I. Problemstellung
1 Der Begriff der Vergangenheitsbewältigung hat sich in Deutschland in der politischen wie wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt. Bezogen auf die Bewältigung oder Aufarbeitung der NS-Vergangenheit scheint dieser von manchen Kritikern oftmals gescholtene Terminus viele „Väter“ zu haben: So wird er einerseits Theodor Heuss zugeschrieben, andererseits findet sich der Verweis auf die Verwendung des Begriffs während einer evangelischen Tagung im Jahre 1955 oder in dem Vortrag von Hermann Heimpel, Direktor des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte, über „Gegenwartsaufgaben der Geschichtswissenschaft“ im Jahre 1959. Er tauchte schließlich im Bedeutungszusammenhang mit der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ auf, wie sie Theodor W. Adorno, der führende Theoretiker der Frankfurter Schule, ebenfalls 1959 postulierte Wer ihn zuerst verwendet hat, ist nicht bekannt.
Angesichts der Hypotheken des Dritten Reiches war häufiger von Versäumnissen als von Leistungen der Vergangenheitsbewältigung die Rede. Man denke nur an die unglückliche Entnazifizie-rungspolitik der Alliierten und einige problematische personelle Kontinuitäten in den höchsten politischen Ämtern Westdeutschlands (u. a. Globke und Oberländer); an die langjährigen Debatten über die Verjährung von NS-Verbrechen und damit zusammenhängend die Strafverfolgung von NS-Tätern; an viele bekannte öffentliche Querelen um die NS-Vergangenheit und den Umgang mit ihr, wie die Ausstrahlung des aufsehenerregenden Fernsehfilms „Holocaust“ im Jahre 1979 das Fassbinder-Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (1985/86); der seit Mitte der achtziger Jahre schwelende sogenannte „Historikerstreit“ oder die umstrittene Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger anläßlich des fünfzigsten Gedenktages der „Reichskristallnacht“ im Deutschen Bundestag am 10. November 1988 und nicht zuletzt die Umstände, die zur Absage der Gedenkveranstaltung für die deutsche Raketen-und Welt-raumforschung in Peenemünde im Oktober 1992 führten
Der Begriff der Vergangenheitsbewältigung wurde überwiegend im Sinne von Nicht-Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur bzw. als sarkastische Charakteristik der langwierigen, mitunter selbstquälerischen Beschäftigung der Deutschen mit der NS-Vergangenheit verwendet selten hin-gegen als ein bloßes nüchternes Synonym für den Umgang mit Vergangenheit
Insofern mag das Ende der zweiten deutschen Diktatur eine Veränderung einleiten. Als Vergangenheitsbewältigung wird nun auch der Umgang mit der SED-Diktatur bezeichnet. Der Begriff verliert seinen „unangenehmen“ Beigeschmack, wenn von der „doppelten“ oder der zweiten Vergangenheitsbewältigung die Rede ist. Die Schwierigkeiten im Umgang mit der Vergangenheit der DDR dürften auch zu einer Revision des überwiegend negativen Urteils über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der alten Bundesrepublik führen. Eine Versachlichung im Umgang mit Geschichte ist ohnehin zu begrüßen, zumal wenn von der „doppelten Vergangenheitsbewältigung“ gesprochen wird. Das schließt die moralische Verurteilung der nationalsozialistischen wie der kommunistischen Diktatur ganz und gar nicht aus, schärft vielmehr den Blick für die Unrechtsstrukturen der beiden Diktaturen und fördert ihre Historisierung im Rahmen der Totalitarismus-Diskussion
Der Hinweis auf die „doppelte Vergangenheitsbewältigung“ umfaßt allgemein den heutigen Umgang mit den beiden Diktaturen in Deutschland, des nationalsozialistischen Regimes von 1933 bis 1945 und des nach dem Zweiten Weltkrieg im sowjetisch besetzten Mitteldeutschland installierten kommunistischen Regimes von 1945/1949 bis 1989 Offenkundig kann eine „doppelte Vergangenheitsbewältigung“ erst nach dem Zusammenbruch auch der SED-Herrschaft stattfinden und steht die Aufarbeitung der ideologisch entgegengesetzten Diktaturen in einem Zusammenhang zueinander. Damit sind implizit drei Voraussetzungen von Vergangenheitsbewältigung zu betonen: Es geht erstens um die Bewältigung von Unrecht, das -zweitens -beendet ist. Diese Vergangenheitsbewältigung muß schließlich unter den Bedingungen eines freiheitlich verfaßten Rechtsstaates erfolgen
Ein hinreichender Beleg für diese Behauptung ist nicht zuletzt die diametrale politische Entwicklung der beiden Teile Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die strafrechtliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Westdeutschland mag zwar schleppend angegangen worden sein, setzte sich aber ununterbrochen bis zum heutigen Tag fort. Der Antitotalitarismus war ein wesentliches Gebot des Grundgesetzes und richtete sich gegen extremistische Bestrebungen jedweder Couleur Den Vorwurf der „unbewältigten Vergangenheit“ muß sich die „Bonner Demokratie“ insgesamt nicht zu eigen machen. Demgegenüber nutzte man in der SBZ und späteren DDR die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus zur Etablierung einer „Gegendiktatur“ (Graf Kielmansegg). Der von der SED propagierte „Antifaschismus“ war ein Instrument zur Sicherung ihrer linkstotalitären Herrschaft
Der Umgang mit Diktatur-Vergangenheit ist niemals eindimensional. Ebenso wie die totalitäre Herrschaft -entsprechend dem Absolutheitsanspruch einer Diktatur -alle Lebensbereiche der Gesellschaft durchdrang, findet Vergangenheitsbewältigung auf verschiedenen Ebenen des Staates und der Gesellschaft und in unterschiedlicher Intensität statt. Vor allem drei zum Teil miteinander verwobene Dimensionen sind zu nennen: die strafrechtliche, die personalpolitische und die historische Insbesondere die strafrechtliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus förderte wesentliche Erkenntnisse über die totalitären Strukturen zutage. Eine seit den sechziger Jahren umfangreiche historische und politische Forschung über den Nationalsozialismus wäre ohne die Arbeit der Justiz kaum möglich geworden. Sie hat entgegen der Behauptung von der „unbewältigten“ Vergangenheit vor allem der jüngeren deutschen Generation die NS-Vergangenheit nahegebracht, ihr den Unrechtscharakter der nationalsozialistischen Ideologie vor Augen geführt. Sie setzte nicht zuletzt nach außen hin Zeichen: Die westdeutsche Justiz konnte insgesamt ihre Fähigkeit beweisen, das Unrecht im Dritten Reich zu ahnden. Es war und ist mithin eine Frage der Glaubwürdigkeit und damals wie heute im Interesse des Aufbaus und der Ausgestaltung einer freiheitlichen Ordnung, daß der demokratische Verfassungsstaat das totalitäre Erbe beim Namen nennt, Verbrechen aufklärt, ahndet und Unrecht -soweit als möglich -wiedergutzumachen versucht. Der langjährige -1986 verstorbene -Leiter der Zentralen Stelle, Adalbert Rückeri, formulierte diesen Anspruch folgendermaßen: „Wer Angriffe auf das höchste Rechtsgut, das menschliche Leben, nicht ahndet, der macht sich unglaubwürdig.“
Dieser Beitrag beschäftigt sich daher mit der strafrechtlichen Bewältigung des Dritten Reiches und der DDR und stellt zwei Institutionen sui generis vor, die der Verfolgung totalitären Unrechts dien(t) en -zum einen die „Zentrale Stelle der Landes-justizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“ in Ludwigsburg (kurz: Zentrale Stelle Ludwigsburg), zum anderen die „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen“ in Salzgitter (kurz: Erfassungsstelle Salzgitter). Beide Dienststellen leisteten und leisten immer noch einen wesentlichen Beitrag zur Strafverfolgungsbilanz von NS-und SED-Verbrechen. Sie sind damit auch eine wichtige Stütze für die Legitimation des Rechtsstaats und für die Festigung der liberalen politischen Kultur. Es genügt(e) eben nicht, die alten Unrechtsstrukturen zu zerschlagen und die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft einzuleiten. Zur Abkehr von der Vergangenheit gehört(e) ebenso die Auseinandersetzung mit ihr. Die Unterschiede und Parallelen zwischen „Ludwigsburg“ und „Salzgitter“ sollen alsdann beleuchtet werden. Daran schließen sich ein Ausblick auf die zukünftige Situation der Dienststellen und Thesen zum wünschenswerten Umgang mit zwei totalitären Vergangenheiten in Deutschland an.
II. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg
Mitte der fünfziger Jahre bot die deutsche Justiz ein eher unbefriedigendes Bild im Hinblick auf die NS-Strafverfolgung. Die Wende erfolgte zufällig durch die Klage des ehemaligen Memeler Polizeidirektors vor dem Arbeitsgericht von Ulm auf Wiederaufnahme in den Staatsdienst aufgrund von Art. 131 GG. Er war seinerzeit im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens entlassen worden. Der Name des Antragstellers kam in die Zeitung; dieser wurde von einem Leser angezeigt, als früherer SS-Oberscharführer an Massenerschießungen litauischer Juden beteiligt gewesen zu sein. Nach seiner Verhaftung im Mai 1956 begann eine umfangreiche Fahndung nach den Mittätern unter der Ägide des Ulmer Oberstaatsanwalts Erwin Schüle. Das Verfahren, in dem zum erstenmal ein größerer NS-Verbrechenskomplex in den besetzten Ostgebieten abgeurteilt wurde, erregte enorme Aufmerksamkeit.
Das Ulmer Einsatzkommandoverfahren hatte einen „Muster-Prozeß“ abgegeben: Massenhafte Verbrechenskomplexe im ehemals besetzten Osten waren unaufgeklärt geblieben und nur durch eine systematische Ermittlungstätigkeit zu ahnden. Das Versäumnis war weniger der Justiz als dem Gesetzgeber anzulasten, der die Strafverfolgungsorgane bis dahin kaum unterstützt, im Gegenteil mit rechtlichen Hemmnissen (wie etwa dem Überleitungsvertrag oder Amnestieentscheidungen) alleine gelassen hatte Das sollte sich nun ändern. Die Justizminister und -Senatoren der Bundesländer machten sich die Erkenntnis des durch den Ulmer Prozeß qualifizierten Oberstaatsanwalts zu eigen und beschlossen auf ihrer Konferenz in Bad Harzburg im Oktober 1958 die Errichtung einer „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“ in Ludwigsburg. Zu ihrem Leiter bestellte man Erwin Schüle. Aufgrund des föderali-stischen Aufbaus der Bundesrepublik konnte diese Dienststelle nicht den Status einer Staatsanwaltschaft, sondern nur eines ihr zuarbeitenden Organs erhalten. Sie durfte ermitteln wie diese, besaß aber nicht die Kompetenz zur Anklageerhebung -eine problematische Konstruktion, denn „die Würfel der Strafverfolgung fallen in Ludwigsburg“
Die Zentrale Stelle vereinigte in sich ein Stück der Justizhoheit jedes deutschen Bundeslandes, und der Entschluß zur Gründung dieser Behörde war den jeweiligen Ressortchefs nicht leicht gefallen, daher auch der einschränkende Zusatz „zur Aufklärung“ und nicht „zur Verfolgung“, was den Ludwigsburger Staatsanwälten erhebliche Befugnisse in die Hand gegeben hätte. Die Zentrale Stelle mußte von Anfang an aus der Schußlinie derer genommen werden, die in ihr eine neue Entnazifizierungsbehörde argwöhnten. Die Tätigkeit der Zentralen Stelle sei „auf die Aufklärung von solchen Verbrechen gerichtet, die außerhalb des Bundesgebietes begangen wurden und deren Aufklärung deshalb auf besondere Schwierigkeiten stößt. Mit anderen Straftaten ist sie nicht befaßt.“ Nach einigen Erläuterungen zu den Aufgabengebieten heißt es: „Es handelt sich also nicht um eine neue Entnazifizierung, sondern um die Aufklärung umfangreicher, bisher ungesühnter schwerer Verbrechen, die sowohl nach damaligem als auch nach heutigem Recht unter schwere Strafandrohung gestellt waren und sind.“
Die Zuständigkeit der am 1. Dezember 1958 im ehemaligen Frauengefängnis von Ludwigsburg eingerichteten Dienststelle wurde in der Verwaltungsvereinbarung der Länderjustizminister und -Senatoren genau festgelegt, denn strenggenommen besaß Ludwigsburg keine sich aus der Strafprozeßordnung herleitende Legitimation. Gleichwohl war die Zentrale Stelle ein Organ der Justiz. Ihre Ermittlungstätigkeit fiel in die Kompetenz der Staatsanwaltschaften, die durch das Legalitätsprinzip verpflichtet waren, bei Verdacht einer Straftat zu ermitteln und anzuklagen. Gerade aber in dieser Ermittlungstätigkeit hatten sie versagt. Nachforschungen außerhalb der Bundesrepublik scheiterten zumeist an den komplizierten Zuständigkeitsproblemen oder wurden deshalb gar nicht erst aufgenommen. Für die im Ulmer Prozeß aufgedeckten Massenverbrechen wäre als Gerichtsstand eigentlich der Tatort -damals besetztes Ostgebiet -in Frage gekommen. Derartige strafprozessuale Schwierigkeiten bei der Aufklärung der NS-Vernichtungskomplexe konnten nur durch die Einschaltung einer vorermittelnden „Behörde“ -„ein absolutes Novum in der deutschen Rechtsgeschichte“ -umgangen werden. Ludwigsburgs Zuständigkeitsbereich blieb daher eng begrenzt auf die NS-Verbrechen an Zivilpersonen während des Zweiten Weltkriegs außerhalb des Gebiets der Bundesrepublik. Kriegsverbrechen im engeren Sinne zählten nicht dazu Ebensowenig durfte die Zentrale Stelle zum Reichssicherheitshauptamt und zum Volksgerichtshof ermitteln; hier lag die Zuständigkeit tatortgebunden beim Kammergericht Berlin.
