Politik bezeichnen, also die politischen Wertorientierungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung, ihre Erfahrungen und ihren Umgang mit der Politik. Der Umbruch der politischen Kulturen Ostmitteleuropas ist eingebettet in den Prozeß einer radikalen Umgestaltung von Staat, Wirtschaft, Sozialstruktur, Recht und Eigentumsverhältnissen, von Kultur und Lebensweise, d. h. nahezu aller Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens. Dieses Interaktionsgeflecht von objektiven Bedingungen und subjektiven Faktoren kann hier jedoch nur ansatzweise in seiner Komplexität abgebildet werden.

II. Demokratisierung der politischen Kultur: ein langfristiger Prozeß

Die Entwicklung einer stabilen demokratischen politischen Kultur in den nachsozialistischen Gesellschaften braucht Zeit -wohl weit mehr als ein Jahrzehnt. So war es in allen westlichen Demokratien, auch in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Demokratisierung ist ein langfristiger Prozeß, der oft von Krisen und Rückschlägen begleitet ist. So steht der eigentliche Test der politischen Stabilität, der demokratischen Legitimität, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, der Belastbarkeit und Lernfähigkeit der Bevölkerung der jungen Demokratien in Ostmitteleuropa erst noch bevor.

Der Transformationsprozeß der postsozialistischen Gesellschaften ist gekennzeichnet durch die enge Verbindung von politischer, ökonomischer, sozialer und kulturell-mentaler Umgestaltung. Diese Wandlungsprozesse in verschiedenen Lebens-und Handlungsbereichen verlaufen jedoch vielfach ungleichzeitig und widersprüchlich, kaum koordiniert und ungleich in Tempo und Reichweite.

Für den Transformationsprozeß der politischen Kultur gilt: Die Etablierung der Institutionen parlamentarischer Demokratie, eines neuen Parteien-systems und neuer politischer Eliten ist nicht gleichzusetzen mit der Demokratisierung des politischen Systems im ganzen, schon gar nicht mit dem gleichzeitigen Entstehen einer demokratischen politischen Kultur. Der Aufbau pluralistischer Demokratien in Ostmitteleuropa im Zuge des 'revolutionären Umbruchs geschah insgesamt eher von oben als von unten. Es ist leichter, neue Verfassungen, Gesetze und Verordnungen zu verabschieden, als die in den Jahrzehnten des Staats-sozialismus zur Gewohnheit gewordenen Denkmuster und Verhaltensweisen abzubauen. Ich meine damit vor allem: paternalistisch-autoritäre Erwartungen an den Staat und bürokratisch-zentralistische Problemlösungsstrategien; mangelnde Eigenverantwortlichkeit in der Gesellschaft; politische Entfremdung, Passivität und Privatismus.

Die Überwindung überkommener Mentalitäten vollzieht sich nur langsam: Die Unterschiede zwi sehen der politischen Kultur des „realen Sozialismus“, der „revolutionären Übergangsperiode 1989/90“ und der neuen Demokratien sind oft viel geringer als erwartet.

Das gilt auch für eines der schwierigsten Probleme nachhaltiger Demokratisierung: Wie geht man mit der Vergangenheit um? Die „De-Kommunisierung" stellt hohe Anforderungen an die moralische Glaubwürdigkeit und rechtsstaatliche Handlungsfähigkeit des Staates wie an die Sensibilität und Toleranz der Menschen. Hierbei spielen die neuen politischen Eliten, der Gesetzgeber und die Massenmedien eine wichtige Rolle. Die politische Kultur der postsozialistischen Gesellschaften ist geprägt von widersprüchlichen Bemühungen um schonungslose Aufklärung und gesellschaftlichen Frieden, um gerechte Strafen und personelle Erneuerung, aber ohne Hexenjagd und neues Denunziantentum. Die sorgfältige Erforschung des Vergangenen wird ebenso gefordert wie das Verstehen, Vergeben und Vergessen, um Kraft für die Zukunft zu gewinnen. Täter und Opfer stehen sich oft unversöhnlich gegenüber. Vielen geht beides zu langsam (wenn es überhaupt geschieht): die Bestrafung der Täter und die Rehabilitation der Opfer. Der Staat soll für Gerechtigkeit und Humanität im Umgang mit dem Unrecht der Vergangenheit sorgen. Aber er soll nicht mehr wie einst ein ideologischer und parteilicher moralischer Richter sein. Im Bewußtsein der differenzierten Verantwortung fast aller für das Funktionieren des alten Systems durch Arrangement oder aktive Mitwirkung soll der Staat die Nation zugleich vor fruchtlosen Selbstanklagen und pauschalen gegenseitigen Beschuldigungen bewahren. Überwiegend führt dies allerdings dazu, daß die problematischen Seiten der Vergangenheit verdrängt werden. Was belastet und verunsichert, und das gilt selbst für den Großteil von Geheimdienstaktivitäten, wird eher mit dem Mantel des Schweigens zugedeckt. Die eigene persönliche Verantwortung verschwindet hinter der Anklage des alten Systems. Diese Reaktionen sind verständlich, aber gefährlich. Denn der ehrliche und verantwortliche Umgang mit der Vergangenheit bestimmt wesentlich die Qualität und Stabilität demokratischer Einstellungen in der Bevölkerung.

III. Von der „Ethik der Revolution“ zur „Ambivalenz der Werte“

Die Träger des Widerstands gegen das kommunistische Herrschaftssystem und die Beteiligten an der ersten Phase derfriedlichen Revolution in Ostmitteleuropa orientierten sich vor allem an den Ideen und ideellen Werten von Demokratie und sozialer Ge rechtigkeit, an einer politischen Ethik persönlicher Integrität und universaler Humanität („V. Havel: Versuch, in der Wahrheitzu leben“). Die Opposition der Ohnmächtigen vor der Revolution und die Mächtigen der ersten „heroischen“ Phase haben heute meist nicht mehr unmittelbaren Einfluß aufdie konkrete Politik und den Geist des Transformationsprozesses. Die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Überlebensprobleme lassen in der Bevölkerung vielmehr materielle Werte und Erwartungen an das politische System überwiegen.

