Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Entwicklungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft | APuZ 1/1993 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 1/1993 Artikel 1 Entwicklungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft Die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft sichern Europäische Integration: Ende der Nachkriegszeit oder Rückkehr nach gestern? Chance Europa Die europäische Einigung aus Sicht der deutschen Wirtschaft Europäische Einheit, föderatives Prinzip und Währungsunion: Wurde in Maastricht der richtige Weg beschritten?

Entwicklungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft

Jacques Delors

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit einiger Zeit befindet sich die Europäische Gemeinschaft zwar nicht in einer Krise, aber doch in einer Turbulenz, wie schon öfters in ihrer 35jährigen Geschichte. Die Völker haben sich plötzlich zu Wort gemeldet -in Abstimmungen oder in öffentlicher Kritik. Sie wollen wissen, wohin die Europäische Gemeinschaft geht. Seit Jahren schon war eine intensivere Debatte über Europa fällig, aber nur in wenigen Staaten wurde sie ernsthaft geführt. Daß sie jetzt aus Anlaß des Maastrichter Vertrages stattfindet, ist gut, aber das Umfeld für diese Diskussion ist schwieriger geworden: Zum einen ist dies bedingt durch die gegenwärtige wirtschaftliche Schwächephase, zum anderen durch die seit 1989 entstandenen Unwägbarkeiten im Osten Europas. Umgekehrt verdeutlichen allein schon diese beiden Risikofaktoren, wie wichtig ein wirtschaftlich und politisch stärker handlungsfähiges Europa ist. 35 Jahre nach ihrer Gründung ist die Europäische Gemeinschaft noch immer ein revolutionäres Modell für ein friedliches Zusammenleben von Völkern, ein Modell zivilisatorischen Fortschritts -das sollte bei aller berechtigter Kritik an so mancher Unvollkommenheit oder Kleinkariertheit des europäischen Alltags nicht vergessen werden. Die vier Prinzipien dieses Modells könnten auch als Vorbild für eine neue, weltweite Ordnung dienen: Erstens: gegenseitiger Austausch, gegenseitiges Verständnis -auch heute noch keineswegs eine Selbstverständlichkeit unter sehr verschiedenen Völkern; zweitens: Steuerung der wirtschaftlichen Verflechtung durch Wettbewerb -der jetzt beginnende Binnenmarkt wird erweisen, ob damit nicht nur mehr wirtschaftliche Effizienz, sondern auch mehr Kooperation und Solidarität ermöglicht werden; drittens: Entwicklung gemeinsamen Rechts statt nationaler Macht -Mitspracherechte aller Mitgliedstaaten statt Hegemonie eines einzelnen Staates; viertens: effiziente Entscheidungsprozesse -die Europäische Gemeinschaft hat gezeigt, daß diese nur mit Hilfe starker Institutionen ermöglicht werden. Die Europäische Gemeinschaft steht nicht nur vor der Aufgabe einer stärkeren Integration, sondern auch der Erweiterung. Es ist keine Frage, daß die Erweiterung und zugleich Vertiefung schwierig miteinander zu vereinbaren sind, weil hier gegenläufige Tendenzen zum Zuge kommen; dennoch muß das Wagnis unternommen werden, da sich die EG nicht von ihrem europäischen Umfeld abschotten kann. Allein das Problem der Zuwanderungen verdeutlicht, wie notwendig Stabilität und integrative Kooperation in Richtung Osteuropa sind. Die europäische Integration ist ein äußerst komplexes und kompliziertes Themenfeld. Dennoch müssen Politik und Medien immer wieder versuchen, diese Komplexität zu erklären; zugleich muß man erwarten, daß sich Politiker wie Publizisten verantwortungsvoll verhalten. Bei aller berechtigen Kritik darf die Gemeinschaft nicht als Alibi für unpopuläre nationale Entscheidungen mißbraucht oder allzu simplifizierend für beliebige politische Probleme zum Sündenbock gemacht werden. Eine auch gefühlsmäßige Hinwendung der Bürger zu Europa kann nur wachsen, wenn ein möglichst klares und zweifelsfreies Bild über die vielfältigen europäischen Angelegenheiten herrscht.

Seit einigen Monaten steckt die Europäische Gemeinschaft zwar nicht in einer Krise, aber doch in einer Turbulenz, wie schon öfter in ihrer 35jährigen Geschichte. Schwierigkeiten sind aufgetaucht, die bisher verhinderten, daß die Ratifikation des Maastrichter Vertrags durch einige Staaten den dynamischen Schwung ausgelöst hat, der alle Hindernisse wegfegt und auch die Zögerlichsten mitreißt.

Unsere Völker haben sich plötzlich zu Wort gemeldet. Sie wollen wissen, wohin diese Europäische Gemeinschaft gehen will. Seit Jahren schon war eine breite Debatte über Europa fällig, aber nur in ganz wenigen Staaten wurde sie ernsthaft geführt. Es ist zwar gut, daß sie jetzt endlich stattfindet, aber das Umfeld dafür ist ungünstiger geworden. Die Debatte wird heute erschwert durch die gegenwärtige wirtschaftliche Schwächephase, deren Ende noch nicht abzusehen ist, sowie durch die Irritationen im Gefolge der geopolitischen Umwälzungen.

