I. Vorbemerkungen
Der Zusammenbruch der DDR und die Vereinigung Deutschlands waren von den meisten Deutschen gefeierte historische Ereignisse, die mit großer Euphorie, Aufbruchstimmung und hoffnungsvollem Optimismus verbunden waren. Davon ist nicht viel übriggeblieben. Enttäuschungen und Ängste, wild wuchernde Vorurteile und Vorwürfe von beiden Seiten belasten den deutschen Alltag. In der (nicht zuletzt aus diesen Gründen) wachsenden Radikalität und Gewalt, dem Fremdenhaß und der offenen Feindseligkeit gegen Asyl-bewerber finden die Deutschen inzwischen jedoch offenbar ein gemeinsames Thema, um sich von der verunglückten Einheit, dem Versagen der Vereinigungspolitik und der sozialen Brutalität der Währungs-und Wirtschaftsunion abzulenken. Es ist ein umfassender Prozeß der Schuldabwehr und Schuldverschiebung in Deutschland im Gange, durch den die notwendige Trauer über die bereits verlorene Utopie von einem sozial gerechteren Leben und über den bevorstehenden Verlust des Ideals von einem Leben in ständig wachsendem Wohlstand vermieden werden soll.
Noch glauben die meisten, sie seien Zeitzeugen eines großen gesellschaftlichen Fortschritts -in Gestalt des Zusammenbruchs des Kalten Krieges zwischen „Kapitalismus“ und „Sozialismus“. Manch einer hält sogar noch am Mythos einer erfolgreichen westlichen Ostpolitik und an einer „friedlichen Revolution“ in den Ländern des „realexistierenden Sozialismus“ fest, um nicht der bitteren Wahrheit ins Auge schauen zu müssen, daß auf uns alle die Folgen einer globalen Krise zurückschlagen, die vor allem in den westlichen Industrienationen schuldhaft produziert und im Ost-West-Konflikt mit seinen wesentlichen destruktiven Energien gebunden worden war. Um uns herum toben jedoch schon längst neue blutige nationalistische Kriege: Wir sind in ein Zeitalter gefährlicher Verteilungskämpfe eingetreten. Der Kalte Krieg hat sich erübrigt, weil sich der Konflikt zwischen Reichtum und Armut auf dieser Welt zu einem heißen Feuer entfacht hat. Deutschland ist -wie eine Drehscheibe -vom Brennpunkt des Ost-West-zumBrennpunkt des Nord-Süd-Konflikts als dem wahren Hintergrund der aktuellen symptomatischen Gewalt geworden. Wenn wir die Lösung dieses umfassenden Problems nicht bloß auf notwendige strenge Maßnahmen gegen gewalttätige Jugendliche und die Diskussion um eine Veränderung des Asylrechtes verkürzen würden, könnten wir etwas verstehen lernen von den sozialpsychologischen Vorgängen in unserer Gesellschaft und von den uns allen abverlangten Erkenntnis-und Entwicklungsschritten: Wir werden uns umfassend verändern müssen, oder wir werden in eine neue Katastrophe stürzen. Mit meiner Analyse will ich um Verständnis werben für Einsicht und Veränderung, auch wenn diese uns weder leicht fallen noch angenehm sein werden.
II. Das Versäumnis der psychischen Aufarbeitung des Dritten Reiches in beiden Teilen Deutschlands
Der deutsche Vereinigungsprozeß hat uns längst gelehrt, daß politische und wirtschaftliche Roßkuren allein nicht dazu geeignet sind, sozialen Frieden zu schaffen -im Gegenteil. Erneut werden die Verhaltens-und Kompensationsmöglichkeiten der Menschen über-und die sozialpsychologischen Folgen gesellschaftlicher Fehlentwicklung unterschätzt. Das war bereits nach 1945 so; jetzt scheint sich dieser verhängnisvolle Irrtum zu wiederholen. Weder hat es eine umfassende Klärung gegeben, was eigentlich „Faschismus“ in den Seelen der Menschen und in ihrem Zusammenleben bedeutet, noch gibt es heute ein wirkliches Verstehen, was „Sozialismus“ und „Marktwirtschaft“ angerichtet haben bzw. weiterhin anrichten. Eine „Entnazifizierung“ erfolgte allenfalls auf der juristischen Ebene. Ein umfassender psychischer Prozeß der persönlichen Aufarbeitung der millionenfachen Begeisterung für den Nationalsozialismus, der aktiven Teilhabe und des massenhaften Mitläufertums an pervertierten gesellschaftlichen Verhältnissen und Vorgängen fand nicht statt -weder in Ost-noch in Westdeutschland. Das Programm der „Entnazifizierung“ blieb ein Etikett, hinter demsich mit „Umerziehung“ und „Säuberung“ äußere Veränderungen vollzogen; die psychologischen Wurzeln des Faschismus blieben davon weitgehend unberührt.
