Föderalismus, Gemeindeautonomie und eine stabile eigene Währung sind wesentliche Bestandteile des schweizerischen Selbstverständnisses. Ein feines Sensorium für ihre möglichen Gefährdungen ist in der Schweiz vorhanden. Manches, was an Folgen der in Maastricht gefaßten Beschlüsse bisher noch kaum ins Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit gedrungen ist, wird daher aus der Schweizer Perspektive klarer und rascher erkennbar als anderswo. Vieles, was in Deutschland nicht offen ausgesprochen wird, weil man um den Ruf des „guten Europäers“ fürchtet, kann aus dieser Perspektive unbefangener dargelegt werden.
Frankreich hat am 20. September 1992 ja gesagt zu Europa, aber es hat nur mit einer sehr knappen Mehrheit von 51, 05 Prozent der gültigen Stimmen „Maastricht“ gutgeheißen Nur in neun der 22 französischen Regionen überwog die Zustimmung, in 13 Regionen hatten die Nein-Stimmen das Übergewicht. Die Ablehnung durch die Mehrheit der Regionen ist für die Ratifizierung zwar ohne Belang, doch verstärkt es die Unsicherheit, ob in Maastricht der Königsweg zur europäischen Einheit gefunden wurde -jener Einheit, die durch die Jahrhunderte Gegenstand utopischer Schriften gewesen war und die zur „Bürgschaft des Friedens“ werden sollte Es mehren sich die Zweifel, ob dem in Maastricht ausgehandelten Verfassungsentwurf die Verbindung gelang zwischen dem erforderlichen Muf zu neuen Organisationsformen für Europa und der realistischen Einsicht in die Macht der Geschichte, an der niemand vorübergehen kann. Es muß ausgeschlossen werden können, daß Hintergedanken oder Fehleinschätzungen maßgebend für das Maastrichter Verhandlungsergebnis waren.
Die europäische Geschichte weist eine lange Reihe gescheiterter imperialer und hegemonialer Einheitsversuche auf. In die Zukunft weisend und dennoch die Erfahrungen und gewachsenen Lebensformen der Völker nicht außer Kraft setzend kann nach allem nur eine Lösung sein, die die europäische Einheit mit dem föderativen Prinzip verbindet. „Europa wird föderalistisch sein, oder es wird nicht sein“, wurde von deutschen Politikern oft gesagt Haben aber die Unterhändler von Maastricht sich wirklich von föderalistischen Einsichten und Rücksichten leiten lassen, haben speziell die deutschen Unterhändler auch an den (binnen-) deutschen Föderalismus gedacht, oder handelt es sich nur um Schutzbehauptungen der für das Maastrichter Verhandlungsergebnis verantwortlichen Politiker
I. Welcher Föderalismus für Europa?
Ein föderatives Europa muß eine Struktur aufweisen, die zwei gegenläufige Tendenzen ins Gleichgewicht bringt: Einerseits muß die europäische Ebene Kompetenzen erhalten, die den drängenden Problemen der Gegenwart Rechnung tragen, andererseits darf bei ihr das Gesamtmaß an Zuständigkeiten nicht das Niveau der Zentralstaatsebene klassischer Bundesstaaten erreichen. Die Macht der Europaebene muß ausreichend, aber doch auch beschränkt sein. Die Notwendigkeit der Beschränkung folgt allein schon aus der Größe des angestrebten vereinten Europa und der damit verbundenen Ferne der europäischen zentralen Ent-scheidungs-und Verwaltungsgremien von sehr vielen Problemen „vor Ort“. Sie ergibt sich aber auch aus der einfachen Algebra, daß nach Abgabe von Kompetenzen seitens der nationalen Ebenen diesen ausreichende eigene Kompetenzen verbleiben müssen, damit sie den eigenen Bürgern noch als Kristallisationszentren der eigenen Identität wahrnehmbar sind Die Notwendigkeit der Beschränkung folgt schließlich auch daraus, daß auf die Erfahrungen und Problemlösungskapazitäten der Ebenen unterhalb der Europaebene noch auf lange Zeit nicht verzichtet werden kann, weil solche Erfahrungen und Kapazitäten auf der europäischen Ebene wenn überhaupt dann im besten Fall nur ganz langsam aufgebaut werden können. Sowohl die Befugnisse und der Umfang der zentralen Verwaltung auf der Europaebene als auch die Entscheidungskompetenzen des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments müssen daher auf das unbedingt Notwendige begrenzt bleiben.
Das föderalistische Prinzip läßt sich nicht nur im klassischen Typus eines Bundesstaates verwirklichen. Das alte römisch-deutsche Reich war kein Bundesstaat, aber das föderalistische Prinzip war in ihm in vielerlei Weise verwirklicht. Europa, ein Gebilde „sui generis“ wie jenes Reich auch, benötigt zwar zeitgemäße Institutionen, doch dürfen sie nicht die bestehenden nationalen oder regionalen Institutionen so stark schwächen, daß diese nun ihrerseits nicht mehr die ihnen zugedachten Funktionen wahrnehmen können. Die nationalen Parlamente und Regierungen bleiben unverzichtbare Stabilitätspfeiler eines vereinten und demokratischen Europa.
Wer die öffentliche Debatte über das Für und Wider von „Maastricht“ in Großbritannien und Frankreich verfolgt hat, der konnte feststellen, daß Befürworter wie Gegner in diesem Punkt völlig übereinstimmten. Weder Befürworter noch Gegner wollen eine Entwicklung zu einem (Super-) Bundesstaat „Europa“ eingeleitet sehen. Die Briten haben sich mit Erfolg gegen jede Bezugnahme auf das „f-word“ („federalism“) im Text des Maastrichter Vertragswerks zur Wehr gesetzt, weil sie darin einen Schritt in den europäischen Bundesstaat sahen. Auch Francois Mitterrand ließ in der am 3. September 1992 in der Sorbonne ausgetragenen und von der französischen Fernsehanstalt TF 1 ausgestrahlten Debatte keinen Zweifel daran, daß für Frankreich nur der Weg in eine Art von Kon-föderation nicht jedoch in die stringentere Form des Bundesstaates in Frage komme. Die Dänen haben mit ihrem „Paukenschlag“ deutlich gemacht, daß sie die grundlegende englische und französische Haltung in dieser Hinsicht teilen. Tatsache ist, daß „außerhalb Deutschlands niemand einen europäischen Bundesstaat ernsthaft will“
II. Die politische Ausgangslage
Die von den Unterhändlern in Maastricht entworfene Währungsunion erhielt wesentliche Denkanstöße von einer in jüngerer Zeit intensivierten wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Gegenstand und sie baute auf diversen Initiativen und Vorarbeiten im politischen Raum auf Die Sperrigkeit äußerer Umstände und das Fehlen gemeinsamer politischer Institutionen -d. h. einer politischen Union mit einem hinreichende Kompetenzen besitzenden Europäischen Parlament standen der Realisierung allerdings bisher im Wege.