Die Turbulenzen, in denen die Gemeinschaft steckt, werden im folgenden näher analysiert. Das Ergebnis meiner Analyse lautet: Es gibt eine doppelte Kluft -eine Kluft zwischen den Zielsetzungen des Maastrichter Vertrags und der Bereitschaft von Teilen unserer Bevölkerungen, diese mitzutragen; und es gibt eine Kluft zwischen dem Vertrags-inhalt und den Anforderungen, die in der heutigen interdependenten Welt an die Gemeinschaft gestellt werden. Trotz dieser Mängel gibt es nur einen vernünftigen Weg: den Vertrag so schnell wie möglich in Kraft setzen.

Die Öffentlichkeit überzeugen

An der Ablehnung des Maastrichter Vertrags über die Europäische Union durch eine knappe Mehrheit der Dänen beunruhigt am meisten, daß diese Mehrheit sich gegen alle großen politischen Parteien und gegen die Stimmen von Wirtschaft und Gewerkschaften entschieden hat, die sich alle für die Ratifikation des Vertrags eingesetzt hatten. Diese Zäsur gibt um so mehr zu denken, als auch in anderen Mitgliedstaaten, wenn auch in geringerem Umfang, ein Auseinanderklaffen der Meinung der politischen Schichten und der Öffentlichkeit erkennbar wurde. Wir dürfen uns nicht davon entmutigen lassen. Vielmehr gilt es, den Ursachen nachzügehen und Abhilfe zu schaffen.

Erste Ursache: Europa wurde nicht genügend erklärt. Die Informationspolitik hat versagt. In jedem Mitgliedstaat gab es die unterschiedlichsten Sorgen und Ängste: Die Franzosen glaubten, die Gemeinschaft wollte ihnen gewisse Käsesorten nehmen; in Deutschland sah man die Reinheit des Bieres gefährdet; anderswo erregte man sich über Brüsseler Vorschriften für die Herstellung von Schokolade oder Kartoffelchips. Mit solchen im Grunde Kleinigkeiten aus einem sehr spezifischen Bereich kann leicht Stimmung gegen Europa gemacht werden. Aber die Debatte über Maastricht hat tiefergehende Ängste und Frustrationen hoch-gespült. Ganz offensichtlich ist zu wenig bewußt, was auf dem Spiel steht; zu viele begreifen die Europäische Gemeinschaft nicht.

Die Kluft zwischen der politischen Schicht und der Öffentlichkeit ist in Frankreich und in Dänemark besonders sichtbar geworden -wohl deshalb, weil dort die Öffentlichkeit befragt wurde. Wir sind das nicht gewohnt. Der Aufbau Europas wurde lange Zeit in nahezu geheimer Diplomatie vorangetrieben, abgeschottet von der öffentlichen Meinung in den Mitgliedstaaten. Es war die Methode der Gründerväter der Gemeinschaft, eine Art aufgeklärtes Despotentum. Kompetenz und geistige Unabhängigkeit wurden als ausreichende Legitimation zum Handeln, die Zustimmung der Bevölkerung im nachhinein als ausreichend betrachtet. Das Erfolgsgeheimnis bestand darin, eine nach innen gerichtete Dynamik zu erzeugen, Integrationswiderstände durch Bündelung verschiedener wirtschaftlicher Interessen auszuräumen und Entscheidungen über umfassende Verhandlungspakete herbeizuführen. Diese „Methode JeanMonnet“ war in der Gründungsphase der Gemeinschaft durch die Kühnheit des Projektes vermutlich gerechtfertigt. Aber sie ist jetzt an ihre Grenzen gestoßen, und wir zahlen den Preis für das aufgestaute Defizit an Erklärung und an tiefergehenden Debatten über Sinn und Zweck der Gemeinschaft.

Zweiter Grund für die Verwirrung ist die Kompliziertheit des Maastrichter Vertrags. Zweifellos wird dieser Vertrag nicht in die Literaturgeschichte eingehen. Ohne genaue Gebrauchsanleitung ist er schwer zu verstehen. Er ist das Ergebnis vielfacher Kompromisse und von Juristen geschrieben.

Die Kompliziertheit des Vertrags ist natürlich auch Folge der Komplexität des institutionellen Systems der Gemeinschaft. Politisch ist es schwer einzuordnen. Die Trennung von exekutiver und legislativer Gewalt entspricht nicht den strengen Prinzipien von Montesquieu. Souveränität wird teilweise gemeinsam ausgeübt, teilweise verbleibt sie national. Die gemeinschaftlichen Institutionen bleiben diffus, werden als zu wenig bürgemah und demokratisch empfunden. Das Austarieren der Macht der einzelnen Gemeinschaftsinstitutionen ist im Laufe der Zeit immer komplizierter geworden. All dies sind Gründe dafür, daß Klagen über ein „demokratisches Defizit“ und über eine Vorherrschaft „Brüsseler Technokraten“ heute so populär sind.

