I. Einführung
Wer die DDR als Unrechtsstaat charakterisiert, riskiert heute bereits den Vorwurf einer „Kriminalisierung der DDR-Geschichte“. Zwar wird die DDR (noch?) nicht wieder als „der wahre deutsche Rechtsstaat“ oder als „sozialistischer Rechtsstaat“ verklärt, „der seinen Bürgern die grundlegenden Menschenrechte gewährt“ habe, aber der PDS-Bundestagsabgeordnete Uwe Jens Heuer, der besagten Vorwurf erhob, verteidigt sie immerhin als „souveränen Staat mit einem eigenen Rechtssystem“ Den Unrechtsstaat DDR leugnet er.
Wenn das Wesen des Rechtsstaates in der verfassungsrechtlich fundierten Verpflichtung besteht, das geltende Recht zu verwirklichen, dieses Recht durch Herrschaft nicht beeinträchtigen zu lassen und die Herrschenden der Kontrolle durch unabhängige Gerichte zu unterwerfen, so ist offenkundig, daß und warum die DDR kein Rechtsstaat gewesen sein kann.
Mit dieser Feststellung ist nicht ausgeschlossen, daß die DDR ein eigenes „Rechtssystem“ besaß, staatlich sanktionierte Verhaltensnormen, durch die ihre innere Ordnung geregelt wurde, aber die „sozialistische Gesetzlichkeit“ machte die DDR nicht zum Rechtsstaat in dem hier umrissenen Sinne, sondern allenfalls zum Gesetzesstaat, in dem allerdings in nicht wenigen Gesetzen dem Inhalt nach Unrecht legalisiert war, die im Sinne Gustav Radbruchs „gesetzliches Unrecht“ waren.
Ohne Frage waren die unter der Herrschaft der SED in Kraft befindlichen Gesetze der DDR weithin auch mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar. Das trifft auch auf so umfangreiche Neukodifizie-rungen wie das Arbeits-, das Familien-und das Zivilgesetzbuch und selbst für Teile des Strafgesetz-buches zu, weshalb die DDR-Gesetzlichkeit nach Maßgabe des Einigungsvertrages in gewissem Umfang auch nach dem 3. Oktober 1990 Geltung behielt. Trotzdem spiegelten sich in der Gesetzlichkeit der DDR immer zugleich die Machtinteressen der SED wider. Niemals durften DDR-Gesetze im Gegensatz zu Ideologie und Politik der SED stehen. Generell wurde die Gesetzlichkeit von maßgebenden Rechtsideologen als „eine (mögliche) Methode in der Führung des Klassenkampfes durch die politisch herrschende Klasse“ definiert. „Sie ist ein (mögliches) Prinzip der Tätigkeitsformen des Staates unter besonderer Ausnutzung normativer Akte, ausgerichtet auf den Schutz und die Festigung der ökonomischen, politischen und ideologischen Stellung der Herrschenden, auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die diesen vorteilhaft und genehm sind.“ Demnach verstand sich die „sozialistische Gesetzlichkeit“ als „der juristische Ausdruck der historischen Gesetzmäßigkeit beim Aufbau des Sozialismus und Kommunismus“ Der Instrumentalcharakter des Rechts konnte eindeutiger kaum bestimmt werden.
Dementsprechend wurde auch das „sozialistische Strafrecht“ als „ein wirksames Mittel des sozialistischen Staates zur Verwirklichung seiner Politik im gesamten Verlauf der Entwicklung der neuen Gesellschaftsordnung“ begriffen.
Wo Gesetze den Interessen der Machtseite nicht entgegenstanden, haben sich die Herrschenden in der DDR natürlich auch an die eigenen Gesetze gehalten, sie waren ja häufig genug zu ihren Zwekken geschaffen. Nur macht das die DDR nicht postum zum Rechtsstaat -ganz abgesehen davon, daß die Machthaber, wenn es politisch geboten schien, ihre eigenen Gesetze auch bedenkenlos gebrochen haben. Die SED hat die Instrumentalisierung der Justiz zum politischen Zweck planmäßig und zielbewußt herbeigeführt. Nicht nur wurde alles „bürgerliche Rechtsdenken“ ausgemerzt, sondern Staatsanwaltschaft und Richterschaft wurden von „bürgerlichen Juristen“ radikal „gesäubert“. Auch Sozialdemokraten wurden davon betroffen. Umgekehrt wurden vereinzelt sogar Nationalsozialisten, die eine fortschrittliche Gesinnung zur Schau trugen, selbst in der Justiz geduldet: Der erste Präsident des Obersten Gerichts von 1949 bis 1960, Kurt Schumann, war Mitglied der NSDAP seit 1936 und Kriegsgerichtsrat in der Militärjustiz Adolf Hitlers. Schließlich wurde auch strukturell die Unabhängigkeit der Rechtsprechung beseitigt und durch die Abhängigkeit von den Herrschenden ersetzt.
II. Der Richter als politischer Funktionär
Als die DDR am 7. Oktober 1949 als zweiter deutscher Staat gegründet wurde, war diese Entwicklung kaum vorhersehbar. Die justitiellen Grundrechte waren in der Verfassung garantiert -wenn sie auch von Anfang an zur Farce gerieten. „Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleichberechtigt“, bestimmte Artikel 6 Absatz 1. In Wirklichkeit konnte davon keine Rede sein.