Zwar wird die junge Demokratie in Polen, in der Tschechoslowakei und in Ungarn durchaus hoch geschätzt als Ausdruck neu gewonnener Freiheit, mit bisher unbekannten Möglichkeiten für die individuelle Selbstentfaltung, für die pluralistische Organisation sozialer Interessen, für Rechtsstaatlichkeit und Chancengleichheit. Aber erst im Prozeß der „Veralltäglichung" der Revolution, in den „Mühen der Ebene“ auf dem Weg zu einer sozial verantwortlichen Marktwirtschaft, zur Herrschaft des Leistungsprinzips und zu demokratischen Verhaltensweisen in Verwaltungen und Betrieben wird den meisten Menschen deutlich, welche Kosten und Probleme, welche materiellen Folgen und welch hohe Anforderungen an die Lern-und Handlungsfähigkeit des einzelnen und der neuen Eliten damit verbunden sind. Die Moralität der Politik und die Integrität der Politiker sind weiterhin wichtige Maßstäbe für das Urteil der Bürger. Doch in der Politik und in der Wirtschaft sind heute in erster Linie Effizienz und Leistung, technokratisches „Know-how“ und Pragmatismus gefragt. Was in der Gesellschaft zählt, ist Geld und Erfolg. Gruppeninteressen und der Egoismus der Individuen setzen sich immer stärker durch. Politisch am wichtigsten ist für den Durchschnittsbürger vor allem der materielle Output des neuen Systems zur Wahrung und Mehrung des Wohlstands, die Gewährleistung eines akzeptablen Niveaus der Löhne und Renten sowie die Vermeidung ökologischer Katastrophen und des Niedergangs der öffentlichen Dienstleistungen. Diese drängenden Überlebensprobleme postsozialistischer Gesellschaften und die Komplexität synchroner Gesellschaftstransformation lassen nicht wenige der Versuchung erliegen, in populistischen oder autoritären, in nationalistischen oder traditionalistischen Führern oder Programmen das Heil für die Zukunft zu erblicken. Ängste und reale Bedrängnis führen bei vielen dazu, daß einfache, schnelle und radikale Lösungen gefordert werden. Es ertönt der Ruf nach der vertrauten starken Hand des Staates (die zugleich mißtrauisch beäugt wird). Die radikaldemokratischen Mahner der einstigen Opposition gelten nur noch wenig.

Demokratie, rechtsstaatliche Verfahrensweisen und soziale Verantwortung drohen in diesem nurschwer steuerbaren Prozeß der Etablierung des Kapitalismus zu relativ abstrakten oder nur bedingt gültigen Normen zu werden. Solidaritätserfahrungen und einige positive Ideale der sozialistischen Zeit, die Ethik des Widerstands der Minderheit und der sanften Revolution werden abgelöst von den neuen Werten und Normen westlicher Kapitalismus-Modelle, die ein anderes Arbeits-und Konsumverhalten fordern. Die Bevölkerung Ostmitteleuropas erlebt heute viele Zwänge, Pathologien und Widersprüche des Frühkapitalismus und bringt doch ganz andere Erfahrungen und Qualifikationen mit als die feudale Klassengesellschaft. Dieser zeitliche und räumliche, aber auch sozial und sektoral stark differenzierte Wandel führt dazu, daß sich Tradiertes und Neues in den politisch-sozialen Wertorientierungen der Menschen widersprüchlich mischen. So schwanken die Menschen in ihren Wertorientierungen zwischen öffentlichem und privatem Wohl, zwischen Idealismus und Materialismus, zwischen Solidarität und Egoismus, zwischen Staatsdominanz und Eigenverantwortung.

IV. Paradoxe Erwartungen an den Staat

Staat und Marktwirtschaft sehen sich mitparadoxen Erwartungen der Menschen konfrontiert: Auf dem Weg zu einem-sozial verträglichen Kapitalismus sollen Staat und Unternehmen durch effiziente Steuerung nicht nur dasselbe, sondern mehr leisten als das, was einst monopolistischer Einparteienstaat und zentralisierte Planwirtschaft in den Zeiten des bürokratischen Sozialismus erreichten. Im Prozeß der Transformation muß der Staat mehr Aufgaben übernehmen und oft größere soziale Kompensationsleistungen erbringen, als dies selbst in betont staatsinterventionistischen Modellen des modernen Kapitalismus der Fall ist. Gleichzeitige Stärkung und Zurücknahme unmittelbarer staatlicher Verantwortung für Wirtschaft und Sozialleistungen sind kaum miteinander vereinbar. AufJahre hinaus wird der postsozialistische Transformationsstaat mit diesem strukturellen Dilemma und -auf der Ebene der politischen Kultur -mit paradoxen, vielfach kaum erfüllbaren Erwartungen konfrontiert bleiben.

Eine der Hauptaufgaben bei der Umwandlung der staatlichen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft bildet die Privatisierung zahlloser kleiner, mittlerer und großer Staatsunternehmen. Diese Umwandlung verlangt einerseits einen starken Staat, der mit Hilfe korporatistischer Lenkungs-und Integrationsarrangements den Privatisierungsprozeß konzipiert und durchführt. Dies ist nur möglich durch eine enge Zusammenarbeit des Staates mit den bisherigen Unternehmensleitungen oder den neuen Unternehmern, den Gewerkschaften und nicht zuletzt mit den Belegschaften. Zugleich muß der Staat dafür sorgen, daß die Rahmenbedingungen und die Akzeptanz der Privatisierung durch die Bevölkerung (z. B. durch Zeichnung von Anteilen, Betriebsübernahmen oder Aktienkäufe) gewährleistet sind. Entscheidend für die Leistungsmotivation der Arbeitnehmer, für die Akzeptanz der neuen Eigentumsverhältnisse, Unternehmensstrukturen und Manager, für die nachhaltige Unterstützung der Wirtschaftsreformen der Regierung ist es, die oft verheerenden sozialen Folgen dieses radikalen Umbaus abzumildern oder zu kompensieren. Der Schlüssel zum Erfolg beim Übergang in eine funktionierende soziale Marktwirtschaft und für die stabile Akzeptanz der jungen pluralistisch-parlamentarischen Demokratien Ostmitteleuropas liegt in der Gewährleistung eines mindestens gleichbleibenden, befriedigenden Niveaus öffentlicher und privater Wohlfahrt. Nach einer unvermeidlichen, vorübergehenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der privaten Haushalte wie der Ökonomie insgesamt ist eine Rückkehr mindestens zum Status quo des Lebensstandards vor 1989/90 in absehbarer Zeit notwendig, damit die Bevölkerung den sozio-ökonomischen und den demokratischen Transformationsprozeß aktiv mitträgt.

In allen drei Staaten existieren Abkommen zwischen Staat, Unternehmen und Gewerkschaften, die gemeinsame Konsultationen für die Festlegung der Lohnleitlinien vorsehen. Der Staat ist immer noch der weitaus größte Arbeitgeber; die Gewerkschaften sind -außer in Polen -bisher organisatorisch schwach und genießen vorläufig nur geringes Ansehen. Eine Tarifautonomie der Sozialpartner hat sich erst in Ansätzen herausgebildet. Das heißt: Die Erwartungen der Bevölkerung in puncto Löhne und Sozialleistungen richten sich meist immer noch direkt an den Staat; die Beschäftigungsverhältnisse begründen ein unmittelbar politisches Verhältnis zum Staat. Wesentliche wirtschaftliche Mängel werden ihm direkt und politisch zugerechnet, obwohl dieser neue Staat im Kapitalismus tendenziell nicht mehr direkt verantwortlich sein will und soll. Die Erwartungshaltung der Bevölkerung droht den Staat politisch, ökonomisch und sozial zu überfordern.