Dritte Ursache für die Verwirrung der Bürger: Mit dem Maastrichter Vertrag schlagen wir keinen klaren Reißbrettentwurf für die künftige Gemeinschaft vor, sondern einen evolutionären Prozeß, der von der Natur der Sache her zu unterschiedlichen Interpretationen einlädt. Wohin dieser Prozeß die Europäische Gemeinschaft letztlich führen soll, war schon 1948 auf dem Kongreß von Den Haag umstritten. Auf der einen Seite standen damals die Föderalisten, die klar definierte Kompetenzen auf eine europäische Institution übertragen wollten; auf der anderen Seite standen die Anhänger eines Staatenbundes, die glaubten, daß Europa nur durch immer wieder neue Kompromisse zwischen vollständig souveränen Staaten vorankommen kann und daß es keiner Übertragung von Souveränitätsrechten bedarf. Der Streit zwischen diesen beiden Lagern hält immer noch an; der Maastrichter Vertrag hat ihn nicht beendet, sondern lediglich einen Kompromiß erreicht. Signale wurden in beide Richtungen gegeben, was jedem der beiden Lager erlaubt, den Vertrag in seinem Sinne zu definieren. Zwangsläufig muß dies die Bürger verwirren, aber dennoch war dieser Kompromiß die einzig mögliche vernünftige Lösung.

Das Klima ist ungünstiger geworden

Die Diskussion über die Zukunft Europas findet heute in einem Klima von Verunsicherung und mangelnder Zivilcourage statt. Zwei Faktoren tragen ganz wesentlich dazu bei: Zum einen befindet sich die Weltwirtschaft seit 1990 in einer Abkühlungsphase. Hohe Arbeitslosigkeit und tägliche Meldungen über weitere Entlassungspläne großer Unternehmen schüren Ängste. Niemand kann heute sagen, ob wir nur eine normale konjunkturelle Abschwächung durchlaufen oder ob wir einer wirklichen Rezession entgegengehen. Sicher ist nur, daß das gegenwärtige Klima nicht dazu angetan ist, das Vertrauen der Investoren zu stärken.

Nach den finanziellen Exzessen der achtziger Jahre macht sich offensichtlich eine Katerstimmung in den Industrienationen breit. Die hohen Schulden der Vereinigten Staaten, das Zerplatzen der Spekulationsblasen an den Finanzmärkten Japans, die enormen Kosten der deutschen Einheit sind Hypotheken, die diese führenden Wirtschaftsmächte zu Anpassung und Konsolidierung zwingen. Die gesamte Gemeinschaft wird durch diese Entwicklungen getroffen. Glücklicherweise sind wir heute aber etwas besser gewappnet als früher. Die Verwirklichung des Binnenmarktes hat eine tiefgreifende Modernisierung der europäischen Wirtschaft eingeleitet und die Verhaltensweisen der Unternehmer geändert. Die Gemeinschaft hat sich auf eine aggressive Welt eingestellt, deren Grenzen offener sind und in der der Wettbewerbsdruck stärker geworden ist.

Diese Fortschritte erlauben uns, schlechte Zeiten besser zu überstehen. Dennoch bleiben große Unsicherheiten und Gefährdungen. Noch sind wir nicht die große Wirtschaftsmacht, als die wir von außen oft angesehen werden. Als beispielsweise der amerikanischen Wirtschaftslokomotive Ende der achtziger Jahre der Dampf ausging, war die europäische Lokomotive nicht stark genug, um das Fahrttempo zu halten und der Weltwirtschaft Anstöße zu geben. Die europäische Wirtschaft muß noch stärker und wettbewerbsfähiger werden. Einer der Schlüssel dazu ist eine sehr viel engere Zusammenarbeit unserer Unternehmen und Forschungseinrichtungen.

Die wirtschaftliche Absehwächung geht einher mit weltweiten Währungsunruhen. Sie wurden ausgelöst durch den großen Abstand zwischen der amerikanischen und der deutschen Geldpolitik, aber auch durch die Zögerlichkeit einiger unserer Mit­gliedstaaten, die notwendigen Maßnahmen zur Sanierung ihrer Wirtschaft zu ergreifen. Das Zusammenfallen von Währungsunruhen und wirtschaftlicher Abschwächung -in einigen Staaten bis hin zu einer ausgeprägten Rezession -erinnert in gewisser Hinsicht an den Beginn der siebziger Jahre. Damals wurde die Goldeinlösungspflicht des Dollars aufgehoben; es folgten die Freigabe der Wechselkurse und der erste Ölpreisschock im Jahr 1973. Das Ergebnis waren tiefgreifende Un-gleichgewichte in den internationalen Zahlungsströmen. Die europäischen Staaten verzichteten -einer nach dem anderen -auf eine Teilnahme an der Wirtschafts-und Währungsunion, die bereits im Jahr 1972, basierend auf dem Werner-Plan, vereinbart worden war. Aber Geschichte muß sich nicht wiederholen. Die wirtschaftliche Basis unserer Gemeinschaft ist heute wesentlich stärker. Wir können währungspolitische Probleme meistern, wenn wir den Willen dazu aufbringen.