Gegen den Grundsatz, daß kein Bürger seinem gesetzlichen Richter entzogen werden durfte, wurde in politischen Strafprozessen von Anfang an ebenso häufig verstoßen wie gegen das Prinzip der Hauptverhandlung Öffentlichkeit der vor Gericht. Nach taktischem Kalkül entschied die Politbürokratie der SED darüber, ob vor den Schranken des Gerichts in der DDR ein Geheimprozeß oder ein Schauprozeß stattfand -denn dies war in politischen Strafsachen die Alternative, nicht ein ordentliches, ein faires Verfahren. Ein Recht auf Verteidigung, formal gewährleistet, war faktisch nicht gegeben.
Nach Artikel 126 der ersten DDR-Verfassung sollte die ordentliche Gerichtsbarkeit „durch den Obersten Gerichtshof der Republik und durch die Gerichte der Länder ausgeübt“ werden. Da bei Gründung der DDR nur Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte existierten, wurde durch Gesetz vom Dezember 1949 ein Oberstes Gericht geschaffen, zusammen mit einer Obersten Staatsanwaltschaft 8. Es war der erste Schritt zur zentralen Leitung der Rechtsprechung.
Zu den Wesensmerkmalen des Obersten Gerichts zählten seine Zuständigkeit als Gericht erster und letzter Instanz in Strafsachen von „überragender Bedeutung“, wobei seine Entscheidungen unmittelbar rechtskräftig wurden, sowie seine Zuständigkeit für die Kassation rechtskräftiger Entscheidungen in Zivil-und Strafsachen. Im Sinne der SED politisch fehlerhafte Urteile konnten demnach durch Kassation „korrigiert“ werden, auch wenn sie bereits Rechtskraft erlangt hatten.
Als das Leninsche Strukturprinzip des „demokratischen Zentralismus“ in der DDR für den Staats-aufbau bestimmend wurde, führte es in der Justiz konsequent zur Beseitigung der traditionellen Gerichtsverfassung und ihren Ersatz durch ein dreistufiges Gerichtssystem, bestehend aus dem Obersten Gericht sowie aus Bezirks-und Kreisgerichten. Drei Jahre nach Gründung der DDR, mit Inkrafttreten eines Staatsanwaltschaftsgesetzes und eines neuen Gerichtsverfassungsgesetzes hatte sich die SED einen mit zuverlässigen Kadern besetzten Justizapparat geschaffen, der nach ihrem Willen beliebig manipulierbar war.
Für den Weg in die Diktatur der SED war im übrigen bezeichnend, daß die erste Regierungsumbildung der DDR die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit durch Gesetz vom 8. Februar 1950 erbrachte Da seine Aufgaben und Zuständigkeiten darin nicht definiert waren, waren seiner Macht auch keine gesetzlichen Grenzen gezogen. Sein verhängnisvolles Einwirken auf die politische Strafjustiz wird noch exemplarisch zu belegen sein.
Solange die DDR kein neues, den politischen Zielen der SED dienliches Strafrecht besaß, stützte sich die Justiz zum Zwecke des Regimeschutzes zunächst auf Strafbestimmungen des Alliierten Kontrollrates und der sowjetischen Besatzungsmacht -etwa die Kontrollratsdirektive Nr. 38 und den Befehl Nr. 160 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland zum anderen nutzte sie eine in Artikel 6 Absatz 2 der ersten DDR-Verfassung enthaltene Generalklausel zur Verfolgung politi-scher Gegner Danach wurden „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristischer Propaganda sowie Kriegs-hetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten“; pauschal zu „Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches“ erklärt. Obwohl ihr alle Wesenmerkmale eines Strafgesetzes fehlten -sie enthielt weder eine Tatbestands-definition noch eine Strafdrohung -, wurde diese Generalklausel bis 1. Februar 1958 als Strafgesetz rigoros angewandt -zum Verhängnis Zehntausender politisch Verfolgter. Selbst Todesurteile gründeten auf Artikel 6. „Die gesamte politische Strafjustiz auf Grund des Artikel 6 der Verfassung von 1949 ist ein eklatanter Verstoß gegen den Grundsatz , Keine Strafe ohne Gesetz‘." 13
Zwangsläufig mußte sich das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit besonders fatal auf die politische Strafjustiz auswirken. Hinzu kam, daß mit Hilde Benjamin, Vizepräsidentin des Obersten Gerichts von 1949 bis 1953, danach vierzehn Jahre lang Justizministerin, und Ernst Melsheimer, Generalstaatsanwalt von 1949 bis 1960, zwei Exponenten des Stalinismus in der Justiz lange Zeit ungehemmt ihr Unwesen treiben konnten.
Sie prägten mit ihren ideologischen Maximen das Denken einer ganzen Generation von Staatsanwälten und Richtern. „Dem Klassenkampf als objektiver Erscheinung des politischen und gesellschaftlichen Lebens entspricht unsere Parteilichkeit der ideologischen Haltung. Das muß auch in der Prozeßführung zum Ausdruck kommen und kann nicht dazu führen, daß der Richter , objektiv 4 Angeklagte, Verteidiger und Staatsanwalt als gleichberechtigte Parteien behandelt.“ Oder: „In der richterlichen Entscheidung muß sich die Bereitschaft widerspiegeln, die von der Partei der Arbeiterklasse und von der Regierung gefaßten Beschlüsse durchzusetzen.“ 15 Von da war der Weg nicht mehr weit bis zu dem Postulat: „Der Richter in der Deutschen Demokratischen Republik muß ein verläßlicher politischer Funktionär sein.“
III. Strafjustiz im Parteiauftrag
Einer bestürzten Öffentlichkeit wurde die politische Instrumentalisierung der Justiz erstmals bewußt, als in der Zeit vom 24. bis 29. April 1950 ein politischer Schauprozeß im Landestheater Dessau im buchstäblichen Sinne des Wortes „inszeniert“ wurde. Insgesamt zehn Angeklagte hatten sich wegen „Sabotage“ an der Verstaatlichung der Deutschen Continental-Gas-Gesellschaft zu verantworten.
In den beiden Hauptangeklagten Willi Brundert, damals Ministerialdirektor im Ministerium für Wirtschaft und Verkehr von Sachsen-Anhalt, ein Mann aus dem sozialdemokratischen Widerstand gegen das Nazi-Regime, und Leo Herwegen, damals Minister für Arbeit und Sozialfürsorge und CDU-Landesvorsitzender von Sachsen-Anhalt, sollte tatsächlich die sozialdemokratische und bürgerliche Opposition in der DDR gebrandmarkt werden Seitdem im ehemaligen Zentralen Parteiarchiv der SED die Sitzungsprotokolle des Politbüros zugänglich sind, ist dokumentarisch zu belegen, daß der Schauprozeß gegen Brundert, Herwegen und andere von der Führung der SED in allen Einzelheiten geplant und vorbereitet worden ist.
Unter dem 27. Februar 1950 -also knapp zwei Monate vor der Hauptverhandlung -beschloß das Sekretariat des Politbüros: „In Vorbereitung und Durchführung des Prozesses gegen Herwegen-Bundert werden dem Politbüro folgende Maßnahmen vorgeschlagen: 1. Der Prozeß wird dem Generalstaatsanwalt der Deutschen Demokratischen Republik übergeben, der Anklage beim Obersten Gerichtshof der DDR erhebt. 2. Der Prozeß ist so zu führen, daß die Rolle des Monopolkapitals, seine Zersetzungsarbeit mit Hilfe käuflicher Agenten und deren verbrecherischer Tätigkeit in der Deutschen Demokratischen Republik deutlich zu Tage tritt. 3. Der Prozeß wird in Dessau durchgeführt. 4. Termin April 1950. 5. Verantwortlich für die Zusammenstellung und Überprüfung der aus dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik an dem Prozeß teilnehmenden Delegationen sind das Sekretariat des Bundesvorstands des FDGB, das Sekretariat des Zentralrats der FDJ, das Bundessekretariat des DFD. 6. Die gesamte Presse ist zuzulassen. 7. Die Anklageschrift ist vor der Herausgabe dem Sekretariat (des Politbüros) zur Begutachtung vorzulegen.“
Selbstverständlich hat das Politbüro dem Vorschlag zugestimmt. Die Führung der SED empfand sich in ihrer Machtausübung bereits als so unumschränkt, daß sie die Verfahrensweise der Justiz diktierte. Sie demonstrierte mit einem im wahrsten Sinne „politischen Prozeß“ gegen Brundert, Her-wegen und andere ihre Entschlossenheit, auch und gerade mittels der Strafjustiz gesellschaftliche Veränderungen zu erzwingen.
In einer exzessiven Wirtschaftsstrafgesetzgebung und -Strafrechtsprechung in der Frühzeit der DDR kam diese Tendenz bei der Zerschlagung der selbständigen Bauernschaft und bei der Enteignung des Mittelstandes besonders zum Tragen: Strafrecht und Strafjustiz wurden zu Instrumenten der „Revolution von oben“.
Der Brundert/Herwegen-Prozeß war der Auftakt zu mehreren spektakulären Schauprozessen vor dem Obersten Gericht der DDR -vier allein im Jahre 1950, zwölf im Jahre 1952 -, die einerseits für ihren aggressiven Stil und die gnadenlose Härte in der höchstrichterlichen Strafrechtsprechung exemplarisch waren; die andererseits aber auch die Strafrechtsprechung der Land-bzw.der Bezirksgerichte nachhaltig prägen sollten.
Aus der Vielzahl politischer Strafprozesse, die durchaus unter dem Stichwort „Terrorjustiz“ zu subsumieren waren, denn die Zielsetzung hieß Abschreckung der Bevölkerung, hier nur noch ein besonders drakonisches Beispiel. Am 10. Januar 1951 wurde der damals 19jährige Oberschüler Hermann Joseph Flade vom Landgericht Dresden wegen „Boykotthetze“ und „versuchten Mordes“ zum Tode verurteilt Er hatte selbstgefertigte Flugblätter gegen die Einheitswahlen zur Volkskammer, zu den Landtagen und den Kommunalvertretungen am 15. Oktober 1950 verteilt und sich bei seiner Festnahme mit einem Messer gewehrt. Immerhin zwangen landesweite Proteste die Richter in Dresden, in zweiter Instanz auf 15 Jahre Zuchthaus zu erkennen.
IV. Die „Waldheimer Prozesse“
Für die politische Strafjustiz der DDR der früheren Jahre waren nicht zuletzt die „Waldheimer Prozesse“ charakteristisch -so benannt nach der sächsischen Kleinstadt Waldheim, wo sie von Ende April bis Ende Juni 1950 durchgeführt wurden. Zwanzig Sonderstrafkammern des Landgerichts Chemnitz verurteilten 3 324 Männer und Frauen in farcenhaften Schnellverfahren zu hohen und höchsten Strafen, 32 zum Tode. Die meisten von ihnen waren nach fast fünfjähriger Internierung in sowjetischen Speziallagern in Deutschland der Justiz der DDR „zur Aburteilung“ übergeben und standen unter der Anklage, Nazi-oder Kriegsverbrechen verübt zu haben. In ihrer übergroßen Mehrheit waren sie im Sinne des Strafrechts nicht schuldig.