Mit der deutschen Wiedervereinigung wurde vor allem von der französischen Diplomatie eine Beschleunigung des europäischen Einigungsprozesses als dringlich empfunden. Wie schon beim Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die ironischerweise 1954 am Veto des französischen Parlaments scheiterte, erstrebte sie eine unter maßgebendem französischen Einfluß bleibende Kontrolle des nun größer gewordenen Deutschland. Nur der Akzent wurde 1992 gegenüber den fünfziger Jahren verlagert: Anstatt über die Armee sollte Deutschland nun wirtschaftlich „eingebunden“ werden. Dies sollte so fest und un-widerruflich geschehen, daß es den französischen Politologen Alfred Grosser die Frage aufwerfen ließ, ob Frankreich aus der Gemeinschaft eine Art Käfig für Deutschland machen wolle Die deutsche Regierung suchte ihrerseits die starken Vorbehalte gegen die deutsche Einheit zu beschwichtigen. In ihrem Kalkül rechnete sie mit einer raschen Vollendung der innerdeutschen Integration, d. h.des Anschlusses der neuen Länder an den wirtschaftlichen Entwicklungsstand der alten Länder, und glaubte daher, der europäische Integrationsprozeß könne ohne Störung der deutschen Integration und Identitätsfindung rasch vorangetrieben werden.
Die Regierung Kohl hatte sich jedoch -wie die meisten Beobachter auch -über das Ausmaß des vom Kommunismus hinterlassenen materiellen Ruins und vor allem über die Probleme psychologischer und mentalitätsmäßiger Art, die sich nach 45 Jahren des Getrenntseins dem Zusammenwachsen von Ost-und Westdeutschen entgegenstellten, getäuscht. Zudem hatte sie nicht den nahezu totalen Wegfall der Ostblockmärkte mit ihren verheerenden Folgen für die Wirtschaft der ehemaligen DDR erwartet.
Zur Fehleinschätzung eines raschen Wiederaufbaus in den neuen Ländern hat im übrigen nicht unwesentlich die Erwartung einer Wiederholung des deutschen „Wirtschaftswunders“ der Nachkriegszeit beigetragen. Unterschätzt wurden die Hindernisse als Folge des Fehlens einer intakten Privateigentumsordnung und Verwaltung sowie einer funktionsfähigen Infrastruktur. Übersehen wurde die gänzlich unterschiedliche geistige Ausgangslage in beiden Fällen: Nach der Katastrophe von 1945 wollten (und konnten) sich die Westdeutschen durch die . materielle Aufbauleistung auch wieder ein Selbstwertgefühl verschaffen. Beim Zusammenbruch der DDR kam hingegen eine seltsam versteckte Ost-Identität zum Vorschein, auf die sich ebenso wie auf die unblutige Selbstbefreiung ein gewisses Selbstwertgefühl gründete. Ein Vakuum wie nach 1945, das gebieterisch nach Auffüllung verlangte, gab es in den neuen Ländern nicht.
Auch im Ausland wurde die Robustheit und Größe der deutschen Wirtschaftskraft oft weit überschätzt. Es mischt sich hier vielfach Furcht mit Bewunderung. Fast immer werden dabei die heutigen volkswirtschaftlichen Schwachstellen und eine Reihe struktureller Fehlentwicklungen seit den Zeiten Ludwig Erhards übersehen. Auch in dieser Hinsicht wurde die politische Ausgangslage von einer gewissen Fehleinschätzung geprägt
Objektiv gesehen ist die Furcht der europäischen Partner vor einem deutschen „Koloß“ mit einem expansiven nationalen Selbstbewußtsein und daraus folgender Machtpolitik also vollkommen unbegründet. Eher im Gegenteil muß Deutschland nach seiner wiedererlangten Einheit geradezu gedrängt werden, wieder eine größere Rolle in der Welt zu spielen und mehr Verantwortung zu übernehmen. Es ist auch angesichts seiner schrumpfenden Bevölkerung -nicht zu sprechen von ihrer besonders starken Überalterung -kein Koloß mehr. Die grausamen Folgen eines übersteigerten Nationalismus im Dritten Reich haben ihre tiefen Spuren in der kollektiven Psyche hinterlassen. Wenn überhaupt, ist es ein Koloß auf tönernen Füßen, vollauf mit seiner Selbstfindung beschäftigt und voller Angst, seine Identität zu verlieren, wie dies eine demoskopische Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach vor kurzem ermittelt hat
