I. Vorbemerkung
Die NS-Herrschaft, so wird gesagt, habe Leichen-berge, die SED-Diktatur dagegen nur Aktenberge hinterlassen. Aber das ist nicht die Wahrheit. Wer die Geschichte der SED-Diktatur und die Art und Weise, mit der das SED-Regime errichtet und die Gesellschaft in Mitteldeutschland umgestaltet wurde, nicht verdrängt hat, weiß, mit welcher Brutalität die Kommunisten ihr „sozialistisches“ System etabliert haben. Natürlich kann man das NS-System und die SED-Diktatur nicht gleichsetzen. Es gab beträchtliche Unterschiede, etwa was die Ideologie angeht. Aber beide waren totalitäre Herrschaftssysteme deren eigentliches Wesen der Terror war, so wie die Herrschaft des Gesetzes das eigentliche Wesen eines verfassungsmäßigen Regierungssystems ist. Die Parallelen sind bestürzend Der Vernichtungsfeldzug der Nazis gegen „Marxisten“ und „Fremdvölkische“ hatte seine Parallele im Kampf der Kommunisten gegen das Bürgertum als „Klassenfeind“. Die einen mißachteten die Menschenrechte vom Rassen-, die anderen vom Klassenstandpunkt aus. Die Unterdrückung in der SBZ/DDR war sogar fühlbarer als zur NS-Zeit, weil die kommunistische Herrschaft jeder Legitimität bar war und den Menschen gewaltsam aufgezwungen werden mußte, während das NS-System sich fast bis zu seinem Ende auf die breite Zustimmung eines großen Teils der Bevölkerung stützen konnte. Aus diesem Grunde war die Überwachung der Menschen in der DDR auch weit intensiver als unter dem NS-Regime.
Parallelen lassen sich auch ziehen, was die Haltung der Menschen angeht, die in diesen Unrechtsstaaten leben mußten. Anpassung und Widerstand gab es in beiden Systemen, ebenso Karrieristen, Mitläufer und Überzeugungstäter. Die Parallelität reicht über den Untergang der Systeme hinaus. Wie nach der Kapitulation des NS-Regimes 1945, so setzte auch nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes im Jahre 1989 ein Prozeß der Verdrängung ein, der der Aufarbeitung der Vergangenheit im Wege steht.
Ein Ausweichen vor der Vergangenheit wäre verhängnisvoll für die Entwicklung vor allem in den neuen, aber auch in den alten Bundesländern. Hier sei an die alte Wahrheit erinnert, der die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gewidmet ist: Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung. Nicht das Vergessen, sondern die Erinnerung macht frei, und dazu gehört das penible, sorgfältige Aufarbeiten der Vergangenheit. Was verdrängt wird, kehrt zurück, furchtbarer als zuvor. Der Vergangenheit muß man sich gerade um der Zukunft willen stellen. Eine Amnestie darf es daher nicht geben. Allein die bittere Arznei, wie sie die Aufarbeitung der Vergangenheit bedeutet, kann die seelischen und geistigen Voraussetzungen für einen neuen Anlauf schaffen, wie er uns auferlegt ist.
Grundfalsch ist es deshalb, wenn gefordert wird, die Vergangenheit ruhen zu lassen, nach vorn zu blicken und sich auf die Aufgaben des Tages zu konzentrieren. So schwierig es auch ist, der Wahrheit ins Auge zu sehen, nur die rückhaltlose Aufklärung des Geschehens in SBZ und DDR kann hoffen lassen, daß der politische Aufbau in den neuen Bundesländern gelingt. Es wäre ein schwerwiegender Fehler, wollte man über dem ökonomischen Wiederaufbau, so wichtig dieser auch ist, vergessen, daß die primäre Aufgabe in der geistigen Gesundung nach den Jahrzehnten liegt, die durch ein System permanenter Lüge bestimmt waren. Zweierlei bedarf der Klärung, bevor wir uns der Problematik nähern, die mit der Formel „Aufarbeitung des SED-Unrechts“ angesprochen wird. Erstens ist zu fragen, was unter einem Unrechts-staat zu verstehen ist. Ein Unrechtsstaat ist, wie wir aus der NS-Zeit wissen, nicht bloß ein Staat, der Unrecht tut. Das Spezifische, das uns zwingt, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen, ist etwas anderes: der Umstand nämlich, daß das, was in dieser politischen Ordnung Recht hieß, ein Mittel zur Unterwerfung seiner Menschen war, nicht etwas, was ihre Machthaber selbst achteten und einhielten
Die Charakterisierung als Unrechtsstaat bedeutet auch nicht, daß in der DDR stets wahllos Willkür und Terror geherrscht hätten. Es liegt, wie wir aus der Geschichte des NS-Regimes wissen, durchaus im Interesse der Machthaber in totalitären Herrschaftssystemen, Unterdrückungs-und Gewalt-maßnahmen den Anschein von Rechtmäßigkeit zu geben. Auch deshalb ist es schwierig, ein solches Unrechtssystem aufzuarbeiten. Und selbstverständlich gab es in der DDR wie zuvor im Hitler-reich unbeschadet des vom System ausgeübten Terrors „normale“ Regeln und Entscheidungen des Staatsapparates, bei denen der Wille der Partei und ihrer Machthaber keine Rolle spielten. Entscheidend ist jedoch, daß die SED sich über das von ihr geschaffene Recht hinwegsetzte, wenn ihr das richtig erschien.