Gesetzliche Handhabe boten das Kontrollratsgesetz Nr. 10 über die Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben, vom Dezember 1945, und die Kontrollratsdirektive Nr. 38 über die Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen sowie die Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen vom 12. Oktober 1946 in Verbindung mit Befehl Nr. 201 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland vom 16. August 1947, in dem Richtlinien zu ihrer Anwendung festgelegt waren. Statt jedoch die zur Entnazifizierung und zur juristischen Bewältigung der Nazi-Vergangenheit gedachten Bestimmungen unter strikter Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien anzuwenden, wie das auch den dazu erlassenen Grundsätzen des Alliierten Kontrollrats entsprochen hätte, geschah genau das Gegenteil 20.
Generell wurden die Verhandlungen bis auf zehn, die als Schauprozesse aufgezogen wurden, unter Ausschluß der Öffentlichkeit in hektischer Eile durchgepeitscht. Einschließlich Urteilsverkündung dauerten sie zwischen 30 und 45 Minuten. Entlastungszeugen wurden nicht zugelassen. Der Mühe, den Angeklagten individuelle Schuld nachzuweisen, unterzogen sich die Richter erst gar nicht. „Die Schuld des einzelnen wurde a priori als erwie-sen vorausgesetzt.“ Grundlage ihrer Entscheidungen waren absolut unzulängliche sowjetische Vernehmungsprotokolle von wenigen Seiten Umfang.
Was auch schon vor der Wende in der DDR gewußt wurde, aber nicht dokumentiert werden konnte, daß nämlich auch die „Waldheimer Prozesse“ von der Führung der SED vorbereitet, gesteuert und kontrolliert wurden, ist heute durch Dokumente aus dem Zentralen Parteiarchiv belegt. Von der gezielten Auswahl politisch zuverlässiger Staatsanwälte und Richter reichten die Eingriffe der Politbürokratie in Ost-Berlin bis zur politischen Nötigung und konkreten Vorgaben für die zu verhängenden Strafen.
In einem internen Abschlußbericht vom 5. Juli 1950 zog Paul Hentschel, damals ein als „Berater“ nach Waldheim entsandter Funktionär aus der Abteilung Staatliche Verwaltung beim Parteivorstand (später Zentralkomitee) der SED, sein Resümee: „Das Ergebnis der Tätigkeit in Waldheim zeigt, daß unsere staatlichen Organe befähigt sind, auch auf diesem Gebiet die Grundlinie der Politik unserer Partei durchzusetzen.“ Indes rügte er die Strafkammern auch, denen „der politische Charakter ihrer Aufgabe“ nicht hinreichend klar gewesen wäre: „Die in der ersten Zeit von einigen Kammern besonders stark in Erscheinung getretene politische Schwäche zeigte sich besonders dann immer, wenn eine Verurteilung aus politischen Gründen erfolgen mußte und die für die formale juristische Urteilsfindung erforderliche lückenlose Beweisführung fehlte.“ Rechtsbruch durch Parteilichkeit kann kaum schamloser aktenkundig gemacht werden.
Als im Juni 1952 weitere 38 ehemalige Internierte zur Anklage kamen, die bei der Aburteilungsaktion in Waldheim zwei Jahre zuvor nicht verhandlungsfähig gewesen waren, verliefen die Hauptverhandlungen in jedem Fall genauso rechtsstaatswidrig, diesmal übrigens in der Zuständigkeit einer Großen Strafkammer des Landgerichts Gera. Auch in diesen Geheimprozessen wurden den Verurteilten alle Grundrechte verweigert.
Es mindert durchaus nicht die Schuld der SED, daß in mehreren Entlassungsaktionen in den Jahren 1952 bis 1955 ein Großteil der Waldheim-Verurteilten amnestiert wurde. Die letzten „Waldheimer“ kamen 1964 frei -wieviel im Strafvollzug verstarben, vermag niemand zu sagen.
V. Stalinismus in der Strafjustiz
Weniger als drei Jahre nach Gründung der DDR schätzte die SED ihre Herrschaft als so unerschütterlich ein, daß sie die tiefgreifende Umwälzung in Staat und Gesellschaft, die sie in den ersten Nachkriegsjahren gemeinsam mit „ihrer“ Besatzungsmacht eingeleitet hatte, weiter vorantrieb -ungeachtet der Folgen, die diese Politik gezeitigt hatte, zumal der nach Hunderttausenden zählenden Flucht-und Abwanderungsbewegung aus der DDR.
Auf ihrer 2. Parteikonferenz, die vom 9. bis 12. Juli 1952 in Ost-Berlin stattfand, proklamierte die SED den „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR. Die „Revolution von oben“ trat in ein neues Stadium. Auf Staat und Recht schlugen ihre radikalen Beschlüsse insoweit unmittelbar durch, als die SED ihre „führende Rolle“ nunmehr unverhüllt für sich reklamierte und keinen Zweifel daran ließ, wie sie ihren Herschaftsanspruch politisch umsetzen wollte: „Das Hauptinstrument bei der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus ist die Staatsmacht“, hieß es in einer Entschließung. „Es ist zu beachten, daß die Verschärfung des Klassenkampfes unvermeidlich ist“, wobei der „Volksmacht“ die „grundsätzliche Aufgabe“ zugewiesen wurde, „den feindlichen Widerstand zu brechen und die feindlichen Agenten unschädlich zu machen“ Die allgemeine Konsequenz, die die SED aus der neuen Generallinie für Recht und Justiz ableitete, war eindeutig: „Die Rechtsprechung der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik dient dem Aufbau des Sozialismus.“
Wie folgerichtig die Herrschenden vorgingen, bewies nicht zuletzt die Beseitigung einer unabhängigen Rechtsanwaltschaft. Durch Verordnung vom 15. Mai 1953 wurde die von der SED inspirierte Bildung sogenannter Kollegien der Rechtsanwälte eingeleitet Die damit programmierte politische Gleichschaltung und ideologische Disziplinierung der Anwaltschaft in der DDR engte das ohnehin verkümmerte Recht auf Verteidigung im Strafprozeß weiter ein. 1989, im Jahre der Wende, waren in der DDR weniger als sechshundert Anwälte tätig -davon weniger als ein Dutzend Einzelanwälte. Alle übrigen Anwälte waren in Kollegien zusammengeschlossen -in jeweils einem für einen Bezirk.