III. Kompetenzzuordnung gemäß Subsidiaritätsprinzip?
Neben historischen Gesichtspunkten und staatsrechtlichen Kriterien muß die ökonomische Theorie des Föderalismus herangezogen werden, um sich einer, ökonomisch und politisch sinnvollen Kompetenzstruktur für Europa und für die europäische Ebene anzunähern. Die Föderalismus-theorie hat einige recht präzise Kriterien herausgearbeitet, die auch für Europa Verwendung finden können. Das neuerdings vielzitierte Subsidiaritätsprinzip leistet für sich genommen keine Hilfe, wenn es darum geht, die ökonomisch und politisch richtige Kompetenzzuteilung für die europäische Ebene zu finden. Versuche, dieses vor allem von der katholischen Soziallehre her bekannte Prinzip „zum Inhalt des positiven Rechts zu machen“, waren bisher erfolglos Man darf von ihm „nicht inhaltliche Kriterien für die Aufgabenzuordnung“ erwarten, „was es schon logisch nicht leisten kann“
Geradezu zum Gegenteil des vermeintlich Gewollten kann die Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip führen, wenn sie wie in Art. 3b, Abs. 2, des EG-Vertrages formuliert ist Es führt dann zur Verlagerung von Kompetenzen vom Schwachen, der Hilfe Bedürftigen, zum Starken, die Hilfe (Subsidien) Austeilenden. Im Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip in seiner geläufigen Interpretation als Kompetenzbegrenzungsprinzip „nach oben“ weitet denn auch der EG-Vertrag in seinem Artikel 3 und in den 53 (!) Artikeln 117 bis 130y die Kompetenzen der Europäischen Union auf Bereiche aus, die nach föderalistischem Verständnis im Zuständigkeitsbereich der Einzelstaaten beziehungsweise der Kommunal-und Länderebene dieser Einzelstaaten verbleiben müßten -wie z. B. das Erziehungswesen, das „Kulturleben in den Mitgliedstaaten“, die Berufsausbildung, das Gesundheitswesen, der Verbraucherschutz, die Entwicklung der Regionen usw. Zudem gibt es noch als Generalklausel den Artikel 235 des EG-Vertrags, der es den Organen der europäischen Zentralebene (Rat, Kommission und Europäisches Parlament) erlaubt, sich nach eigenem Gutdünken auch solche Befugnisse anzueignen, die „in diesem Vertrag... nicht vorgesehen“ sind
Das Subsidiaritätsprinzip ist auf Interpretationshilfe aus der Föderalismustheorie angewiesen, denn ohne eine solche kann es sowohl als Bremse als auch als Motor der Zentralisierung dienen, „was die Beliebtheit des Prinzips in verschiedensten politischen Lagern ungemein steigert“ Angesichts der Widersprüche im Vertrag selbst und angesichts der vehementen Ablehnung jeglicher Bezugnahme auf das Föderalismusprinzip bei der Aushandlung der Maastrichter Vertragsentwürfe seitens Großbritanniens und einer in der Sache nicht weniger entschlossenen Haltung Frankreichs muß die Frage erlaubt sein, welchen Wert denn die auf deutsches Drängen in die Präambel und in den Vertrag aufgenommene Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip tatsächlich hat. Die allerseits abgegebenen Bekenntnisse zu ihm haben wohl kaum mehr als Beschwichtigungscharakter.
IV. Föderalismus und kommunale Selbstverwaltung in Deutschland drohen ausgehebelt zu werden
Der Maastrichter Entwurf enthält als Rankenwerk um seinen eigentlichen Kern, die Wirtschafts-und Währungsunion (WWU), eine Reihe von auf den ersten Blick deklamatorisch-unverbindlich erscheinenden Aussagen. Auf unauffällige Weise eröffnet „Maastricht“ dadurch einige vom föderativen beziehungsweise föderalistischen Standpunkt aus höchst bedenkliche Perspektiven. Durch den Vertragsentwurf von Maastricht droht eine Entwicklung sanktioniert und verstärkt zu werden, die sich ungefähr wie folgt beschreiben läßt: Es werden einerseits der europäischen Ebene wesentliche Kompetenzen -z. B. im Bereich der Außenpolitik oder der Sicherheit -vorenthalten, weil dies einer Preisgabe substantieller nationaler Kompetenzen gleichkäme Andererseits werden der zentralen Europaebene Aufgaben übertragen, die in Bundesstaaten in die Zuständigkeitsbereiche unterer Staatsebenen gehören; diese Kompetenzübertragung bedeutet für Einheitsstaaten allerdings eine weit weniger spektakuläre Souveränitätspreisgabe, als dies für Deutschland der Fall ist. So sieht der Vertrag vor, die auch heute schon viel zu weit gehenden Euro-Kompetenzen auf den Gebieten der Raumordnung sowie der Struktur-und Regionalpolitik weiter auszubauen und überhaupt neue Kompetenzen auf Gebieten, die in Deutschland bisher zu Gemeinde-oder Länderaufgaben gehören, zu schaffen. Dadurch erhielten die schon unter (binnen-) föderalistischen Gesichtspunkten zu Recht viel kritisierten Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungen mit ihrer Politikverflechtung von Bund und Ländern noch einen dritten (europäischen) Mitgestaltungsberechtigten und „Mitverantwortlichen“. Die eindeutige Fixierung der Verantwortlichkeiten ist jedoch nicht nur ein unverzichtbarer Bestandteil des Föderalismus, sondern der Demokratie schlechthin.
Durch „Maastricht“ sollen die bestehenden Strukturfonds (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung [EFRE], Europäischer Sozialfonds [ESF] sowie Europäischer Ausrichtungs-und Garantiefonds für die Landwirtschaft [EAGFL]) um den Kohäsionsfonds vermehrt werden Sowohl die bisherigen Aufgabenbereiche als auch die finanziellen Einwirkungsmöglichkeiten („goldene Zügel“) werden unter den allumfassenden Stichworten „harmonische Entwicklung der Gemeinschaft“ und „wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt“ (Artikel 130a des EG-Vertrags) erweitert. Schon heute reichen die europäischen Unterstützungsmaßnahmen, beispielsweise auch in den neuen Bundesländern, in weitverästelte Bereiche hinein: von der Förderung der wirtschaftsnahen Infrastruktur, der Unterstützung produktiver Investitio-nen, von Maßnahmen zur Erschließung des Humankapitals und von der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit bis zur Erleichterung der beruflichen Eingliederung von Jugendlichen, Maßnahmen zur Entwicklung der Landwirtschaft, der Forstwirtschaft und der Fischerei sowie zur Umstrukturierung der Lebensmittelindustrie und zur Verbesserung der Lebens-und Arbeitsbedingungen in ländlichen Gebieten einschließlich der Dorf-erneuerung und der ländlichen Infrastruktur
Diese Entwicklung wird durch das Maastrichter Vertragswerk nicht gebremst, sondern im Gegenteil aufgrund der Zielsetzung der „Kohäsion“ und der Verbesserung der Wettbewerbschancen beschleunigt „Empfehlungen“, Vorschriften, Prämien oder Subventionen aus „Brüssel“ lassen sich in nahezu jedem Bereich öffentlichen Handelns begründen, weil sich in irgendeiner Weise immer ein Bezug zur wirtschaftlichen Wettbewerbsgleichheit hersteilen läßt. „Eine Flut von regional-und kommunalrelevanten Richtlinien und Verordnungen ist inzwischen ergangen. Sie ist aber mit Sicherheit nur ein Tropfen gegenüber dem, was die kommenden Jahre erwarten lassen.“ In Maastricht wurden die in vielen Jahrzehnten errungenen Erkenntnisse der Finanz-, Rechts-und Politikwissenschaft sowie der Judikatur auf dem Gebiet der föderalistischen Kompetenzverteilung und Entscheidungsstruktur ignoriert und bewährte bundesstaatliche Grundsätze und Regelungen mit leichter Hand beiseite geschoben. Speziell unter dem Titel der Struktur-und Regionalpolitik kann eine Vielzahl originärer Aufgabenbereiche von Ländern und Gemeinden auf die europäische Zentralebene heraufgezogen werden.