Die grundlegende Bedeutung autoritärer Verhältnisse -in der Gesellschaft, im Zusammenleben der Menschen und in der Erziehung -für die destruktive und radikale Gewalt des Dritten Reiches wurde verleugnet und blieb aus der kritischen Analyse ausgespart. Unterstützt durch die reale Not und die damit verbundenen Sachzwänge ging man sofort „zur Tagesordnung“ über. Die individuelle Schuld der Menschen war ein Antrieb für umfassende Aufbauleistungen, und die unbewältigten destruktiven Energien wurden an neue Feindbilder gebunden. Mit dem „Wirtschaftswunder“ und dem „Aufbau des Sozialismus“ waren die Ziele ideologisch vorbereitet: Dort versprachen Wohlstand, hier soziale Gerechtigkeit die Erlösung von der unerträglichen Schuld an Krieg und Holocaust. Und mit der Spaltung Deutschlands ergab sich auch die fragwürdige „Gnade“, individuelle Schuld kollektiv zu projizieren: auf die unbelehrbaren Kapitalisten und Imperialisten auf der einen Seite und die gefährlichen Kommunisten und Sozialisten auf der anderen. So dienten die aufgebauschten Feindbilder beiden Seiten dazu das eigene Böse nach außen ableiten und dort stellvertretend bekämpfen zu können. Damit war in den zwei deutschen Staaten die psychische Bewältigung der nationalsozialistischen Pathologie unmöglich geworden, die wirklichen Ursachen konnten verdrängt und die persönliche/personale Betroffenheit vermieden werden. Statt dessen beherrschten ideologische, propagandistische, bekennerhafte Haltungen und Überzeugungen sowie ökonomische Erfolgsbilanzen die Szene der „Vergangenheitsbewältigung“. 1. Behauptete moralische Überlegenheit im Osten Deutschlands In der DDR war etwas ganz Erstaunliches passiert: Indem sogenannte „antifaschistische“ Führer an die Macht gelangt und „Antifaschismus“ propagandistisch zur Staatsdoktrin erklärt worden war, konnte eine „Stunde Null“ behauptet und alles Böse auf die Vergangenheit und den Westen projiziert werden: Die DDR wurde zu einem Volk von Helden, Widerstandskämpfern und Opfern erklärt, das Thema „faschistische Vergangenheit“ tabuisiert.
Es hat tatsächlich in unserem Land niemals eine Aufarbeitung der Schuld und Betroffenheit des großen Teils der Mitläufer gegeben. In den Schulen wurden zwar die faschistischen Greueltaten ausführlich dargestellt, und der Besuch eines Konzentrationslagers gehörte zum Jugendweihe-Programm, aber damit verband sich die Überzeugung, daß die unerträglichen Verbrechen von den Faschisten begangen worden waren, die es ja Gott sei Dank in der DDR nicht mehr gäbe. So konnte sich die DDR außenpolitisch sogar eine ausgesprochen feindselige Haltung gegenüber Israel leisten. Und als später die Berliner Mauer offiziell als „antifaschistischer Schutzwall" bezeichnet wurde, verriet dieser absurde Begriff den Abspaltungsmechanismus: Das zuvor über die Grenzen projizierte Böse sollte nun dort auch gebannt bleiben.
Die behauptete moralische Überlegenheit war lange Zeit ein Bonus für das totalitäre Regime, eine Beschwichtigung der Schuld und eine Aufwertung der gebeugten Seelen, so daß die Neuherrschaft durch Ängstigung, Einengung und Unterwerfung ohne nennenswerten Widerstand geduldet wurde. Selbst die offenkundigen äußerlichen Ähnlichkeiten mit dem nationalsozialistischen System -Massenaufmärsche, pseudoreligiöse Rituale und Gelöbnisse, Führerverehrung, demagogische Gehirnwäsche, Bespitzelung und Denunziation, Verfolgung politischer Gegner -wurden hingenommen, was auch auf die ungebrochene psychosoziale Disposition für autoritäre Strukturen hinweist. 2. Freiheit und wirtschaftlicher Erfolg im Westen Deutschlands In der Bundesrepublik war mit der von den Westmächten „verordneten“, d. h. nicht organisch gewachsenen Demokratie ein Kräftespiel in Gang gebracht worden, das äußere Freiheit und wirtschaftlichen Erfolg zum Maßstab machte und nach außen expandieren ließ, was innerlich an Entfremdung nicht wahrgenommen werden wollte: Wachsender Wohlstand trat an die Stelle psychischer Reinigung und menschlicherer Beziehungen. Erst durch die achtundsechziger Studentenbewegung ist die verweigerte Klärung der deutschen Vergangenheit eingefordert und eine relative Ablösung von den alten, autoritären Strukturen erzwungen worden, was aber sehr bald von den zwanghaften Strukturen der Marktwirtschaft aufgefangen werden konnte. Das Ergebnis war eine intellektuelle Liberalisierung; die autoritäre Hierarchie wurde durch eine ausufemde Bürokratie ersetzt, wodurch die „psychische Revolution“ schließlich auch erstickte.