Hier wiegt das Erbe des bürokratischen Sozialismus besonders schwer: Die Erwartungen der Bevölkerung sind bestimmt vom sozialistischen Paternalismus umfassender staatlicher Daseinsvor-und -fürsorge, wie sie mehrere Jahrzehnte lang von derWiege bis zur Bahre üblich war. Nicht mehr gewünscht werden ideologische Bevormundung und politische Repression, also die negativen Seiten dieses Paternalismus. Doch soll der Staat weiterhin unmittelbar verantwortlich sein für die Gewährleistung der Vollbeschäftigung, für preiswerte Wohnungen und Nahrungsmittel, für ein kostenloses Gesundheitssystem und Kinderbetreuungseinrichtungen mit niedrigen Gebühren, für den extrem hoch subventionierten öffentlichen Nahverkehr wie für den Kultur-und Wissenschaftsbetrieb. Aber dies setzt nicht nur eine leistungsfähige Wirtschaft voraus, sondern auch ein hohes Maß an staatlicher Abschöpfungs-und Umverteilungspolitik, eine für das kapitalistische Wirtschaftssystem ordnungspolitisch kaum akzeptable und schon gar nicht finanzierbare Subventions-und Egalisierungspolitik.

Im wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozeß Ostmitteleuropas verstärken sich eher noch die Rolle des Staates und die Erwartungen der Menschen an ihn, obwohl es aus ordnungspolitischen, finanziellen und psychologischen Gründen wichtig wäre, seine Aufgaben und Interventionen auf das notwendige Minimum zu beschränken. Da der Staat dieses strukturbedingte Dilemma nur mit größter Mühe in den nächsten Jahren lösen kann, droht hier den jungen Demokratien eine Welle der Enttäuschung, der Resignation oder des Protestes aus Unzufriedenheit über die mangelnde Effizienz und die sozialen Folgen der wirtschaftlichen Umgestaltung. Schon heute gibt es erste Anzeichen für eine schwindende Unterstützung des Staates in seinen Reformbemühungen. Das Potential für eine latente und womöglich auch manifeste Legitimationskrise der neuen Ordnungen Ostmitteleuropas wächst ständig.

V. Soziale Krisen und der Rückzug von der Politik

Sozio-ökonomische Unsicherheit, massenhafte Verarmung und Statusbedrohung führen ebenso wie veränderte, aber vielfach unklare oder umstrittene Regeln der Statuszuweisung zu einem neuen Individualismus und Privatismus, zu einem sinkenden Interesse am aktiven Engagement in der Politik.

Die wirtschaftliche Umgestaltung und die politische Revolution führen auch zu einem tiefgreifenden Wandel der Sozialstruktur. Da gibt es nicht nur die Verlierer des alten Herrschaftsapparates, die ihre Posten als „leitende Kader“ im Partei-und Staatsapparat, in der Wirtschaftsadministration oder bei den Staatssicherheitsdiensten, in Armee und Justiz, aber auch in der Wissenschaft oder in den Massenmedien aufgeben mußten. Eine breite Mittelschicht von Staatsangestellten behielt ihre Positionen, weil sie mit ihrem technischen Wissen und Können zunächst unersetzbar sind. Viele überzählige Kader und Nutznießer der aufgeblähten Herrschaftsapparate des alten Systems müssen sich nun neue Arbeit und neues Prestige suchen, und nicht wenige sind dabei erfolgreich. Viele „einfache Bürger“ sind empört über jene, die schon im alten System arriviert waren und nun gute und lukrative Positionen in der neuen kapitalistischen Gesellschaftsordnung einnehmen.

Weitaus wichtiger aber sind bestimmte soziale Krisenprozesse, die sich in Zukunft noch verstärken werden. Stillegungen, Rationalisierungen und Modernisierungen in den Betrieben, die Einführung international konkurrenzfähiger Hochtechnologien werden bald die Grenzen der Brauchbarkeit bisheriger Qualifikationen und Leistungen deutlich machen. Immer mehr Berufsgruppen erleben eine faktische Abwertung ihrer beruflichen Fähigkeiten. Die Zahl der Arbeitlosen und der Verarmten wächst kontinuierlich. Rentner, Alleinerziehende und Kinderreiche leben bereits heute am Rande des Existenzminimums -oder fallen schon darunter. Mittel-und langfristig -so ist zu befürchten -gehören vor allem auch die Frauen und die Älteren zu den vom weiteren sozialen Abstieg Bedrohten.

Viele fragen sich, nach welchen Kriterien und Verfahren, aufgrund welcher Einflußfaktoren Karrierechancen und Positionen in der postsozialistischen Gesellschaft vergeben werden. Gute Bildung, ehrliche Arbeit und solide Leistung scheinen nach wie vor nur begrenzt zu zählen. Neureiche und Spekulanten, Gewinne aus halb-und illegalen Aktivitäten, informelle Beziehungen und Korruption spielen im sich etablierenden Kapitalismus Ostmitteleuropas eine ebenso wichtige wie zweifelhafte Rolle. (Diese Aussagen gelten am ehesten für Polen, viel weniger z. B. für die Tschechoslowakei.) In vielen Bereichen wurden Einkommerisstufen und die personelle Besetzung von Leitungspositionen bisher kaum verändert. So sind viele qualifizierte Tätigkeiten in den Massen-berufen der Intelligenz (z. B. in Schulen und Hochschulen, im Gesundheitsdienst; mittlere und einfache Verwaltungsangestellte) noch immer unter-, manche Tätigkeiten in der Industrie weiterhin überbezahlt. Alte und neue Seilschaften, aber auch der weitverbreitete Wechsel ehemaliger Partei-, Staats-und Wirtschaftsfunktionäre in leitende Positionen der Wirtschaft, des Handels und des Dienstleistungsgewerbes sorgen für Unzufriedenheit und Skepsis gegenüber der neuen gesellschaft- liehen Ordnung. Viele Menschen müssen sich erst daran gewöhnen, wie und in welchem Maße Unternehmergewinne ganz legal und legitim vereinnahmt und z. T. im Prestigekonsum wieder zur Schau gestellt werden. Der Abbau sozialer Sicherheit macht die Lebenschancen vieler schwerer berechenbar. Desorientierung und Unsicherheit, Resignation, Zynismus und Fremdenfeindlichkeit nehmen zu.

Die meisten übersehen jedoch auch nicht, daß die neue Ordnung vielfältige Bildungs-und Selbst-entfaltungsmöglichkeiten, Karrierechancen und Raum für unternehmerische Initiativen bereithält. Die neuen Ungleichheiten und sozialen Vorteile werden akzeptiert, ja begrüßt, wenn sie legal und sozial transparent zustande gekommen sind und auf wirklicher Leistung beruhen. Die Angebote im Konsum-und Freizeitbereich, in Kultur und Wissenschaft, im geistigen und religiösen Leben haben sich in Qualität und Quantität enorm ausgeweitet.

Sehr viele Menschen ziehen angesichts dieser Widersprüche und Gefährdungen eine mindestens zwiespältige, wenn nicht negative „Sozialbilanz“. Sie bleiben gesellschaftspolitisch skeptisch, engagieren sich vor allem für sich selbst, für die Familie oder ganz allgemein für „das Private“, aber immer weniger für die öffentlichen Belange. Ähnliche Phänomene sind allerdings auch in den älteren und „moderneren“ Demokratien Westeuropas und erst recht der USA zu beobachten. Falsch ist das Ost-West-Stereotyp, „die Osteuropäer“ seien generell apolitisch, apathisch und unzufrieden; nach dem kurzen revolutionären Zwischenspiel seien sie (immer noch) eine atomisierte, passive oder unberechenbare Masse -und dies weit stärker als im Westen. Analyse und Bewertung müssen die sehr unterschiedlichen historischen, politischen und ökonomischen Bedingungen in Ost und West in dieser Entwicklungsetappe des -historisch singulären -postsozialistischen Kapitalismus berücksichtigen. „Privatismus“ und „Konsumismus“ gehen meist mit einer Orientierung am Individuum oder an der unmittelbaren sozialen Umwelt (Familie, Freunde) einher. Doch hinter solchem Individualismus kann sich auch die Suche nach einem neuen, freieren Lebensstil, nach zwangloser individueller und gesellschaftlicher Identität verbergen.