Das Ende des Kalten Krieges ist eine weitere Quelle der Verunsicherung. Nach vierzig Jahren Eiszeit ist nun das Eis aufgebrochen. Alles ist in Bewegung geraten, die Welt ist weniger stabil. Aber sehen wir die positive Seite: Die neue Unsicherheit, die komplexere Weltkarte geht einher mit einem Gewinn an Freiheit. Ein Publizist hat die neue Situation in der treffenden Formel zusammengefaßt: „Die Nachkriegszeit bedeutete Bedrohung, aber kaum Risiken; die Nach-Naehkriegszeit birgt Risiken, aber keine Bedrohung.“

Die Risiken sind nur allzugut bekannt: das Risiko, daß in den Ländern des Südens lokale Konflikte aufbrechen, die nicht mehr durch die bipolare Weltordnung von gestern eingedämmt werden können; die Proliferation von Massenvernichtungswaffen; der Auftrieb für fundamentalistische Ideologien, die Andersdenkende ausgrenzen und auf Vorurteilen, Angst und Haß aufbauen; das Wiederaufleben ethnischer Spannungen, die selbst Völkerstämme, die lange Zeit friedlich zusammengelebt haben, wieder in Kriege stürzen können; und schließlich die großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Mittel-, Ost-und Südosteuropas sowie der ehemaligen Sowjetunion, die mit wachsenden sozialen Spannungen, zunehmender Verarmung und mit Ungewißheiten über künftige politische Orientierungen verbunden sind.

Um dieser Risiken Herr zu werden, braucht es einen neuen institutioneilen Rahmen und neue Spielregeln, natürlich auch Zeit, bis beide gefunden sind. Aber die Anstöße für die Entwicklung einer neuen internationalen Ordnung sind heute noch viel zu bescheiden. Der Kontrast zwischen einer zunehmend interdependenten und mit Risiken belasteten Welt einerseits und dem Mangel an internationaler Kooperation andererseits ist zu offenkundig.

Wie aber sollen wir ohne solch eine neue Ordnung mit den Herausforderungen der heutigen Zeit fertig werden -mit der Bevölkerungsexplosion, dem Migrationsdruck, der Umweltzerstörung, der Überbewaffnung, dem Drogenhandel, der organisierten Kriminalität oder mit den großen neuen Krankheiten?

Die weiter wachsende weltwirtschaftliche Verflechtung wird allein keineswegs genügend Anstöße geben, um eine neue Ordnung zu entwickeln, geschweige denn Elemente einer Weltregierung hervorzubringen. Vielmehr bedarf es dazu auch eines eindeutigen politischen Willens.

Die Gemeinschaft als Modell zivilisatorischen Fortschritts

Trotz der Schwierigkeiten bei ihrem weiteren Ausbau ist die Europäische Gemeinschaft heute der einzige Rahmen für eine dynamische und fruchtbare Zusammenarbeit von Nationalstaaten. Dies hat freilich nicht verhindert, daß auch sie im Zuge der politischen Umwälzungen seit 1989 in Frage gestellt wurde. Es hieß, sie sei eine Geburt des Kalten Krieges; mit dessen Ende habe auch sie sich überlebt. Die Frage, ob sie wirklich noch Sinn hat, ist legitim. Die Gemeinschaft ist schließlich kein Selbstzweck und ihre erfolgreiche Vergangenheit allein reicht nicht, um ihre Existenz auch in Zukunft zu rechtfertigen.

Am Anfang der Gemeinschaft stand der Wille, nie wieder Krieg zwischen unseren Völkern zuzulassen und den Niedergang des alten Europas aufzuhalten. Gilt dies nicht noch immer, gerade heute, zu einem Zeitpunkt, in dem die Geschichte der Jahrhundertwende und die damalige Landkarte Europas uns wieder einholen? Jugoslawien ist zerfallen; vor unserer Haustür herrscht Krieg. Kann man unter diesen Umständen ernsthaft glauben, die Gemeinschaft hätte ausgedient, wäre kein Vorbild mehr für Völker, die dabei sind oder auf dem Wege sind, sich gegenseitig zu zerstören?

Im Gegenteil, auch 35 Jahre nach ihrer Gründung ist die Gemeinschaft noch immer ein revolutionäres Modell für ein friedliches Zusammenleben vonVölkern, ein Modell zivilisatorischen Fortschritts. Vier Prinzipien sind Kennzeichen dieses Modells, und sie können als Vorbild für eine neue weltweite Ordnung dienen:

Erstens: Gegenseitiger Austausch, gegenseitiges Verständnis. Dies ist bei weitem keine Selbstverständlichkeit. Unsere Völker haben gelernt, sich zu verstehen, zu schätzen, miteinander zu sprechen. Natürlich schließt dies Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten nicht aus, aber letztlich überwiegt der Wille, vernünftige Kompromisse zu finden. Angenommen, es gäbe die Gemeinschaft nicht: Wie in der Vergangenheit wären unsere Staaten versucht, Alleingänge zu unternehmen. Das müßte zwangsläufig die Interessen anderer verletzen und Rivalitäten sowie Streitigkeiten in Handelsfragen und vielleicht auch politische Spannungen provozieren. So aber nähert sich einer dem anderen an und respektiert die Ansichten der anderen Seite. Auf diese Weise ist die Europäische Gemeinschaft für andere so attraktiv geworden: für die EFTA-Staaten, für Mittelosteuropa, für Südosteuropa und sogar für die Staaten weiter im Osten.