So haben in den zwei deutschen Staaten die autoritären Prinzipien unter verschiedenen Bedingungen fortgewirkt, wovon das Grundleiden der Deut- sehen -die innerseelische und zwischenmenschliche Entfremdung -im wesentlichen unberührt blieb. Die jeweils unterschiedliche Ausformung der psychosozialen Folgen entspricht den von der Gesellschaftsform abhängigen Sozialistationsbedingungen: Im Osten herrschte erneut ein repressiv-autoritäres System, das mit offener Gewalt und Strafe Unterwerfung erzwang, und im Westen verführten (und verführen) vor allem manipulative und suggestive Mechanismen zur Anpassung an das von wirtschaftlichen Zwängen beherrschte Gesellschaftssystem. Die Folgen an seelischer Entfremdung und innerem Mangel sind dabei aber durchaus vergleichbar.
III. Zu den Hintergründen von Gewalt und Haß in Deutschland
Gewalt und Haß gegen andere Menschen sind stets ein Hinweis auf innere Spannungen, an denen die Menschen leiden. In der Regel handelt es sich um aufgestaute Aggressivität, die als Ausdruck unbewältigter Konflikte im Unbewußten schmort und ein äußeres Ereignis zum Anlaß nimmt, um sich dann -scheinbar berechtigt -affektiv abzureagieren. Die häufige Unverhältnismäßigkeit der feindseligen Erregung zur benennbaren Ursache ist als Hinweis darauf zu werten, daß die aktuelle Situation durch alte vergessene Affekte überlagert wird. Daß dabei selbst kleinlich-harmlose oder gar nur phantasierte Ereignisse brutal-zerstörerische Impulse auslösen können, verrät uns die existenziell bedrohliche Qualität der aufgestauten Gefühle, und dies ist ein sicheres Zeichen für eine lebensgeschichtlich sehr frühe Entstehungsgeschichte: Wenn das kleine Kind ungenügende Liebe und Annahme, vielleicht sogar Ablehnung oder körperliche und seelische Gewalt erfährt -selbst die nur vorübergehende zeitliche oder räumliche Trennung der Mutter von ihrem kleinen Kind kann diese bedrohliche Erfahrung verursachen -, dann werden existenzielle Ängste ausgelöst, die tief verdrängt werden müssen, um überhaupt überleben zu können.
Solche Erfahrungen tragen heute die meisten Menschen in sich. Solange in einer Gesellschaft Kinder nicht hinreichend um ihrer selbst willen geliebt, angenommen, geschätzt und bestätigt werden, sondern genötigt sind, vor allem die Erwartungen der Eltern zu erfüllen, damit dem Willen der Mächtigen zu folgen und an sie herangetragene Normen für notwendig und richtig zu empfinden, erfahren sie eine Entfremdung von ihren ureigensten und ganz individuellen Wünschen und Bedürfnissen. Und sie verlieren die Fähigkeit -die Sicherheit und das Vertrauen -, darauf zu achten, was sie in ihrem Innersten wirklich wollen, bis sie schließlich eingeschüchtert und angstvoll bemüht sind, die gesetzten Normen und Erwartungen zu erfüllen. Wenn sie schon nicht Liebe bekommen, dann wollen sie wenigstens „Gnade“ erfahren. Diese kann allerdings durch Privilegien, reichlichen materiellen Gewinn und Karriereförderung „versüßt“ werden.