VI. Der Wandel der Machteliten -eine neue korporatistische Führungsschicht?

Die friedlichen Revolutionen Ostmitteleuropas wurden nicht von einer aufsteigenden sozialen oder ökonomischen Trägerschicht, sondern von einer kleinen politischen Gegenelite vor allem aus dem Bereich der akademisch geschulten Intelligenz getragen. Protestierende Massen, einfache Arbeiter und Angestellte spielten allenfalls in der kurzen Phase des demonstrativen Protests und des dramatischen Aufbruchs der Jahre 1989/90 eine tragende Rolle. Die neuen Demokratien können sich nicht auf eine für diese Revolutionen spezifische Schicht stützen, die auf der Grundlage gewachsener sozioökonomischer Interessen, demokratischer Politikerfahrung und eigener kultureller Traditionen, von langfristig entwickelten personellen und sachlichen Alternativen die Umgestaltung trägt. Vielmehr werden die jungen Demokratien Ostmitteleuropas von einer korporatistisch verflochtenen politischen Führungsschicht regiert, in der sich Elemente des Alten und Neuen aufsehr spezifische Weise mischen.

Unter kommunistischer Herrschaft waren Dissidenten und politische Oppositionsbewegungen in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen vor allem kritische Minderheiten aus dem Bereich der wissenschaftlichen und künstlerischen, der ökonomischen und technischen Intelligenz. Sie fühlten sich als Fürsprecher fast aller sozialen Schichten. Sie waren mutige Aktivisten, mehr oder weniger gut organisierte Individuen, meist aber „politische Amateure“. Sie wurden schließlich selbst überrascht vom raschen Zusammenbruch der Einparteiendiktatur und von der neuen Macht, die ihnen in den Schoß gefallen war. Vor allem in Ungarn und Polen haben außerdem Reformsozialisten innerhalb der regierenden Kommunistischen Partei eine entscheidende Rolle für die Öffnung der erstarrten Diktaturen und beim friedlich ausgehandelten Übergang in eine neue, demokratische Ordnung gespielt. In Polen haben die Arbeiterschaft und größere Teile der Intelligenz, die mit „Solidarnosc“ sympathisierten, sowie der höhere und niedere Klerus der katholischen Kirche erheblich zu diesem Wandel beigetragen.

Die neuen politischen Eliten sahen sich bald konfrontiert mit dem Mangel an unbelasteten und zugleich qualifizierten Reformern, die in Ministerien und Betrieben, in öffentlichen Einrichtungen und in den Medien auf professionelle Weise für die notwendige Erneuerung sorgen konnten. Die führenden Köpfe der revolutionären Bürgerbewegungen und ihre Anhänger konnten zwar in der Anfangsphase des Neuaufbaus wichtige politische Positionen und maßgeblichen Einfluß gewinnen. In den beiden letzten Jahren zeigte sich jedoch, wie im Zuge der Neuformierung der Parteiensysteme und durch Neuwahlen diese Gruppierungen an Boden verloren und nun vor allem liberal-konservativen Kräften Platz machen. Unter ihnen dominierenzwei Typen: zum einen jene, die sich einst -mit dem Mitgliedsbuch der Partei in der Schublade -als „Mediatoren“ in einer „grauen Zone“ zwischen Herrschenden und Beherrschten für eine „liberale Praxis“, für Freiräume, kleine Reformschritte und Toleranz gegenüber „Abweichlern“ einsetzten. Politisch bewußt standen sie dem System kritisch gegenüber, aber sie übten keine offene Opposition. Qua Amt profitierten sie vom System, und doch blieben sie persönlich wenig belastete Vermittler zwischen „denen da oben“ und „uns hier unten“. Diese liberalen „Mediatoren“ waren meist Experten aus den Bereichen Management, Planung und Forschung; Freiberufler, Wissenschaftler in Akademien und Universitäten sowie Leute aus der „zweiten Reihe“ des Kulturbetriebes und in den Verlagen.

Der andere Typus umfaßt jene, die im alten System als eher „unpolitische Technokraten“, als opportunistisch oder „bürgerlich“ gesonnene Mitglieder der Intelligenz still und privatistisch oder ganz in ihrem Beruf lebten, jedenfalls nicht hörbar Kritik am System übten oder gar Oppositionellen halfen. In letzter Zeit scheinen außerdem immer mehr in den achtziger Jahren beruflich frustrierte, jüngere Hochschulabsolventen die Karriere des Berufspolitikers/Parlamentariers als Mittel des sozialen Aufstiegs anzustreben. Ihr Sieg in freien, demokratischen Wahlen, das verfassungsgemäße Funktionieren des Parlamentarismus und der Regierungsbildung, die Attraktivität ihrer zunächst allgemein gehaltenen Programme, ihre erhoffte oder erwiesene Kompetenz lassen sie offenbar für viele Wähler als am ehesten geeignet und demokratisch legitimiert für die neuen Führungsaufgaben erscheinen.

Systemloyal waren einst auch die Mitglieder der neuen „Nomenklatura-Bourgeoisie“, die als leitende Kader im Partei-und Staatsapparat über gute Beziehungen in der ganzen Gesellschaft verfügten. Ihren privilegierten Zugang zu Informationen und wirtschaftlichen Ressourcen, das Netzwerk ihrer informellen Beziehungen nutzten viele sehr geschickt zum Umstieg in neue Wirtschaftsunternehmen aus. Viele Landlords und Magnaten des Staatssozialismus wurden so -wie einst im 19. Jahrhundert der reiche Landadel -Manager und Unternehmer im aufkommenden Kapitalismus. Aber was noch viel schwerer wiegt: In vielen staatlichen Behörden und öffentlichen Einrichtungen, in den großen und mittleren Industriebetrieben, vor allem aber in der Staatsadministration auf lokaler und regionaler Ebene sitzen weitgehend immer noch jene, die diese Positionen auch schon unter kommunistischer Herrschaft innehatten. Hier und in den Ministerien sind es vor allem Fachleute unterhalb der politischen Führungsspitze, die für das Funktionieren der staatlichen Verwaltung nötig sind. Zwar haben 1990 auf regionaler und lokaler Ebene in allen drei Ländern Neuwahlen stattgefunden. In den Spitzenpositionen finden sich nun ganz überwiegend neue Leute: aus der einstigen Opposition (und meist administrativ unerfahren); schon früher reformbereite, „unideologische“, „liberale“ ex-kommunistische Hochschulabsolventen, meist aus der jüngeren Generation; schließlich manche „bewährte“, redliche Amtsinhaber aus der Zeit vor 1990. Aber weitgehend unverändert blieb bisher der Beamtenapparat selbst. Diese einst systemloyalen, arrangierten und angepaßten Nutznießer bürokratischer Herrschaft sind weithin immer noch tonangebend für Leistung, Stil und Geist dieser Institutionen.

