I. Vorbemerkung
Die Mitte November 1992 gefallene Entscheidung der anglikanischen Kirche, ihre rein männliche Priesterkaste prinzipiell für Frauen zu öffnen, kam erst nach einem fast zwanzigjährigen Diskussionsmarathon zustande, ungefähr denselben zwanzig Jahren, die auch die zweite Frauenemanzipationsbewegung dieses Jahrhunderts die öffentliche Diskussion beeinflußt hat. Während die progressiven Christinnen und Christen sich freuen, die progressiven Atheistinnen und Atheisten den Kopf schütteln, gibt es noch eine dritte mögliche Perspektive auf dieses Ereignis. Nämlich: Was verrät eine solche historische Zäsur über den Emanzipationsstand beider Geschlechter bzw.des Geschlechter-Verhältnisses einer Gesellschaft? Sind alle anderen ökonomischen und menschenrechtlichen Fragen soweit geklärt, daß nur noch solche alten Zöpfe fallen müssen? Was verraten die scharfen Reaktionen der katholischen Amtskirche -immerhin der langlebigsten Institution des Patriarchats -über Befindlichkeit und Bewußtseinsstand der heutigen Emanzipationsgegner allgemein? Im folgenden will ich versuchen, zu diesen Fragenkomplexen einige klärende Punkte zusammenzutragen.
II. Ein Neuanfang mit Vorgeschichte
Der Emanzipationsgrad beider Geschlechter wurde bisher in erster Linie von einem Geschlecht, dem weiblichen, vorangetrieben. Das Geschlechterverhältnis wurde dementsprechend -wenn überhaupt -von Frauen der Frauenbewegung in Frage gestellt. In den Ländern der westlichen Welt begann die zweite Frauenbewegung Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre und stand -wie schon so oft in der Geschichte, wenn Frauen Menschenrechte einforderten -in unmittelbarem Zusammenhang mit einer umfassenden Kritik an verkrusteten gesellschaftlichen Zuständen und dem Versuch ihrer revolutionären Überwindung: Treibende Kraft war die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsene, im demokratischen Geist erzogene (aber nicht geübte) Jugend, die in breiterem Maße als zuvor Zugang zu Bildungsprivilegien hatte. Große Teile einer jungen Frauengeneration teilten die Kritik ihrer männlichen Kommilitonen an der Restauration der Nachkriegsjahre. Als Frauen sahen sie sich jedoch seitens ihrer männlichen Mitstreiter einer Haltung ausgesetzt, die offensichtlich Revolutionäre erster und zweiter Klasse unterschied: für Männer die Theorie, die Strategie, die Initiative, die Leitungs-und Entscheidungsfunktionen sowie die Repräsentation, für Frauen die Schreib-, Abzugs-und Kaffeemaschine, Abwasch, Windeln und der -nun „befreite“ -Sex.
Die Frauen, die damals die ersten Tomaten warfen -nachdem ihre inhaltlichen Argumente anhaltend unerwünscht und unverstanden geblieben waren -wußten nicht, daß es 120 Jahre zuvor eine erste Frauenbewegung in Europa, in den USA und in Deutschland gegeben hatte, die immerhin sechzig bis siebzig Jahre lang gekämpft hatte. Sie konnten weder an deren geistiger Tradition noch an ihren Argumenten und Erfahrungen anknüpfen, noch aus ihren Fehlern gelernt haben. Eine einseitig männliche Geschichtsschreibung und ihr Widerhall in den Schulbüchern hatte die historischen Kämpfe der Frauen um Menschenrechte, um Bildung, um Rechte am eigenen Leib, um Zugang zur Erwerbs-arbeit, um Teilhabe an Kultur und Politik unterschlagen. Die Frauen fingen also Anfang der siebziger Jahre wieder bei Null an. Vor gut 20 Jahren wußten sie nichts von Christine de Pizan oder Flora Tristan in Frankreich, von Mary Astell, Mary Wollstonecraft und Emmeline Pankhurst in England, von Louise Otto, Hedwig Dohm oder Anita Augspurg in Deutschland und auch nichts von Elizabeth Cady-Stanton in den USA oder von Alexandra Kollontai in der UdSSR Sie wußten nichts von den Forderungen, den Programmen, den Richtungskämpfen und dem Zusammenbruch der ersten Frauenbewegung auf deutschem Boden. Sie konnten somit auch nicht wissen, auf wessen Schultern sie standen, d. h., daß der ihnen selbstverständlich erscheinende Zugang zu Bildung, Stimmrecht, Rechtsfähigkeit und Berufstätigkeit hart und lange von Frauengenerationen vor ihnen erkämpft werden mußte. Es war ein Anfang bei Null, d. h., die Frauen waren naiv, ungeduldig, ohne Überlieferung, ohne Vorbilder, ohne Erfahrung, Förderung, Strategie, Lobby, ohne erprobte Werkzeuge und Kampfformen und ohne Analyse und entwickelte Begriffe. Vor dem Hintergrund eines solchen Starts wird deutlich, was eine Person, eine Gruppe, eine Bewegung in der Lage ist zu leisten und wie berechtigt ihr Anliegen sein muß, wenn sie auf allen diesen Gebieten innerhalb kürzester Zeit grundlegende Arbeiten und Erkenntnisse vorlegt.
III. Die doppelte Gretchenfrage der Frauenbewegung
In der Tat waren die Frauen, die sich in der neu entstehenden Frauenbewegung engagierten und sie vorantrieben, in der Lage, in atemberaubend kurzer Zeit zu genau jenen zwei Kernpunkten vorzudringen, die seit jeher in patriarchalen Gesellschaften die Stellung der Frau definieren und ihre Diskriminierung garantieren: der Frage nach den Rechten am eigenen (Frauen-) Körper und der Frage nach den Rechten des eigenen Lebensunterhalts (und wie beide miteinander Zusammenhängen). Nicht zufällig wurde von den überwiegend gut ausgebildeten Frauen der zweiten Frauenbewegung Punkt eins zuerst aufgegriffen und zum Brennpunkt ihres Engagements gemacht. Und ebenso wurde er zum effektiven Punkt der Ausbreitung und Multiplikation ihrer Sichtweisen in andere als nur Bildungsgeschichten hinein. Am Paragraphen 218 Strafgesetzbuch zeigte sich, daß von dem mangelnden Verfügungsrecht über den eigenen Körper und seine reproduktive Potenz alle Frauen betroffen waren. So wurde der politische Kampf gegen den damaligen § 218 zum ersten antreibenden, vereinigenden und stärkenden Anliegen der neuen Frauenbewegung -aber ebenso auch zum Brennglas für Erkenntnisse und Analysen über die Funktionsprinzipien patriarchaler Gesellschaften überhaupt. 1. Die Rechte am eigenen Leib Die Kontrolle der weiblichen Fruchtbarkeit und die Verfügung über die Leibesfrüchte der Frau und die somit nötige Überwachung der weiblichen Sexualität wurde zunehmend als eine der grundlegenden patriarchalen Triebfedern erkennbar -quasi als eine Art „patriarchaler Urknall“, der bis heute sein klar vernehmliches Hintergrundrauschen abstrahlt. Noch immer sind die von den heutigen Gegnern des Selbstbestimmungsrechts der Frau vorgebrachten Argumente in dieser Hinsicht verräterisch, insbesondere die von den Vertretern der Männerbünde (z. B. Klerus) geäußerten Gründe.