Wir begegnen bei der psychologischen Analyse also den Prinzipien autoritärer Erziehung, wie sie in Ost und West -zwar unterschiedlich ausgeformt, aber in wesentlichen Auswirkungen gleichwertig -als ein Massenphänomen vorkommen. In autoritären Strukturen gibt es immer Mächtige (Eltern, Lehrer, Ärzte, Pastoren, Politiker), die vorgeben zu wissen, was richtig und was falsch sei. So werden Normen tradiert und unkritisch weitergegeben, und als allgemein üblicher Verhaltenskodex wird der abnorme und destruktive Charakter bald nicht mehr erkennbar. Auf diese Weise sind in Deutschland Disziplin und Gehorsam, Ordnung und Sauberkeit, Fleiß und Tüchtigkeit sowie tapfere Gefühlsbeherrschung zu höchsten Tugenden geworden. Daß es sich dabei längst um die Pathologie einer „Normalität“ handelt, wird überhaupt nicht mehr ernsthaft reflektiert.
Alle Eltern, die selbst Opfer dieser „Erziehungsideale“ waren, erfahren ihre zunächst spontanen und vitalen Kinder als eine Bedrohung: Sie werden durch deren Lebendigkeit dumpf an die schmerzliche Einengung und Unterdrückung ihrer eigenen kraftvollen Lebensäußerungen erinnert und würden zu sehr bitteren Erkenntnissen gelangen, wollten sie ihren Kindern ein unverstelltes Leben gewähren. Also werden sie um jeden Preis bemüht sein, ihre Kinder solange zu „erziehen“, bis sie sicher sein können, von ihnen nicht mehr an die eigene Schmach und Demütigung erinnert zu werden. 1. Erziehung zu Unterwerfung und Anpassung In der DDR wurde diese Erziehung offen-gewalttätig mit den Mitteln von Strafandrohung und wirklicher Bestrafung, durch Beschämung und Ängstigung, durch Abwertung und Ausgrenzung vollzogen. Und in der Bundesrepublik wird die Anpassung an die erwarteten Normen von Leistungsbereitschaft, Stärke und Durchsetzungsfähigkeit, von Konkurrenzverhalten und Dominanzgebahren vor allem mittels der Marktgesetzedurchgesetzt. Es sind die Macht des Geldes, der Reiz der ewig neuen Waren, die Verheißungen von Frische, Jugendlichkeit und Gesundheit, der Gruppenzwang, „gut drauf zu sein“, die Statussymbole und Prestigezwänge, die die Menschen entfremden. Die dadurch verursachte Unzufriedenheit und Spannung wird stets nach außen -durch neue Anstrengungen, Zerstreuungen und fragwürdige Vergnügungen -abgeleitet. Die Stasi-Herrschaft hat im Osten die Beziehungen der Menschen durch Angst, Mißtrauen, Bedrohung und Denunziation vergiftet; im Westen gibt es vergleichbare Folgen durch Konkurrenz und Rivalität sowie durch die Fassade der Stärke und Clever-ness, die das Eingeständnis von Ängsten, Schwächen, von Grenzen und Hilflosigkeit verhindern und damit Sehnsüchte nach und Chancen für wirkliche Beziehungen unerfüllt lassen. a) Empörung und Zorn als Folge erlittener Demütigungen Wer solche Erfahrungen von gewalttätiger Unterwerfung oder manipulierender Anpassung in sich trägt, kann gar nicht anders, als mit Empörung und Zorn über die Einengung und Demütigung zu reagieren. Er wird auch Schmerzen über unerfüllte Wünsche in sich tragen und Trauer über verlorene Lebensmöglichkeiten. Und es wäre alles halb so schlimm, wenn er wenigstens diese Gefühle wahrnehmen und ausdrücken könnte bzw. dürfte. Doch zur autoritären Erziehung zur Erfüllung gesetzter oder erwarteter Normen gehört unweigerlich auch das Gefühlsverbot. Weder der Despot noch der Erfolgsmensch ertragen das Geschrei und Gejammer und den Fluch der leidenden Seelen -es könnten ja auch die eigenen Verletzungen dabei wieder zu bluten beginnen. Also: Seid tapfer, beißt die Zähne zusammen, seid friedfertig, beherrscht euch, strengt euch an und verbreitet Hoffnung und Trost, daß alles schon gut werde. Optimismus ist die Droge für die Gedemütigten. b) Gewalt als Ausdruck der Unterdrückung von Empörung und Zorn Wer seinen berechtigten Zorn über Unterdrükkung und Anpassung nicht leben darf, dem wird Gewalt geschehen. Er hat nur die Wahl, die aufgestaute Aggression gegen sich selbst zu richten, was uns die Depressiven, die Suizidalen, die Süchtigen, die Arbeitswütigen und die wachsende Zahl der psychosomatisch Kranken drastisch vorführen. Oder aber es werden Anlässe und Kanäle der Ab-reaktion gefunden, wozu sich in aller Regel sozial Schwächere und Abhängige eignen, also Kinder, Partner, Alte, Kranke und eben auch -Fremde!