Die Demokratien Ostmitteleuropas werden heute von einer informellen Koalition neu aufgestiegener politischer Eliten regiert: Linksliberale aus den Bürgerbewegungen, liberal-konservative Politiker, mehr oder weniger reformwillige Staatsbeamte und Manager von Staatsbetrieben, erfolgreiche Privatunternehmer und in der Wirtschaft neu etablierte Teile der alten Partei-und Staatsbürokratie. Strukturelle Abhängigkeiten, alte Beziehungen und gemeinsame Statusinteressen, funktionale Kommunikation und Kooperation, langwierige Aushandlungsprozesse und die mühsame Suche nach Kompromissen sind charakteristisch für diese neue Spielart eines quasi-korporatistischen Managements des politischen und ökonomischen Systems. Neue Oligarchien, Koalitionen und Patronagebeziehungen, die Veränderung der Persönlichkeiten und verlockende Chancen der Bereicherung durch die Übernahme von Machtpositionen führen häufig dazu, daß sich die neuen Führungsgruppen nicht mehr genügend an den Interessen der Masse der Bevölkerung, an den Bedürfnissen der verarmten und politisch ohnmächtigen Schichten orientieren. Zunehmende Distanz gegenüber „den Politikern“ und den Parteien ist besonders in Polen die Folge. Kurzum: Der Über-gang von den alten zu den neuen politischen Eliten vollzieht sich viel langsamer und widersprüchlicher, viel weniger . radikal und überzeugend als gedacht und erhofft.

VII. Das langsame Wachstum eines lebendigen Pluralismus

Das Fehlen bzw. das langsame 'Wachstum eines lebendigen Pluralismus intermediärer Strukturen und einer handlungsfähigen Bürgerschaft („civil society“) erschweren die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur.Den bürokratisch-sozialistischen Gesellschaften war ein organisierter Pluralismus sozialer, ökonomischer, kultureller und ethnischer Interessen weitgehend unbekannt. Eine demokratische politische Kultur muß aber auf der Basis gesellschaftlicher intermediärer Strukturen von unten wachsen. Dazu gehört die Bereitschaft und Kompetenz der Menschen, sich im politischen Bereich zu engagieren, in eigener Verantwortung Probleme zu lösen oder Führungsaufgaben in der Politik wahrzunehmen. Es bedarf der Motivation und der Aktivierung der Individuen und Gruppen. Ebenso wichtig sind angemessene Mitwirkungsmöglichkeiten in den staatlichen Institutionen, aber auch durch innerorganisatorische und innerparteiliche Demokratie. Dezentralisierte Strukturen im staatlichen und wirtschaftlichen Bereich, möglichst eigenständige lokale und regionale Einheiten, die nach dem Subsidiaritätsprinzip funktionieren, gegebenenfalls Föderalismus und institutionalisierte horizontale Kooperationsformen bilden wichtige Voraussetzungen dafür, daß Bürger politisch aktiv werden bzw. einen Rahmen vorfinden, in dem sie für sich selbst Einflußmöglichkeiten sehen.

Diese Grundlagen einer demokratischen politischen Kultur sind in Ostmitteleuropa erst ansatzweise bzw. nur bei Minderheiten entwickelt; in vielen Bereichen der Gesellschaft und außerhalb der Großstädte fehlen sie noch weitgehend. Die „organisierte Verantwortungslosigkeit“ der sozialistischen Planwirtschaft, die Parteien und „Massenorganisationen“ des Ancien rögime vermittelten kaum Erfahrungen in der selbständigen Artikulation und Organisation individueller und kollektiver Interessen. Die Massenmedien, besonders Rundfunk und Fernsehen, erreichen erst allmählich die erforderliche Unabhängigkeit und balancierte Vielfalt, um den Pluralismus politischer und sozialer Interessen authentisch auszudrücken. Das politische Kräftespiel, der demokratische Konfliktaustrag und zahlreiche parlamentarische Auseinandersetzungen vermitteln oft noch das Bild ungeübter, zum Teil regelloser oder manipulativer Willensbildung -trotz aller Fortschritte in der Reformgesetzgebung.

VIII. Diffuse Wählerpräferenzen und instabile Parteiensysteme

Die Mehrzahl der Menschen hat immer noch beträchtliche Schwierigkeiten, sich in den diffusen Parteiensystemen Ostmitteleuropas politisch zu orientieren, eindeutige Unterschiede zu erkennen und dauerhafte Präferenzen zu entwickeln.

Die Parteiensysteme Ostmitteleuropas sind ge-'kennzeichnet durch eine relativ diffuse Programmatik links und rechts der Mitte (nicht jedoch an den Rändern), durch ein hohes Maß an Personalisierung und durch das Fehlen gewachsener Trennlinien und historischer Identitäten. Dies gilt vor allem für jene Parteien, die als liberal-konservative, christliche oder linksliberale, als sozial-und radikaldemokratische Gruppierungen teils aus den Bürgerbewegungen (vor allem in Polen und in der Tschechoslowakei), teils durch Neugründungen aus Kreisen der Intelligenz (vor allem in Ungarn) hervorgegangen sind. Dies gilt weniger für ökologisch und rechtskonservativ bzw. nationalistisch orientierte Parteien, für die sozialistischen Nachfolgeparteien der einst regierenden Kommunistischen Partei, für die Bauernparteien oder für die Parteien nationaler Minderheiten. Programmatik, Politik und Wählerorientierung aller anderen Parteien aber lassen sich kaum auf die einfachen Trennlinien links/rechts, städtisch/ländlich, christlich/atheistisch, etatistisch/antistaatlich, nationalistisch/europäisch-internationalistisch, Establishment/populistische oder Protestbewegungen reduzieren. Auch repräsentieren sie nicht klar unterschiedene soziale Kategorien und Interessen. Vielmehr sind vielfältige Überschneidungen und Vermischungen kennzeichnend. Regierungskoalitionen wechseln ihre Parteienbasis, Parteien und Politiker ihren Platz im politischen Spektrum. In der Programmatik dominieren allgemeine Werte wie soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Leistungsprinzip, allgemeine Wohlfahrt. Angeboten werden eher globale Konzepte der Systemtransformation, vor allem im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich, weniger konkrete Modelle und Einzelmaßnahmen. Nationale und christliche Elemente treten in je unterschiedlichem Maße hinzu. Parteien werden nicht zuletzt durch prominente Führungspersonen und Symbole repräsentiert; sie vor allem sollen Vertrauen und Orientierung vermitteln.