Zweitens ist darauf aufmerksam zu machen, daß es ein folgenschwerer Irrtum wäre, wenn man meinte, die Bewältigung des SED-Unrechts allein der Strafjustiz überlassen zu können. Das Strafrecht erfaßt nur ganz bestimmte Fälle von Unrecht, nämlich solches, was strafbar war und ist. Es ist deshalb nur einer der vielen Wege, mit denen versucht werden muß, diese Aufgabe zu lösen. In erster Linie sind jedoch Politik und Gesellschaft gefordert. Die Problematik des Themas muß deshalb auf vier Ebenen behandelt werden.
II. Delegitimierung des SED-Regimes
Zuerst muß das diskutiert werden, was man die Delegitimierung des SED-Regimes nennen kann. Diese Ebene ist deshalb wichtig, weil im Westen wie im Osten sich viele, wenn nicht die meisten, scheuen, der Wahrheit darüber ins Auge zu sehen, welches System sie mitgetragen haben und welche Verstrickungen sie eingegangen sind -die Ostdeutschen -und welches sie unterstützt und stabilisiert haben -die Westdeutschen. Zu den Eigenheiten totalitärer Diktaturen gehört die Verschleierung ihrer wahren Herrschaftsmechanismen.
Ein Novum ist, daß sich ein Ausschuß des Deutschen Bundestages -die Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ -einer solchen Aufgabe angenommen hat. Die Frage ist allerdings, ob der Ausschuß damit nicht überfordert ist. Daß von der Anhörung der oberen oder mittleren Funktionärskader, der führenden Vertreter der Blockparteien sowie der Generäle und Offiziere der Nationalen Volksarmee (NVA) oder des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Aufschlüsse zu erwarten sind, die über Propaganda, Vertuschungen und Beschönigungen hinausgehen, dürfte sich als Illusion erweisen. Konfrontationen von Tätern und Opfern, wie sie die an die Stelle der geplanten Tribunale getretenen Foren und vereinzelt auch die Medien Vornahmen, haben sich jedenfalls bisher als wenig ertragreich erwiesen. So dürfte der größte Teil der nötigen Aufklärung wieder einmal von der Zeitgeschichte und der Publizistik zu leisten sein. Bei der Aufklärung über das NS-Regime haben diese Hervorragendes geleistet Daß sich dies jetzt in bezug auf die DDR wiederholt, wäre dringend zu wünschen, ebenso, daß die Bildungsarbeit, auch diesmal vor allem die politische Bildungsarbeit, die Forschungen und ihre Erkenntnisse vor allem in die Schulen trägt.
Kritische Worte sind allerdings auch hier angebracht. Entsprechend der Blickrichtung, die Volkszorn und politischer Wille besonders der Bürgerrechtler vorschrieben, ist vor allem der Stasi-Apparat beleuchtet worden, insbesondere die Tätigkeit der sogenannten inoffiziellen Mitarbeiter. Das hat zu der jedenfalls im Westen kaum erwarteten Offenlegung eines Überwachungssystems geführt, das seinesgleichen in der Geschichte sucht. Von der Stasi-Problematik abgesehen bleiben jedoch die bisherigen Anstrengungen zur Delegitimierung des Systems hinter dem Notwendigen zurück. Verantwortlich dafür scheint zweierlei zu sein. Zum einen die Tatsache, daß Politik, Pu-blizistik und Wissenschaft nahezu zwei Jahrzehnte lang ein beschönigendes, mitunter sogar sympathisches Bild der DDR gezeichnet haben, von dem sich zu lösen offensichtlich nicht einfach ist. Zum anderen aber macht sich das Fortbestehen einer Neigung bemerkbar, dem DDR-Regime nach wie vor mit beträchtlichem Verständnis zu begegnen, zumindest aber den Sozialismus als edle Verheißung anzusehen, die nur an bestimmten Fehlern gescheitert sei, wie sie Stalin, Ulbricht und die vergreiste SED-Führung um Honecker begangen haben. Auffallend ist ferner die Ignorierung des Widerstandes in SBZ und DDR Dieses Desinteresse steht im Gegensatz zu der überragenden Rolle, die der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der politischen Bildung und in der politischen Publizistik gespielt hat und spielt.
Das Fehlen hinreichender Anstrengungen zur Delegitimierung des SED-Systems droht bereits jetzt zu einem Politikum zu werden. In Ostdeutschland vollzieht sich derzeit eine DDR-Nostalgie, wie sie uns zum Glück nach 1945 in bezug auf das NS-Regime erspart blieb. Selbst Menschen, die sich vor der Wende bitter über Unterdrückung und Not beklagten, tendieren jetzt zur Verklärung der DDR. Die sogenannten Gerechtigkeits-Komitees propagieren erneut -wie vordem die SED und ihre Vorfeldorganisationen -ein Feindbild Bundesrepublik, indem sie dieser eine permanente „Demütigung“ der Menschen in den neuen Ländern anlasten. Die Regierungen in diesen Bundesländern haben es versäumt, den Anfängen durch Aufklärung zu wehren, und ziehen es auch vielfach jetzt noch vor, diese Stimmung hinzunehmen. Es ist richtig, wenn von Politikern eine offensive Auseinandersetzung mit dieser Stimmungslage gefordert wird. Nur müssen der Ankündigung auch Taten folgen.