Und die Natur und die Umwelt wollen wir dabei nicht vergessen, an der wir uns alle ungezügelt und permanent versündigen. Wir zerstören, vernichten, beuten aus, vergiften und verschmutzen, als wenn wir Amokläufer wären -und alle wissen wir es, und keiner kann es aufhalten.
Der Fremdenhaß ist die projektive Ausdrucksform des Fremden in uns, das wir nicht wahrhaben durften und das wir nun auch nicht mehr ohne angstvolle Erschütterung und schmerzliche Erkenntnis wahrnehmen können. Lieber schimpfen wir auf die „Polnische Wirtschaft“, um unser stilles Leiden an den eigenen Ordnungszwängen abzuwehren, lieber denunzieren wir lüstern den „geilen Neger“, als unsere eigene sexuelle Frustation zu bekennen. Und natürlich sind die „fahrenden Zigeuner“ eine Zumutung für die uns mühsam aufgenötigte Disziplin und Enge. Die Asylbewerber denunzieren wir am liebsten als „Wirtschaftsflüchtlinge“, um gar nicht erst auf die Idee zu kommen, daß wir selbst wirtschaftlichen Erfolg längst höher bewerten als menschliche Beziehungen.
Und die als „Bananenfresser“ bezeichneten „Ossis“ -halten sie den westdeutschen Konsumenten mit ihrer oralen Begierde und Warengier nicht nur einen Spiegel vor, der wieder etwas zum Vorschein bringt, was schon längst so elegant kultiviert war? Und verkörpert der „Jammerossi“ nicht die Seiten westdeutschen Lebens, die dort keinen Raum mehr einnehmen dürfen, nämlich Schwäche, Angst, Hilflosigkeit und Leiden? Und ist die Aufforderung an uns, wir sollten aufhören zu jammern, endlich die Ärmel hochkrempeln und ranklotzen -schließlich hätte man sich auch im Westen den Wohlstand hart erarbeiten müssen -nicht auch wie ein Aufschrei, in dem sich die Sehnsucht nach einem entspannteren Leben ausdrückt? Und verraten wir -im Osten -mit dem Schimpfwort vom arroganten „Besserwessi“ nicht unsere eigene Schmach über der uns nicht erlaubten Eigenständigkeit und Durchsetzungsfähigkeit?
Wer Fremde haßt, haßt das unannehmbar Fremde in sich selbst. Er haßt seine eigenen natürlichen Wünsche und Bedürfnisse, die ihm ausgetrieben oder geschickt verteufelt wurden. Er kämpft gegen die unvermeidlichen Schwächen und Begrenzungen, die im Zwang zu Effizienz, Erfolg und Perfektion unterdrückt werden müssen, er reagiert seinen berechtigten Zorn am ungeeigneten Objekt ab und benutzt Situationen und Anlässe, die ihm scheinbares Recht und Sicherheit vermitteln, um den eigenen Schmerz in Unflat zu verwandeln. Nicht die Fremden sind die Bedrohung, sondern das eigene entfremdete Leben!2. Die „Ingredienzien“ der Gewalt in Deutschland Wenn aufgestaute Aggressivität, soziale Verunsicherung und ein geeigneter Anlaß zusammenkommen, sind die Ingredienzien der Gewalt schon gemischt. Im Osten Deutschlands ist dieses Gebräu reichlich angerichtet: als Folge des umfassenden repressiv-autoritären Gesellschaftssystems der Vergangenheit, das die Menschen zu zähneknirschenden, schlaffen oder an der Macht partipizierenden Untertanen nötigte. Das sind die psychosozialen Altlasten. Hinzu kommen die negativen Auswirkungen des deutschen Vereinigungsprozesses, der massenhaft Werteverluste, Orientierungslosigkeit und Identitätsbrüche beschert, existentielle Krisen erzeugt und neue Demütigungen und Kränkungen bereitet, weil alles, was das Leben in der DDR bestimmte, aufgegeben und alles, was das Leben in der Bundesrepublik ausmacht, übernommen werden soll. Auf diese Weise werden die Fehlhaltungen auf beiden Seiten wechselseitig bedient: Die östliche Untertanensucht provoziert die westliche Dominanzsucht, und die Cleverness der Westdeutschen verschärft die Gehemmtheit der Ostdeutschen.