Der Natur der Sache entsprechend bedeutet diese Kompetenzverschiebung obendrein eine Übertragung in die Verantwortlichkeit der europäischen Bürokratie. Weder der Europäische Rat (der Staats-und Regierungschefs) noch der ihm nachgeordnete Ministerrat, noch gegebenenfalls das Europäische Parlament als Entscheidungsgremien könnten sich mit diesen Materien hinreichend beschäftigen, bei denen es auf genaue Orts-und Detailkenntnisse ankommt. Die Eigenverantwortlichkeit von Ländern und Gemeinden würde auf diese Weise Stück für Stück ausgehebelt werden. Damit einher gingen eine große Verschwendung bzw. Fehlleitung ökonomischer Ressourcen und die Frustration der Bevölkerungen, die nicht die ihren lokalen und regionalen bzw. länderspezifischen Präferenzen entsprechenden öffentlichen Leistungen erhielten.
Im Kontrast zu den Anstrengungen, inländische Subventionen abzubauen, wird durch „Maastricht“ der Ausbau neuer europäischer Subventionsmechanismen vorangetrieben Immer mehr kann und wird die EG flächendeckend „fördern“, weil der Begriff der förderungswürdigen „Rückständigkeit“ immer großzügiger auch auf das nur relative Nachhinken von Sektoren und Regionen im nationalen oder gar regionalen Rahmen ausgedehnt werden wird. Liegt dann ein europäisches Förderungsangebot vor -wie z. B. Hilfe beim Aufbau in den neuen Bundesländern -, wer will oder kann dieses dann ausschlagen? Von den nach Brüssel abgeflossenen Steuergeldem nimmt jeder dankbar wieder einen, wenn auch um den Bürokratieaufwand reduzierten, Bruchteil zurück.
Die durch „Maastricht“ drohende Gefahr der Aushebelung von föderalistischer bzw. kommunaler Selbstverantwortung in Deutschland ist vor allem deswegen sehr real, weil es Föderalismus und Gemeindeautonomie in vergleichbarer Form in den anderen Ländern der EG nicht gibt. Die zentrale Euroförderung geht dort viel weniger zu Lasten der Entscheidungsspielräume bestehender Institutionen und ruft deshalb viel geringere Abwehrreaktionen hervor. Selbst der ohnehin nur mit beratender Funktion und auch sonst sehr stiefmütterlich ausgestattete „Ausschuß der Regionen“ könnte diese Gefahr nicht bannen Legt man naheliegenderweise innerhalb der EG überall gleiche Maßstäbe an, dann muß das „Hinaufziehen“ von wesensmäßig regionalen und lokalen Aufgaben auf die europäische Ebene zur Unverträglichkeit mit dem deutschen föderativen Staatsaufbau einschließlich der kommunalen Selbstverwaltung führen Die schwerwiegendsten Bedenken gegen „Maastricht“ richten sich also gegen die Umstülpung der deutschen Bundesstaatlichkeit und der kommunalen Selbstverwaltung.
Aus deutscher Sicht liegt hier die eigetitliche Achillesferse des Vertragswerks, mehr noch als bei der meist im Vordergrund des Interesses stehenden Währungsunion. Die Ingangsetzung dieser Umstülpung wäre zwar nicht so spektakulär wie die Abschaffung der nationalen Währung, doch wären die Folgen langfristig wohl viel gravierender. Es ist für einen Beobachter mit Schweizer Perspektive sehr erstaunlich, daß über eine so grundlegende Frage in Deutschland keine leidenschaftliche öffentliche Debatte geführt wird.
Auch durch einen neuen Grundgesetzartikel 23, durch den dem Bundesrat in Angelegenheiten, die die Bundesländer betreffen, Mitwirkungsrechte in Fragen von Kompetenzübertragungen nach „Brüssel“ eingeräumt werden, könnte die Aushöhlung binnendeutscher föderalistischer Substanz kaum nachhaltig gebremst werden. Eine Verstärkung des „Mitwirkungsföderalismus“ ist in der Regel ein Reflex auf den Abbau von „Substanzföderalismus“. Die Mitwirkung des Bundesrats kann nur die deutsche Position im Europäischen Rat oder im Ministerrat beeinflussen. Dort wird jedoch in Angelegenheiten wie den hier diskutierten meistens mit der Mehrheit der Mitglieder beschlossen.
Die Gefahr binnenföderalistischer Substanzverluste könnte nur dann gebannt werden, wenn das deutsche (Bundes-) Staatsmodell von den anderen Ländern der EG übernommen würde. Das freilich scheitert schon allein an den dort fehlenden historischen und mentalitätsmäßigen Voraussetzungen. Das deutsche Staatsmodell ist ebensowenig „exportierbar“ wie das auf Präzedenz und Pragmatismus beruhende britische. Anders verhält es sich beim französischen zentralistisch-hierarchischen Staatsmodell, das dem Aufbau der europäischen Bürokratie als Vorbild diente und von dem „Maastricht“ in vieler Hinsicht inspiriert ist Das bisherige Fazit lautet: Wenn nicht im Zuge einer tiefgreifenden Revision des Maastrichter Vertragswertes die Kriterien der ökonomischen Föderalismustheorie maßgebend gemacht und nicht die staats-und verwaltungsrechtlichen Lehren aus den Erfahrungen bestehender Bundesstaaten gezogen werden, dann droht aus der umfassenden Übernahme öffentlicher Verwaltung, „wie das etwa bei den Europäischen Gemeinschaften der Fall ist“, den Bundesländern und Gemeinden „die Gefahr eines zunehmenden politischen Bedeutungsschwundes beziehungsweise langfristig der Mediatisierung“ Die Kompetenzen der deutschen Bundesländer und Gemeinden drohen „systematisch ausgehöhlt zu werden“ „Maastricht“ würde paradoxerweise Deutschland langsam in einen unitarischen Staat umwandeln und den Verlust an binnendeutschem Föderalismus auch keineswegs durch ein Mehr an Euro-Föderalismus (verstanden als föderatives Verhältnis der Nationalstaaten zur Europaebene) kompensieren.