Eine solche offensive Auseinandersetzung ist nicht zuletzt auch deshalb nötig, weil das, was man die ethische Wiedergeburt der Menschen in den neuen Ländern nennen kann, die Aufklärung insbesondere über die Wirkungsweise des Systems zur Voraussetzung hat. Der „mähliche Terror“ (W. Thierse) war in der DDR unmittelbar spürbar, aber nicht faßbar. Rechtsbewußtsein aber kann nur entstehen, wenn das Klima der Bespitzelung, der Denunziation, der Unehrlichkeit, das der Stasi-Staat züchtete, auch in seinen Folgewirkungen überwunden wird. Daß dabei seitens der Verschonten keine Überheblichkeit am Platze ist, sondern Einfühlungsvermögen, braucht als Selbstverständlichkeit nicht hervorgehoben zu werden. Wo Sensibilität für die Befindlichkeit von Menschen fehlt, die unter einem totalitären System lebten, ist der Mißerfolg noch so gut gemeinter Bemühungen zur moralisch-geistigen Erneuerung vorprogrammiert.
Auf der anderen Seite belegt die Geschichte der Bundesrepublik bei allen Mängeln der Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, was ein zielgerichteter Lernprozeß, wie er jetzt in bezug auf das DDR-Regime not tut, zu leisten vermag. Denn „ohne die schonungslose, quellengesättigte Auseinandersetzung mit der Nazi-Diktatur wäre es nicht geglückt, die zweite deutsche Demokratie nach dem Scheitern von Weimar so erfolgreich zu stabilisieren“
III. Personelle Säuberung („Wechsel der Eliten“)
Kaum weniger bedeutsam, ja im politischen Verständnis noch wichtiger, ist die zweite Ebene der Unrechtsbewältigung, die der Personalpolitik.
Wenn ein demokratisches System an die Stelle eines totalitären tritt, ist ein Wechsel des im engeren Sinne politischen Personals unabdingbar, aber auch ein personeller Austausch in den Bereichen von Verwaltung, Justiz, Bildung, Kultur und Wirtschaft.
Nach 1945 wollten die Alliierten einen solchen „Elitenaustausch“ oder „Elitenwechsel“ durch die Tabula-rasa-Politik der Entnazifizierung bewerkstelligen. Alle Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen wurden damals aus dem Staatsdienst entlassen und erst wiedereingestellt, nachdem sie die Entnazifizierungsverfahren mit Erfolg durchlaufen hatten. Im Fall der DDR stand einer solchen Tabula-rasa-Methodik schon der sanfte Übergang zur Bundesrepublik entgegen. Bei den Beitrittsverhandlungen wurde beträchtlicher Wert auf die Anerkennung der Maßnahmen gelegt, die in der Übergangszeit, als die Regierung de Maizire am Ruder war, im Interesse der DDR getroffen wurden. Vor allem aber sah man, zu welchen Ungerechtigkeiten die Methode im Einzelfall führen konnte. Und schließlich entsann man sich, daß die Entnazifizierung wegen ihres Schematismus und der großen Zahl der einfachen Mitglieder der Nazipartei, die davon betroffen waren, als Fehlschlag in die Nachkriegsgeschichte eingegangen ist.
I So wurde die Methode der politischen Säuberung verworfen und die der Einzelfallprüfung gewählt, die gleichsam die Böcke unter den Schafen auszusondern hatte, aber gleichwohl auch dort, wo es nicht um die „Abwicklung“ bestimmter Einrichtungen des Regimes ging, böses Blut machte. Daß diese vor allem von den neuen Ländern gewünschte Methode in vielen Fällen Menschen in verantwortlichen Positionen beließ, die unter den genannten Kriterien mindestens eine Zeitlang dem öffentlichen Leben hätten fernbleiben müssen, konnte nicht überraschen. Die Erwartung, daß Personen, die sich eng mit dem Regime eingelassen hatten, von sich aus eine Pause einlegen würden, erwies sich als illusionär. Der einzige Entlassungsgrund, den man schon in den Einigungsvertrag -auf Betreiben der DDR-Verhandlungsführer -hineinschrieb, war die Mitarbeit beim MfS. Das aber führte dazu, daß die Betroffenen sich veranlaßt sahen, die Dokumente des MfS, die die Gauck-Behörde offenlegte, als unglaubhaft abzutun. Wo die Mitarbeit nicht zu leugnen war, wurde die Wendung zum Entschuldigungsstereotyp, man habe durch seine Mitarbeit niemandem geschadet.
Insbesondere auf der kommunalen Ebene gestaltete sich der Personalwechsel als Mittel der Unrechtsbewältigung auch deshalb als schwierig, weil die Kommunalwahlen vom 8. Mai 1990 zahlreiche SED-Genossen und Blockparteiler des zweiten oder dritten Gliedes in kommunale Leitungspositionen gebracht haben, die sich teilweise nicht unerheblich mit dem Regime eingelassen hatten. Ähnliches gilt für die Landtagswahlen im Oktober 1990. In den Verwaltungen, in den Schulen und in der Wirtschaft kann man auf Personen stoßen, die dem System weit mehr als loyal gedient haben, ja dessen eifrige und überzeugte Anhänger gewesen sind.