Erst langsam formieren sich die neuen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Basisinteressen, mit Ausnahme der alten Eliten, der Bauern und der nationalen Minderheiten. Erst langsam wachsen neue Identitäten und das Bewußtsein spezifischer Eigen-oder Partialinteressen, die wiederum als Basis für die Zuordnung zu bestimmten Parteien dienen könnten. Die alte Homogenisierungsund Atomisierungspolitik der regierenden Kommunistischen Partei, der fehlende Pluralismus der letzten Jahrzehnte erschwert den Prozeß öffentlicher Interessenartikulation und ihrer Zusammenfassung in flächendeckend operierenden Parteien. Diese Parteien sind -mit Ausnahme der sozialistischen KP-Nachfolgeparteien -meist nochmitgliederschwache Gebilde, relativ schlecht finanziell ausgestattet und organisiert, mit wenig Mobilisierungs-und Bindekraft nach innen und außen.

Die größeren Parteien links und rechts der Mitte verfügen meist über eine relativ heterogene Wählerschaft. Sozial gesehen orientieren sie sich noch am ehesten an den Interessen und Normen von Berufsgruppen, nicht jedoch im Sinne eines „dass voting“. Vor allem regional sind noch einzelne Traditionslinien (z. B. in der CSFR oder im polnischen Galizien) wirksam. Die Parteien werden desto eher akzeptiert, je mehr sie die allgemeine Orientierungslosigkeit und die Angst vor der Zukunft bei der Masse der Wähler glaubwürdig vermindern. Insgesamt darf schließlich nicht übersehen werden: Der Aufbau eines funktionierenden Parteiensystems hat große Fortschritte gemacht, die Programmatik der Parteien in den jüngsten Neuwahlen war durchweg differenzierter als unmittelbar nach der Revolution, die Rekrutierung von politischem Führungspersonal funktionierte weniger willkürlich, die Parteieliten trugen in qualifizierter Weise zum öffentlichen Diskurs über den weiteren Weg der Transformation bei, und es steigen -außer in Polen -die Chancen für eine bessere Akzeptanz der neuen Parteien.

IX. Politische Apathie und Gefahren des Autoritarismus

Die politische Kultur Ostmitteleuropas ist nach dem Abflauen des revolutionären Aktivismus gekennzeichnet durch eine Mischung aus professionellen politischen Aktivitäten meist überlasteter Funktionsträger und spontaner Mobilisierbarkeit von Minderheiten (z. B. in Streiks, Demonstrationen). Vor allem aber läßt sich eine weit verbreitete, zugleich tradierte und neu wachsende politische Apathie sowie ein teils latenter, teils manifester Autoritarismus als Ausdruck der Legitimationsschwierigkeiten des politischen Systems beobachten.

Auch hier ist zunächst auf das Erbe des bürokratischen Sozialismus zu verweisen: Die Mehrzahl der Menschen war der Diktatur der Partei unterworfen, angepaßt und arrangiert mit den Mächtigen, aktiv vor allem im Beruf und in der Absicherung privaten und familiären Überlebens. Sie waren eher abwehrend oder indifferent in ihren Einstellungen, in ihrem Verhalten jedoch meist widerwillig loyal. Vorherrschend gegenüber der politischen Macht waren Gefühle der Ohnmacht, der Resignation und Apathie. Der großen Mehrheit war immer bewußt, wie wenig demokratisch, rechtsstaatlich und freiheitlich die kommunistischen Systeme verfaßt waren. Die meisten unterschieden zwischen „wir“ und „denen da oben“. Nur sehr wenige waren überzeugte Anhänger der marxistischleninistischen Ideologie. Die friedlichen Revolutionen offenbarten das Ausmaß, in dem sich die Menschen von diesem System bereits psychologisch und geistig verabschiedet hatten.

Mit der zunehmenden Zahl von Nichtwählern geht ein latenter Autoritarismus von oben und von unten einher, der sich gegenseitig ergänzt und verstärkt. Der Autoritarismus von oben wird hier verstanden als die Dominanz relativ kleiner politischer Eliten in den Machtzentren der Gesellschaft, die mit Hilfe immer noch sehr hierarchisch strukturierter Institutionen oder durch faktische Machtausübung in atomisierten oder noch nicht neu strukturierten gesellschaftlichen Kontexten den Transformationsprozeß kontrollieren. Nur eine winzige Minderheit ist qualifiziert und erfahren genug, um die komplexen Reformen zu konzipieren und durchzuführen. Diese Form der Elitenherrschaft erwächst nicht aus einer demokratischen politischen Kultur, und sie steht auch nicht in Korrespondenz zu einem funktionierenden gesellschaftlichen Pluralismus.

Für die jungen Demokratien ist es nicht einfach, einen demokratischen Rechtsstaat zu schaffen, wo bisher der politische Wille oder die Willkür der Partei und der Opportunismus der Mittelmäßigkeit herrschten. Die Autorität des Gesetzes, der Institutionen und ihrer Repräsentanten ist zum Teil noch schwach ausgebildet, wird gar schon wieder in Frage gestellt. Angesichts dieses Erbes, der aktuellen Schwierigkeiten und der sich nur langsam einstellenden Erfolge ist es in diesem historisch einmaligen, weithin experimentellen Transformationsprozeß nicht verwunderlich, daß in jeder post-sozialistischen Gesellschaft ein gehöriges Potential autoritärer Versuchungen und Gefahren lauert. Dabei sollte man nicht vorschnell urteilen: Angesichts von wachsender Kriminalität, Gewalt und zum Teil Regellosigkeit bei der Austragung öffentlicher Konflikte (besonders in Polen) ist der Ruf nach Recht und öffentlicher Ordnung verständlich und legitim. Es sind jedoch'nicht gleich all jene autoritär oder rechtsextrem, die von der Regierung mehr Führungskraft und administrative Effizienz verlangen. Die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur erfordert unter diesen Bedingungen ständige Vorsicht vor autoritären oder rechtsextremen Lösungen und Führungspersonen. Dies ist besonders da schwierig, wo das Wachstum der neuen demokratischen politischen Kulturen durch einen antidemokratischen Nationalismus behindert wird.

X. Latenteinstabilität und Legitimationsprobleme

Latente Instabilität und Legitimationsprobleme charakterisieren den Aufbau demokratischer Strukturen und die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur in Ostmitteleuropa. Neben einer hohen allgemeinen und grundsätzlichen Zustimmung zur neuen politischen und wirtschaftlichen Ordnung („diffuse support“) besteht weithin ein Mangel an spezifischer aktiver Unterstützung der Parteien, der neuen Machteliten und bestimmter Institutionen, besonders in der Form eigenverantwortlicher Aktivitäten oder durch Übernahme von Ämtern, z. B. in Parteien und Verbänden. Es mangelt insgesamt an Vertrauen in die kurz-und mittelfristige wirtschaftliche und soziale Leistungsund Problemlösungsfähigkeit der neuen Systeme.