In einem Punkt nahm Ludwigsburg eine Sonderstellung ein: Die Ermittler wurden nicht mehr -streng nach dem Legalitätsprinzip -auf einen Verdacht oder eine Strafanzeige hin tätig, sondern erfaßten generell alle Materialien und Dokumente, die Informationen über den Aufbau und die Methoden der mit den Vemichtungsverbrechen befaßten Dienststellen des Dritten Reiches enthielten. Der Auftrag der Dienststelle konzentrierte sich vor allem auf die Sammlung, die Sichtung und die Auswertung aller Unterlagen über NS-Verbrechen. Das bedeutete in erster Linie Aneignung von historischen Kenntnissen durch Akten-und Literaturstudium sowie Kontaktaufnahme mit internationalen Archiven. Ziel war es, „voneinander ab-grenzbare Tatkomplexe herauszuarbeiten und den Verbleib der Täter festzustellen. Die Vorgänge im Zuge dieser Vorermittlungen sind sodann an die für den Wohnort bzw. Aufenthaltsort des (Haupt-) Täters örtlich zuständige Staatsanwaltschaft zur Einleitung eines förmlichen Ermittlungsverfahrens abzugeben“ Der letzte Punkt bedarf der Hervorhebung, denn Ludwigsburg ermittelt(e) ausschließlich gegen den mit eigener Verantwortung und Befehlsgewalt ausgestatteten Täterkreis -so-genannte Hauptbeschuldigte -sowie gegen Exzeßtäter. Alle übrigen Tatbeteiligten dien(t) en als Zeugen.
Diese Beschränkung des Täterkreises zog Kritik auf sich, war aber nicht von der Zentralen Stelle zu verantworten, sondern ging zurück auf den Ermittlungsauftrag der Länderjustizministerien. Für den tatsächlichen Täterkreis wäre allerdings ein ande-res Vorgehen nicht zu verwirklichen gewesen, zumal die Verjährung von minderschweren Verbrechen bereits 1950 und 1955 eingesetzt hatte. Das von allen Bundesländern nach Ludwigsburg abgeordnete Personal war völlig unzureichend, umfaßte es doch in den ersten Jahren nie mehr als 20 bis 25 Mitarbeiter, davon höchstens zehn Richter oder Staatsanwälte Die zuständigen Politiker hielten die Zentrale Stelle für eine Einrichtung von „vorübergehender Dauer“, in der Erwartung, das Problem der unaufgeklärten NS-Straftaten sei bald zu lösen. Daß dem nicht so war, stellten sie spätestens Mitte der sechziger Jahre fest, als auf einen Aufruf der Bundesregierung von 1964 hin kistenweise Dokumentenmaterial aus den Archiven der Ostblockländer in Ludwigsburg eintraf. Bereits seit Anfang 1960 waren Unterlagen aus Polen eingegangen oder durch die Auswertungsreisen in das westliche Ausland (USA, Frankreich, Großbritannien) greifbar geworden.
Die Bilanz der ersten Jahre der Zentralen Stelle gibt einen Einblick in den Umschwung der Strafverfolgung seit 1958: Bereits 1959 leitete Ludwigsburg 400 Vorermittlungsverfahren ein, d. h. sie sind im Zustand der Anklagereife an die zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben worden. Durch die Verjährung für Totschlagsverbrechen 1960 -der Gesetzgeber hatte diese Frist ungerührt verstreichen lassen -trat kaum eine Verringerung der Vor-ermittlungsverfahren ein; ihre Zahl betrug Mitte 1963 immerhin 645. Die Studie Hermann Lang-beins zählt für diesen Zeitraum 110 NS-Prozesse, vorwiegend die Vernichtungslager und die Konzentrationslager betreffend Bis zum Jahresende 1964 stieg die Zahl der Vorermittlungsverfahren auf 701, davon 545 als Ermittlungsverfahren bereits bei den Staatsanwaltschaften anhängig. Ein solches Ausmaß war 1958 nicht vorausgesehen worden, noch weniger der damit verbundene Personalbedarf. Um sich ein Bild der durch die Zentrale Stelle in Gang gekommenen Verfahren zu machen, seien fürjeden Komplex nur einige genannt: Vor 1964 fanden bereits Hauptverhandlungen über Verbrechen im Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno), in den KZ Auschwitz, Dachau, Stutthof, Mauthausen u. a., in Zwangsarbeitslagern wie Lemberg oder Tarnow, von Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei in Litauen und in der Sowjetunion statt; vor 1965 in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka, abermals Auschwitz und in weiteren Konzentrationslagern sowie über Verbrechen der anderen Sonderkommandos. Im übrigen zählten diese und neue Tatkomplexe zumeist mehrere Prozesse.
Um die Aufklärungsarbeit noch vor der Mord-Verjährung von 1965 zum Abschluß zu bringen -so die Erwartungen der Politiker -, beschloß die Länderjustizministerkonferenz am 11. Dezember 1964 die Erweiterung der Zuständigkeit der Zentralen Stelle auch auf die Verbrechenskomplexe innerhalb des Gebiets der Bundesrepublik; weiterhin ausgenommen blieb das Reichssicherheitshauptamt und der Volksgerichtshof. Durch eine kräftige Personalaufstockung zählte die Zentrale Stelle zwischen 1967 und 1971 maximal 121 Mitarbeiter, davon 49 Richter und Staatsanwälte. Der Abschluß der NS-Strafverfolgung vor dem Eintritt der Mord-verjährung im Mai 1965 war nicht möglich, und selbst der vom Bundestag nach heftigen Debatten beschlossene vierjährige Aufschub bis zum Jahre 1969 konnte solches nicht garantieren. Die Verlängerung der Verjährung von Mord von 20 auf 30 Jahre, also bis zum Jahre 1979, sicherte die Aufklärungsarbeit der Ludwigsburger und damit die Einleitung von Verfahren gegen NS-Verbrecher bis in die achtziger Jahre.