Frauen, die ungewollt schwanger werden und ihre Leibesfrucht nicht austragen wollen, bzw. Frauen, die diese Wahlfreiheit als Selbstbestimmungsrecht einfordem, wird unterstellt, daß sie leichtfertig, gewissenlos und verantwortungsscheu sind, daß sie ihre natürlichen Pflichten ablehnen, egoistisch nur an Genuß, Karriere, Wohlstand und Selbstverwirklichung interessiert seien. Dies ist ein denkwürdiger Katalog an Vorwürfen, der sich eher wie eine Liste männlicher Projektionen liest, wenn man bedenkt, daß hinter jeder ungewollt geschwängerten Frau ein „fahrlässig penetrierender“ Mann steht, dessen Person und Motive aber in der ganzen Diskussion diskret ausgeblendet bleiben. Liest man dagegen die Berichte der Beratungsstellen für Schwangerschaftskonflikte, ergibt sich eher ein Bild von den betroffenen Frauen als verzweifelt, schuldbewußt, verantwortungsvoll, langfristig abwägend und nachdenklich. Die Statistiken zeigen zudem, daß der Großteil der abbrechenden Frauen jene sind, die bereits mehrere Kinder haben (d. h., die ihre Kinderzahl zugunsten der schon vorhandenen Kinder beschränken wollen), und nicht die kinderlosen Karrierefrauen oder die sexuell zu freizügigen jungen Mädchen.
Obwohl diese Tatbestände jedem zeitunglesenden Menschen einigermaßen geläufig sind, werden die Vertreter des mächtigsten Männerbundes aller Zeiten -der katholischen Kirche -nicht müde, die im allgemeinen vorgebrachten diffamierenden Argumente noch zu übertrumpfen: Abtreibende Frauen werden von katholischen Bischöfen mit Mörderinnen und Nazi-Schergen gleichgesetzt; die Freigabe der Abtreibung wird mit der organisierten Massentötung der Juden im Holocaust verglichen. Während die neuen realen KZ’s des Kriegs auf dem Balkan, angefüllt mit vergewaltigten Frauen und Mädchen -viele von ihnen geschwängert, physisch wie psychisch lebensgefährlich verletzt -, dem Vatikan keine Stellungnahme wert sind, werden seine Funktionäre nicht müde, abtreibende Frauen mit Henkern in Vernichtungslagern gleichzusetzen.
Solche wüsten Anschuldigen sagen mehr über die Motive der sie Äußernden und über den grundlegenden Charakter des Konflikts aus als über die Beschuldigten selbst. Denn genau dies hat der Kampf um das reproduktive Selbstbestimmungsrecht der Frau seit seinen Anfängen bis heute geleistet: die zunehmend klare Erkenntnis, daß der Gedanke der Entscheidungshoheit der Frau über ihren eigenen Körper und über ihre reproduktive Kraft für patriarchal strukturierte Gesellschaften das Böse schlechthin sein muß, weil es an ihre Grundlagen rührt: die männliche Verfügungsgewalt über den von Frauen produzierten Nachwuchs. Den natürlichen Vorteil der Frauen -daß sie Kinder haben können und Männer nicht -durch männliche Kontrolle zu eliminieren ist -wie wir heute wissen -das Fundament vaterrechtlicher Gesellschaftsordnungen, und war diesen in ihren Anfängen auch klar bewußt, wie wir z. B. bei Cato (ca. 200 v. u. Z.) oder Aristoteles (350 v. u. Z.) nachlesen können
Lange im Vorfeld des Abtreibungsverbots haben alle sexualpolitischen wie familienrechtlichen Regelungen in vaterrechtlichen Gesellschaften die gemeinsame Funktion, den Männern die Entscheidung über und den Zugriff auf die Kinder zu übertragen und dies als natürliches Recht auszugeben: die „Konstruktion“ der menschlichen Abstammung nach einer , nicht sichtbaren 4 väterlichen Linie gegenüber einer eindeutig weiblichen Herkunft. Die dies sicherstellenden Ge-und Verbote -weibliche Jungfräulichkeit, weibliche Monogamie, weibliches Scheidungsverbot, Verbot außerehelicher Beziehungen für Frauen, weiblicher Gebärzwang, Verbot von Verhütungsmitteln, weibliche Verbannung aus der Öffentlichkeit, Sanktionen bei unehelicher Mutterschaft und schließlich das Abtreibungsverbot -dienen allesamt der Ausübung männlicher Kontrolle über das, was sie -bisher -nicht selbst beherrschen: die Kinderherstellung.
Die Erkenntnis, daß es Männern und Abtreibungsgegnern um das Prinzip männlicher Macht und Entscheidungsgewalt über Frauen und ihre Körper geht und nicht um geborene Kinder, lebende Mütter und ihre Familien, führte zusammen mit der Einsicht, daß Frauen nicht leichtfertig abtreiben, dazu, daß der Anspruch auf die rechtliche Anerkennung der Frau als verantwortlich entscheidende Person über die Belange ihres eigenen Körpers -ohne Entmündigung durch selbsternannte männliche Ethikkommissionen -eine der zentralen Kräfte für die Konsolidierung der zweiten Frauenbewegung war und es weiterhin bleibt (vgl. Memmingen, Mahngeläut, die abermalige Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gegen die parlamentarisch beschlossene Liberalisierung des § 218).
Der langanhaltende Kampf um die weibliche Autonomie über den eigenen Körper hat auch den Anstoß zur Erforschung eines ganzen Syndroms weiblicher Zweitrangigkeit und Unterdrückung auf den unterschiedlichsten Ebenen (von Sexualität, Partnerschaft, Familie, Recht, Ausbildung, Beruf und Kultur) gegeben. Die zweite Frauenbewegung hat ein ganzes Panoptikum miteinander zusammenhängender Faktoren und Facetten aufgedeckt, die alle auf die Entmündigung der Frau als Mensch hinauslaufen. In direktem und engerem Zusammenhang mit der Problematik der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs standen zunächst Kämpfe um Aufklärung über Verhütungsmethoden in Schulen und Öffentlichkeit sowie der legale Zugang zu schonenden und sicheren Verhütungsmitteln. Im weiteren Zusammenhang standen der Abbau von Unwissen, Vorurteilen und Ängsten hinsichtlich weiblicher Sexualität und Sexualmoral generell. Und schließlich wurde sehr bald der unübersehbare Zusammenhang dieser Themen mit der Frage männlicher Gewalt entdeckt und praktisch wie theoretisch bearbeitet. Zunächst wurde das enorme, bisher verborgene Potential von physischer, später auch psychischer Gewalt in scheinbar ganz normalen Ehen aufgedeckt. Den ersten Anstoß dazu gaben schutz-suchende Frauen Mitte der siebziger Jahre. Danach bekam das Problem der geschlagenen Frauen eine derartige Eigendynamik, daß es zunehmend auch eine nichtfeministische Öffentlichkeit beschäftigte. Erst über den „Umweg“ der körperlichen Gewalt in der Ehe -erkennbar, benennbar, abgrenzbar und in Gestalt vonFrauenhäusern mehr und mehr unübersehbar -wurde zunehmend klar, wie sehr die Gewalt gegen Frauen offenbar ein immanenter gesellschaftlicher Bestandteil ist und wie erstaunlich eng sie mit dem Thema Sexualität verknüpft ist: Sie reicht von sexueller Gewalt in der Ehe, über sexuelle Gewalt in Kindheit und Familie, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung bis zu deren kultureller und ideologischer Überhöhung in Pornographie und Kunst. Auch hier gelang es der Frauenbewegung durch Öffentlichkeitsarbeit wie durch Forschungsarbeiten den Nachweis zu liefern, daß die alten Mythen (z. B. Frauen genießen und provozieren Vergewaltigung, sexueller Mißbrauch ist kindliche Wunschphantasie) nicht nur falsch sind, sondern der Stützung und Kaschierung der gewalttätigen Verhältnisse dienen -und vor allem dem Schutz der Täter. Der weiterhin anhaltende Streit um den „Körper Frau“, die erneute Anrufung des Bundesverfassungsgerichts wegen der Abtreibungsgesetzgebung, neueste Versuche der Aneignung des weiblichen Uterus durch experimentierfreudige Mediziner im Verein mit männlichen Ethikkommissionen zeigen, daß der Kampf um das Menschenrecht am eigenen Körper und an eigener Fruchtbarkeit als Thema nicht erledigt ist. 2. Das Recht auf ökonomische Unabhängigkeit f Den zweiten zentralen Punkt -das Recht, den eigenen Lebensunterhalt durch Zugang zu Berufen und Erwerbstätigkeit zu sichern -fanden die Frauen der zweiten Frauenbewegung schon vor -prinzipiell jedenfalls. Es war eine Art spätes Geschenk der ersten Frauenbewegung, die es in Gestalt des Artikel 3 Grundgesetz durch eine ihrer lebenden Nachfahrinnen, Elisabeth Selbert, der neuen Republik 1949 ins Grundgesetz schreiben ließ. Erst auf den zweiten Blick merkten viele Frauen, daß die verbotene Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sich weiterhin in vielerlei wirksamer Gestalt abspielte, in rechtlicher, ökonomischer und sozialer Hinsicht: Frauen bekamen weniger Lohn als Männer, hatten geringere Ausbildungs-und Aufstiegschancen als Männer, wurden eher gekündigt und arbeitslos und waren sehr viel seltener in leitenden und verantwortungsvollen Positionen anzutreffen. Die Frauen der zweiten Frauenbewegung -insbesondere die besser ausgebildeten und beruflich höher qualifizierten -haben diese Erfahrung längst auch am eigenen Leib machen können. Das Thema der qualifizierten Ausbildung und des gleichberechtigten Zugangs zur Erwerbsarbeit -um das Familieneinkommen aufzubessern, die eigenen Kinder durch-zubringen oder um im Ernstfall vom Partner nicht abhängig oder erpreßbar zu sein, aber auch „nur“, um gleichberechtigt zu sein -hat in den letzten zwanzig Jahren einen enormen Zuwachs an Selbstverständlichkeiten gewonnen.
Daß dies so ist, ist nicht eine automatische Folge des Gleichberechtigungsparagraphen von 1949, sondern das Ergebnis seiner systematischen Einklagung und Anmahnung über zwanzig Jahre hinweg, inklusive vieler Gesetzesinitiativen und -änderungen im Dunstkreis der zweiten Frauenbewegung. Von der Abschaffung der Leichtlohngruppen und Aufhebung des Nachtarbeitsverbots für Frauen, der Änderung des § 1356 Bürgerliches Gesetzbuch („Die Frau... ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“) über die wiederholten Versuche zur Verabschiedung eines Gleichberechtigungsgesetzes, die Anstöße zur Frauenförderpolitik bis hin zu den gegenwärtigen Initiativen zur Ergänzung des Artikel 3 Grundgesetz sind die letzten zwanzig Jahre Frauenbewegung ein anschauliches Beispiel anhaltender Kämpfe um ökonomische und rechtliche Gleichberechtigung mit dem Mann, wobei die Erfolgsbilanz höchst unsicher ist. Einerseits haben die Frauen in dieser Zeit bildungs-, ausbildungsund beschäftigungspolitisch enorm aufgeholt, so daß die bequemste aller Diskriminierungslegitimationen -die der mangelnden weiblichen Qualifikation und Motivation -heute weniger denn je zu halten ist (so erhöhte sich z. B.der Anteil der weiblichen Studierenden von 22, 6 Prozent im Wintersemester 1960/61 auf 41, 6 Prozent im Wintersemester 1990/91, die Erwerbsquote der Frauen zwischen 15 und 65 Jahren stieg von 47 auf 58, 5 Prozent zwischen 1972 und 1990). Andererseits sind sie trotzdem weiterhin weitgehend ausgeschlossen von den verantwortungsvollen und entscheidungsträchtigen Positionen in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kulturbetrieb (1992 gab es nur neun Prozent weibliche Führungskräfte in der deutschen Wirtschaft, fünf Prozent Professorinnen an deutschen Universitäten, durchschnittlich zwei bis sechs Prozent Redaktionsleiterinnen in den deutschen Rundfunkanstalten und nur 20, 5 Prozent weibliche Abgeordnete im Deutschen Bundestag).
In deutschen Ehen und in deutschen Kinderstuben ist Haushalts-und Erziehungsarbeit weiterhin so gut wie ausschließlich Frauensache: Selbst berufstätige Frauen sind fast ausschließlich allein für den Haushalt zuständig, 87 Prozent der Alleinerziehenden sind weiblich, und für nur drei Prozent aller Kinder unter drei Jahren stehen in den alten Bundesländern Tagesbetreuungsplätze zur Verfü-B gung. Die ehrenamtliche Arbeit in den Bereichen Gesundheit, Behinderten-, Alten-und Familien-hilfe wird zu 80 bis 90 Prozent von Frauen geleistet. Und gerade die materielle Kluft zwischen Männern und Frauen bleibt beachtlich: Frauen verdienen durchschnittlich konstant weniger als Männer, sie sind mit 19prozentiger Arbeitslosenquote fast doppelt so stark betroffen wie Männer (zehn Prozent), und sind sie älter als 65 Jahre, verfügen sie nur über 48 Prozent des Einkommens ihrer männlichen Altersgenossen
IV. Die Frage nach dem Erfolg
Was läßt sich nach einer solchen holzschnittartigen Betrachtung der Aktivitäten und Einsichten der zweiten Frauenbewegung als mögliche Erfolgs-oder Mißerfolgsbilanzierung festhalten? Zunächst nur eines: Die Antwort ist hochgradig abhängig vom jeweiligen Hintergrund, vor dem die Frage formuliert wird. Ist die zweite, ja noch aktive Frauenbewegung an ihren Ansprüchen und Zielen zu messen? Ist sie an den auf diesem Weg erreichten Etappensiegen zu messen? Oder sollte man ihre Erfolge und Mißerfolge vor dem historischen Hintergrund der ersten Frauenbewegung beurteilen? Versuchen wir der annähernden Gerechtigkeit halber Antworten auf allen drei Ebenen. 1. Die „harten“ Ziele: gleiche Menschenrechte Gemessen an ihren Ansprüchen -volle Menschenrechte für Frauen in den Kembereichen körperlicher Integrität und Selbstbestimmung und der gleichberechtigten Absicherung des Lebensunterhalts -hat die zweite Frauenbewegung ihre Ziele bisher nicht erreicht. Für beide Kernbereiche der Emanzipation von Frauen aus quasi feudaler körperlicher und ökonomischer Abhängigkeit von Männerrecht ist es den Feministinnen bisher nicht gelungen, die strukturelle rechtliche Diskriminierung abzuschaffen. Anders formuliert heißt das: Die männlichen Funktionsträger haben die eingeforderten Menschenrechte nicht zugestanden -ein Formulierungsunterschied, auf den ich zurückkommen werde. Es gibt keine ersatzlose Streichung des § 218, es gibt -bisher -keine Änderung des Sexualstrafrechts, keine Abschaffung der steuerlichen Privilegierung der Hausfrauenehe kein berufliches Frauenförderungsgesetz auf Bundesebene, und es gibt noch immer kein Gleichberechtigungsgesetz und keine Einigung über entsprechende Zusätze zum Grundgesetz. Die ökonomische und die arbeitsmarktpolitische Situation der Frauen hat sich weiter verschärft, und die gegen Frauen gerichteten Gewaltakte (Vergewaltigung, sexueller Mißbrauch, Körperverletzung in der Ehe) zeigen keine sinkende Tendenz. Es gibt keine politische Freisetzung von Mitteln für mehr Kinderbetreuungsplätze oder für Ganztagsschulen -zwei zentrale Voraussetzungen für weibliche Chancengleichheit im Beruf. 2. Etappensiege und „weiche“ Ziele Wenn die Frauenbewegung ihre selbstgesetzten Ziele nicht in vollem Umfang erreicht hat, welche Teilziele hat sie dann erreicht, und wie sind diese emanzipationspolitisch zu bewerten? In den letzten zwanzig Jahren sind einige Gesetzesreformen erfolgt, die durch das von der Frauenbewegung miterzeugte liberalere öffentliche Klima ermöglicht wurden, wie z. B. die oben genannte Abschaffung der ehefraulichen Alleinzuständigkeit für Haushaltsführung und der davon abhängigen „Erlaubnis“ der Erwerbstätigkeit, die Reform der Scheidungsgesetze (vom Schuld-zum Zerrüttungsprinzip), Abschaffung des Kuppeleiparagraphen und des Zwangs zum männlichen Familiennamen, die rechtliche Gleichstellung unehelicher Kinder mit ehelichen, der Ausbau von beruflichem Mutterschaftsschutz und Erziehungsurlaub u. v. a. m. Etappenerfolge -manche auch zweischneidig, noch keine feministische Revolution des Rechts.
Doch die Frauenbewegung hat nicht nur reagiert, sie hat aus der Kritik und Analyse der vorgefundenen Verhältnisse selbst Neues entwickelt. Da die Frauenbewegung in weiten Teilen gleichzeitig eine Frauenbildungsbewegung war und ist, haben Frauen zum ersten Mal in der Geschichte in einem zuvor nie gekannten Ausmaß Zugang zu Wissen, Bildung und Ausbildung erlangt, und sie haben dieses Wissen kritisch wie konstruktiv genutzt. Sie haben in allen Disziplinen der Human-wissenschaften (und ansatzweise auch in den Naturwissenschaften) die einseitig männliche Wissensproduktion einer Neubetrachtung unterzogen, Ideologie-und Methodenkritik geleistet und eigene Fragestellungen, eigene wissenschaftliche Forschungsarbeiten und Theorien entwikkelt. In den vergangenen zwanzig Jahren ist in Europa und in Nordamerika ein unglaublicher Schub an wissenschaftlicher kreativer feministischer Arbeit in den Bereichen Geschichtswissenschaft, Soziologie, Philosophie, Psychologie, Ethnologie, Sprach-und Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte, Pädagogik, Rechtswissenschaften, Medienwissenschaften, Theologie, Archäologie, Medizin-und Gesundheitswissenschaften erfolgt. Diese enorme Wissensproduktion ist eine klare Leistung der zweiten Frauenbewegung, die landläufig viel eher mit alternativen Praxisprojekten, feministischer Sozialarbeit, feministischer (Sub-) Kultur, neuen Familienformen und Lesbianismus assoziiert wird, einfach weil diese praktischen Seiten des feministischen Lebens für die Öffentlichkeit sichtbarer (und oft auch anstößiger) sind als die Fortschritte auf theoretischem Gebiet. Auf beiden Aktionsfeldern -die oft von identischen Akteurinnen beackert werden -wirkt die Frauenbewegung in dieselbe Richtung: In den achtziger und neunziger Jahren haben sich die allgemeinen Vorstellungen über Frauen und Männer und beider Zusammenleben in einem ungeheuren Ausmaß von den Vorstellungen und Vorurteilen der fünfziger und sechziger Jahre entfernt (und befreit): Die Ansichten über „richtiges“ Verhalten, Handeln und Leben von Frauen (und Männern) haben sich grundlegend gewandelt. 3. Gleichheit oder Differenz?
Der Zuwachs an Wissen und Aufklärung hat bei den Frauen zusammen mit der Möglichkeit zu weniger rigiden Lebensformen für breitere Frauenschichten als je zuvor gleichzeitig zu einer schärferen und umfassenderen Wahrnehmung dessen geführt, was in unserer Gesellschaft am Geschlechterverhältnis nicht im Lot ist. Angesichts der Unbeweglichkeit der Männer und vieler rechtlicher und ökonomischer Hindernisse mußte ein Mehr an Urteilsfähigkeit und begründetem Un-rechtsempfinden bei vielen Frauen auch zu einem Mehr an Enttäuschung und Resignation führen. Vor dem Hintergrund des Erreichten wie des (noch immer) nicht Erreichten stellt sich die Frage nach der Einschätzung des „Erfolgs“. Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Die männlich geprägten Gesellschaftsstrukturen -aber auch die harte, unnachgiebige Haltung der vielen männlichen Individuen, die diese aufrechterhalten -und die immer weniger übersehbaren Krisen und Folgekosten einer auf rücksichtslose wirtschaftlich Ausbeutung setzenden patriarchalen Ökonomie haben bei vielen Feministinnen zu der Auffassung geführt, daß nicht länger der Kampf um Rechtsgleichheit für Frauen im Vordergrund stehen sollte: Statt dessen treten sie dafür ein, auf einer weiblichen Differenz zum Mann, auf den von Frauen entwickelten Eigenschaften der Fürsorglichkeit, Mitmenschlichkeit und der zwischenmenschlichen Verantwortlichkeit zu beharren. Gleiche Rechte im Beruf und am eigenen Körper gelten ihnen als „Gleichmacherei“ mit männlichen Erfolgs-und Konkurrenzmenschen, die den Frauen und der Gesellschaft langfristig nur schaden könne. Viele Frauen wollen nun nicht mehr „gleiche“, sondern andere Rechte. Wenn sich die männliche Zivilisation mit ihrer Katastrophenpolitik nicht durch Gleichberechtigung, Teilhabe und Mitspracherecht der Frauen ändern läßt -und das erscheint vielen Frauen nach zehn oder zwanzig Jahren vergeblicher Bemühungen erwiesen -, dann scheinen Veränderungen eher mit einer Strategie der weiblichen Gegenkultur zu erzielen, die auf die Stärken des weiblichen Andersseins setzt.
Beide Strategievorstellungen innerhalb der zweiten Frauenbewegung stehen momentan unverbunden, teils sich voneinander abgrenzend, nebeneinander. Die Strategie der Gleichberechtigung im persönlichen wie im öffentlichen Leben setzt auf die Menschenrechte und ihre noch ausstehende volle Anwendung auf die Frauen in den Bereichen des Rechts am eigenen Leib (Selbstbestimmung in Sachen Verhütung, Schwangerschaft, Sexualität und Freiheit von physischer und psychischer Gewalt) und des Rechts auf Mitwirkung in allen gesellschaftlichen Bereichen (Bildung, Beruf, Kultur, Politik). Die Strategie der Differenz setzt auf Mütterlichkeit/ Weiblichkeit, weibliche Gegenkultur und zwischenmenschliche Moral, Verweigerung der Angleichung an männliche Prinzipien in Beruf und Ökonomie.
Während die abschließende Bewertung für beide Strategien noch aussteht, so scheint doch z. Zt.deutlich zu sein, daß beide Positionen für gegensätzliche Erfolgseinschätzungen stehen: Die Differenzposition will den weiblichen Kulturanteil deshalb stärken, weil die Gleichberechtigungsstrategie in ihren Augen nichts oder zu wenig gebracht hat; die Gleichberechtigungsposition glaubt die erreichten Fortschritte durch anhaltende Hartnäkkigkeit und Verhandlungsgeschick (z. B. im Fall von § 218) vor Rückschlägen bewahren und sich durch Forderungen, Kampagnen und Rechtsargumente (Frauenförderung, Frauenquoten) ihren politischen Zielen schrittweise annähem zu können. Beiden Positionen fehlt aber erstaunlicherweise die Fähigkeit, sich dialektisch mit den eigenen Schwachpunkten zu konfrontieren, nämlich die in der jeweiligen Gegenposition enthaltenen Wahrheitsanteile aufzugreifen (z. B. Differenzforderungen sind berechtigt und erfolgversprechend, aber nur, wenn man von bereits erreichten Zugangsrechten ausgehen kann). Dieser nicht stattfindende konstruktive Streit der politischen Aus-B einandersetzung innerhalb der zweiten Frauenbewegung hat bei einigen Beobachterinnen „Dj-
vu-Erlebnisse" erzeugt nämlich hinsichtlich der in mancher Hinsicht ähnlichen Argumentationen in der ersten deutschen Frauenbewegung und auch hinsichtlich der Nachteile, die dieser Umgang für beide Frauenbewegungen (gehabt) haben könnte. 4. Rückblick und Vergleich Ein Vergleich zwischen erster und zweiter deutscher Frauenbewegung ist aus mehreren Gründen unfair, aber trotzdem interessant. Interessant ist er deshalb, weil die erste Frauenbewegung durch zweimalige Abspaltung ihrer Organisationen sich erst von den Arbeiterinnen und dann von den radikalen Bürgerlichen trennte (und diese von ihr). Die verbliebenen sogenannten „gemäßigten“ Bürgerlichen konzentrierten sich auf die Bildungs-und Stimmrechtsfrage und erreichten mit ihrer Propagierung der „geistigen Mütterlichkeit“ und eines besonderen „weiblichen Wesens“ als kultureller Ergänzung und Veredelung der Männerwelt die Zulassung zu „weiblichen“ Berufen und zur Hochschulbildung. Die von den Proletarierinnen und von den Radikalen zusätzlich vertretenen Forderungen nach Gesetzesänderung bezüglich der Probleme Prostitution, Sexualität, Verhütung, Abtreibung, Scheidung etc. erschienen ihnen als nicht opportun und schädlich für Ansehen (und Erfolg) der bürgerlichen Frauenbewegung
Das aktive und passive Wahlrecht für Frauen erreichte die erste Frauenbewegung -im Gegensatz zu ihren Kolleginnen in den europäischen Nachbarländern -trotz jahrelanger Kämpfe nicht, sondern bekam es erst nach dem Ersten Weltkrieg mit der Weimarer Verfassung „geschenkt“. Der Auflösung bzw. Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten kam der Bund deutscher Frauenvereine nur durch Selbstauflösung zuvor. Der Nationalsozialismus hatte nichts Eiligeres zu tun, als die erkämpften Frauenrechte auf Bildung und Beruf wieder einzuschränken -mit einer Limitierung der Studentinnenzahl auf zehn Prozent und der Entfernung der Beamtinnen aus dem öffentlichen Dienst. Zynischerweise wurde genau mit den Argumenten vom Wesen, der Bestimmung und den besonderen Aufgaben der Frau argumentiert, wie denn auch die Nationalsozialistinnen sich nicht scheuten, einzelne der „Gemäßigten“ für sich zu vereinnahmen
Bleibt zunächst festzuhalten, daß sich die verschiedenen Flügel der ersten Frauenbewegung nicht konstruktiv gestritten, sondern destruktiv ausgegrenzt haben. Das führte dazu, daß sie sich auf-splitterten und in der Folge einzeln zerrieben wurden -die Proletarierinnen von der eigenen Männerpartei, die Radikalen von den „Gemäßigten“ und die „Gemäßigten“ von den Faschisten. Das Stimmrecht konnte keine Richtung allein erkämpfen, und die so wichtigen Erfolge in den Bereichen Bildung und Berufstätigkeit wurden mit denselben Argumenten hinweggefegt, mit denen sie erkämpft worden waren -so gründlich, daß nicht einmal eine Erinnerung an diese Kämpfe übrigblieb.
Außer der verblüffenden Ähnlichkeit zwischen erster und zweiter Frauenbewegung -Ausdifferenzierung in Vertreterinnen von Menschenrechten und Vertreterinnen eines besonderen weiblichen Wesens (und der nicht stattgefundenen Klärung, daß und wie beides Zusammenhängen müßte) -gibt es natürlich eine Menge zentraler Unterschiede zwischen beiden Bewegungen, deren wichtigste gerechterweise genannt werden müssen, gerade auch um eventuelle Erfolge der jetzigen Frauenbewegung mit Hilfe dieser zusätzlichen Perspektive besser einschätzen zu können.
Die zweite Frauenbewegung hatte im wesentlichen völlig andere Start-und Arbeitsbedingungen als die erste: Sie konnte von ihren -zwar ebenso revolutionären -Anfängen an doch von unvergleichlich besseren rechtlichen Bedingungen ausgehen, und sie konnte mit einem wesentlich breiteren Spektrum an gut ausgebildeten Frauen rechnen, das ansprechbar und mobilisierbar war. Somit standen potentiell wie realiter größere Mitglieder-und Sympathisantenzahlen zur Verfügung, die in breitere Bevölkerungsschichten hinein ausstrahlten. Dementsprechend war der zweiten Frauenbewegung eine viel umfangreichere Palette an Themen und Projekten aufgegeben, die sie verfolgen mußte und konnte, als es der ersten Frauenbewegung je möglich gewesen war. Ihren Mitgliedern wurde und ist klar, daß es praktisch kein gesellschaftliches Gebiet gibt, das nicht von der Geschlechter-frage berührt ist. Diese Einsicht ist allerdings auch der bitteren Erkenntnis geschuldet, daß es heute ein Gros an zusätzlichen Problemen und eine Ausweitung bestehender Probleme um Weltdimensionen gibt, die zu Anfang dieses Jahrhunderts so nicht existierten oder nicht erkannt werden konnten (z. B. atomare Bedrohung/Verseuchung, Umweltzerstörung, weltweite ökonomische Krisen und forcierte Ausbeutung der Dritten Welt, globale Kriege und Flüchtlingsprobleme, zusätzliche Enteignung und Bedrohung des weiblichen Körpers durch Gen-und Embryonaltechnologie etc.). All dies zusammengenommen bescherte der zweiten Frauenbewegung ein unvergleichliches Mehr an politischer Auseinandersetzung und an wissenschaftlicher Herausforderung bezüglich des Geschlechterverhältnisses und seiner Auswirkungen in den unterschiedlichsten Feldern von Praxis und Theorie.
V. Versuch einer Zwischenbilanz
Die erste Frauenbewegung ist nicht mehr zu einem Resümee ihrer Erfahrungen gekommen; die zweite ist dagegen noch lebendig und kann überdies aus ihren eigenen Erfahrungen wie aus denen der ersten noch Schlüsse ziehen. Sie hat außerdem die Chance, bei der Diskussion der weiblichen Differenz zum Mann strategisch die rechtlich bessere Ausgangsposition als die erste Frauenbewegung zu besitzen. Sie hat zumindest potentiell die Werkzeuge in der Hand, ihren internen Streit um Gleichheit versus Differenz der Geschlechter dialektisch zu führen und nicht dogmatisch -wenn sie es nur will.
Beide Frauenbewegungen haben in der Tat ihre größten Erfolge auf den „weichen“ Gebieten von Bildung, Aufklärung, Kultur-und Ideologiekritik vorzuweisen -wobei die zweite hier eindeutig qualitativ und quantitativ mehr leisten konnte. Auf den „harten“ Gebieten von rechtlichen und strukturellen Gesellschaftsveränderungen waren beide Bewegungen nicht sehr erfolgreich -wobei nur die Zeit zeigen wird, ob die „weichen“ Erfolge auf die Dauer nicht doch „harte“ Ergebnisse zeitigen. Doch ist gleichzeitig äußerste Vorsicht angebracht: Die eher „weichen“ Erfolge von Bildung und Wissenszuwachs waren in der ersten Frauenbewegung schwach abgesichert; für die zweite Frauenbewegung steht ein nur annähernd vergleichbarer Härtetest wie der Hitlerfaschismus zum Glück bisher aus. Im Rahmen eines massiven „backlash" für den Feminismus zumindest in den USA der Reagan-Bush-Ära und des auch in Europa wieder hoffähig werdenden Faschismus und Rechtsextremismus gibt es jeden Grund zu höchster Wachsamkeit. Antisemitismus, Ethnozentrismus und Faschismus hatten noch immer in Geschichte und Gegenwart als vierten Bundesgenossen den Sexismus. Somit sind massive Versuche, Frauen auch unter Androhung von Gewalt die Teilhabe an Menschenrechten wieder zu versagen oder zu erschweren, nicht auszuschließen.
Außerdem muß für die deutsche Situation registriert werden, daß Erfolge erstens nur in bestimmten inhaltlichen Bereichen erreicht wurden, die nicht an die patriarchale Substanz gingen, und daß sie sich zweitens nur in bestimmten Regionen -z. B. Bundesländern, Städten -etablieren konnten, unter völliger Aussparung anderer: z. B. bei Frauengleichstellungsstellen, § 218-Beratungsstellen oder medizinischer Versorgung mit schonenden Abbruchmethoden. Viele Errungenschaften sind überdies nur „geduldet“ und gehen manchen Männern schon jetzt entschieden zu weit. Im Falle härter werdender ökonomischer Konkurrenz oder von knapper werdenden Ressourcen werden sie per Machtgebrauch storniert: beispielsweise die bescheidenen Anstrengungen, Frauen in der Politik, auf dem Arbeitsmarkt, in der Wissenschaft wenn schon nicht zu fördern, so doch angemessen zu beteiligen. Die derzeitigen beschäftigungspolitischen Vorgänge in den neuen Bundesländern, die auch westliche Männer zu verantworten haben, sind ein schamloses Beispiel für die kostengünstige Vertreibung von Frauen aus ihnen zustehenden Arbeitsbereichen. Alle bisherigen Erfolge stehen also auf noch immer unsicherem Terrain.
VI. Die Rolle der Männer
Wir haben uns daran gewöhnt, sowohl die Unsicherheit erreichter Positionen als auch das Nicht-erreichen von wichtigen Zielen des Feminismus „negativ“ zu beschreiben: „Der Frauenbewegung gelang es nicht, XYZ durchzusetzen“; „Die Feministinnen verfehlten ihr gesetztes Ziel“; „Die Frauen scheiterten, ihre Vorstellungen zu realisieren“. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Kämpfeum das Frauenstimmrecht in der ersten deutschen Frauenbewegung, das diese „trotz aller Anstrengungen aus eigener Kraft nicht erreicht“ hat (s. o.). Das klingt immer fatal danach, als ob die Frauen eben nicht genug gekämpft hätten. Schließlich waren ihre europäischen Schwestern doch erfolgreicher -wenn man z. B. nur an die englischen Suffragetten denkt.
Man kann diese Zuschreibung aber auch umkehren und sagen: Die deutschen Männer waren ganz besonders hartherzig und im Vergleich mit den anderen europäischen Männern noch viel reaktionärer. Das wäre eine völlig andere Perspektive auf dieselbe Sache. Da die Männer de facto die Macht hatten, das Stimmrecht „zu gewähren“ oder nicht (wie sie auch heute die Macht haben, den Abtreibungsparagraphen gegen eine demoskopische Mehrheit der Bevölkerung, nicht nur der Frauen, zu verschärfen oder seine Reform zu verhindern), ist diese Betrachtungsweise mehr als legitim. Bittsteller können so überzeugend sein, wie sie wollen, wenn der Machtinhaber „nein“ sagt, gibt es keine legalen Mittel mehr.
Wie ist dieser hartnäckige Einsatz von schierer Macht zu erklären? Werfen wir einen Blick auf die Erscheinungsebene, auf die funktional machterhaltende Ebene und auf die individuell psychologische. 1. Die Arroganz der Macht Zunächst ist erstaunlich, wie wenig selbst die gebildeten Repräsentanten einer patriarchalen Gesellschaft -seien sie in Kultur, Wissenschaft, Rechtsprechung oder Politik tätig -die von der Frauen-bewegung jeweils bearbeiteten Themen überhaupt zur Kenntnis nehmen. Während sie sonst aufjedem dieser Gebiete auf dem Laufenden sein müssen, leisten sich viele Bildungsbürger hier arrogante Ignoranz. So ist weder ihr Unrechtsbewußtsein, ungeachtet der eindeutigen Statistiken über physische und sexuelle Gewalt, sexuelle Übergriffe und Diskriminierungen im Berufsleben oder über weibliche Armut, sonderlich tangiert, noch ist ihr ethisches Bewußtsein sonderlich sensibilisiert, wenn über fundamentale körperliche und Verfassungsrechte von Frauen durch männliche Gremien (, Ethikkommissionen 4) oder überwiegend männliche Verfassungsgerichte und -kommissionen entschieden werden soll. Auch das Bedürfnis, die wissenschaftlichen Leistungen der Frauenforschung zur Kenntnis zu nehmen, ist erstaunlich gering ausgeprägt. Nur wenige Männer interessieren sich etwa dafür, was in ihrer eigenen Disziplin Kolle-ginnen zum Thema Geschlechterverhältnis/Geschlechterideologie geforscht haben, sei dies nun in Psychologie, Literaturwissenschaften, Künsten, Geschichtswissenschaften oder Rechts-und Wirtschaftswissenschaften. Hier ist Ignoranz die Regel und Informiertheit die Ausnahme. Dies hat seine Entsprechung natürlich auch im Alltag, wo traditionellerweise Leistungen und Beiträge von Frauen nicht wahrgenommen werden. 2. Der Erhalt der Macht Auf einer strukturellen Makroebene sind solche Verhaltensweisen noch am ehesten verständlich -
einfach weil es hier funktional um den Erhalt des Status quo geht und damit um die bestehenden männlichen Privilegien bei Arbeits-und Ressourcenaufteilung. Außer der reinen Beharrungsträgheit eines etablierten Systems sind es selbstverständlich die immanenten Ziele und Zwecke des Systems selbst -hier also die Kontrolle über Frauen durch Männer auf verschiedensten Ebenen, insbesondere über weiblichen Arbeitseinsatz und Reproduktionstätigkeit, durch effektives Fernhalten von Frauen aus substantiellen politischen Entscheidungen, wie auch Kontrolle über die bewußtseinsbildenden Sphären des Kulturbetriebs, der Medien und des Klerus. Für diese patriarchale Makroebene liegen inzwischen umfassende Analysen vor Schon auf dieser Ebene läßt sich die eingangs gestellte Frage beantworten: Der Frauenausschluß aus dem Bereich des Kultus in Form des Ausschlusses vom Priesteramt (und durch das Zölibat auch aus dem Privatleben des männlichen Priesters) ist eine der ältesten und sinnbildlichsten Formen für männliche Kontrolle durch Ausschluß (hier: von der geistigen/geistlichen Macht). Diese Form des Machtanspruchs definiert sich tatsächlich, so der Pontifex Maximus wörtlich, nur ex negativo: „Durch die Zulassung von Frauen ist die eigentliche Natur des Priester-amtes direkt berührt.“ Die , Natur 4 des Amtes ist der Ausschluß von Frauen. Dieses recht hohle Selbstverständnis ist seit der Säkularisierung zwar zunehmend lächerlich, dafür aber in andere gesellschaftliche Männerbünde wirkungsvoll eingesickert. 3. Angst vor Kontrollverlust Aber werfen wir abschließend einen Blick auf die Ebene der individuellen Motivation jener Männer, die die Rettung patriarchaler Prinzipien vor Frauenanmaßung auf ihre Fahnen geschrieben haben. Natürlich geht es auch hier -frau hätte es voraussagen können -um die Aufrechterhaltung bzw.den Verlust von liebgewordenen Privilegien. Wenn die Frau beispielsweise ebenso berufstätig ist wie der Mann, könnte es passieren, daß er mit Hand anlegen müßte bei Haushalt und Kinderversorgung oder daß er auf sie als Konkurrentin am Arbeitsmarkt trifft. Beide Gefahren sind z. Zt. recht gering und auch rein abstrakt, da selbst berufstätige Frauen bekanntlich überwiegend die Organisation von Haushalt und Kindererziehung leisten und die finanziell interessanten Berufe statt ehrliche Konkurrenz de facto eine Männerquotierung praktizieren. Daher scheint es zusätzlich noch um mehr zu gehen, wie wir den vielen individuellen Fallgeschichten „ganz normaler“ Männer, wie auch denen expliziter Emanzipationsgegner, entnehmen können.
So begründeten die militanten Pro-Life-Kämpfer in den USA ihr Engagement (Anzünden und Demolieren von Kliniken, Zusammenschlagen von Schwestern und Ärzten, Kidnapping von Patientinnen mit Abbruch-Terminen) damit, daß sich das Recht auf Schwangerschaftsabbruch gegen den Vater richte (es ist nicht „ihr Baby“, sondern „seins“), daß die Frauen ihre Männer nicht liebten, wenn sie „sein“ Baby abtrieben, und daß die Frauen nicht allein entscheiden dürften bzw. solche Fragen überhaupt nicht entscheiden dürften. Schließlich wurde noch moniert, daß Frauen keine Gefahren mehr riskieren würden, wenn sie legal, und das heißt medizinisch überwacht, abtreiben könnten.
In weniger militanten Fällen, in denen nur öffentlich agitiert und diffamiert oder ein bißchen das Recht gebeugt wurde, kommen motivational ebenfalls merkwürdige Details zum Vorschein: Ein deutscher Richter, in Memmingen einschlägig aktiv, hat seine Freundin in der Vergangenheit selbst zum Abbruch animiert; ein amerikanischer Pro-Life-TV-Star erhält durch seine Auftritte endlich die Anerkennung, die ihm jahrelang als Versager auf anderen Feldern nicht gezollt wurde; ein irischer Bischof hat privat Geliebte, einen illegitimen Sohn und veruntreute Gemeindegelder zu verbergen, wenn er die offizielle Abtreibungspolitik seiner Kirche vertritt. Deutsche Juristen und Politi-ker, die offiziell sich für das ungeborene Leben einsetzen, haben ebenfalls im Privatleben Schwangerschaftsabbrüche und/oder unalimentierte Kinder zu verantworten.
Auf der Prominentenleiter nach unten steigend erfahren wir, daß auch ganz normale Männer sich häufig durch ein auffällig distanziertes bis manipulatives Verhältnis gerade gegenüber den Frauen, die ihnen nahestehen, auszeichnen. Viele deutsche und österreichische Männer berichten in Interviews daß sie ihre Freundinnen, Geliebten und Ehefrauen oft mit emotionaler Distanziertheit verletzen, daß sie sich vor gemeinsamer Verantwortung (z. B. für Schwangerschaften, Abbrüche, Kinderaufzucht) drücken, ihre Partnerin zwanghaft vor den Kopf stoßen (mit Affären, Verlassen und Gefühlskälte), und zwar dann, wenn sie zu große „Nähe“ befürchten und so emotionale Distanz wahren wollen, wenn sie zuviel eigenes Gefühl, zu-viel Involviertsein, zuviel eigenes Engagement ihrerseits befürchten, kurz, wenn sie meinen, nicht mehr „die Kontrolle“ über sich selbst und über die Gefühlsbeziehung zu haben.
Sie sind zwar leicht zu begeistern für starke und partnerschaftliche Frauen, können es mit ihnen aber nicht lange aushalten, weil sie nicht gelernt haben, zwischen starken Gefühlen zu einer Frau als gleichwertiger Erwachsener und dem Gefühl, von einer starken Frau bemuttert und damit kontrolliert zu werden, zu unterscheiden. Die Autorinnen führen dieses durchgängige Muster in den Biographien ihrer Interviewpartner nicht auf das klassische Klischee der dominanten Mutter, sondern darauf zurück, daß diese Männer als Kinder durch das Verhalten ihrer Väter (gegenüber ihren Müttern -nämlich kalt, sich entziehend bis verweigernd, durch Unansprechbarkeit und Abwesenheit glänzend) ihre Mutter nur in der Mutterrolle, aber nicht in der Rolle der Partnerin eines Mannes erleben konnten. Dementsprechend fehlt diese Vorstellungskombination später in ihrem Frauenbild, und sie nehmen jede Frau, zu der sie eine Gefühls-beziehung aufnehmen, gleichzeitig als (mütterliche) Bedrohung und Kontrolle wahr.
Man mag dieser interessanten Interpretation zustimmen oder nicht, auf jeden Fall bringt sie eine neue Perspektive in die Debatte um die „neuen Väter“ . Diese hätten nämlich demnach nicht nur den unschätzbaren Wert, die Ehefrauen endlich zu entlasten und ihren Söhnen als Väter wertvolle Vorbilder zu sein, sondern außerdem die wichtige Funktion, ihren Söhnen Beispiele zu liefern, wie man „Männlichkeit“ nicht durch Dominanz und Verweigerung gegenüber einer Frau definiert, sondern dadurch, daß man starke und attraktive Frauen auch als Gefährtinnen behandeln kann (und nicht nur als managende und notwendigerweise kontrollierende Mutter).
Die Interviewergebnisse zeigen aber auch ohne diese Interpretation klar und eindeutig, was das Problem der Männer mit ihren Frauen ist: verblüffenderweise ist es dasselbe wie auf der Makro-ebene des Patriarchats -Angst vor Kontrollverlust! Der militante Abtreibungsgegner, der bigotte Richter, der zwanghafte Bigamist, der frauenverschleißende Macho, der gegen Quotenregelung kreuzfahrende Politiker und ebenso viele normale, gefühlskontrollierte Männer -ihnen allen geht es nicht , nur‘ ums Prinzip. Es geht ihnen auch ganz persönlich um die Angst vor zu viel Involviertsein, vor Kontrollverlust über ihre eigene emotionale Befindlichkeit. Wenn sie die Frauen ihres Alltags-lebens mehr als Menschen emstnehmen würden und sie selbst als Partner, nicht nur als Dominanz-träger oder Verweigerer auftreten müßten, wäre es um ihr Selbstwertgefühl, aber auch um ihr Gefühlskorsett geschehen.
VII. Kleiner Vorschlag zur Strategiebereicherung
Bliebe eine letzte strategische Überlegung anzustellen. Wenn, wie angedeutet, sich die Hauptmotive patriarchaler Systeme „Ausschluß und Kontrolle von Frauen“ als psychologische Entsprechungen auch auf der individuell-biographischen Ebene vieler emanzipationsblockierender Männer wiederfinden lassen, dann sollten diese Motivationen im Kampf um Frauenemanzipation in Zukunft auch klarer herausgearbeitet werden -mit dem Ziel, ihren unreifen Egoismus, ihre pubertäre Dürftigkeit klarzustellen.
Beide Frauenbewegungen haben die glatte, machtpolitische Weigerung der jeweiligen männlichen Machtinhaber gegenüber ihren Forderungen nicht als verursachenden Faktor „ihrer“ Mißerfolge analysiert, sondern sie als gegeben vorausgesetzt. Sie haben sich viel stärker selbstkritisch nach ihren eigenen Fehlern und nach einer verbesserten Strategie gefragt. Vielleicht sollte der bewußte Blick auf die männlichen Verursachungsfaktoren bei künftigen Strategieüberlegungen doch ein zusätzliches Gewicht bekommen. Nach den vielen heren Prinzipien, die Gleichberechtigung nachsuchende Frauen sich haben um die Ohren schlagen lassen müssen (Rettung der Familie, Kindeswohl, Achtung des Lebens etc.), kann es nicht nur entlarvend und entlastend, sondern auch erhellend und orientierend wirken, wenn außer der analysierten und kontinuierlich berannten Festung der Makroebene „Patriarchat“ und der Erörterung der eigenen Fehler zusätzlich die weniger edlen privaten Beweggründe und Lebensläufe patriarchaler Mandatsträger ins öffentliche Bewußtsein gerückt werden. Warum also sollten die hier erarbeiteten Erkenntnisse nicht auch als solche stärker in den Public Relations des politischen Kampfes mit eingesetzt werden? Es würde vielleicht letztlich -nicht zu verachten -in breiterem Maße die Unterstützung derjenigen Männer mobilisieren, die die o. a. Mechanismen in Theorie und Praxis nicht mehr oder noch nie nötig hatten.