Zweitens: Die Steuerung der wirtschaftlichen Verflechtung durch Wettbewerb, der unsere Wirtschaften belebt und der durch die Verwirklichung des Binnenmarktes neue Anstöße erhalten hat; durch Kooperation, die uns stärkt, wie etwa im Bereich der Forschung oder beim Ausbau der Infrastrukturnetze; schließlich durch Solidarität, die uns Zusammenhalt gibt. Die Politik zur wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion der Gemeinschaft will den Menschen aller Regionen die Chance geben, sich wirtschaftlichen Fortschritt zu erarbeiten. Wettbewerb, Kooperation und Solidarität sind damit die drei miteinander verknüpften Elemente, die unsereren Europäischen Wirtschaftsraum Zusammenhalten und die ihn zu mehr machen als nur zu einer einfachen Freihandelszone.

Drittens: Die Entwicklung gemeinsamen Rechts statt nationaler Macht', Mitspracherechte aller Mitgliedstaaten statt Hegemonie eines einzelnen Staates. Dieses Prinzip zieht die Konsequenz aus der Erfahrung von Jahrhunderten leidvoller europäischer Geschichte, die uns lehrt, daß Hegemonie-politik sofort zu Gegendruck und Konflikten führt und daß Konflikte letztlich nur einzudämmen sind, wenn nationale Macht durch gemeinsames Recht eingegrenzt wird. Die Europäische Gemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft. Streitigkeiten werden vom Europäischen Gerichtshof entschieden. Eine der Aufgaben der Kommission der Gemeinschaft ist es, dafür zu sorgen, daß sich alle an die Spielregeln halten und das gemeinsame Recht respektieren. Viertens: Effiziente Entscheidungsprozesse. Allein der Wille zu kooperieren genügt nicht; es bedarf starker Institutionen, die entscheiden und handeln können. Die Väter des Römischen Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft haben uns solche Institutionen gegeben. Dies war im Vergleich zu internationalen Organisationen klassischen Typs eine entscheidende Neuerung. Starke Institutionen waren das Geheimnis des Erfolgs der Europäischen Gemeinschaft.

Diese vier Prinzipien unseres Gemeinschaftsmodells haben unsere Fähigkeit zu pragmatischer Politik gefördert. Der notwendige Respekt vor nationalen Traditionen und der kulturellen Vielfalt unseres Kontinents hätten wohl auch gar kein anderes Vorgehen zugelassen. Bestes Beispiel für den Pragmatismus ist, daß wir uns weder für einen Bundesstaat noch für einen Staatenbund entschieden haben, sondern für eine Mischung beider Modelle. Zugegeben: Das Ergebnis ist eine politische Struktur, die schwer einzuordnen, auch schwer zu erklären ist, die aber in ihrer 35jährigen Existenz Erfolge erzielt hat, für die es in der Geschichte kaum Parallelen gibt. .

Aber noch ist das Gemeinschaftsmodell nicht vollständig. Noch kann von einem europäischen „Staat“ mit allen dazugehörigen Attributen nicht die Rede sein. Zwar ist die Gemeinschaft wirtschaftlich stark, sie ist aber noch weit von einem völlig integrierten, homogenen Wirtschaftsraum entfernt. Zwar hat die Gemeinschaft politischen Einfluß, aber noch nicht genügend Kraft, um gestaltend statt reagierend auf ihr Umfeld einzuwirken, um den weltweiten Herausforderungen zu begegnen und um am Aufbau einer neuen Ordnung entscheidend mitzuarbeiten. Das zu erreichen war der entscheidende Beweggrund für die Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags zur Politischen Union. Die Gemeinschaft soll eine politische Kraft werden -nicht um der Macht willen, sondern um zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker beitragen und um großzügig Hilfe leisten zu können. Die Gemeinschaft kann sich auch nicht damit begnügen, ein schönes Haus für zwölf Mitglieder zu bauen und darüber die übrigen Bewohner Europas zu vergessen, so als ob 1989 nichts geschehen wäre. Es ist ihre historische Pflicht, an der Neuordnung und am Aufbau Gesamteuropas mitzuwirken. Die ersten Bausteine für ein Gesamteuropa sind bereits gelegt. Mit dem Vertrag zur Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraums wird unserBinnenmarkt nun auf die EFTA-Staaten ausgeweitet. Mit den Europa-Abkommen dehnen wir die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf Mittel-und Osteuropa aus. Wir leisten wirtschaftliche Hilfe, vor allem technische Hilfe für Mittel-, Ost-und Südosteuropa. Über zwei Drittel der Hilfe aller westlichen Industrieländer für diesen Teil Europas wird von den Mitgliedern der Gemeinschaft aufgebracht. Außerdem leistet die Gemeinschaft beträchtliche Hilfe an die Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

Allerdings stehen wir erst am Beginn einer Neuordnung unseres Kontinents. Sobald der Maastrichter Vertrag ratifiziert und damit das Fundament der Gemeinschaft gefestigt ist, gilt der Vorrang unserer Politik der Erweiterung. Dabei müssen die politischen und institutionellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß eine erweiterte Gemeinschaft handlungsfähig bleibt.