V. Währungsunion untergräbt Euro-Föderalismus
Das eigentliche Kernstück und der konkreteste Teil des Maastrichter Vertragsentwurfs sind die vorgesehene Einheitswährung und die Europäische Zentralbank (EZB). Hierbei handelt es sich um zugleich zentralistische und unitarisierende Institutionen von besonders nachhaltiger Wirkung. Der am 1. Januar 1993 beginnende europäische Binnenmarkt belegt -oder wird belegen -, daß ein freier und ungehinderter Austausch von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen auch ohne Einheitswährung und zentrale Geldpolitik möglich ist In den Vereinigten Staaten von Amerika wurde erst hundert Jahre nach ihrer Gründung als Bundesstaat eine zentrale Geldpolitik definitiv etabliert! Davor war sie an Bedenken gegenüber zuviel Zentralismus gescheitert. Dasselbe Schicksal haben bisher alle willkürlich geschaffenen Währungsunionen unter souveränen Staaten erlitten, so z. B. die Lateinische Münzunion von 1865 unter der Führung Frankreichs. Eine Einheitswährung kann nach der unter Fachleuten überwiegenden Ansicht nur am Ende eines staatlichen Vereinigungsprozesses stehen Auch aus der Sicht eines Euro-Föderalismus müssen gegen die geplante Einheitswährung eine Reihe schwerer Bedenken vorgebracht werden: 1. Die geplante Währungsunion wird zu einem „Mehrklasseneuropa“ führen. Ein solches bestünde (a) aus Ländern, die sich für die Währungsunion qualifiziert haben, (b) aus Ländern, die dies wegen unerfüllter Eintrittskriterien nicht konnten, (c) aus Großbritannien, das von seiner Option des Beiseitestehens Gebrauch machen dürfte und (d) aus Dänemark, das zusammen mit ehemaligen EFTA-und bald wohl EWR-assoziierten Ländern ein Vor-Maastricht-Europa repräsentieren würde. „Weit abgeschlagen“ blieben schließlich (e) die osteuropäischen Länder wie Ungarn, Polen usw. Ein solches Mehrklasseneuropa -beschönigend oft als Europa der zwei (richtigerweise aber vier oder fünf) Geschwindigkeiten bezeichnet -widerspräche der Idee eines vereinten Europa und dem Respekt für die staatliche Ebenbürtigkeit seiner Glieder. Es schüfe mehr Trennendes als Gemeinsames und risse neue Gräben auf. Mit einem in einer Europäischen Union zu verwirklichenden föderati ven Prinzip ließe sich ein solches Mehrklasseneuropa nicht vereinbaren. 2. Eine Währungsunion stünde über kurz oder lang vor dem Dilemma, entweder statutengemäß strikter Geldwertstabilität oder aber gewissen als unverzichtbar angesehenen nationalen Interessen den Vorrang zu geben. Wie auch entschieden wird -in beiden Fällen wäre das Ergebnis nur schwer vereinbar mit einem auf eine harmonische Entwicklung angewiesenen Euro-Föderalismus!
Eine statutengemäße Stabilitätspolitik (Zulassung von nur 3 Prozent öffentlicher Neuverschuldung und 60 Prozent öffentlicher Gesamtschuld im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) würde nach und nach die Spielräume nationaler Wirtschaftspolitik „kräftig reduzieren“ Die Autonomie nationaler Finanz-und Sozialpolitik würde auf ein Maß zurückgeschraubt, wie es die Gliedstaaten von Bundesstaaten -also beispielsweise die deutschen Bundesländer -heute haben. Erheblich voneinander abweichende Verteilungsvorstellungen ließen sich in einem gemeinsamen Währungsgebiet kaum noch durchsetzen Das aber müßte die in den einzelnen Ländern ganz unterschiedlichen geschichtlichen, geographischen und mentalitätsmäßigen Gegebenheiten verletzen und könnte auf die Dauer nur als ein Untergraben der nationalen Identitäten empfunden werden. Es darf insbesondere nicht übersehen werden, daß für Deutschland mit seiner zerrissenen nationalen Geschichte ein überdurchschnittlich ausgebauter Sozialstaat eine viel bedeutendere Rolle für den sozialen Frieden und die Identität spielt als für andere Länder. Schon für Otto von Bismarck war dies eine geläufige Erkenntnis; zwei (verlorene) Weltkriege mit trauma-tischen Inflationserfahrungen haben das Gewicht dieser Erkenntnis noch erheblich verstärkt.
Ein Euro-Föderalismus setzt voraus, daß die nationalen Identitäten respektiert werden. Ihr Verschwinden hätte eine „innere Kündigung“ der Bürger ihrem nationalen Gemeinwesen gegenüber zur Folge. Das beinhaltete vor allem den Wegfall der Bereitschaft, sich diesem Gemeinwesen zur Loyalität und Leistung verpflichtet zu fühlen. Es würde ein politisch notwendiges Machtgleichgewicht zwischen Europaebene und den nationalen „Ebenen“ nach und nach zum Verschwinden gebracht. Ein Euro-Zentralismus wäre die unausweichliche Folge, denn selbst große Regionen oder die deutschen Bundesländer könnten niemals die Verwaltungskraft von Nationalstaaten aufbringen. „Das Schwächerwerden der nationalen Zusammengehörigkeit (bedeutet) für viele Schichten der Bevölkerung ... die Verabschiedung von sozialer und bürgerlicher Solidarität.“
Der andere und sehr viel wahrscheinlichere Weg, den eine Währungsunion nehmen würde, ist der einer Abkehr von strenger Stabilitätspolitik. Nicht nur die überwiegende Mehrheit der deutschen Ökonomen erwartet eine solche Entwicklung. Es gibt diesbezüglich eine inzwischen fast unübersehbare Anzahl von Stellungnahmen, auf die hier im einzelnen nicht verwiesen werden kann. Auch renommierte nichtdeutsche Ökonomen wie der schon zitierte Franzose Maurice Allais oder der Amerikaner Martin Feldstein hegen diese Erwartung Skepsis äußert ebenfalls die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel, die „das Ziel der Preisstabilität inhärent gefährdet (sieht), wenn der dieses Ziel unterstützende politische Konsens auch nur im geringsten ins Wanken gerät“
Die Währungsunion ist von ihrer Entstehung her ein in politischer Absicht geschaffenes Instrument. Von dieser Geburtsprägung wird sie nicht loskommen. Sie wird sich nicht wie durch Zauberhand in ein nur ökonomisch zu handhabendes Stabilitätsinstrument verwandeln. Niemand sollte sich Illusionen machen, daß ein noch so sorgfältig erdachtes Statut, dessen Fesseln von einer überwiegenden Mehrheit eines Tages als politisch unhaltbar empfunden werden, nicht durch eine von dieser Mehrheit geteilte Auslegung ihren Bedürfnissen angepaßt werden würde. Es wäre weltfremd, dem Statut der Europäischen Zentralbank (EZB) in seiner heute als verbindlich angesehenen Interpretation Ewigkeitsdauer zuzutrauen. Zu viele Fragen bleiben auch hier offen, und die Zwischentöne der Verteidiger von „Maastricht“ deuten schon heute darauf hin, daß sie einmal „politisch“ beantwortet werden Inflation hat bisher noch fast immer und überall -wenn auch „durch die Hintertür“ -nationale Verteilungsprobleme „gelöst“, und sie wird dies auch in Zukunft in Europa tun. Nur das deutsche Inflationstrauma sorgte nach 1948 für eine gewisse Ausnahme von dieser Regel. Eine europäische Inflation müßte aber zum Sprengsatz für die Europäische Union werden, denn über den Grad und die Richtung der (fremdbestimmten) Umverteilung muß es zum Streit kommen.
Nicht übersehen werden darf schließlich, daß eine europäische Währungsunion massive Finanzausgleichsströme in noch ganz anderen Größenordnungen erforderlich machen würde, als es die deutsche Währungsunion erforderte, um soziale Folgen abzufedern. Das „Delors-II“ -Paket einer 30prozentigen Erhöhung des EG-Budgets bedeutete erst den Anfang eines angesichts der Transparenz einer Einheitswährung später zwangsläufig rasch anwachsenden europäischen Finanzausgleichs. Dieser würde den wohlhabenderen Mitgliedern der EG noch mehr als bisher die Kosten für den Aufbau der Infrastrukturen in den schwächeren Volkswirtschaften der EG aufbürden und müßte die nicht mehr durch Wechselkursanpassungen auszugleichenden „Spannungskosten“ unterschiedlich sich entwickelnder Volkswirtschaften zusätzlich übernehmen. Der Finanzausgleich träte gewissermaßen an die Stelle des Marktes. Statt wegfallender Transaktionskosten entstünden „Ausgleichskosten“ bei den wohlhabenderen Volkswirtschaften. Die Währungskrise von Mitte September 1992 zeigte, welche gewaltigen Spannungen bei unterschiedlich sich entwickelnden Volkswirtschaften entstehen können. Der Finanzausgleich könnte leicht zu einer Überforderung euroföderalistischer Solidarbereitschaft sowie zu nationalen Spannungen führen und die Gefahr des Auseinanderbrechens einer europäischen Föderation noch verstärken. 3. Eine Preisgabe der nationalen Währungen bedeutete zugleich die Beseitigung von nicht hoch genug einzuschätzenden politisch-gesellschaftlichen Stabilitätsankern. Der psychologische Stellenwert speziell der Deutschen Mark ist zwar weniger als bei anderen Währungen durch eine sehr lange Vertrautheit mit einem nationalen Symbol begründet. Doch das bei der Währungsreform von 1948 ausgegebene neue Geld ist auf das engste mit elementaren Erfahrungen der Befreiung aus Zwangswirtschaft und oft größter materielief Not verbunden. Die neue Währung trat noch vor dem Grundgesetz in Kraft -zu einem Zeitpunkt also, als noch keine neuen Staatssyipbole vorhanden und viele der alten diskreditiert waren. Das hat sich der kollektiven Erinnerung tief eingeprägt. Durch glückliche Umstände ist aus der D-Mark eine Institution geworden, die in hohem Maße der gesellschaftlichen Stabilität dient. Bereits heute zeitigt die Ankündigung ihrer Beseitigung nicht zu übersehende Destabilisierungseffekte. Ihre Abschaffung wird -so ist zu befürchten -den Verdacht nähren, es werde nicht ein für die europäische Zukunft notwendiges Opfer verlangt, sondern es solle viel eher das Fundament des deutschen Wirtschaftserfolgs geschwächt und damit zugleich das deutsche Selbstbewußtsein getroffen werden Auch die Ablehnung der meisten deutschen Wünsche mit Ausnahme des EZB-Statuts auf der Maastricht-Konferenz (Deutsch als einer neben Englisch und Französisch gleichberechtigten Amts-und Arbeitssprache der EG, Anhebung der deutschen Abgeordnetenzahl im Europäischen Parlament wegen der gestiegenen Bevölkerungszahl des vereinten Deutschland Ausbau der Politischen Union mit mehr Rechten für das Europäische Parlament, Sitz der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, Bezugnahme auf den Föderalismus als Ausbauprinzip der EG usw.) dürfte Befürchtungen dieser Art zusätzlichen Auftrieb geben. Ein vereintes Europa wird schon wegen seiner Größe und Heterogenität noch auf lange Zeit hinaus ein fragiles Gebilde bleiben, das einen schonenden Umgang miteinander unabdingbar macht und keine Demütigungen zuläßt. Der Föderalismus ist eine Ordnung des Gleichgewichts und des gegenseitigen Respekts. Ein gravierender föderalismuspolitischer Fehler des Maastrichter Vertragsentwurfs ist seine Unausgewogenheit. Er enthält kein gleichgewichtiges Geben und Nehmen
Ungleichgewichtige Verträge aber haben noch nie Frieden gestiftet. Nur ein ausgewogener Föderalismus kann einem so fragilen Gebilde, wie es Europa noch lange Zeit sein wird, gerecht werden und ihm Dauerhaftigkeit verleihen. Enttäuschtes Vertrauen und Ressentiments können dagegen rasch große Sprengkraft entwickeln.
VI. „Einbindung“ ist ohne Identitätsverluste möglich
Zusammenfassend muß das von den zwölf Staats-und Regierungschefs am 9. /10. Dezember 1991 gebilligte Verhandlungsergebnis wie folgt beurteilt werden: Der Entwurf von Maastricht bringt Europa nicht näher an die für die Bewältigung der Zukunft notwendige Organisationsform. Viel eher sieht es danach aus, „daß die in Maastricht festgeschriebenen Prinzipien mehr jenen Ideen verhaftet sind, deren Realisierung 1954 scheiterte“ als daß sie den Herausforderungen infolge der Umwälzungen in Mittel-, Ost-und Südosteuropa gewachsen sind. Eine wie „bisher vorwiegend auf Frankreichs machtpolitische Interessen zugeschnittene EG“ und eine von „zentralistischen, dirigistischen, technokratischen, bürokratischen und jakobinischen Anwandlungen heimgesuchte EG-Kommission“ (Maurice Allais) entspricht nicht heutigen Notwendigkeiten. Mit „Maastricht“ wurde nicht nur ein unzeitgemäßer Weg nach „Europa“ beschritten, sondern auch ein Weg, der es Großbritannien immer schwerer macht, sich an „Europa“ zu beteiligen, und der vitale Kräfte fesselt statt neue Kräfte freizusetzen. Selbst Frankreichs eigene In teressen bleiben langfristig besser gewahrt in einem sowohl atlantisch und als nach Osten hin offenen, vor allem aber viel besser ausbalancierten, weil auch Großbritannien umfassenden Europa als in einer sich abkapselnden Gemeinschaft nur mit Deutschland und eventuell noch den BeneluxStaaten.
Schwere Bedenken richten sich gegen „Maastricht“, weil es nicht nur nicht eine schon vorher „föderalismusinverse“ Entscheidungsstruktur korrigiert, sondern über Kompetenzausweitungen und neue Subventionsfonds diese noch verschlimmert. Die bisher gemäß Grundgesetz als unantastbar geltende deutsche Bundesstaatsordnung und die ebenfalls grundgesetzlich verankerte deutsche Gemeindeselbstverwaltung könnten mittels des in Maastricht beschlossenen Instrumentariums Stück für Stück ihrer Substanz beraubt werden. Doch auch zu einem echten Euro-Föderalismus würde „Maastricht“ nicht führen. Die Gremien des Europäischen Rates und des Ministerrates wären zwar föderative Elemente, doch die sich abzeichnende Kompetenzaufteilung zu den nationalen Ebenen und zur Europaebene widerspräche dem föderativen (und demokratischen!) Prinzip in doppelter Hinsicht: Ihm widerspricht zum einen, daß die europäischen Instanzen für ihre Entscheidungen de facto nicht politisch zur Rechenschaft gezogen werden können. Weder der Europäische Rat als Ganzes noch die je nach Gegenstand der Beschlußfassung wechselnden Ministerräte, noch gar die zentrale Verwaltung in Brüssel können von den Bürgern politisch zur Rechenschaft gezogen werden. Es entscheiden immer nur Mittelsleute Ihm widerspricht zum anderen die auf den Kopf gestellte europäische Zuständigkeitsordnung: Um das Defizit bei essentiell europäischen Aufgaben zu kompensieren, werden wesensmäßig regionale und lokale Aufgaben auf die Europaebene hochgezogen. Angesichts dessen, was hier auf dem Spiel steht, kann man das Vertragswerk von Maastricht auch nicht mit einer Art „Theorie der bewußten Unzulänglichkeiten“ rechtfertigen: Danach werden „auch Unvollkommenheiten in Kauf genommen, vielmehr sogar instrumentalisiert, um Zwang für die nächsten Integrationsschritte zu erzeugen."
Das mit dem Maastrichter Entwurf verfolgte Ziel einer definitiven und alle Seiten beruhigenden Einbindung des größer gewordenen Deutschland ließe sich auf einem anderen, weniger riskanten und kostspieligen Weg erreichen. Er bestünde in einer unauflöslichen industriellen und militärischen Vernetzung. Jegliche auf nationale Autarkie hinauslaufende Politik könnte unmöglich gemacht werden. Speziell im Bereich der Waffentechnik und der Energie könnte durch gegenseitige Abhängigkeiten und durch Verbundlösungen jedwedes Angriffs-oder Drohpotential ausgeschaltet werden. Ein Beispiel dafür lieferte der deutsche Verzicht auf eine eigene Wiederaufbereitungsanlage und die dadurch verstärkte Abhängigkeit im Bereich der Kernenergie von Frankreich und Großbritannien. Der Phantasie für die Herstellung solcher Abhängigkeiten sind keine Grenzen gesetzt.
Es wäre darüber hinaus vorstellbar, an die Stelle der in Maastricht vorgesehenen Automatismen auf dem Weg zu einer Währungsunion ein flexibleres und schrittweises Vorgehen zu einer engeren währungspolitischen Zusammenarbeit einzuschlagen. In Anlehnung an einen von Roland Vaubel entwickelten Vorschlag könnte beispielsweise einigen Zentralbankpräsidenten aus anderen EG-Ländem ein Sitz mit Stimmrecht im Direktorium der Deutschen Bundesbank gewährt werden. In Frage kämen die Präsidenten von Zentralbanken, die ein Unabhängigkeitsstatut erhalten hätten und deren heimische Volkswirtschaften gewisse Stabilitätskriterien erfüllten. Dem Interesse der europäischen Partner infolge der Rolle der D-Mark als Anker-währung könnte auf diese Weise Rechnung getragen und gleichzeitig die Fortsetzung einer bisher erfolgreichen Institution gewährleistet werden. Derartige Mitentscheidungsrechte träfen bei der deutschen Bevölkerung vermutlich viel eher auf Akzeptanz als die Abschaffung der D-Mark. Alle Länder behielten im übrigen ihre nationalen Währungen, und ein gegebenenfalls reformiertes Europäisches Währungssystem (EWS) könnte weiterbestehen. Eine solche Mitentscheidungslösung könnte von Deutschland einseitig angeboten werden, sie gäbe bewährtes nicht preis und gäbe doch zugleich vor allem der französischen Diplomatie ein von ihr gewünschtes Faustpfand in die Hand. Es haben schon viele die Frage aufgeworfen, warum die Regierenden angesichts der von ihnen immer wieder betonten großen Bedeutung des Maastrichter Vertragswerks so wenig zu dessen Erläuterung und Begründung vor ihren Bürgern beigetragen haben. Immerhin wurde in Maastricht die Gründung einer Europäischen Union beschlossen Dieses Defizit besteht übrigens nicht nur in Deutschland, sondern es bestand und besteht auch in Frankreich und Großbritannien. Dies ist nicht nur kein guter demokratischer Stil, es steht scheinbar auch im Widerspruch zu den eigenen Interessen der Regierenden. Nach den obigen Ausführungen kann die Antwort allerdings nicht mehr schwerfallen: Über den eigentlich zentralen Bestandteil des Vertragsentwurfs, die Währungsunion, kann -oder soll? -zumindest in Deutschland öffentlich nicht allzu laut und nicht allzu deutlich gesprochen werden, weil mehr Zweifel als Zustimmung die Folge wäre. Wenn aber Stabilität auch weiterhin ein Ziel der EG ist, dürfte es nur schwer einleuchten, ausgerechnet den zuverlässigsten Stabilitätsanker zu kappen. Die Deutsche Bundesbank ist nicht kopierbar, denn ihr Erfolg beruht nicht nur auf einem guten Statut, sondern mindestens ebenso-sehr auf ihrer in Jahrzehnten gewachsenen, mittlerweile zur Kontinuität verpflichtenden Tradition und auf dem ganz spezifisch „inflationsscheuen“ deutschen Umfeld, in das die Entscheidenden gestellt sind. Weder Tradition noch Umfeld lassen sich auf einem Reißbrett konstruieren. Einer stabilitätsörientierten Politik der Europäischen Zentralbank würde es vor allem an der notwendigen Legitimierung durch eine öffentliche Meinung auf der Ebene der Gemeinschaft fehlen. Auch weil die Europäische Union in Maastricht ohne die notwendigen demokratisch-politischen Kompetenzen konzipiert wurde, „kann sich auf der Ebene der Gemeinschaft kein integriertes gesellschaftspolitisches Abklärungssystem herausbilden“ und „fehlen alle Institutionen, die die Aufgabe der Beschaffung ausreichender Legitimität für eine stabilitätsorientierte Währungspolitik übernehmen könnten“ * Die metaökonomischen oder richtiger: die intangiblen und inkommensurablen Effekte einer Währungsunion sind in den meisten wissenschaft liehen und politischen Modellen, an denen man sich auf deutscher Seite in Maastricht orientierte, nur unzureichend berücksichtigt worden. Vorherrschend war ein instrumentell-konstruktivistisches Denken, welches im speziellen nicht ausreichend zur Kenntnis nahm, daß die Deutsche Bundesbank aus dem Zusammenspiel nicht wiederholbarer Bedingungen zu einer Institution von erstrangiger ordnungspolitischer Bedeutung und zu einem nicht hoch genug einzuschätzenden wirtschaftlichen Wert geworden ist, der bei ihrer Beseitigung abzuschreiben wäre. Bei der beabsichtigten freiwilligen Preisgabe von Bundesbank und D-Mark liegt der Vergleich mit einem Harakiri nicht mehr fern. Die Bereitschaft dazu wurde im Ausland zwar teilweise mit Genugtuung, teilweise aber auch mit ungläubigem Staunen aufgenommen. Die deutschen Wirtschaftsverbände, die die Preisgabe der eigenen Währung wegen kurzfristig zu erwartender Vorteile mehrheitlich unterstützten, könnten noch eine böse Überraschung erleben.
Die den binnendeutschen Föderalismus und die deutsche Gemeindeautonomie gefährdenden Bestimmungen des Maastrichter Vertragsentwurfs können offensichtlich von einer breiten Öffentlichkeit weniger leicht durchschaut werden und stoßen daher, wie sich bisher gezeigt hat, auch auf weniger Ablehnung. Bei dieser Materie kann sich der Widerstand nicht an Symbolischem festmachen. Die konkret spürbaren Wirkungen stellen sich erst langfristig ein. Aber eine positive Resonanz auf diese Bestimmungen kann natürlich ebenfalls nicht erwartet werden. Vielmehr dürften sich die Bürger gewissermaßen ersatzweise vom Aufbau und von der Formulierung des Vertragstextes abgestoßen fühlen. Dieser ist so verklausuliert und in sich widersprüchlich, daß er „für einen normalen Bürger der Europäischen Gemeinschaft...sehr schwer verständlich, wenn nicht gar unverständlich ist“
Wie sollte ein solcher Vertragsentwurf den Bürgern plausibel gemacht werden können?
Es verwundert daher nicht, daß versucht wurde und versucht wird, „Maastricht“ vor allem mit vertragsexternen Argumenten zu rechtfertigen: Vermeidung von Isolation und Ausgeschlossensein von der Mitsprache „im Herzen Europas“ (Großbritannien), Bändigung der deutschen Dämonen (Frankreich), Erhaltung von Exportmärkten und Arbeitsplätzen (Deutschland) und, nicht zuletzt, Etablierung Europas als eines politisch handlungsfähigen Machtzentrums neben den Vereinigten Staaten von Amerika und Japan. Ist aber die Indienstnahme einer gemeinsamen Währungs-und Industriepolitik der richtige Weg, um Europa zur Rolle einer zukünftigen Weltmacht zu verhelfen? Lohnen sich für ein solches Ziel die enormen ideellen Kosten?
In Maastricht wurde der falsche Weg zu einem unbestreitbar notwendigen und wünschenswerten europäischen Zusammenwachsen in föderativen Strukturen beschritten. Es fehlte teilweise das richtige Verständnis für das föderative Prinzip und teilweise die Bereitschaft, seine Konsequenzen zu akzeptieren. Das französische Volk hat mit seiner hauchdünnen Zustimmung zu Recht ein großes Fragezeichen hinter „Maastricht“ gesetzt. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, die öffentliche Debatte noch nicht zu Ende Die im Dezember 1991 in der niederländischen Stadt an der Maas der europäischen Öffentlichkeit präsentierten Kreationen erinnern an Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Die Dänen kennen ihre Märchen und haben passender-weise als erste bemerkt, daß der Kaiser keine Kleider anhat