Die Entscheidung, die Verjährungsfrist zu verlängern, hatte auf die Arbeit der Zentralen Stelle aus mehreren Gründen allerdings kaum eine Auswirkung: Zum einen glaubte man dort zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an noch unentdeckte Verbrechenskomplexe. Zum anderen war man bei den Ermittlungen in den sechziger Jahren angesichts der drohenden Verjährungsfristen ohnehin gezwungen, flächendeckend vorzugehen, d. h. bei der systematischen Überprüfung ganzer Einheiten mußten förmliche Beschuldigungen gegen jeden Angehörigen ergehen, gleichgültig, ob sich der Tatverdacht später bestätigen würde oder nicht. Dadurch erfolgte in jedem Einzelfall die Unterbrechung der Verjährung (daher auch die hohe Zahl der Ermittlungsverfahren gegenüber den tatsächlichen Verurteilungen). Nicht zuletzt war mit zunehmendem Zeitabstand zum Ende des Dritten Reiches eine „biologische Lösung“ der strafrechtlichen Bewältigung von NS-Verbrechen abzusehen.
Inzwischen lagern in Ludwigsburg 1514633 Karteikarten in der Zentralkartei, die wiederum in eine Personen-, Orts-und Einheitenkartei (628420/561041/325172) gegliedert ist. Daneben sind 23539 sonstige geographische Begriffe sowie 4083 verschiedene Einheiten und Dienststellen erfaßt (Stand: 15. Juni 1992). Die Verfahrenskartei zählt 14000 Verfahren wegen NS-Verbrechen, die seit 1958 bei bundesdeutschen Staatsanwaltschaften und Gerichten anhängig waren oder noch sind. In der Dokumentensammlung befinden sich über eine halbe Million Blatt Fotokopien. Noch einmal die gleiche Zahl von Dokumenten wird in 550 Mikrofilmen aufbewahrt. Diesen unschätzbaren Fundus be39 dienen derzeit etwa 40 Mitarbeiter, davon nur wenige Staatsanwälte und Richter.
Die heutige Bilanz der strafrechtlichen Bewältigung des Nationalsozialismus (Stand vom 1. Januar 1992): Seit dem 8. Mai 1945 wurden von westdeutschen Staatsanwaltschaften 103823 Ermittlungsverfahren eingeleitet, sind von westdeutschen Gerichten 6487 rechtskräftige Verurteilungen ergangen (12 Todesurteile, 163 lebenslängliche und 6197 zeitige Freiheitsstrafen, 114 Geldstrafen und eine Jugendstrafe). Die enorme Diskrepanz -91463 Beschuldigte blieben ohne Strafe -wird allerdings angesichts der erwähnten Schwierigkeiten teilweise verständlich. Gewichtiger waren die Probleme der Staatsanwaltschaften und Gerichte bei der Ahndung von NS-Verbrechen. Dafür muß sich die Zentrale Stelle allerdings nicht verantworten: Seit ihrer Gründung Ende 1958 bis zum Ende des Jahres 1989 wurden 5 923 Vorermittlungsverfahren eingeleitet, häufig Sammelkomplexe mit einer großen Zahl von Beschuldigten und einer Vielzahl von Straftaten. 5798 davon sind an die Staatsanwaltschaften zur weiteren Ermittlung abgegeben worden, 125 noch bei der Zentralen Stelle anhängig. Neben ihrer Vorermittlungstätigkeit mußte sie in diesem Zeitraum 75863 allgemeine Auskünfte und ähnliches beantworten
III. Die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter
Es sei notwendig, „schon jetzt alles erforderliche zu tun, um zu gegebener Zeit diejenigen Organe und Beauftragten des Pankower Regimes, die sich im Zuge der jüngsten Gewaltmaßnahmen zu Straftaten haben hinreißen lassen oder dies künftig tun, zur Verantwortung zu ziehen. ... Wegen der nahezu völligen Identität der jetzt vom SED-Regime in der Zone und in Ostberlin angewandten Methoden mit denen des Nationalsozialismus dürfte die Ludwigsburger Zentrale Stelle für die nunmehr erforderlich werdenden Ermittlungen besonders geeignet sein.“ Nur drei Jahre nach der Errichtung der Ludwigsburger Behörde im Jahre 1958 war es der damalige Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Willy Brandt, der angesichts des Mauerbaus in Berlin im September 1961 Maßnahmen gegen die Menschenrechtsverletzungen des SED-Regimes in der DDR forderte.
Auf der Konferenz der Länderjustizminister und -Senatoren Ende Oktober 1961, nur sechs Wochen nach dem Brief Willy Brandts an seine Amtskollegen, fiel die Entscheidung zur Gründung einer Zentralen Erfassungsstelle für Gewaltanwendungen an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze. Schon zwei Jahre später -im Oktober 1963 -erweiterte man den Aufgabenkatalog. Nunmehr sollten diejenigen „Gewaltakte“ in der DDR erfaßt werden, für deren Strafverfolgung keine örtliche Zuständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland bestand. Das bedeutete darüber hinaus, alles Material zu sammeln und die notwendigen und zugänglichen Beweise zu sichern. Für welche „Gewaltakte“ in der Bundesrepublik keine örtliche Zuständigkeit bestand, war seinerzeit offenkundig und in der Gründungsakte der Zentralen Erfassungsstelle in drei Punkten festgehalten: Erstens „Tötungshandlungen, Körperverletzungen und Freiheitsberaubungen, die unter Mißachtung der Menschenwürde ohne gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Ziele des SED-Regimes aus politischen Gründen angeordnet oder geduldet werden“ zweitens Terrorurteile, also politisch motivierte Urteile mit exzessiven Strafen sowie drittens SBZ-bzw. DDR-typische Mißhandlungen von Untersuchungs-und Strafgefangenen.
Man beauftragte einvernehmlich das Bundesland mit der längsten Grenze zur DDR, Niedersachsen, diese Behörde aufzubauen. Damit fiel die Dienst-aufsicht der Zentralen Erfassungsstelle an den niedersächsischen Generalstaatsanwalt in Braunschweig, der die Räumlichkeiten im Amtsgericht in Salzgitter (Bad) zur Verfügung stellte. Unter der Leitung von Staatsanwalt Friedrich Höse nahm die Dienststelle mit zwei weiteren Mitarbeitern noch im November 1961 ihre Arbeit auf. Neben Ermittlungsakten der Westberliner Polizei über an der innerdeutschen Grenze verletzte oder zu Tode gekommene Republikflüchtige schöpfte die Erfassungsstelle aus den Vorarbeiten des vor allem in den fünfziger Jahren legendären „Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen“ dessen Namenskartei mit 1961 rund 123000 Personen den Grundstock der Salzgitter-Verbrechenskartei bildete. Der rasche Entschluß der verantwortlichen Politiker und ebenso der zügige Aufbau der Behörde in Salzgitter dürfte im wesentlichen auf die seinerzeit bereits spektakuläre Aufklärungsbilanz der Lud-wigsburger Stelle zurückzuführen sein. Insbesondere in der damals sensationsgierigen Atmosphäre des Jerusalemer Eichmann-Prozesses war Ludwigsburg positiv in die Schlagzeilen geraten und hatte wohl bei manchen Politikern einen anerkennenswerten Eindruck hinterlassen. Zudem verfolgte die DDR Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre mit gezielt lanciertem Akten-material über NS-belastete Richter im Justizdienst der Bundesrepublik denunziatorische Absichten: Die Bonner Republik sollte als Hort ehemaliger Nationalsozialisten und sogenannter Blutrichter bloßgestellt werden. Nun hoffte man vielleicht, mit der Gründung einer Ludwigsburg ähnlichen Behörde zumindest gen Osten Zeichen zu setzen. Salzgitter war insofern auch eine Provokation für das SED-Regime, im Sinne von „Ihr seid nicht besser als jene!“ Die Erfassungsstelle hatte nicht zuletzt einen generalpräventiven Charakter. Sie sollte „die potentiellen Täter von der Begehung von Straftaten abschrecken, sie auf das Unrecht ihres Handelns aufmerksam machen und ihnen damit die Möglichkeit nehmen zu der Behauptung, sie hätten das Unrechtmäßige ihres Tuns nicht erkannt oder erkennen können“ 32 .
Aufgrund des ungeahnten Arbeitsanfalls in Salzgitter -seit Anfang 1962 belief sich die Zahl der monatlichen Vorermittlungen auf rund 100 -erfolgte bereits Ende 1962 eine Aufstockung des Personals von drei auf sieben Mitarbeiter: Je zwei Staatsanwälte, Geschäftsstellenbeamte, Kanzlei-angestellte und eine Kraft in der Dokumentenverwaltung. War der erste Leiter noch ausschließlich in der Salzgitter-Dienststelle tätig, galt das für die folgenden schon nicht mehr. Oberstaatsanwalt Carl-Hermann Retemeyer, knapp 20 Jahre bis zum Juli 1988 Leiter in Salzgitter, war zugleich auch bei der Generalstaatsanwaltschaft in Braunschweig tätig. Gleiches galt für seinen Nachfolger Heiner Sauer. Der vierte und letzte Chef der Behörde, Heinz-Dieter David, blieb nur sechs Monate, von März bis August 1992. Nach Aussagen von Mitarbeitern verließ er die Dienststelle, weil das niedersächsische Ministerium ihm eine Aufstockung seiner Vergütung um 350 DM versagte 33 .
Die Vorgehensweise der Erfassungsstelle war einfach, aber effektiv: Den größten Teil ihres Akten-materials gewann sie aus Befragungen ehemaliger, in die Bundesrepublik ausgewiesener bzw.freigekaufter (bis 1989 insgesamt 33755) politischer Häftlinge die im Auftrag der Dienststelle von den Länderkriminalämtern vernommen wurden.
Daneben wertete man die Lageberichte des Bundesgrenzschutzes aus. In Presseveröffentlichungen sind die Mitarbeiter in Salzgitter ebenfalls fündig geworden. Sehr beschränkt und unter größter Geheimhaltung gelangten auch persönliche Mitteilungen von DDR-Bürgern in die Erfassungsstelle. Angaben von DDR-Übersiedlern aufgrund von Häftlingsentschädigungsunterlagen oder während ihres Aufenthalts im Notaufnahmelager Gießen bildeten ebenso eine Quelle. Nicht zuletzt erhielt die Behörde wertvolle Aussagen durch die Befragung geflüchteter ehemaliger Soldaten der NVA-Grenztruppe, sogenannter Überläufer
Die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter war lediglich als Dienststelle der Landesjustizverwaltung unter der Aufsicht des niedersächsischen Justizministeriums konzipiert. Sie konnte insofern keine Ermittlungsverfahren einleiten oder einstellen, als sie nicht dem Legalitätsprinzip unterstand und daher nicht jedem Verdacht einer strafbaren Handlung nachgehen durfte Damit wurden ihrer Erfassungstätigkeit enge Grenzen gesetzt: Nur die in dem bereits erwähnten Aufgabenkatalog definierten Gewaltakte waren zu registrieren und in Form von Vorermittlungen an den Bundesgerichtshof zur Feststellung der Zuständigkeit bundesdeutscher Staatsanwaltschaften bzw. zur Einstellung vorzulegen. In allen anderen Fällen entfiel eine Erfassung. Was als Gewaltakt definiert wurde, bestimmte nicht der Staatsanwalt in Salzgitter, sondern die Konferenz der Länderjustizminister und -Senatoren. Im Oktober 1963 war man zwar übereingekommen, die Zuständigkeit der Zentralen Erfassungsstelle auf „Terrorurteile“ und „Mißhandlungen“ zu erweitern, allerdings unter Vorbehalt: „Der in der SBZ allgemein herrschende Zwang kann für sich allein noch nicht ein Einschreiten [! ] der Zentralen Erfassungsstelle rechtfertigen.“
Diese Begriffsbestimmung in bezug auf die zu erfassenden Gewaltakte bereitete in der Zentralen Erfassungsstelle allerdings manche Zweifel. So stellte sich deren Leiter die Frage, ob „jedes sowjetzonale Urteil, das auf rechtswidrigen Vorschriften beruht, bereits ein , Terrorurteil‘ ist, oder ob es noch dem , allgemein herrschenden Zwang* zuzurechnen ist“ Solche Unklarheiten hatten ihren Ursprung in der schwankenden Bewertung der DDR-Rechtsnormen im allgemeinen wie der DDR-Strafrechtsnormen im besonderen. Sie konnten tatsächlich erst durch die Einschränkung der Zuständigkeit Salzgitters Mitte 1968 -vordergründig -behoben werden. Danach fielen unter den ersten Punkt nur noch Tötungshandlungen. Körperverletzungen oder Freiheitsberaubungen zählten von nun an nicht mehr hierzu. Dafür entschloß man sich, die Erfassung von Handlungen des Völkermords und der Verschleppung anzuordnen, was allerdings keine Auswirkungen auf die praktische Arbeit der Dienststelle hatte Gleiches galt für den Wegfall der Erfassung von Freiheitsberaubungen oder Körperverletzungen, „weil die festgenommenen Personen in aller Regel Strafverfahren wegen politischer Straftaten zu erwarten haben, und die ergehenden Urteile daraufhin überprüft werden müssen, ob sie unmenschlich sind“
Da eine Wiedervereinigung nach dem Mauerbau erst recht in weite Ferne gerückt schien, war auch für Salzgitter und seine Sachwalter -so dachte man -eine dauerhafte Bestandsgarantie gegeben. Solange die DDR sich gegen den Westen abriegelte und ihren Bürgern das Grundrecht auf Freizügigkeit verwehrte, sie gar mit psychischem Terror und physischer Gewalt zur Unterordnung zwang, solange waren die Grundlagen für Salzgitter vorhanden. Gleichwohl änderte sich die Haltung der Politiker gegenüber der DDR ebenso wie die der Juristen. Das hatte sich bereits in der Zuständigkeitsbeschränkung der Erfassungsstelle Ende 1968 angedeutet. Die Propaganda der DDR gegen Salzgitter mochte ein übriges tun. Der Zuständigkeitsbeschränkung lag beispielsweise eine Referentenbesprechung im Bundesjustizministerium zugrunde, in der unter anderem ein „überpositives Recht auf Freizügigkeit zwischen Staaten oder Teilgebieten eines Staates nicht festgestellt werden“ konnte. Damit erkannte man der DDR faktisch das Recht zu, ihren Bewohnern das Verlassen der DDR zu verbieten. Diese Feststellung mochte sich kaum auf die Tätigkeit der Zentralen Erfassungsstelle auswirken, mußte aber für eine spätere Bewertung der Strafbarkeit sehr wohl von Bedeutung sein. Allen voran waren es zwei westdeutsche Juristen, die den Strafanspruch der Bundesrepublik gegen DDR-Bürger -die Geltung des bundesdeutschen Strafrechts -bestritten: Hans Dichgans, zudem CDU-Bundestagsabgeordneter, und Gerald Grün-wald,Professor für Strafrecht in Bonn, der allein das Recht des Tatorts, mithin das Recht der DDR, für maßgeblich hielt
Wie sehr man sich an den Unrechtsstaat gewöhnt hatte, machen auch die folgenden Ausführungen zur Minenlegung an der Zonengrenze deutlich: „Ein Generalstaatsanwalt habe jedoch in einem Fall ein Ermittlungsverfahren mit der Begründung eingestellt, daß er keine strafbare Handlung habe feststellen können; am Tatort seien Warnschilder angebracht und das Gelände gegen versehentliches Betreten gesichert gewesen. Diese Auffassung des Generalstaatsanwalts wird von einigen Referenten geteilt, da die Minenleger weder wünschten noch damit rechneten, daß jemand ins Minenfeld gehe.“ Die Kursänderung der Deutschlandpolitik Ende der sechziger Jahre hat auch die Unterstützung mancher Politiker für die Zentrale Erfassungsstelle brüchig werden lassen. Nicht wenige, vorwiegend aus den Reihen der Sozialdemokraten, empfanden die Behörde als störend. So meinte etwa der damalige SPD-Justizminister Niedersachsens im Oktober 1970, die Zentrale Erfassungsstelle „sei, arbeitslos 4 geworden: Seit Juli seien ihm keine Gewaltakte von der Zonengrenze mehr gemeldet worden.“
Die Diskussion über die Erfassungsstelle verstummte nie, nicht zuletzt durch die vier Geraer Forderungen von Staats-und Parteichef Honecker 1980 zur „Normalisierung“ der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten: Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, Festlegung des Grenzverlaufs in der Elbmitte und die Abschaffung der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter. Mitte der achtziger Jahre äußerten sich prominente SPD-Politiker, u. a. Jürgen Schmude, Horst Ehmke und Hans-Jochen Vogel, zugunsten einer Auflösung der Behörde, weil sie ihre Aufgaben nicht erfüllen könne 1988 und 1989 ging der Streit sogar so weit, daß die SPD-regierten Bundesländer ihre Zahlungen für den ohnehin geringen Etat der Behörde von insgesamt rund 250000 DM einstellten; Schleswig-Holstein mit dem Hinweis, es bestehe an ihr „kein Bedarf“ mehr. Die übrigen fünf SPD-regierten Länder bzw. Stadtstaaten begründeten ihren Rückzug aus der Finanzierung damit, daß sie zur „Entlastung“ der innerdeutschen Beziehungen beitragen wollten Nach 1990 erklärten sich diese Bundesländer zur Fortsetzung der Zahlung der minimalen Beiträge bereit.
In Salzgitter wurden in über 28jähriger Tätigkeit insgesamt rund 42000 Akten über Gewaltverbrechen angelegt, davon betreffen 4 444 Tötungshandlungen, 625 Mißhandlungen, 2 984 politische Verdächtigungen bzw. Denunziationen, 2 585 Festnahmen und 861 Festnahmen im Grenzgebiet sowie 30752 registrierte Verurteilungen aus politischen Gründen. Gerade die letzten sind nach Einschätzung von Experten nur die Spitze eines Eisbergs; gerechnet wird mit 250000 bis 300 000
IV. Parallelen und Unterschiede
Es war nicht nur augenfällig, sondern verfolgte einen tieferen Sinn, wenn -wie bereits erwähnt -der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, im Jahre 1961 auf die Tätigkeit der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg hinwies und ihre Zuständigkeit auf die DDR-Verbrechen erweitert sehen wollte. Seinerzeit gab es in der Bewertung des SED-Regimes innerhalb der politischen Parteien kaum einen Dissens. Dessen Methoden galten -mehr oder weniger -als deckungsgleich mit denen der Nationalsozialisten. Kurt Schumacher, selbst ein Opfer der NS-Konzentrationslager, nannte die Kommunisten in der SBZ „rotlackierte Faschisten“. Für ihn führten sich die deutschen Kommunisten in der SBZ ebenso auf wie die Nationalsozialisten. War es daher nicht folgerichtig, von den Parallelen in der Herrschaftsform auf solche der Verbrechen zu schließen?
Spätestens Mitte der fünfziger Jahre hatte man eingesehen, daß die systematischen Menschenrechtsverletzungen der Nationalsozialisten eine ebenso systematisch vorgehende Strafverfolgung notwendig machten. Als die SED durch den Mauerbau die letzte Fluchtmöglichkeit von Deutschen in die Bundesrepublik so gut wie versperrte (und die DDR sich faktisch in ein riesiges Gefängnis verwandelte), schienen den verantwortlichen Politikern die Parallelen offenkundig: Die Strafverfol______/___ gung der SED-Verbrechen folgte dem Muster von Ludwigsburg. Im Rückblick auf die über dreißigjährige Tätigkeit beider Stellen bieten sich daher zahlreiche Vergleichsmöglichkeiten an, den Aufbau der beiden Behörden betreffend, aber auch Parallelen inhaltlicher Art, etwa die intendierte politische Wirkung der Einrichtungen nach innen wie nach außen. Ähnlich wie für Ludwigsburg ging die Konzeption für Salzgitter auf einen Beschluß der Konferenz der Länderjustizminister und -Senatoren zurück. Allerdings erhielten beide Dienststellen keine formaljuristischen Zuständigkeiten, waren keine Behörde der Justiz im eigentlichen Sinne. Ihr Zuständigkeitskatalog mußte eigens entworfen werden, zumal sie zwar für die Strafverfolgung im weitesten Sinne zuständig sein sollten, dem Legalitätsprinzip aber nicht folgen mußten. Sowohl die Zentrale Stelle in Ludwigsburg als auch die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter leitet(e) lediglich Vorermittlungen, arbeitet(e) „nur“ der jeweiligen Staatsanwaltschaft zu. Nach Abschluß der Vorermittlungen müssen beide Dienststellen die Akten an die zuständigen Staatsanwaltschaften bzw. bei Fehlen der Tatortzuständigkeit dem Bundesgerichtshof abgeben. De facto besaß Ludwigsburg allerdings einen größeren Spielraum als Salzgitter, da die Staatsanwaltschaften bei den Ermittlungen über NS-Verbrechen ohne die Hilfe von Ludwigsburg faktisch untätig bleiben müßten -in Ermangelung historischer Kenntnisse der nationalsozialistischen Herrschaftsstrukturen und des systematischen Massenmords.
Beide „Sonder“ -Behörden erhielten ein eigenes Aktenzeichen: für Ludwigsburg das Kürzel „Z“, für Salzgitter „ZE“. Darüber hinaus war in Ludwigsburg wie in Salzgitter die Personalbesetzung anfangs höchst bescheiden -gemessen an den immensen Aufgaben -und wurde mit der Zuständigkeitserweiterung in den Jahren 1963/64 aufgestockt: Ludwigsburg sollte fortan auch den unaufgeklärten NS-Verbrechen im Bundesgebiet nachgehen, Salzgitter die Verbrechen auch innerhalb der DDR erfassen. Parallelen ergeben sich auch in den Verfahrensweisen bei der Aufklärung bzw. Registrierung der Verbrechen: Auf offizielle „Meldungen“ konnten sie in den seltensten Fällen zurückgreifen -die Geheimhaltung der Verbrechen war dem Wesen des rechten und des linken totalitären Regimes gemäß. Eine vergleichsweise unbedeutende, aber wenig erfreuliche Parallele zeigt sich in der völlig unzureichenden materiellen Ausstattung beider Behörden spätestens seit Anfang der siebziger Jahre: Sie sind vom Äußeren her kein Pfund, mit dem die bundesdeutsche Justiz und damit der Rechtsstaat wuchern konnte und kann. Der wesentliche Unterschied zwischen Ludwigs-burg und Salzgitter resultiert aus der Bewertung der beiden totalitären Regime damals wie heute. Es erscheint als paradox: Während die verantwortlichen Politiker in den fünfziger Jahren lange Zeit die Augen davor verschlossen, daß nur eine systematische Strafverfolgung eine Aufarbeitung des Dritten Reiches forcieren könnte -aus Rücksicht auf die deutsche Bevölkerung, der man eine erneute Konfrontation mit dem NS-Unrecht möglichst ersparen wollte -, verweisen sie heute mit Genugtuung auf diese Entscheidung. Die Arbeit der Zentralen Stelle hat schließlich in erheblichem Maße dazu beigetragen, daß die heutige Bilanz der Justiz im Hinblick auf die NS-Strafverfolgung sich trotz mancher Unzulänglichkeiten sehen lassen kann. Dahinter scheinen die ungesühnten Justiz-verbrechen im Dritten Reich fast zu verblassen...
Anders verhält es sich bei den SED-Verbrechen: Die Entscheidung für die Erfassungsstelle Salzgitter erfolgte rasch und ohne Bedenken gegenüber den Reaktionen in der Bevölkerung. Einen Widerspruch von dort mußte man nicht befürchten, fühlten die Westdeutschen doch keine Verantwortung für das Unrecht der Kommunisten. Schon mit dem Einsetzen der deutsch-deutschen Entspannungspolitik galt die Salzgitterer Dienststelle nicht mehr als Aushängeschild oder als Trumpfkarte gegenüber den DDR-Machthabern, sondern als Ärgernis, vor allem in den Augen von (prominenten) SPD-Politikern Ihre Umbenennung -gut zwei Jahre nach dem Sturz der SED -in „Beweismittel-und Dokumentationsstelle“ war tatsächlich auch das Signal zur „Abwicklung“. Und der ansehnlichen Erfassungsbilanz in Salzgitter zum Trotz scheinen heute viele über die Auflösung befriedigt zu sein, auch wenn sie es nicht direkt zugeben. Jedenfalls setzte sich keiner für ihr Weiterbestehen bzw. ihre Umstrukturierung ein, und wer dies wünscht -in der Regel Opfer des DDR-Systems -gilt zuweilen als Racheengel
Einer von ihnen hat -zu Zeiten des SED-Regimes und in Anbetracht der politischen Querelen um den Bestand der Salzgitterer Behörde -die Ungleichgewichtigkeit in der Bewertung von NS-und SED-Verbrechen folgendermaßen kritisiert: „Verlangt jemand, daß die Erfassungsstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg [gemeint ist die Zentrale Stelle] abgeschafft wird? Es wird nur noch wenige Deutsche geben, denen diese Registratur angst machen wird. Doch in Salzgitter wurden allein im vergangenen Jahr über 2000 Vergehen und Verbrechen gegen mitteldeutsche Landsleute angekreidet. ... Allein die Erfassung und Aufbewahrung dieser Menschenrechtsverletzungen ist den Kommunisten ein Dorn im Auge, aber die Krokodilstränen fließen hierzulande.“
V.
Ausblick und Abschlußthesen
Der Auftrag der Zentralen Stelle in Ludwigsburg hat sich verewigt -analog zur Nichtverjährbarkeit von Mord und Völkermord -, zumal die Entscheidung über ihre Zukunft mit einer anhaltend moralischen Verpflichtung verbunden ist: die NS-Verbrechen zu sühnen, um die politisch-moralische Verpflichtung der zweiten deutschen Demokratie zu wahren. Nach wie vor finden NS-Prozesse statt (zuletzt das Verfahren gegen den SS-Oberscharführer Josef Schwammberger). Die Diskussion über die Art der Strafverfolgung wird auch das letzte Verfahren überdauern. Kaum jemand scheint sich allerdings für die personelle, materielle und finanzielle Unterstützung Ludwigsburgs zu interessieren; sie läßt sehr zu wünschen übrig und entspricht ihren Leistungen in keiner Weise. Die Ausstattung hat mehr von einem Hinterhof, den man zwar pflegt, ansonsten aber schamhaft verbirgt.