Unsere Aktivitäten im Osten Europas dürfen nicht dazu führen, den Süden zu vernachlässigen. Die Bevölkerung der Maghreb-Staaten wird bis zum Jahr 2020 auf 100 Millionen anwachsen; sämtliche Anrainerstaaten des südlichen Mittelmeers zusammengenommen wird sich die Bevölkerung auf 400 Millionen verdoppelt haben. Gelingt es uns nicht, auch dort wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen, dann hätte Europa nicht nur seinen Auftrag verfehlt, sondern es hätte auch die Konsequenzen zu tragen -allem voran einen erheblichen Einwanderungsdruck aus diesen Staaten.

Wegen dieser Herausforderungen aus dem Osten wie aus dem Süden bleibt der Gemeinschaft keine andere Möglichkeit, als sich das politische Gewicht zu geben, das es ihr erlaubt, ihrer internationalen Verantwortung gerecht zu werden. Ansonsten würde sie riskieren, nicht viel mehr zu sein als eine Gruppierung verletzlicher Volkswirtschaften, darauf beschränkt, Einflüsse von außen schlicht zu erdulden.

Oft wird die Frage gestellt, warum der Maastrichter Vertrag gerade jetzt auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Wäre es nach den Anstrengungen zur Verwirklichung des Binnenmarktes nicht besser gewesen, erst einmal eine Konsolidierungspause einzulegen, statt zu einem neuen Sprung nach vorn anzusetzen? Hätte man nicht günstigere Zeiten abwarten müssen? Meine Antwort ist „nein“: Die Herausforderungen warten nicht, bis die Gemeinschaft ihnen gerecht werden kann. Der Gang der Geschichte hat sich beschleunigt, also muß auch die Gemeinschaft ihr Entwicklungstempo beschleunigen. Wir brauchen den Vertrag von Maastricht jetzt. Mehr noch: Vielleicht sind wir beim Abschluß des Vertrages im Dezember 1991 nicht einmal weit genug gegangen.

Genügt Maastricht den heutigen Anforderungen?

Der größte Sprung nach vorn im Maastrichter Vertrag ist die Wirtschafts-und Währungsunion. Bis zu den Währungsturbulenzen im September und Oktober 1992 herrschte im Europäischen Währungssystem (EWS) Wechselkursstabilität, zumindest seit 1987. Das EWS war eine Zone der Ruhe inmitten einer weltweiten Währungsunsicherheit. Es hat sich als Stabilitätsanker bewährt und zu wirtschaftspolitischer Disziplin und zu gemeinsamen Orientierungen gezwungen. Aber es konnte nicht verhindern, daß jetzt, in stürmischen Zeiten, die noch bestehenden Unterschiede zwischen den Mitgliedern zu einer Destabilisierung einer Reihe von Währungen geführt haben. Diejenigen Länder, die kürzlich zur Abwertung ihrer Währungen gezwungen wurden, hatten sich lange Zeit so verhalten, als gäbe es bereits unwiderruflich fixierte Wechselkurse. Die ökonomische Theorie lehrt aber, daß man nicht drei Dinge auf einmal haben kann: freien Kapitalverkehr, feste Wechselkurse und eine autonome Geldpolitik. Auf eines der drei Elemente muß man verzichten. Die Aufhebung der Kontrollen für den Kapitalverkehr war eine der Voraussetzungen für die europäische Wirtschaftsintegration und entsprach im übrigen der heutigen wirtschaftlichen Realität. Unter diesen Umständen bleibt nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder man kehrt wieder zu flexiblen Wechselkursen zurück; das bedeutet Instabilität, Wettbewerbsverzerrungen und früher oder später die Zerschlagung des europäischen Binnenmarktes. Oder man fixiert unwiderruflich die Wechselkurse und verzichtet auf nationale Geldpolitiken, was faktisch nichts anderes ist als die Einführung einer gemeinsamen Währung. Versuchte man dagegen einen Mittelweg zwischen flexiblen und fixen Wechselkursen, dann blieben die schwächeren Währungen ständig dem Risiko spekulativer Attacken ausgesetzt. Die Phase des Übergangs zu unwiderruflich fixierten Wechselkursen muß deshalb so kurz wie möglich sein. Der Experten-bericht, der dem Maastrichter Vertrag zugrundeliegt, hat dies unterstrichen. Heute stellt sich die Frage, ob der Prozeß nicht beschleunigt werden müßte, um Zweifel auszuräumen und die Spekulation zu entmutigen. Ob Maastricht weit genug geht, ist auch in anderen Bereichen zu untersuchen, in denen die Fortschritte bescheidener waren, die aber nicht weniger wichtig sind. Offensichtlichstes Beispiel ist die gemeinsame Außenpolitik. Mit der einheitlichen Währung ist sie der zweite „Tiger im Tank“ der Europäischen Union. Bislang ist sie jedoch eher noch ein Papiertiger. Die vorsichtigen Vereinbarungen und Prozeduren zeigen sehr deutlich das Widerstreben der Mehrheit der Mitgliedstaaten, eine gemeinsame Außenpolitik zu vereinbaren. Zwar wurde ein wichtiger Schritt getan, aber die wirkliche Tat, die gemeinsamen Aktionen lassen noch auf sich warten. Es ist zu hoffen, daß nach der Ratifikation des Vertrags der Wille zu gemeinsamem Handeln siegt, wann immer es die Umstände verlangen.