Mit der Radikalisierung ihrer Politik trieb die SED die DDR bekanntlich in eine tiefe politische und ökonomische Krise. Im Karl-Marx-Jahr 1953 schnellte nicht nur die Zahl der Flüchtlinge in die Höhe, in Betrieben und auf Baustellen der DDR begannen die Arbeiter unruhig zu werden, nachdem die SED eine zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnormen administrativ hatte durchsetzen wollen. Punktuell kam es zu Arbeitsniederlegungen. Als das Politbüro, nicht ohne Druck aus Moskau, am 9. Juni 1953 eine Politik des „Neuen Kurses“ beschloß, um die Krise zu konterkarieren, war es zu spät, zumal die Normenerhöhung vorerst nicht zurückgenommen wurde.
Dagegen verfügte die Führung der Partei andere Kurskorrekturen, u. a. auch die „Stärkung der Rechtssicherheit“ in der DDR, und der Ministerrat wies speziell das Justizministerium und den Generalstaatsanwalt an, „alle Verhaftungen, Strafverfahren und Urteile zur Beseitigung etwa vorliegender Härten sofort zu überprüfen“ Tatsächlich wurden in den folgenden vier Monaten über 23800 Strafgefangene entlassen. Dennoch schlug der Versuch fehl, die innere Krise der DDR mit dieser Politik zu bewältigen.
Am 16. und 17. Juni 1953 kam es zum Arbeiter-aufstand. In Ost-Berlin und wichtigen Industriezentren der DDR streikten und demonstrierten Hunderttausende. Nicht von ungefähr traten vielerorts die Aufständischen auch mit der Losung „Freiheit für alle politischen Gefangenen“ auf. In neun Städten wurden Gefängnisse gestürmt und Häftlinge befreit -insgesamt über 1300 an der Zahl
Aber die Herrschenden waren zu lernen nicht fähig oder nicht willens. Nachdem sowjetische Truppen den Aufstand mit Waffengewalt erstickt hatten, nachdem die Diktatur der SED gesichert war, übten sie Vergeltung. Mehrere Tausend Streikende und Demonstranten wurden zeitweilig in Haft genommen. Nach einem Bericht von Hilde Benjamin und Emst Melsheimer an das Politbüro, welcher am 5. März 1954 vorgelegt wurde, sind von DDR-Gerichten bis Ende Januar 1954 insgesamt 1526 „Provokateure des Putsches vom 17. 6. 1953 abgeurteilt“ worden -darunter zwei zum Tode.
Weitere 123 Strafverfahren waren bis zu dem genannten Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen
Zu den Verurteilten im Zusammenhang mit dem Geschehen vom 17. Juni 1953 zählte auch Max Fechner, der erste Justizminister der DDR. Weil er das in der ersten DDR-Verfassung niedergelegte Streikrecht für die Streikenden am 17. Juni reklamiert hatte, wurde er „als Feind der Partei und des Staates“ aus der SED ausgeschlossen und nach zwei Jahren Untersuchungshaft am 24. Mai 1955 in einem Geheimprozeß vor dem Obersten Gericht nach Artikel 6 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt Es war nicht der erste Minister aus dem zweiten Kabinett Otto Grotewohl, der hinter Gitter kam. Zuvor waren, wenn auch mit höchst unterschiedlicher Begründung, stets aber als „Staatsfeinde“ der ehemalige Minister für Handel und Versorgung, Karl Hamann und der ehemalige Außenminister Georg Dertinger in Geheim-prozessen vor dem Obersten Gericht zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt worden.
Auch zur Austragung von Machtkämpfen in der SED ist das Oberste Gericht der DDR mißbraucht worden. Das prominenteste Opfer hieß Paul Merker, Mitglied des Politbüros und Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium. 1950 wurde er, der die Nazi-Zeit als Westemigrant in Mexiko überlebt hatte, als „Agent des US-Imperialismus und des Zionismus“ aus der SED ausgeschlossen, zusammen mit anderen Genossen. Im Dezember 1952 wurde er verhaftet. Ein Schauprozeß war in Vorbereitung.
Merker aber als potentieller Hauptangeklagter widersetzte sich. Zwei Jahre und vier Monate Untersuchungshaft machten ihn nicht für den Schauprozeß reif. So kam es am 30. März 1955 nach zweitägigem Geheimprozeß vor dem Obersten Gericht zu einer Verurteilung zu acht Jahren Zuchthaus wegen Verbrechens gegen Artikel 6 der DDR-Verfassung in Verbindung mit Kontrollratsgesetz Nr. 10 und Kontrollratsdirektive Nr. 38 -juristisch eine absurde Konstruktion. Aber nur zehn Monate später, am 27. Januar 1956, wurde er aus dem Zuchthaus entlassen -auf unmittelbare Weisung Walter Ulbrichts.