Die Zentrale Stelle hätte seinerzeit den Status einer Generalbundesanwaltschaft erhalten sollen, so daß sie nicht nur die Aufklärung koordiniert, sondern auch die Strafverfolgung in ihrer Hand hielte. Durch die strafprozessual bedingte Notwendigkeit, Vorermittlungen an eine historisch unkundige Staatsanwaltschaft abzugeben, ließ man die Möglichkeit einer zügigeren Aufarbeitung der NS-Verbrechen ungenutzt. Vielleicht hätte diese Verfahrensweise, bei der jeder Schritt der Strafverfolgung bei der Ludwigsburger Dienststelle verblieben wäre, ein schnelleres Ende der NS-Prozesse herbeigeführt.
Aus diesem Manko ließen sich aber für die Behandlung der Dienststelle in Salzgitter Schlüsse ziehen. Tatsächlich befindet sich die ehemalige Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter -heute Beweismittel-und Dokumentationsstelle -in „Abwicklung“ Ein Vermerk der Braunschweiger Generalstaatsanwaltschaft über die Umbenennung verweist lapidar auf die Beendigung der Erfassungstätigkeit. Statt, wie seinerzeit niedergelegt, dafür Sorge zu tragen, daß die Verbrechen zu gegebener Zeit gesühnt werden, muß man befürchten, daß zahlreiche SED-Verbrechen ungesühnt bleiben. Salzgitter gibt alle Unrechtsakten an zuständige Staatsanwaltschaften in der gesamten Bundesrepublik ab, ohne die Gewähr, daß es dort zu weiteren Ermittlungen kommen wird. Die staatsanwaltschaftliche Arbeitsgruppe zur Verfolgung der DDR-Regierungskriminalität beim Kammergericht in Berlin umfaßt mittlerweile etwa 60 Staatsanwälte, abgeordnet aus allen Bundesländern. Sie bildet im weitesten Sinne ein Pendant zur Zentralen Stelle in Ludwigsburg, hat aber einen ähnlich geringen Bekanntheitsgrad wie die Zentrale Ermittlungsstelle für die Bekämpfung der Regierungs-und Vereinigungskriminalität (ZERV). Dagegen ist die sogenannte Gauck-Behörde -seit dem 1. Januar 1992 regelt ein Akten-Gesetz die Einsichtnahme der Opfer und anderer in die MfS-Unterlagen -in aller Munde. Die immer wieder an die Öffentlichkeit dringenden Entlarvungen prominenter und weniger prominenter Spitzel erhöhen die Aufmerksamkeit für die Arbeit der Behörde.
Heute spricht kaum ein Politiker von den Leistungen der Zentralen Erfassungsstelle. Unsicher bleibt auch die finanzielle und materielle Situation der Behörde. Tatsächlich ließe sich die Chance nützen und aus der einstigen Erfassungsstelle eine vollfunktionierende Staatsanwaltschaft und Gerichtsstelle bilden. Hier lagern die wichtigsten Akten über das SED-Unrecht und arbeiten die Juristen, die aus einer nahezu 30jährigen Tätigkeit den größten Sachverstand besitzen dürften. Sie hätten die strafrechtliche Bewältigung der DDR-Vergangenheit kenntnisreich und vor allem konzentriert an einem Ort durchführen können, vielleicht ähnlich wie seinerzeit in Nürnberg
Die folgenden Thesen spiegeln die ambivalente öffentliche Diskussion über die Notwendigkeit und das Ausmaß der Vergangenheitsbewältigung wider. Sie heben nicht spezifisch auf Ludwigsburg und Salzgitter ab, stehen aber in einem indirekten Zusammenhang dazu, denn schließlich soll die Vergangenheitsbewältigung auch zum Rechtsfrieden in der Gesellschaft beitragen. Voraussetzung dafür ist die Aufklärung ebenso wie die Ahndung totalitären Unrechts.
Die Behauptung führt in die Irre, die Deutschen suchten der Konfrontation mit der NS-Vergangenheit auszuweichen, indem sie sich nun auf die ein-fächereAbrechnung mit dem SED-Staat stürzten. Damit wird suggeriert, die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit diene der Relativierung der NS-Verbrechen. In Wirklichkeit steht dahinter der Versuch, die SED-Verbrechen zu relativieren, lenkt man doch von deren Bestrafung ab. Darüber hinaus kommt in dieser Behauptung ein schlimmer Rechtspositivismus zum Vorschein, etwa in dem Verweis auf die seinerzeitige Rechtslage der DDR -der SED-Staat war ein Unrechts-staat und damit per se rechtswidrig. Im übrigen lenkt der Unrechtsstaat DDR angesichts seines verbrecherischen Charakters unwillkürlich den Blick auf das NS-System.
Der skrupulöse Umgang mit dem Erbe der DDR-Diktatur stellt gewissermaßen die Fortsetzung des Umgangs mit ihr zu ihren Lebzeiten dar -zumindest seit den Anfängen der Entspannungspolitik. Anstatt die frühere Relativierung des totalitären Charakters der DDR ad acta zu legen und eine konsequente Strafverfolgung der DDR-Verbrechen in rechtsstaatlicher Form zu fordern, geht die Tendenz in die Richtung, diese Verbrechen kalt zu amnestieren. Dies erscheint um so bedenklicher, weil ehedem Verfechter eines harten Vorgehens gegenüber den SED-Tätern auf diesen Kurs einschwenken -nach dem Motto: „Was die Revolution versäumt hat, kann der Rechtsstaat nicht nachholen.“
Juristen und Politiker in der „alten Bundesrepublik“ fordern eine Amnestie der „Mauerschützen“, ihrer Vorgesetzten und der DDR-Führung, weil die DDR ein souveräner Staat gewesen sei. Ähnliche Forderungen zum Dritten Reich sind dagegen -zu Recht -verpönt. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Während die Vergangenheitsbewältigung des Dritten Reiches bereits um ein Vielfaches der Zeit andauert, die dieses Regime bestand, wird die Vergangenheitsbewältigung der DDR nicht so lange andauern, wie diese existierte. Zu fordern ist eine gleichgewichtige Behandlung und Auseinandersetzung mit beiden Diktaturen mit Blick auf die Ähnlichkeiten in ihren Herrschaftspraktiken unabhängig von der Zahl der Opfer bzw.der Schwere der Verbrechen.
Angesichts der vielfältigen Schwierigkeiten und Sichtweisen der DDR-Vergangenheitsbewältigung erscheint eine Relativierung mancher harter Urteile über den Umgang der „alten Bundesrepublik“ mit den Hypotheken des Dritten Reiches angebracht. Die NS-Vergangenheitsbewältigung in der „alten Bundesrepublik“ erscheint heute in einem anderen Licht. Das bedeutet selbstredend keine Aufwertung des NS-Regimes, wohl aber eine Aufwertung der NS-Vergangenheitsbewältigung. Sie war besser als ihr Ruf.