Einerseits ist das Vertrauen und die Hoffnung auf eine allgemeine wirtschaftliche Besserung, auf das langfristige Greifen der Reformen, auf wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ungebrochen. Demokratische Verfassungen und das Funktionieren demokratischer Institutionen, der sich entwikkelnde Pluralismus und kritische öffentliche Diskurse sorgen ebenso wie sektorale wirtschaftliche Erfolge für politische Stabilität und Legitimität. Daneben gibt es aber auch Enttäuschungen und Abwendung vom politischen System. Offen ist die Frage: Wird angesichts wachsender wirtschaftlicher und sozialer Probleme die Wertschätzung und Unterstützung der neuen demokratischen Strukturen und Verhaltensformen eher schwinden, oder wird die Bevölkerung um so mehr an den Errungenschaften der Freiheit und den Chancen pluralistisch-kapitalistischer Gesellschaftssysteme festhalten? Die neuen politischen Eliten greifen angesichts der Komplexität und der Schwierigkeiten des Transformationsprozesses gerne auf eine emotional ansprechende Symbolik und Rhetorik zurück. Sie führen Traditionen und nationale Gefühle ins Feld, beschwören Ideale und die historische Größe der Nation, um die legitimatorischen Ressourcen für das neue System und für sich selbst zu erhöhen.

Unter dem Deckmantel demokratischer Legitimationsformeln werden manchmal allerdings auch populistisch-autoritäre Lösungen propagiert. Politische Programmatik und politisches Sendungsbewußtsein verbinden sich in manchen Fällen mit dem Bemühen, Ersatzideologien zu schaffen und zu nutzen. Sie sollen das politisch-geistige Vakuum füllen, das der Zusammenbruch der alten Regime und ihrer Ideologie geschaffen hat. Politiker und neue gesellschaftliche Eliten müssen sich zugleich der Aufgabe wertorientierter Sinnstiftung stellen und doch eine neue Ideologisierung und obsolete Moralisierung der Politik vermeiden.

In einem solchen Klima ist es nicht leicht, Verständnis und Unterstützung zu finden für rationale und komplexe Problemlösungen, die ein hohes Maß an Informiertheit und Urteilskraft, an Geduld und Einsatzbereitschaft von den Menschen verlangen. Viele können die raschen und radikalen Veränderungen intellektuell und emotional kaum bewältigen. Weit verbreitet ist die Angst vor der Zukunft (wohl am wenigsten in der CSFR). Erfolgsbedingungen und soziale Folgen vieler Reformschritte sind nicht leicht kalkulierbar, die Risikobereitschaft ist bei vielen verständlicherweise gering. Eine diffuse Stimmungslage zwischen Akzeptanz und Resignation, zwischen Aktivismus und Hoffnungslosigkeit, zwischen Geduld und Intoleranz, zwischen spontanem Protest und ausdauerndem Bemühen ist die Folge.

XL Positive Potentiale für demokratische politische Kulturen

Trotz zahlreicher Schwierigkeiten und Hindernisse gibt es dennoch genügend positive Potentiale für die Entwicklung demokratischerpolitischer Kulturen in Ostmitteleuropa. Sie sind wirtschaftlich, sozial und kulturell von Land zu Land unterschiedlich. Politisch basieren sie zunächst auf national und individuell sehr differenzierten Erfahrungen mit Anpassung und Widerstand unter kommunistischer Herrschaft. Sie entfalteten sich vor allem im Zuge der friedlichen Revolutionen 1989/90, und sie bewähren sich im Aufbauprozeß heute.

Auch wenn in diesem Beitrag die Schwierigkeiten der Demokratisierung der politischen Kultur post-sozialistischer Gesellschaften betont wurden, so gibt es doch keinen Grund zur Hoffnungslosigkeit. Sie würde das Potential der Menschen und der neu geschaffenen Strukturen unterschätzen. Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei können in ganz unterschiedlicher Weise auf demokratisch-freiheitliche Traditionen in den letzten 200 Jahren zurückblicken, nicht nur auf die Zeit der stalinistischen Diktatur und gebeugter Anpassung nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch aus dieser Zeit gibt es eine reichhaltige Erfahrung und ein ermutigendes Erbe von Widerstand und Protest, von Eigenständigkeit und aufrechtem Gang, die Erfahrung von Solidarität und Zusammenhalt in kleinen Gruppen und Familien, von der eigenen Macht der Men sehen gegenüber den Mächtigen in Staat, Partei und Sicherheitsapparaten. Bei vielen Menschen ist das Bewußtsein für Recht und Unrecht, das Streben nach Freiheit und individueller Selbstentfaltung in diesen Jahren nicht verlorengegangen. Zu Recht sind gerade diese drei oder vier Nationen stolz auf die Art und Weise, wie sie die kommunistische Parteidiktatur zum Sturz gebracht haben, wie sie auf friedliche Weise eine neue demokratische Ordnung geschaffen haben. Gewiß, die heroische Aufbruchsphase ist vorüber, keineswegs aber ist die Erfahrung der erfolgreichen Massenmobilisierung vergessen. Zuversichtlich stimmt schließlich auch, wie sich seitdem Millionen für den Aufbau einer besseren Gesellschaft engagieren, aus Notwendigkeit und Überzeugung, mit Idealismus und Nüchternheit.

Ein großes produktives Potential dieser Gesellschaften bildet der in vielen Berufen hohe Ausbildungsstand von Intelligenz und Facharbeitern, die relative Modernität einzelner Industriezweige, vieler wissenschaftlicher Institutionen und des Netzes von Sozialeinrichtungen. Diese Feststellung bedarf gewiß vielfältiger Differenzierungen. Aber der überlegene Blick aus dem Westen sollte den gegenwärtigen Leistungsstand und vor allem die künftige Leistungsfähigkeit von Personen und Einrichtungen nicht unterschätzen, die sich als Ergebnis schon vor 1989/90 begonnener Lern-und Anpassungsprozesse entwickelt haben. Zahlreiche soziale und kulturelle Einrichtungen können auf eigene demokratische, nationale, christliche und europäische Traditionen zurückgreifen.

Teilweise waren auch Kirchen Träger des Widerstands und moralischer Integrität, sozialer Fürsorge und eines identitätsbewahrenden Glaubens (so besonders in Polen). Aber die Kirchen sind heute nur zum Teil Protagonisten des Neuen, d. h. eines modernen, aufgeklärten und praxisorientierten Glaubens; viel eher noch sind sie ein Hort des Konservativen und Apolitischen, fundamentalistischer oder tradititionalistischer Bewegungen und Einflußnahmen auf die Gesellschaft (z. B. auch im Zuge der vom Papst angestrebten „Re-Katholisierung Osteuropas“ oder im Boom der neuen Sekten). Zugleich jedoch wächst z. B. in Polen die Zahl jener, die einen übermäßigen Einfluß der katholischen Kirche in Politik und Erziehung, gerade auch in der Abtreibungsfrage, ablehnen. Die von den Kommunisten forcierte Säkularisierung ermöglicht heute auf paradoxe Art in bestimmten Fragen* mehr individuelle Selbstbestimmung und eine offenere Gesellschaft.

Zu Recht werden heute Ideologie und Praxis des bürokratischen Sozialismus insgesamt negativ beurteilt. Man darf jedoch nicht übersehen, daß die Erziehung zu sozialistischen Idealen bestimmte Spuren im Bewußtsein der Bevölkerung hinterlassen hat. Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit, Solidarität und die paternalistische Fürsorge-verantwortung des Staates sind Werte und Normen, die sich aus dieser Zeit bis in unsere Tage erhalten haben. Auch ist bei allen Einschränkungen der Stand der Frauenemanzipation besonders im beruflichen Bereich und in der Verbindung von Beruf, Familie und Kindererziehung beachtlich, ohne daß der Patriarchalismus in diesen Gesellschaften schon überwunden wäre.