Erst ein halbes Jahr später, am 13. Juli 1956, wurde das Urteil gegen Merker aufgehoben, der Angeklagte freigesprochen -und es geschah durch dieselben Richter, die seinerzeit die Zuchthausstrafe verhängt hatten; und sie taten es nicht aus eigener Erkenntnis, sondern ebenfalls nur auf Weisung der SED: Auf Beschluß einer achtköpfigen Kommission des ZK zur Überprüfung der Angelegenheiten von Parteimitgliedern. Ein Freispruch im Parteiauftrag
VI. Auf Weisung des Politbüros
Unmittelbaren Einfluß hatten das Politbüro oder die zentrale Politbürokratie der SED auf das Oberste Gericht der DDR auch in zahlreichen anderen Fällen von „politischer Bedeutung“ genommen. In aller Regel wurden die Ermittlungsakten des MfS oder die Anklageschriften des Generalstaatsanwalts der Abteilung Staatliche Organe oder, wie sie ab 1955 hieß, der Abteilung Staat und Recht im Zentralkomitee der SED zur Überprüfung vorgelegt, ehe das Oberste Gericht entscheiden durfte. In mehreren Fällen ist sogar die Präjudizierung politischer Strafurteile durch Ulbricht persönlich jeweils anderthalb Wochen vor der Hauptverhandlung vor dem Obersten Gericht dokumentiert.
Dafür ein besonders eklatantes Beispiel. Es handelt sich um einen Prozeß gegen fünf Angeklagte aus der DDR, die dem Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) von Berlin Nachrichten zu-gleitet haben sollten. Die Abteilung Staatliche Organe schlug Ulricht in einer internen Hausmitteilung vom 13. Juni 1955 zwei lebenslängliche und drei zeitlich befristete Zuchthausstrafen wegen Spionage vor. Der Parteichef zeichnete mit „einverstanden“ ab, änderte aber die für den Angeklagten Joachim Wiebach vorgeschlagene Zuchthausstrafe in Todesstrafe um mit dem schlichten Vermerk: „Vorschlag: Todesurteil“! Und so geschah es. Am 27. Juni 1955 erging nach einem Schauprozeß vor dem Obersten Gericht das Todesurteil Joachim Wiebach, 29 Jahre alt, wurde am 14. September 1955 in Dresden enthauptet. Er wurde ein Opfer des Stalinismus in der Justiz der DDR zweieinhalb Jahre nach Stalins Tod.
Ein halbes Jahr später nur schien auch die Führung der SED zu einer gewissen Entstalinisierung ihres Regimes in der DDR bereit. Auf der 3. Parteikonferenz der SED, die vom 24. bis 30. März 1956 in Ost-Berlin tagte, wurden jedenfalls Lehren aus den Beschlüssen des zuvor in Moskau abgehaltenen XX. Parteitages der KPdSU gezogen, auf dem erstmals die Justizverbrechen Stalins parteiamtlich verurteilt worden waren. In einer Entschließung forderte die SED speziell, „das neue sozialistische Recht weiter zu festigen, die strikte Wahrung der sozialistischen Gesetzlichkeit zu gewährleisten“
Die Herrschenden in der DDR folgten einer Art Doppelstrategie. Einerseits wurden im Frühjahr und Sommer 1956 fast 12000 Strafgefangene aus Zuchthäusern und Arbeitslagern entlassen, zuletzt auch Willi Brundert, Leo Herwegen und Max Fechner. Andererseits beharrte die SED auf ihrem Herrschaftsmonopol und folglich ebenso auf der Zweckbindung der Justiz an die Politik. Freilich glich das Streben nach Parteilichkeit der richterlichen Entscheidung bei Wahrung der Gesetzlichkeit einem Dilemma, das ein Oberrichter aus Leipzig 1956 in einer internen Richterkonferenz auf folgende Formel brachte: „Wenn ich juristisch entscheide, so ist es politisch falsch, entscheide ich politisch richtig, dann ist es juristisch falsch.“ Ein Ende der Strafjustiz im Parteiauftrag war noch nicht gekommen.
Unter den Gesinnungsprozessen, die in der DDR des „politischen Tauwetters“ die Strafjustiz erneut als stalinistisch decouvrierten, waren zwei von besonderer Bedeutung, weil für andere Prozesse beispielgebend: Die Prozesse gegen Wolfgang Harich und andere im März 1957 sowie gegen Walter Janka und andere im Juli 1957 vor dem Obersten Gericht. Beide Prozesse sollten das Hoffen auf Entstalinisierung im Staat der SED erheblich ernüchtern. Die Urteile widersprachen -das macht sie so eklatant -selbst dem damaligen „sozialistischen Recht“ der DDR. Es hätte „keine Verurteilung ausgesprochen“ werden dürfen. Es war das Präsidium des Obersten Gerichts selbst, das diese Feststellung traf, leider dreieinhalb Jahrzehnte zu spät -im Kassationsurteil gegen Janka und andere, das am 5. Januar 1990 erging Unausgesprochen ließ das Oberste Gericht in seiner Kassationsentscheidung die heute durch Dokumente belegbare Tatsache, daß auch die Urteile gegen Harich, Janka und andere durch das Politbüro der SED präjudiziert worden waren. In einem Ergebnisprotokoll über die dreitägige Sitzung des Politbüros am 18. bis 20. Dezember 1956 heißt es zur Harich-Gruppe: „Folgende Direktive wird den Genossen der Staatssicherheit gegeben:
a) der Prozeß ist beschleunigt vorzubereiten. Die ganze Angelegenheit erhält der Generalstaatsanwalt Dr. Melsheimer zur weiteren Behandlung;
b) auf Grund des Berichtes schätzt das Politbüro die Tätigkeit der Gruppe Harich als Staatsverrat ein.“
Damit war der Schuldspruch durch das Politbüro vorweggenommen. Illusionen über die Entstalinisierung im Staat der SED konnte danach niemand hegen.