IV. Strafrechtliche Aufarbeitung des SED-Unrechts
Je deutlicher der Bevölkerung wird, welche Grenzen der Unrechtsbewältigung durch Personalwechsel in den neuen Ländern politisch gesetzt sind, um so mehr richtet sich das Interesse auf die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Daß die Strafjustiz nur einen begrenzten Beitrag leisten kann, ist bereits hervorgehoben worden. Insbesondere kann sie nicht politische Versäumnisse wettmachen. Eingeschränkt ist die strafrechtliche Verfolgung in erster Linie durch den sich aus dem Rechtsstandpunkt „Keine Strafe ohne Gesetz“ (nulla poena sine lege) legitimierenden Verzicht, für die Ahndung der Regierungskriminalität des DDR-Regimes, die man besser Funktionärskriminalität nennen sollte, in ähnlicher Weise wie nach 1945 besondere Strafgesetze zu schaffen. Man will vielmehr die DDR-Verbrechen einzig und allein mit den Gesetzen ahnden, die in der Bundesrepublik gelten oder, wenn die DDR-Gesetze milder sind, nach diesen. Dabei treten Auffassungsunterschiede zutage, die in dem bekannten Wort von Bärbel Bohley ihren Ausdruck gefunden haben: „Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen.“ In Ostdeutschland wird, vereinfachend ausgedrückt, erwartet, daß der Rechtsstaat mit Hilfe des Rechts der Gerechtigkeit zum Siege verhilft. Demgegenüber ist der Rechtsstaat im Verständnis bundesdeutscher Juristen vornehmlich durch die Schutzmöglichkeiten bestimmt, die er den Bürgern, den Beschuldigten oder Angeklagten vor dem Staat bietet, wie in dem bekannten Diktum zum Ausdruck kommt, wonach das Strafgesetzbuch die Magna Charta des Verbrechers ist
Hinzu kommt, daß -anders als in den Jahren nach 1945 -nicht nur Versöhnlichkeit gegenüber politischen Verbrechern Politik und öffentliche Meinung beherrscht, sondern auch der Rechtspositivismus die naturrechtlichen Ideen wieder verdrängt hat. Deren Botschaft, daß es elementare Rechtsgrundrechte und universale Menschenrechte gibt, die kein Gesetzgeber und keine Anordnung eines Diktators außer Kraft setzen kann findet jedenfalls in der Rechtswissenschaft kaum noch ein Echo. So kann man sagen, daß die Prozesse gegen die gestürzten Funktionäre des Nationalen Verteidigungsrates Bewährungsproben für die Strafjustiz sind, an der sich zeigen muß, welcher Art die Institutionen unseres Staates sind: die Justiz vorneweg, aber auch das Rechtswesen insgesamt, die Rechtswissenschaft, die politischen Kräfte, die öffentliche und die veröffentlichte Meinung. 1. Möglichkeiten und Grenzen rechtsstaatlicher Strafjustiz Konkrete Probleme, an denen sich Gegensätze entfalten, gibt es in Fülle. Einverständnis besteht darüber, daß das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG -also der Satz „nulla crimen sine lege“ -nicht verletzt werden darf. Es kommt mithin darauf an, ob das Verhalten der DDR-Funktionäre nicht nur nach heutigem Recht, sondern auch zur Tatzeit nach dem Recht der DDR mit Strafe bedroht war. Regelmäßig ist dies der Fall bei den Delikten, die hier in Betracht kommen, also Mord und vorsätzliche Tötung eines Menschen, Freiheitsberaubung, Nötigung, Erpressung, Körperverletzung, Betrug, Untreue, Wahlfälschung, Bruch des Fernmeldegeheimnisses, des Anwalts-geheimnisses u. a. m. Die Normen des Strafrechts waren hier in beiden Rechtsordnungen im wesentlichen identisch, und das genügt, um anzuklagen und zu verurteilen
Meinungsverschiedenheiten bestehen insoweit, als es darum geht, ob die Beschuldigten sich mit Erfolg darauf berufen können, daß das DDR-Recht ihr Verhalten -etwa die Todesschüsse an der Mauer, die Folterung in Gefängnissen, die Mißhandlung, die Freiheitsberaubung, die Erpressung etwa nach dem Muster „Grundstück gegen Ausreise“ -gewollt oder gebilligt hat. Die spektakulären Fälle betreffen die sogenannte Republikflucht, die unter Strafe gestellt war, den Schießbefehl und das Grenzgesetz, die die Todesschüsse zur Verhinderung der „Republikflucht“ erlaubten. Hier greift jedoch der Ordre-public-Vorbehalt ein, der die Anwendung fremder Rechtsnormen verbietet, wenn diese zu einem Ergebnis führte, das mit wesentlichen Grundsätzen des eigenen Rechts -also des Rechts der Bundesrepublik -unvereinbar ist. Daß der ordre public eine Grenze für die Anerkennung des DDR-Rechts darstellt, ist nichts Neues, sondern entspricht der Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts Wir können daher nur solche Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts akzeptieren, die mit dem Grundgesetz nicht in Widerspruch stehen. Beim DDR-Notwehrrecht wäre das der Fall, nicht aber beim Schießbefehl und dem später -1982 -an dessen Stelle getretenen Grenzgesetz.
Zudem ist an die Erscheinung des gesetzlichen Unrechts zu denken, die uns aus der Aufarbeitung der Untaten des NS-Regimes vertraut ist. Die Erkenntnis, daß staatliche Gesetze wegen des Widerspruchs gegen elementare, überpositive Rechts-grundsätze nicht befolgt werden dürfen, weil sie Unrecht sind und deshalb der Verbindlichkeit er-mangeln, gilt auch für das SED-Regime. Dieses der Bevölkerung aufgezwungene, demokratisch nie legitimierte Regime beruhte wie das NS-Regime auf der Verletzung elementarer Menschenrechte -auch und gerade solcher, die Bestandteil der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen des Paktes über bürgerliche und politische Rechte und der KSZE-Schlußakte waren. Zu deren Beachtung aber hatte sich das DDR-Regime unterschriftlich verpflichtet.