So wird hier wie dort der Zorn der Entfremdung nicht abgebaut, sondern weiter verschärft, und die wachsenden Vorurteile sind die Vorboten einer Welle von Gewalt. Letztlich werden die sich so fremd gewordenen deutschen Schwestern und Brüder ihre Erkenntnisfurcht und Veränderungsangst auf die vermeintlich Schuldigen außerhalb der eigenen „Familie“ abzuwälzen verstehen.
Fremdenhaß ist nur eine Variante von vielen Formen der Gewalt. Die „friedliche Revolution“ hat aber leider die schon bestehende aggressive Gehemmtheit weiter fixiert und damit notwendige Schritte eines psychosozialen Reifeprozesses (z. B. Macht ergreifen, sich eigenständig behaupten, sich abgrenzen von fremden Machteinflüssen, aus der Einengung und Abhängigkeit sich selbst heraus-entwickeln) verhindert. Statt dessen wurde von beiden Seiten die Illusion genährt, wir könnten unter Umgehung bitterer Erkenntnisse über die eigene psychische Einengung und schuldige Verstrickung durch Marktwirtschaft und Demokratie gerettet werden.
Die einen glaubten, gemäß der erlernten und aufgenötigten Abhängigkeit, sie könnten von außen erlöst werden, und die anderen glauben, gemäß der Ideologie der Marktwirtschaft, durch Geld und gutes Management ließe sich das schon alles bestens regeln.
Im Osten haben wir es vermieden, die anstrengende und ernüchternde Schmutzarbeit zu leisten, im Westen wird die Notwendigkeit eigener Veränderung abgewehrt. Nun tobt sich die aufgestaute berechtigte, aber nicht konstruktiv bewältigte Aggressivität als Gewalt aus -in allen Bereichen des Lebens.
Die rapide ansteigende Kriminalitätsrate, der Verkehrscrash, das Anschwellen der radikalen Szene linker und rechter Schattierung, die soziale Brutalität, mit der sich die Marktwirtschaft im Osten durchsetzt und Millionen Menschen verunsichert, bedroht und in Existenznot bringt, der wachsende Alkoholismus und die Depressivität als Formen autoaggressiver Gewalt und, nicht zu vergessen, der Umstieg in einen expansiv-konkurrierenden Wirtschaftswettbewerb, der die globalen Probleme auf dieser Welt verschärft -das alles sind ernstzunehmende Indizien für das uns alle berührende Gewaltproblem. 3. Gewalt in Deutschland-• Prüfstein der Demokratie Wir hatten gehofft, und so wurde es uns auch verheißen, daß der Umstieg von der Plan-zur Marktwirtschaft, von der Diktatur des Proletariats zur parlamentarischen Demokratie, vom Mangel und der eingemauerten Enge in die Fülle und unbegrenzte Weite, befreiendes Lebensglück bedeutet. Diese Hoffnung müssen wir begraben. Wir sind in Gefahr, von einer kollektiven Fehlhaltung in eine andere einfach nur umzusteigen, wobei die innere Entfremdung unberührt bleibt. Wir ringen nur um eine andere Form der Kompensation, die in der Vergangenheit im Glauben an die Möglichkeit eines sozial gerechten Lebens bestand. Und als dieser immer brüchiger wurde, hat der Terror des Sicherheitssystems die Aggressivität, die durch Entbehrung, Enttäuschung und Betrug ausgelöst wurde, unter Kontrolle gehalten.
Die Droge des Westens, der verheißene Wohlstand, greift bei uns (noch) nicht so umfassend, daß eine betäubende Wirkung damit rasch zu erreichen wäre. Statt dessen droht die Utopie vom ständig wachsenden Lebensstandard endgültig zusammenzubrechen. Jetzt wird sich zeigen, was die westliche Demokratie wirklich wert ist. Wurzelt sie in den Seelen der Menschen und bestimmt sie auch das Zusammenleben? Oder ist sie nur die „beste aller Möglichkeiten“, um das Destruktive, das mit jeder Entfremdung entsteht, durch die Droge „Konsum“ zu zügeln?
IV. Gewalt als Ausdruck eines umfassenden Gefühlsstaus im vereinigten Deutschland
1. Radikale Jugendliche und asylsuchende Ausländer: Symptome eines sozialen Konflikts Wir wissen es doch schon längst, daß in der Leistungsgesellschaft die Destruktivität vor allem zeitlich (ökologische Katastrophe!) und geographisch (Reichtum auf Kosten der wachsenden Armut im Osten und im Süden!) verschoben wird. Mit dem „Strom“ der Asylbewerber kommt auf uns zurück, was wir verantwortlich mit angerichtet haben. Die Fremden, die zu uns kommen, machen uns aufmerksam auf eine Illusion vom besseren Leben, auf eine Sackgasse unserer kulturellen Entwicklung. Wir sollten ihnen dankbar dafür sein, daß sie uns das Fremdgewordene in unseren Seelen aufzeigen und uns damit zu einem notwendigen Umdenken hinsichtlich unserer Lebensart und Gesellschaftskonzeption herausfordern.