Zum Prozeß gegen Janka und andere liegt ein Schreiben des Generalstaatsanwalts vom 16. Juli 1957 vor, das an Klaus Sorgenicht gerichtet war, dem damals zuständigen Abteilungsleiter für Staats-und Rechtsfragen im ZK Das Zusammenspiel von Politbürokratie, Staatssicherheit und Justiz wird darin transparent. Einleitend kommentiert Melsheimer die seinem Schreiben beigefügte Anklageschrift mit den Worten: „Sie hält sich eng an den Schlußbericht des Ministeriums für Staatssicherheit, der, wie mir der Genosse Mielke mitteilte, vom Politbüro gutgeheißen wurde.“ Mit der Anklageschrift aber war de facto auch das Urteil von der Staatssicherheit diktiert.
Danach teilte Melsheimer den geplanten Termin der Hauptverhandlung und die beabsichtigten Strafanträge mit. Der Brief des Generalstaatsanwalts endete mit der Erwartung, „daß, wie in früheren Fällen, auch dieses Mal eine Abschlußbesprechung mit dem Genossen Ziegler dem Genossen Mielke und mir in Deiner Abteilung stattfinden wird“ Hier, auf dieser Ebene, dürfte über das Urteil entschieden worden sein. Im „sozialistischen Rechtsstaat“ DDR hatte auch das Oberste Gericht nur juristisch zu formalisieren, was in der zentralen Bürokratie der SED oder im MfS längst beschlossen worden war.
In besonderen Fällen hat das Politbüro um des propagandistischen Effektes willen sogar die Juristen „korrigiert“ -wie in seiner Sitzung vom 17. Januar 1956. Unter Punkt 20 der Tagesordnung wurde die Strafsache gegen Werner Rudert und andere „beraten“. Ursprünglich sollte Anklage wegen „Abwerbung“ erhoben werden. Was aber beschließt das Politbüro? „Der Bericht in der Strafsache wird zur Kenntnis genommen. Die Bezeichnung , als Abwerber 4 wird als falsch erklärt. Die Verhandlung hat gegen die Angeklagten als Spione zu erfolgen.“ Und so geschah es. Durch Urteil des Obersten Gerichts vom 27. Januar 1956 wurden Werner Rudert und Max Held wegen „Abwerbung“ und „Spionage“ zum Tode, zwei Mitangeklagte zu Zuchthausstrafen verurteilt. Konnte es da verwundern, wenn auch in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre Andersdenkende, Oppositionelle und Regimegegner in der DDR alljährlich zu Hunderten verurteilt wurden?
Rechtspolitisch setzte die Volkskammer einen neuen Akzent, als sie am 11. Dezember 1957 ein Strafrechtsergänzungsgesetz beschloß, mit dessen Paragraphen unter anderem die „Verbrechen gegen den Staat und die Tätigkeit seiner Organe“ normiert wurden. Dies waren Delikte, die bis dahin im wesentlichen mittels Artikel 6 der Verfassung bestraft worden waren. Für „Staatsverrat“, „Spionage“, „Diversion“ sowie „Schädlingstätigkeit und Sabotage“ konnte in schweren Fällen auf lebenslanges Zuchthaus oder auf Todesstrafe erkannt werden -wobei die Höchststrafe nicht nur angedroht, sondern auch verhängt und vollstreckt wurde.
Wiederum nur ein Beispiel: Am 26. April 1960 verurteilte das Bezirksgericht Erfurt den ehemaligen Grenzpolizeioffizier Manfred Smolka wegen Spionage zum Tode. Der Verurteilte war nach seiner Flucht nach Westdeutschland an der fränkisch-thü-ringischen Zongengrenze in eine Falle gelockt und in die DDR zurückgeholt worden. Bestürzend an seinem Fall war nicht nur, daß er, noch nicht 30 Jahre alt, hingerichtet wurde -nein, die Untersu-chungsabteilung des MfS legte nach Abschluß ihrer Ermittlungen einen schriftlichen „Vorschlag für die Durchführung eines Prozesses gegen einen republikflüchtigen ehemaligen Offizier der Deutschen Grenzpolizei wegen Spionagetätigkeit“ vor, der mit dem ungeheuerlichen Satz endete: „Das Verfahren ist geeignet, aus erzieherischen Gründen gegen Smolka die Todesstrafe zu verhängen.“ Nachdem Erich Mielke als Minister für Staatssicherheit am 3. März 1960 sein „Einverstanden (gez.) Mielke“ auf die Aktennotiz geschrieben hatte, wurde die Vorlage vom Politbüro abgesegnet. Danach verfuhr das Gericht entsprechend
VII. „Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit“
Prinzipiell sollte sich in der politischen Strafjustiz der DDR auch in den sechziger Jahren nichts ändern, obschon mit der sogenannten zweiten Justiz-reform der Versuch unternommen wurde, die Justiz in ihrer Gesamtheit wirksamer und durchschaubarer zu machen. Eine für die Strafjustiz wesentliche Neuerung bestand in der Etablierung einer besonderen Militärgerichtsbarkeit.
Auch die Verfassungsreform vom 6. April 1968 ließ die Strukturen im wesentlichen wie gehabt. Wichtigstes Novum der zweiten DDR-Verfassung war die rechtliche Verankerung des Herrschaftsmonopols der SED in Artikel 1. Überdies machten die Bestimmungen über „sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtspflege“ in der Verfassung anschaulich, daß dem „sozialistischen Staat deutscher Nation“ Rechtsstaatlichkeit fremd bleiben sollte. Wenn der Rechtspflege in Artikel 90 als Aufgabe die „Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit“ zugeschrieben war, so entsprach dies genau der Instrumentalisierung des gesetzten Rechts zum politischen Zweck. Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit waren damit nicht zu gewährleisten.
Der Verfassungsreform war wenige Monate zuvor eine umfassende Neukodifizierung des Strafrechts vorausgegangen. Am 12. Januar 1968 beschloß die Volkskammer ein neues Strafgesetzbuch und eine neue Strafprozeßordnung, denen das Etikett „sozialistisch“ aufgeklebt wurde. Ein Bruch mit stalinistischen Strafrechtsprinzipien wurde keineswegs vollzogen, im Gegenteil, das neue Strafrecht stand jedenfalls, soweit es die Normen des Regimeschutzes betraf, in ihrer Kontinuität Wo neue Straftatbestände eingeführt wurden, beruhten sie auf den praktischen Erfahrungen der Strafjustiz bei der politischen Verfolgung. Dem entsprach die Beibehaltung der Todesstrafe als Höchststrafe im neuen Strafrecht, die tatsächlich auch bis 1981 -soweit heute zu belegen -verhängt und vollstreckt wurde.
Wenn in dem neuen Strafgesetzbuch die Zahl der politischen Delikte vergrößert und bei verschiedenen politischen Delikten die Mindeststrafen im Vergleich zu den bis dahin geltenden Normen erhöht, teilweise sogar verdoppelt worden waren, so zeigte das nur die politische Stoßrichtung gegen den „Klassenfeind“ im eigenen Land. Schon terminologisch ließen die Tatbestandsbestimmungen in den Paragraphen, die „Verbrechen gegen die Deutsche Demokratische Republik“ betrafen, die Tendenz erkennen. Die wichtigsten Staatsverbrechen lauteten nun „Hochverrat“, „Spionage“, „Sammlung von Nachrichten“, „landesverräterischer Treubruch“, „staatsfeindlicher Menschenhandel“ und „staatsfeindliche Hetze“.
Trotz seiner Neukodifizierung vermochte das sozialistische Strafrecht den politischen Erfordernissen der SED in den siebziger Jahren nicht lange zu genügen. Gerade die auf Herrschaftssicherung zielenden Strafbestimmungen wurden unter dem Eindruck der politischen Veränderungen in Europa -Stichwort KSZE-Prozeß -erneut mehrmals geändert, neu definiert, erweitert, verschärft. Drei Strafrechtsänderungsgesetze die in den siebziger Jahren beschlossen wurden, ließen bis ins Detail erkennen, welche politischen Konflikte die SED strafrechtlich bewältigen zu müssen glaubte. Im Vordergrund standen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die Bekämpfung massenhafter Ausreisebegehren, die Ahndung von Flucht-und Fluchthilfedelikten sowie die Repression von Menschen-und Bürgerrechtsinitiativen. Auch in den achtziger Jahren wurden hohe, vieljährige Freiheitsstrafen aus politischen Gründen ausgesprochen, wenn auch die Zahl der Verurteilten zurückging. Und die politische Bilanz der politischen Strafjustiz im Parteiauftrag? Noch immer liegt eine genaue Statistik nicht vor. Eigene Schätzungen beziffern die Zahl der politisch Verfolgten in 40 Jahren DDR auf 150 000 bis 200000. Die meisten Verurteilungen entfallen auf die Zeit bis zum Bau der Berliner Mauer, aber auch danach gingen Jahr für Jahr einige Tausend Menschen in die Gefängnisse des Regimes. Wenn allein zwischen 1963 und 1989 nicht weniger als 33755 Häftlinge freigekauft 48 wurden, so läßt das die Größenordnung ermessen.
Die Zahl der bis heute bewiesenen Todesurteile, die in ihrer Mehrheit vollstreckt wurden, beläuft sich auf mindestens 205 -nicht gerechnet Todesurteile, die wegen Mordes verhängt wurden. 125 ergingen wegen vermeintlicher oder tatsächlicher nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, darunter 32, die in den Waldheimer Prozessen verhängt wurden. Hingegen 80 Todesurteile fällten DDR-Gerichte wegen Staatsverbrechen, vielfach wegen sogenannter Spionage, aber auch wegen Sabotage, wegen „Verrats“ und nicht zuletzt wegen Gefangenenbefreiung während des Aufstands am 17. Juni 1953.
Es bleibt zu fragen, ob sich in der DDR der späten achtziger Jahre eine Tendenz zum Rechtsstaat wenigstens andeutete. Immerhin wurde durch Staatsratsbeschluß vom 17. Juni 1987 die Todesstrafe abgeschafft. Die DDR war damit der erste kommunistische Staat, dessen Strafrecht auf diese Sanktionen als Höchststrafe verzichtete. Auch die Schaffung einer Rechtsmittelinstanz gegen erstinstanzliche Entscheidungen des Obersten Gerichts bei diesem Gericht in Gestalt eines Großen Senats und ein begrenztes Klagerecht gegen bestimmte Verwaltungsentscheidungen sind zu erwähnen.
Schritte zu einem qualitativen Wandel in der DDR waren das nicht, sondern eher halbherzige Veränderungen, kosmetische Korrekturen, die das Unrechtsregime der SED gemildert erscheinen lassen sollten. Es konnte nicht anders sein. Die Herrschaft der SED selbst blockierte den Wandel zum Rechtsstaat. So lange das Ideologie-und Macht-monopol der SED ungebrochen war, konnte die Strafjustiz im Auftrag der Partei nicht überwunden werden. Die DDR blieb ein Unrechtsstaat bis zum Zusammenbruch der SED-Diktatur -sie blieb zumindest „im Kem ein Unrechtsstaat“