Allerdings hatte das Regime es unterlassen, die in diesen Pakten verkündeten Rechte allesamt in das DDR-Recht zu transformieren. Darauf kommt es aber nicht an. Wichtig ist allein, daß die in den Pakten aufgeführten Menschenrechte als universal anerkannt sind. Wie es den Universalismus der Moral gibt, so gibt es auch, auf die elementaren Menschenrechte bezogen, einen Universalismus des Rechts. Universale, fundamentale Menschenrechte sind deshalb auch . dann zu achten, wenn sie nicht in positives, innerstaatliches Recht transformiert sind.
Was z. B. die Freizügigkeit angeht, die das DDR-Regime außer Kraft setzte, so handelt es sich um ein universelles, im Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 verankertes Menschenrecht, das einer so rigiden Beschränkung, wie sie das DDR-Regime vornahm, nicht zugänglich ist. Zudem verstieß das Verbot, die DDR zu verlassen, schlechthin gegen die Würde des Menschen, weil es ihn zum Gefangenen im eigenen Land machte. Und der Schießbefehl verkörperte, wie das Landgericht Stuttgart schon 1963 festgestellt hat nichts anderes als die letzte und schärfste Waffe der DDR-Machthaber zur Unterdrückung dieses elementaren Rechts. Darüber hinaus verstießen Schießbefehl und Schießgesetz auch gegen den überzeitlichen, schon aus der Antike bekannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Der hier vertretene Standpunkt, wonach Gesetze, die -wie das DDR-Grenzgesetz -auf das schwerste gegen die Menschenrechte verstoßen, ein darauf gestütztes Verhalten keineswegs rechtfertigen können, stößt unter Juristen auf starken Widerspruch. Insbesondere Hochschullehrer und Anwälte zeigten sich bislang nicht bereit, diesen in den NS-Prozessen erhärteten Grundsatz zu akzeptieren. Auch die Strafkammern des Landgerichts Berlin verrieten in den Urteilen der ersten Prozesse gegen Grenzsoldaten, die Todesschüsse an der Mauer abgegeben haben, beträchtliche Unsicherheit. Um so mehr ist hervorzuheben, daß der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 4. November 1992 in dem es die Revision gegen das Urteil im ersten sogenannten Mauerschützenprozeß verwarf, klargestellt hat, daß die Todesschüsse an der Berliner Mauer rechtswidrig gewesen sind, weil das zugrundeliegende Grenzgesetz ein „Menschenrechtsverstoß schwerster Art“ war. Damit ist den Strafgerichten der Weg gewiesen, den sie bei der Beurteilung des DDR-Rechts zu gehen haben Zwar sind die Gerichte unabhängig und deshalb rechtlich nicht verpflichtet, der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu folgen. Im Interesse der Rechtssicherheit und zur Vermeidung der Aufhebung entgegenstehender Entscheidungen pflegen sie sich jedoch in aller Regel an die höchstrichterliche Rechtsprechung zu halten. Übrigens enthielt das DDR-Strafgesetzbuch sogar eine Vorschrift (§ 95) wonach sich auf Gesetz, Befehl oder Anweisung nicht berufen kann, wer in Mißachtung der Grund-und Menschenrechte handelt. 2. Unrechtsbewußtsein und Befehlsnotstand Regelmäßig versuchen die Todesschützen sich mit dem Hinweis zu entlasten, daß sie auf Befehl gehandelt hätten. „Wir mußten gehorchen, sonst wären wir bestraft worden“, ist der immer wiederkehrende Einwand. Juristisch gesehen handelt es sich um die aus den NS-Gewalttäter-und Kriegsverbrecherprozessen bekannte Figur des Befehlsnotstandes die den Juristen der Bundesrepublik wohl-vertraut ist.
Bemerkenswerterweise stimmen die Rechtsordnungen der Bundesrepublik und der DDR darin überein, daß eine Notstandslage beim Befehlsempfänger nur dann anerkannt werden kann, wenn dieser sich in einer gegenwärtigen Gefahr befand und die Gefahr nicht anders als durch die Schüsse zu beseitigen war. Als gegenwärtige Gefahr gilt ein Zustand, der nach menschlicher Erfahrung bei natürlicher Weiterentwicklung der gegebenen Sachlage den Eintritt der Schädigung sicher oder doch höchst wahrscheinlich macht. Die bloße Möglichkeit einer Schädigung reicht für die Annahme eines Befehlsnotstandes nicht aus. Die erste Frage ist also, ob und welche Nachteile dem Soldaten tatsächlich bevorstanden, wenn er den Schießbefehl nicht ausführte.
Die zweite Frage geht dahin, ob die Gefahr anders als durch den Todesschuß nicht zu beseitigen war. Der Täter muß sich, wenn er Befehlsnotstand geltend macht, nach Maßgabe seiner Kräfte bemüht haben, der ihm drohenden Gefahr auf andere Weise als durch Ausführung des verbrecherischen Rechts zu begegnen. Außerdem muß sich der Täter der konkret drohenden Gefahr bewußt gewesen sein, und dieses Bewußtsein muß für sein Handeln den Ausschlag gegeben haben.