Wir müssen uns dringend Gedanken machen über eine kausale „Therapie“ der Radikalisierung in der Gesellschaft. Auf keinen Fall dürfen wir in den Fehler verfallen, in den gewalttätigen Jugendlichen nur die neuen Feinde der Gesellschaft zu verfolgen und in den Asylbewerbern nur eine Bedrohung unserer Lebensart zu erleben. Beide Gruppen -die radikalen Jugendlichen und die asylsuchenden Ausländer -sind die Symptome eines kritisch gewordenen sozialen Konfliktes auf dieser Welt.
Die Gewalttäter und ihre Sympathisanten schleudern uns etwas von dem umfassenden Gefühlsstau entgegen, der die Seelen vieler Menschen belastet. Daß dies jetzt gerade im Osten Deutschlands akut auflodert, ist relativ leicht zu verstehen, weil sich hier die psychischen Altlasten mit den neuen sozialen Belastungen vermengen und eine kritische Schwelle überschritten ist. Wir sollten uns aber hüten, dies nur als ein Problem des Ostens zu verstehen, es treffen jetzt lediglich die Ursachen der östlichen und westlichen Lebensart so aufeinander, daß die akuten Symptome der gemeinsamen Krankheit hier -in den neuen Bundesländern -deutlicher auf-scheinen.
Zu der Unterdrückungswut gesellt sich die soziale Bedrohung -was bisher durch Stasiterror unter Kontrolle gehalten wurde, wird nicht durch einen Wohlstandsrausch ersetzt, ganz im Gegenteil! Die Jugend verliert die bisherige soziale Sicherheit und Führung, sie muß eine schwere Vertrauenskrise gegenüber den bisherigen Autoritäten verarbeiten -Staat, Partei, Kirche, Schule und Elternhaus enthüllen ihre verlogenen, falschen und moralisch verdorbenen Normen und Ideale und die verheißenen Werte der westlichen Welt erweisen sich als unerreichbar oder auch als hohl und brüchig. Der mögliche Gewinn an Autonomie wäre an die schmerzliche Erkenntnis der bisherigen Abhängigkeit und Unterwerfung gebunden. 2. Psychologische Erklärung des Verhaltens rechtsextremer Jugendlicher Wir brauchen uns nur das Verhalten der rechtsextremen Jugendlichen genauer anzusehen: Sie suchen die Gemeinschaft, sie wollen die straffe Führung und huldigen einem Stärkekult und sie reagieren sich gewalttätig ab. Sie gebärden sich militant, Ordnung, Disziplin und Gehorsam stehen als Wert hoch im Kurs. Da sie ihre Überzeugungen und Haltungen vor allem destruktiv austragen, ist der Abwehrcharakter dieses Verhaltens sehr nahe-liegend, was sich in Einzelfallanalysen auch bestätigen läßt.
In der Gemeinschaft soll die „Heimatlosigkeit“ kompensiert werden, durch die Zurschaustellung von Stärke soll die innere Ohnmacht, sollen Angst und Kränkung verborgen werden, Disziplin und Ordnung sollen dem inneren Chaos einen Halt geben, und mit der Gewalt werden die Beziehungen so gestört und belastet, wie diese Jugendlichen es schon immer erfahren mußten -auf diese Weise wird die im tiefsten Inneren ersehnte, aber ebenso gefürchtete menschliche Nähe am sichersten verhindert. Wirkliche Freundlichkeit würde die stets erfahrene Unfreundlichkeit erst richtig bewußt werden lassen. Das fordert auch von jeder denkbaren Sozialarbeit eine riesige Anstrengung, denn angebotene Herzlichkeit und Nähe kann nicht ohne weiteres als eine befreiende Erfahrung angenommen werden, sondern wird zunächst als Bedrohung der bisherigen mühevollen Abwehr erlebt: Menschen, die in unglücklichen, meist gewalttätigen Verhältnissen aufgewachsen sind, werden durch bessere Lebensbedingungen erst recht an ihre früheren Verletzungen erinnert. Es ist so paradox wie tragisch, daß aus diesem Grund lieber ein Verhalten entwickelt wird, das die bisherige Ablehnung weiterhin garantiert. Die ausgeübte Gewalt bringt an den Tag, was diese Menschen selbst erleben mußten, sie sichert durch Gegengewalt die bekannte und erwartete Ablehnung und Bestrafung, und zugleich schreit darin die verzweifelte Hoffnung auf, doch noch bessere Verhältnisse zu erreichen: Aufmerksamkeit, Verständnis, Annahme, Sicherheit und Liebe.Wir müssen uns auch klar werden, daß dieses Gewaltproblem mit den Asylbewerbern zunächst überhaupt nichts zu tun hat. Wenn sie nicht wären, würden andere Anlässe und Sündenböcke herhalten müssen. Es ist jedoch auch kein Zufall, daß jetzt vor allem die Asylbewerber Opfer des Terrors werden: Sie halten uns mit ihrer Armut und Not, auch als „Wirtschaftsflüchtlinge“ mit ihrer materiellen Begehrlichkeit, drastisch den Spiegel vor, in dem wir uns selbst in unserer seelischen Armut und der schon vorhandenen oder mit Recht gefürchteten sozialen Not erkennen müßten. samt langfristiges Programm -aber wenn wir uns dieser Aufgabe nicht stellen, wird uns die Welle der Gewalt allesamt fortreißen. Das latente Gewaltpotential als Folge der strukturellen Gewalt in der Gesellschaft ist riesig, und das Feuer an der Lunte züngelt schon längst. Selbst die besten Sozialprogramme, die strengste Verfolgung der radikalen Straftaten und ein verändertes Asylrecht mit weniger Zuzug von Ausländern können dieses Problem nicht mehr lösen. Nur wenn wir unsere Lebensart als zentrale Ursache begreifen und verändern würden, bliebe vielleicht noch eine geringe Chance.
V. Ausblick
Mit der psychologischen Analyse wird nicht nach Entschuldigungen für brutales Verhalten gesucht. Es geht vielmehr darum, unser Verständnis für die umfassenderen Zusammenhänge zu schärfen. Gegen kriminelles Handeln muß unmißverständlich, eindeutig und sofort vorgegangen werden. Gerade die Krawalle in Rostock haben diesbezüglich Mängel gezeigt mit den möglichen verheerenden Folgen: Der Erfolg der Randale, der Beifall von Gewaltsympathisanten mögen die ersten „positiven“ sozialen Reaktionen aus der Umwelt für diese Täter sein, was auf verhängnisvolle Weise das abnorme Fehlverhalten bestärken könnte. Staatliche Gegengewalt allein ist jedoch keine Antwort -das wäre ein gefährlicher Trugschluß und eine Bagatellisierung des umfassenderen Problems. Wir brauchen darüber hinaus Raum, Zeit und eine personelle Ausstattung für eine umfassende Sozial-arbeit. Es gilt vertrauensvolle und ehrliche Beziehungen aufzubauen, in denen diese seelischen Verletzungen offengelegt, verstanden und angemessen durchgearbeitet werden können.
Das vordringlichste Ziel muß jedoch darin bestehen, eine hinreichende soziale Sicherheit und berufliche Perspektive zu gewährleisten. Dies ist zweifellos ein schwieriges, belastendes und insgeEs geht dabei um die Überwindung der Entfremdung der Menschen, durch die sie entweder zu Untertanen oder zu Konsumenten werden. Wir brauchen natürlichere und gesündere Lebensformen. Das sind vor allem zuverlässige Mutter-Kind-Beziehungen, eine umfassende Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse der Kinder, vor allem ihrer Wünsche nach sozialem Kontakt, nach Nähe, Angenommen-und Verstandensein, nach Bestätigung ihrer selbst, wie sie sind und nicht wie sie werden sollen, insgesamt also nach repressionsarmer Begleitung und nach offener und ehrlicher Kommunikation mit unverstelltem und authentischem Gefühlsausdruck. Dies sind entscheidende Voraussetzungen für bessere menschliche Beziehungen, die die Sucht des Konsumierens und des wirtschaftlichen Wachstums vermindern könnten. Unser angehäufter Reichtum hat noch nirgendwo auf der Welt das wachsende Elend wirklich verringern können. Aber wesentliche soziale Gefüge wurden damit zerstört und eine Illusion von einem „Glück“ genährt, der wir Ostdeutschen gerade zum Opfer gefallen sind. Daraus könnten wir lernen, daß eine kollektive Flucht aller Menschen auf dieser Welt in den „Westen“ nicht nur absurd ist, sondern auch unsere törichte Utopie entlarvt. Wir werden auf unseren Reichtum verzichten und ihn verteilen, oder wir werden Krieg gegen die Armen führen müssen. Mir scheint, dieser Krieg hat schon begonnen.