Nicht zuletzt gab es spezifische Qualitäten menschlichen Zusammenlebens: gegenseitige Hilfe und Zusammenhalt in Not und Bedrohung, die Unterstützung mutiger Dissidenten und die clevere Unterwanderung bürokratischer Macht; das vertrauliche, freundschaftlich-offene Gespräch und eine nicht nur ökonomisch erzwungene Bescheidenheit. Viele achteten eher auf persönliche Integrität und Würde und nicht so sehr auf Konsumstandard und Statutssymbole wie im Westen.

Erinnern wir uns: Seit ihrem Bestehen lebten die ostmitteleuropäischen Länder unter dem Einfluß kritischer Kommunikationsströme aus dem Westen, wie z. B. Rundfunk, Fernsehen, Besucher, Exilpresse. So wurden nicht nur Informationen und Systemkritik importiert, sondern auch Vorstellungen von einer demokratischen politischen Kultur auf der Basis der Menschenrechte. Die Reformansätze und Revolten in einzelnen Ländern des Ostblocks strahlten auf den Rest aus. Besonders in den achtziger Jahren gewinnen diese trans-nationalen Einflüsse und „Alternativ-Modelle“ wachsende Bedeutung. Die polnische „Solidarnosc“ und die „Charta 77“ der ÖSFR tauschten Erfahrungen und Konzepte aus und arbeiteten zum Teil zusammen.

Heute sind die Ost-Ost-Einflüsse bei der Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur allerdings weniger wichtig als die vielfältigen Aktivitäten westlicher Partner. Schließlich ist es diese Entwicklung von Kooperation und guter Nachbarschaft, die besonders die drei ostmitteleuropäischen Länder als Basis und Triebkraft ihrer demokratischen Entwicklung ansehen können. So gibt es Ansätze zu einer Kooperation dieser drei Staaten untereinander. Ihre Aufnahme in das Europaparlament und in die KSZE, die ausgehandelten Assoziierungsabkommen mit der EG und die jüngst geschlossenen Verträge zur militärischen Abrüstung und Rüstungskontrolle stellen wichtige Rahmenbedingungen für die Stabilisierung dieser jungen Demokratien dar.

XII. Die Transformationsprozesse in Ostmitteleuropa

In der Entwicklung demokratischer politischer Kulturen sehen sich die Eliten und die Bevölkerung Ostmitteleuropas vor die schwierige Aufgabe gestellt, konsensfähige Handlungsprinzipien und Wertorientierungen zu entwickeln, die die Gesellschaft integrieren, neue Identität stiften und demokratische Strukturen mit Leben erfüllen können. Ein risikovoller Transformationsprozeß ohne Vorbild soll demokratisch und sozial verträglich durchgeführt werden. Auch im Westen ist die Entwicklung des Kapitalismus nicht nur eine Erfolgsstory liberaler Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, sondern auch die eines harten Kampfes um angemessene Löhne und Sozialleistungen, um innerbetriebliche Demokratie und wohlfahrtsstaatliche Absicherungen. Ohne gesicherte Routinen im Alltag, ohne soziale Sicherheit und ausreichende materielle Lebensgrundlagen ist es schwierig, Bereitschaft und Fähigkeit zum aktiven politischen Engagement zu entwickeln. Daran mangelt es z. B. auch heute noch in den politischen Kulturen der westeuropäischen Demokratien oder in den USA.

Wir sollten vorsichtig sein mit pauschalen Urteilen über den Entwicklungsstand ganzer politischer Kulturen. Selbst wenn es so ist, daß demokratische politische Werte und Normen in der Praxis westeuropäischer Gesellschaften besser verankert sind, so gibt es doch keinen Grund, mit Überheblichkeit nach Osten zu blicken, schon gar nicht für die Deutschen in Ost und West. Vor allem sollten wir nicht mit unterschiedlichen Maßstäben messen, wenn wir Ost und West meist abstrakt-typologisch miteinander vergleichen und dabei „dem Osten“ -und sei es oft nur unterschwellig -etwas schulmeisterlich schlechte Noten erteilen. Denn gerade in den drei ostmitteleuropäischen Ländern waren und sind wir zugleich Zeugen eines selbst-initiierten, mutigen und schwierigen Transformationsprozesses voller emanzipatorischer Potentiale und Erfahrungen. Er wird getragen von Mitgliedern der politischen Elite, die mit großem Ernst, Umsicht und Engagement eine neue Gesellschaftsordnung schaffen wollen. Der Blick auf die Entwicklung in Ostdeutschland, aber auch auf die mühsamen Demokratisierungsprozesse in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt, daß es sich bei der Entwicklung demokratischer politischer Kulturen um einen langfristigen Lernprozeß handelt.

Wahrscheinlich erfordert die Transformation postsozialistischer Gesellschaften national-und systemspezifische Lösungen, die dieser historisch einmaligen Aufgabe und den Bedingungen der einzelnen Länder besser entsprechen. Solche Lösungen wären für die meisten gesellschaftlichen Bereiche mehr als spezifische Wege in der Moderne zu verstehen, weniger als eine nachholende Modernisierung oder als Wege in die Moderne. So negativ auch die historischen Erfahrungen mit dem bürokratischen Sozialismus zu bewerten sind, so sollten die Westeuropäer doch nicht übersehen, daß der Sozialismus selbst ein Kind eigener moderner Traditionen der letzten beiden Jahrhunderte ist. Der bürokratische Sozialismus war eine insgesamt erfolglose, inhumane und undemokratische Antwort auf die Entwicklungsprobleme und Ungerechtigkeiten des Kapitalismus.

Historisch und politisch haben die Völker Europas gemeinsame Verantwortung zu tragen in der Bewältigung der Transformationsprobleme Mittel-und Osteuropas. Das Zusammenwachsen in Europa und besonders in Mitteleuropa wird aber zunehmend überlagert, ja überschattet von der gemeinsamen Bedrohung durch globale Umweltzerstörung und friedensgefährdende Rüstung, durch die gewaltsame Lösung der Probleme nationaler Emanzipation und die Instabilität neugebildeter Staaten im ostmitteleuropäischen Raum, einschließlich der GUS. Offen ist, wie wir die gemeinsame europäische Verantwortung für die Biosphäre und für die Nöte der sogenannten Dritten Welt angemessen wahrnehmen. Wir sollten also Fragen des Weges in die Demokratie und der Entwicklung demokratischer politischer Kulturen in Ostmitteleuropa immer auch als Fragen an alle europäischen Gesellschaften und als Herausforderungen in globaler Perspektive verstehen. Es gibt nur eine gemeinsame „Rückkehr nach Europa“ oder besser: eine gemeinsame Suche nach einem neuen Europa.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Gerd Meyer, Dr. phil., geb. 1942; seit 1977 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: Die DDR-Machtelite in der Ära Honecker, Tübingen 1991; (zus. mit W. Thaa/I. Häuser/M. Schenkel) Gesellschaftliche Differenzierung und Legitimitätsverfall des DDR-Sozialismus. Das Ende des anderen Wegs in der Moderne, Tübingen 1992; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften und Sammelbänden.