Das bedeutet, daß Befehlsnotstand ausgeschlossen ist wenn der Schütze dem Befehlsgeber willfährig sein oder bei seinem Vorgesetzten nicht den Eindruck der Unfähigkeit erwecken wollte, ferner wenn der Gehorsam ihm selbstverständlich oder unter den gegebenen Umständen ihm als bequem erschien, sozusagen als Weg des geringsten Widerstandes; Karrierestreben, Charakter-oder Willensschwäche entschuldigen nicht. Zwar bedrohte das Strafgesetzbuch (StGB) der DDR von 1974 in § 262 die Angehörigen der Grenztruppen, die Dienstvorschriften oder andere Weisungen über die Grenzsicherung verletzten, mit Freiheitsstrafe oder Strafarrest. Es darf aber nicht übersehen werden, daß nach eigenen Mitteilungen von NVA-Angehörigen die Möglichkeit bestand, sich dem Dienst an der Grenze zu entziehen -ganz abgesehen davon, daß man auch daneben schießen konnte, was viele taten. Wer sich weigerte, an der Grenze Dienst zu tun und gegebenenfalls auf „Republikflüchtlinge“ zu schießen, riskierte keine Nachteile, die auch nur annähernd im Verhältnis zur Tötung von Menschen standen. Er wurde, wie die Vernehmungen von Grenzsoldaten ergeben haben, zum Küchendienst abkommandiert oder anderswo eingesetzt, mußte aber nicht etwa töten, um nicht selber getötet zu werden. Zu prüfen ist unter Umständen allenfalls, ob sich der Täter im „Putativnotstand“ befand, also irrtümlich das Vorliegen eines den Schuß legitimierenden Befehlsnotstandes annahm.
Nichts steht daher im Wege, die Urheber des Schießbefehls und die Todesschützen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Sind aber die Schüsse an der Mauer justitiabel, so ist daran zu erinnern, daß das Mitmachen kleiner Leute, die Unterstützung durch mehr oder weniger schlichte Befehlsempfänger zu den Funktionsbedingungen totalitärer Systeme gehört. Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, daß in solchen Systemen Gehorsam die aktive Unterstützung unmenschlicher Politik bedeutet Erst das Zusammenspiel von Machtbesessenheit und Unterwürfigkeit ermöglicht die Staatsverbrechen totalitärer Herrschaft. Wie die NS-Prozesse so schreiben auch die Mauerschützenverfahren nolens volens ein wichtiges Kapitel politischer Aufklärung und damit politischer Bildung. Gerade weil es Wesen und Ziel totalitärer Regime ist, die Verantwortlichkeit jedes einzelnen für sein Tun zu tilgen, sind diese Prozesse ein Beitrag zum Thema persönliche Verantwortung in der Diktatur.
Honecker und die weiteren Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats sind zudem nicht nur als Anstifter, sondern als Täter kraft der Organisationsherrschaft zu belangen, die sie über die Grenzschützen ausübten. Es ist in der Rechtswissenschaft anerkannt, daß sogenannte Schreibtischtäter durch die Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft erfaßt werden Diese Lehre ist auf den bei dem SED-Regime vorliegenden Sachverhalt geradezu zugeschnitten. Der für die Willensherrschaft entscheidende Faktor ist die Fungibilität des Handelnden aus der Sicht des Hintermanns. Der Handelnde, hier der Mauerschütze, erscheint als eine anonyme, austauschbare Figur, ein bloßes, ersetzbares „Rädchen im Getriebe“.
Auch die Befehlsgeber „vor Ort“, die Zwischen-personen in der Befehlshierarchie, die die konkreten Anordnungen getroffen haben, sind durchaus strafrechtlich zu belangen sie haben durch die Unterstützung der Organisatoren Beihilfe geleistet und sind als Befehlsgeber nach unten Täter, sofern sie Lenkungsmacht hatten, Anstifter, wenn sie den Apparat nicht selbständig bewegt haben, sondern nur untergeordnete, etwa am Rande Beteiligte waren. 3. Unrecht durch Rechtsprechung Unrecht durch Rechtsprechung war in der DDR ein Massendelikt. Nahezu 100000 Anträge auf Rehabilitierung durch Urteilsaufhebung oder -änderung liegen den Gerichten vor. Standen in der DDR zunächst Verurteilungen wegen Boykott-hetze nach dem uferlosen Art. 6 der DDR-Verfassung, Sabotage und Diversion im Vordergrund -die sogenannte Schädlingstätigkeit -, so war später die Verurteilung wegen „Republikflucht“ so häufig wie im Westen der Diebstahl (um eine Formulierung der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Oder aufzugreifen).
Werden nun die Richter und Staatsanwälte, die man als Schergen des SED-Regimes bezeichnen muß, wegen ihrer Unrechtsurteile verurteilt werden? Erinnern wir uns an die NS-Justizverbrechen.
Bekanntlich hat die Justiz der Bundesrepublik -mit dem Bundesgerichtshof an der Spitze -sich bis auf ganz wenige Fälle außerstande gesehen, diejenigen, die sich in der Robe des Richters durch ihre Entscheidungen strafbar gemacht hatten, strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen Das war eine schlimme Niederlage im Angesicht der Weltöffentlichkeit, keineswegs ein Triumph des Rechtsstaats, wie manche zu glauben schienen.
Das erneute Unvermögen, Justizverbrechen zu ahnden, würde kaum weniger als skandalös empfunden werden als das alte. Gleichwohl ist mit Verfahrenseinstellungen oder Freisprüchen zu rechnen, wenn die Rechtsprechung auch hier wie bei den NS-Justizverbrechen der sogenannten Radbruchschen Formel folgt, wonach Richter wegen einer durch ihre Entscheidungen begangenen Straftat nur dann verurteilt werden dürfen, wenn sie damit zugleich den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt haben In praxi bedeutet dies eine Sperrwirkung zugunsten beschuldigter Richter. Wem kann schon nachgewiesen werden, daß er vorsätzlich, also wissentlich und willentlich, das Recht gebeugt, also falsch angewendet hat oder daß er sich die Rechtsbeugung, wenn man den bedingten Vorsatz genügen läßt, als möglich vorgestellt und in seinen Willen aufgenommen hat?