Niemand kann sagen, ob ein geeint handelndes Europa den Bürgerkrieg in Jugoslawien hätte verhindern können. Sicher aber ist, daß Nationalismus ansteckend wirkt. Die Idee, „ethnisch reine“ Gebiete zu schaffen, ist grausam und verwerflich. Sie erinnert uns an die dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit. Dieser Trend zu übersteigertem Nationalismus muß aufgehalten werden, aus ethischen, aber auch aus politischen Gründen. Sonst wird sich der Osten in kleine Volksgruppen zersplittern, die Europa tiefgreifend destabilisieren und jedes dauerhafte Gemeinschaftsprojekt nachdrücklich in Frage stellen würden.

Auch deshalb ist es so wichtig, daß die Gemeinschaft ihre Anziehungskraft weiter stärkt und als nachahmenswertes Beispiel für ein vertrauensvolles Miteinander von Völkern wirkt. Sie muß beweisen, daß sie fähig ist, sich zu einer politischen Einheit zu entwickeln, die unsere nationalen Staaten überwölbt, aber zugleich auch deren Identität wahrt. Gleichzeitig hat die Gemeinschaft die historische Aufgabe, die Tür für diejenigen offenzuhalten, die ihr beitreten wollen und von ihrer gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Verfassung her dazu in der Lage sind. Wir werden Mut und Augenmaß brauchen, um zur Neuordnung Gesamteuropas wirkungsvoll beizutragen.

Es ist keine Frage, daß die Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft schwierig miteinander zu vereinbaren sind. Die Erweiterung beinhaltet ein doppeltes Risiko: einmal die Gefahr, daß die Gemeinschaft bis hin zu ihrer Handlungsunfähigkeit verwässert wird, zum anderen das Risiko einer zunehmenden Zentralisierung von Entscheidungen, um handlungsfähig zu bleiben. Dieses Risiko kann jedoch kein Alibi dafür sein, die Hände in den Schoß zu legen, denn die Erweiterung der Gemeinschaft ist sowohl wünschenswert als auch unvermeidbar. Es ist klar, daß wir beim Ausbau der Institutionen weiter gehen müßten, als es in Maastricht beschlossen wurde. Aber -und hier liegt das Dilemma -wir können dies nicht über die Köpfe der Bürger hinweg tun, sonst stoßen wir auf Ablehnung.

Zurück zum Primat der Politik

Die Defizite unseres europäischen Projektes sind deutlich geworden. Sie zu beseitigen ist die dringendste Aufgabe der nächsten Zeit. Natürlich, die europäische Integration ist extrem komplex. Dennoch muß die Politik diese Komplexität erklären und sie gleichzeitig auf das Allernotwendigste begrenzen. Vor allem müssen unsere Entscheidungsprozeduren klarer werden. Ein Beispiel: Der Maastrichter Vertrag sieht fünf verschiedene Gesetzesverfahren im Parlament vor, zwei Verfahren im Ministerrat und neun mögliche Kombinationen dieser Verfahren. Hinzu kommen bis zu drei Lesungen im Falle von mitbestimmungspflichtigen Gesetzesvorhaben. Wie soll die öffentliche Meinung einen solchen Entscheidungsprozeß nachvollziehen oder sich in der Gesetzgebung wiederfinden? Die nationalen Regierungen müssen Klarheit schaffen, gegenüber ihren Parlamenten und ihren Wählern. Aber auch die Gemeinschaftsinstanzen müssen künftig größere Sorgfalt darauf verwenden, ihre Entscheidungen transparent und unter strikter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips zu treffen.

Man kann nicht verlangen, daß jeder Bürger den komplizierten Aufbau Europas begreift. Um so mehr muß man erwarten, daß die politisch Verantwortlichen sich verantwortungsbewußt verhalten, die Gemeinschaft nicht als Sündenbock für unpopuläre Entscheidungen mißbrauchen und sie je nach Stimmungslage und wahltaktischen Überlegungen hochleben lassen oder an den Pranger stellen. Sonst wird es weder ein klares noch ein positives Bild der Gemeinschaft im Bewußtsein der Bürger geben; noch weniger kann so die gefühlsmäßige Hinwendung der Bürger zu Europa erwachsen, die letztlich für den tiefen inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft entscheidend ist.Keine Frage, Gefahr droht der Gemeinschaft nicht so sehr durch vermeintliche zentralistische Bestrebungen. Die wirklichen Gefahren sind vielmehr nationale Eitelkeiten, Geltungsdrang und Krämer-geist. Wer es zum Prinzip erhebt, einer Gemeinschaftsaufgabe nur zuzustimmen, wenn er einseitig daraus einen Vorteil ziehen kann, der legt die Gemeinschaft langsam aber sicher lahm.