Es ist also eine gründliche Korrektur der Fehlentwicklung unerläßlich, die der Rechtsprechung zu den Justizverbrechen anzulasten ist. Als erstes müßte die Ausdehnung der Radbruchschen Formel auf Nichtrichter rückgängig gemacht, als zweites erkannt werden, daß entsprechend den In-tentionen Radbruchs seine Formel nur anwendbar ist, wenn es sich um unabhängige Richter handelt Da dies bei den DDR-Richtern nicht der Fall ist, fehlt die Voraussetzung für das Junktim zwischen dem allgemeinen Straftatbestand -z. B. Freiheitsberaubung -und dem der Rechtsbeugung. Die DDR-Richter können vielmehr wegen Erfüllung des Tatbestandes der Freiheitsberaubung verurteilt werden, ohne daß ihnen vorsätzliche Rechtsbeugung nachgewiesen werden muß. Einfacher -und konsequenter -wäre natürlich, wenn die Radbruchsche Formel überhaupt aufgegeben würde und nicht nur dann, wenn keine unabhängigen Richter das Urteil gefällt haben. Ob die Rechtsprechung die Kraft hat, sich dazu zu entschließen, ist indessen zweifelhaft. 4. Verjährung?
Fassen wir zusammen, so ist evident, daß der Rechtsstaat mit dem ihm zur Verfügung stehenden rechtlichen Instrumentarium durchaus imstande ist, beträchtliche Teile der Funktionärskriminalität in der ehemaligen DDR zu ahnden. Daß ihm dies auch tatsächlich gelingt, ist jedoch keineswegs ausgemacht. Da ist zunächst die Frage der Verjährung. Da die Verjährungsfrist mit der Beendigung der Straftat zu laufen beginnt, sind zahlreiche DDR-Verbrechen -darunter die gravierendsten, die in den ersten Jahrzehnten des Regimes begangen wurden -verjährt. Eine Unterbrechung der Verjährung -etwa durch Vernehmung der Beschuldigten, richterliche Maßnahmen usw. -scheidet aus. Es ist gerade das Merkmal der hier in Rede stehenden Straftaten, daß sie in der DDR nicht verfolgt wurden.
Bei den NS-Verbrechen war das nicht anders, und keineswegs war man bereit, den Eintritt der Verjährung hinzunehmen In den Ländern der westlichen Besatzungszonen wurden deshalb rechtliche Regelungen -Gesetze oder Verordnungen -erlassen, die bestimmten, daß die Verjährung von Straftaten, die in der NS-Zeit nicht verfolgt wurden, während dieser Zeit ruhte. Die Rechtsprechung kam darüber hinaus zu der Erkenntnis, daß sich das Ruhen der Verjährung auch ohne ausdrückliche Bestimmungen bereits aus dem Rechts-gedanken der Vorschrift des Strafgesetzbuchs über das Ruhen der Verjährung (§ 69 in der damals geltenden Fassung, heute § 78b) ergab. Beginn und Lauf der Verjährung waren mithin bei den NS-Verbrechen bis zum 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation des Deutschen Reiches, gehemmt. Leider hat der Gesetzgeber lange gezögert, die entsprechenden Regelungen in bezug auf die Funktionärskriminalität in der DDR zu treffen.
Schließlich darf nicht übersehen werden, daß rechtsstaatliche Gerichte gründlich, folglich langsam, und voller Skrupel arbeiten, gilt doch die Maxime, lieber Schuldige freizusprechen als Unschuldige zu verurteilen. Das Strafprozeßrecht der Bundesrepublik bietet Verteidigern große Entfaltungschancen im Interesse eines fairen Prozesses, und es dürfte sicher sein, daß die DDR-Funktionäre, wenn es zu Verfahren kommt, hervorragende Verteidiger erhalten werden. Viele, die Strafe verdient hätten, werden auch deshalb ungeschoren davonkommen.
V. Wiedergutmachung
Rechtliche Unrechtsbewältigung meint aber nicht nur die strafrechtliche Ahndung der Verbrechen des DDR-Regimes. Unrechtsbeseitigung geschieht auch durch die Aufhebung von Urteilen und vor allem durch Leistungen zur Wiedergutmachung des Schadens, den die Opfer durch Freiheitsentzug, Gesundheitsbeeinträchtigung, Nachteile im beruflichen Fortkommen und Entzug ihres Vermögens erlitten haben. Da die Bundesrepublik die Opfer des NS-Regimes vergleichsweise angemessen entschädigt hat, erwarteten die Opfer des SED-Regimes und vor allem diejenigen, die dem Regime Widerstand geleistet hatten, eine ähnliche Regelung. Diese ist jedoch ausgeblieben. Es gab keinen Adenauer, der sich über die Bedenken hinwegsetzte, die seinerzeit der Bundesfinanzminister und die führenden Wirtschaftsmanager z. B. gegen die Wiedergutmachungsleistungen an Israel, ja gegen die Entschädigungsgesetzgebung überhaupt geltend gemacht hatten. Vor allem fehlen Bundestagsabgeordnete und Anwälte, die wie seinerzeit Franz Böhm, Adolf Arndt, Walter Schwarz und Otto Küster die Sache der Verfolgten zu ihrer eigenen machten Nach der sogenannten Wende war die DDR schnell dabei, Unrechtsurteile gegen die Abweichler von der Generallinie der SED aufzuheben, z. B. Urteile gegen Harich, Janka, Just (um nur diese zu nennen), aber auch gegen Dissidenten wie Bahro und Bürgerrechtlerinnen wie Vera Wollenberger Die Volkskammer beschloß kurz vor dem Beitritt ein spezifisches Rehabilitierungsgesetz Nach dem Beitritt zeigte es sich, daß viele DDR-Bürger und -Bürgerinnen in Verurteilungen auch dann eine Ehrenminderung sahen, wenn es sich um politische Verurteilungen handelte, auf die man eigentlich hätte stolz sein müssen. Das DDR-Rehabilitierungsgesetz wurde allerdings als unzulänglich empfunden, so daß an die Ausarbeitung eines neuen, umfassenden Rehabilitierungsgesetzes gegangen wurde. Dieses Gesetz, das den Namen Unrechtsbereinigungsgesetz bekam, kam allerdings nur langsam voran. Als das Drängen der Opfer stärker und lauter wurde, entschloß man sich, zwei Gesetzentwürfe vorzulegen. Das ErsteUnrechtsbereinigungsgesetz regelt aus dem Gesamtkomplex des SED-Unrechts die Rehabilitierung und Entschädigung für solche Regime-Opfer, die rechtsstaatswidrig durch Gerichte verurteilt oder in psychiatrische Anstalten eingewiesen sind Das Zweite Unrechtsbeseitigungsgesetz soll insbesondere das Verwaltungsunrecht behandeln. Zu Recht nimmt die Kritik daran Anstoß, wie gering die Haftentschädigung bemessen ist -auch im Vergleich zu den Beträgen, die für unschuldig erlittene Haft aufgrund von Entscheidungen bundesdeutscher Gerichte gezahlt werden. Daß ausgerechnet für sie kein Geld da ist, leuchtet den Regime-Opfern um so weniger ein, als ihnen auch in der größten Zahl der Fälle die Wiedererlangung des Grundbesitzes versagt ist, den das SED-Regime ihnen geraubt hat.
Wiedergutmachung ist eine elementare Aufgabe des Rechts. Überzeugend ist sie dann, wenn sie spiegelbildlich dem Unrecht entspricht Den Opfern des NS-Systems wurden deshalb die feststellbaren Vermögensgegenstände -insbesondere Häuser und Grundstücke -zurückerstattet. In der Gemeinsamen Erklärung „zur Regelung offener Vermögensfragen“ vom 15. Juni 1990 proklamierten zwar die Bundesrepublik Deutschland und die DDR den Grundsatz, daß enteignetes Grundvermögen grundsätzlich den ehemaligen Eigentümern oder ihren Erben zurückzugeben sei und die Rückgabe des geraubten Eigentums den Vorrang vor der Entschädigung haben sollte. Die Umsetzung der Erklärung in Gesetze enttäuschte jedoch die Opfer des SED-Regimes. Von vornherein wurde davon abgesehen, den Enteigneten solche Grundstücke zurückzugeben, die vor der Gründung der DDR entschädigungslos enteignet worden waren. Aber auch im übrigen wurde der Grundsatz durch die Gesetzgebung ausgehöhlt einmal zugunsten derjenigen, die vor oder nach der Wende in der DDR das enteignete Eigentum oder Nutzungsrechte daran erworben hatten, zum anderen zugunsten des Bundes, der Länder und den Gemeinden, die das Recht erhielten, enteignete Grundstücke zu Investitionszwecken an Interessenten zu veräußern. Vielfach verzögerten die Ämter zudem die Verfahren und ließen die SED-Opfer auch verbal spüren, wie unwillkommen sie in der alten Heimat sind. Die SED-Opfer frustriert es auch, daß die Entschädigung für nicht zurückgegebene Grundstücke in der Regel nur gering bemessen werden soll. Damit der Unterschied zwischen der Entschädigung und dem Wert der zurückgegebenen Grundstücke nicht zu groß wird, soll die Rückerstattung mit der Auferlegung einer Abgabe verbunden werden, die die Differenz einebnet.
VI. Fazit
Wie eingangs ausgeführt, ist die Aufarbeitung des SED-Unrechts kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, der Gesellschaft inneren Frieden zu geben. Ob dieses Ziel erreicht wird, wird der Geschichtsverlauf zeigen. Aus Anlaß der Gesetzgebung zur Unrechtsbereinigung ist von offizieller Seite betont worden, daß die Kraft der Bundesrepublik Deutschland nur für symbolische Maßnahmen ausreiche. Gilt das nicht nur für die Entschädigung der Opfer, sondern auch für die Aufarbeitung des SED-Unrechts insgesamt? Bleibt es überhaupt nur bei symbolischen Maßnahmen? Das wird abzuwarten sein. Zu Beginn der Anstrengungen, die der Bewältigung dieser Aufgabe dienen, ist jedoch Pessimismus nicht am Platze. Es gilt vielmehr jenes Wort, mit dem Adolf Arndt 1965 im Bundestag eine verworrene Diskussion über NS-Verbrechen auf ihren Kern zurückführte „Es geht darum, eine sehr schwere und im Augenblick leider noch ganz unpopuläre Last und Bürde auf uns zu nehmen. Es geht darum, daß wir dem Gebirge an Schuld und Unheil, das hinter uns liegt, nicht den Rücken kehren.“ In der Tat: Wie soll der demokratische Rechtsstaat Wurzeln in den Köpfen und Herzen einer lange Jahrzehnte unterdrückten Bevölkerung fassen, wenn er der Vergangenheit den Rücken kehrt, statt sie im Erkennen von Schuld und Versagen und im Willen zu neuer politischer Gesittung zu überwinden?