In der Präambel zum Maastrichter Vertrag und im Artikel 3 b hat man das Subsidiaritätsprinzip verankert. Es soll als Richtlinie dafür dienen, wer welche Kompetenzen wahmehmen soll. Es hat sicherzustellen, daß Entscheidungen möglichst bürger-nah getroffen werden. Die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der deutschen Länder haben übrigens entscheidende Anstöße dafür gegeben, daß sich die Gemeinschaft dieses Prinzip zu eigen gemacht hat. Allerdings, das Subsidiaritätsprinzip wäre schnell jeder Substanz beraubt, wenn das Verhalten unserer Staaten von Eigensucht und nicht von gegenseitigem Vertrauen geprägt wäre. Subsidiarität würde dann zu leicht zum Vorwand, um gemeinschaftliches Handeln zu blockieren. Wenn wir die Gemeinschaft voranbringen und die Zustimmung der Bürger dafür erlangen wollen, dann ist es unerläßlich, daß die Mitgliedstaaten vertrauensvoll und solidarisch miteinander umgehen. Es ist gerade in Deutschland populär, der Gemeinschaft ein „demokratisches Defizit“ vorzuwerfen. Ich glaube, daß dieser Vorwurf der tatsächlichen Lage nicht gerecht wird. Gewiß, das „Verfassungsmodell“ der Gemeinschaft entspricht nicht den Gedanken der Väter des Grundgesetzes. Aber gerade im Vertrag von Maastricht ist viel getan worden, um die Gemeinschaft stärker zu demokratisieren: Das Europäische Parlament wird gestärkt durch verbesserte Mitentscheidung bei Gesetzes-vorhaben, durch Mitsprache bei der Ernennung der Kommissionsmitglieder, durch Einführung eines Petitions-und Enquete-Rechts.

Die Rechte des Europäischen Parlaments sind jedoch nur ein Aspekt der demokratischen Kontrolle innerhalb der EG. Den Akzent zu stark auf diesen Aspekt zu konzentrieren erweckt gelegentlich den Eindruck, als ob hier ein rotes Tuch geschwenkt wird, um von anderen Mitiständen abzulenken. Dies gilt übrigens auch für die stets wiederkehrenden Vorwürfe an die Adresse einer „Brüsseler Technokrate“. Es ist doch wohl keine Frage, daß es auch eine nationale Verantwortung für die Demokratie in der Gemeinschaft gibt. Das gilt insbesondere für die Arbeitsweise des Rates, aber auch der nationalen Parlamente. Die Debatte in Frankreich über das Referendum zu Maastricht hatte bereits einen positiven Effekt: Das französische Parlament hat beschlossen, die Europapolitik der Regierung künftig stärker zu kontrollieren. In anderen Staaten sind gleiche Bestrebungen festzustellen. Ganz offensichtlich gab es also auch auf nationaler Ebene „demokratische Defizite“.

Nichts macht dies deutlicher als die Kluft zwischen der Meinung der politischen Ebene und der Öffentlichkeit, die in den letzten Monaten zutage getreten ist. Das Mißtrauen in der Öffentlichkeit beschränkt sich nicht auf europapolitische Fragen. Es gibt ein allgemeines Mißtrauen gegenüber den Politikern beziehungsweise gegenüber der Parteiendemokratie und deren Unfähigkeit, die den Bürgern wichtig erscheinenden Fragen aufzugreifen und befriedigend zu beantworten. Die generelle Politikverdrossenheit, die in allen unseren Staaten herrscht, muß überwunden werden, sonst drohen nicht nur Rückschläge für unser europäisches Projekt und für die politischen Parteien, die sich dafür engagieren. Auch der innere Zusammenhalt der einzelnen Mitgliedstaaten geriete in Gefahr.

Unsere Nachbarn im Osten und im Süden richten hohe Erwartungen an die Europäische Gemeinschaft. „Europessimismus“ macht sich lediglich bei uns selbst breit, auf andere aber wirkt unser europäisches Modell sehr attraktiv. Die Liste der beitrittswilligen Staaten wird immer länger, und alle Welt erwartet von uns, daß wir die Verantwortung wahrnehmen, die unserem wirtschaftlichen Gewicht und der universellen Tradition Europas entspricht. Bringen wir deshalb den politischen Willen auf, unser europäisches Projekt weiter voranzubringen und unseren alten Kontinent zu einen, damit er den neuen, großen Herausforderungen gerecht werden kann, vor denen die Menschheit steht!

Arbeiten wir darauf hin, daß der spanische Philosoph Ortega y Gasset mit seiner Prophezeiung aus dem Jahre 1930 endlich recht bekommt. Er schrieb damals: „Es ist höchst unwahrscheinlich, daß eine Gesellschaft, eine so reife Gemeinschaft, wie die europäischen Völker es heute schon sind, nicht den Willen aufbringen wird, sich die politischen Institutionen eines Staates zu geben, die die schon bestehende politische Macht Europas angemessen zum Ausdruck bringen.“

Fussnoten

Weitere Inhalte

Jacques Delors, geb. 1925; Tätigkeit in wirtschafts-und sozialpolitischen sowie in wissenschaftlichen Institutionen Frankreichs; Mitglied des Vorstandes der Sozialistischen Partei; Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Europäischen Parlaments; seit 1985 Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften.