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Tödliche Erbschaften -das atomare Potential in Kasachstan | APuZ 52-53/1992 | bpb.de

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Tödliche Erbschaften -das atomare Potential in Kasachstan

Gundula Bahro

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Zusammenfassung

Die Republik Kasachstan ist in den vergangenen vierzig Jahren die Atomrepublik der UdSSR gewesen. Die Menschen in Kasachstan litten und leiden unter der radioaktiven und toxischen Kontaminierung vor allem durch die Atomindustrie und den militärisch-industriellen Komplex, der den gesamten Zyklus in Kasachstan betrieb, von der Uranförderung und -anreicherung bis zu Bomben-und Raketentests und der Hinterlassenschaft einer kontaminierten Mondlandschaft. Die Russische Föderation, die auch nach der Souveränitätserklärung der Republiken ihre enge Symbiose mit einigen von ihnen nicht aufzugeben gedenkt, beabsichtigt, ihr Atomprogramm weiter bis zum Jahre 2010 durchzuführen und mit spaltbarem Material und Reaktorlieferungen auf dem GUS-und Weltmarkt zu erscheinen. Alternative Stromversorgungsprogramme scheinen vorerst keine Rolle mehr zu spielen. Kasachstan dagegen, das unter der radioaktiven Kontaminierung erheblich geschädigt worden ist, strebt partiell eine Energiewende an. Das Neue ist, daß es gegenwärtig ein Abkommen zwischen der Russischen Föderation und der Republik Kasachstan gibt, das die gemeinsame Nutzung der Atominstallationen auf Semipalatinsk für die Weiterführung von Forschungen vorsieht. Außerdem ist die Einrichtung einer russischen Langzeitbasis gemeinsam mit Kasachstan auf Semipalatinsk und darüber hinaus die umfassende Lagerung von russischem und ausländischem Atommüll in den bereits hochkontaminierten Regionen Kasachstans geplant.

Für die frühere UdSSR war die zweitgrößte Republik Kasachstan nicht nur einer der größten Rohstofflieferanten, sie diente Rußland vor allem als der wichtigste Ort, um den gesamten Atomzyklus der Rüstungsindustrie, der in russischen Labors erdacht worden war, zu testen. Die verheerenden Folgen der radioaktiven Verseuchung auf die Bevölkerung wurden im Rahmen der Verteidigungsstrategie nicht in Betracht gezogen. Die Menschen sind weder gewarnt noch umgesiedelt, allenfalls als „Bioobjekt“ betrachtet worden. Seit dem Zerfall der UdSSR und der Souveränitätserklärung vieler Staaten verfolgen Rußland und Kasachstan eine scheinbar unterschiedliche Politik. Kasachstan, das als erste Maßnahme seit Erklärung seiner Unabhängigkeit nach dem Putsch am 31. August 1991 das Atomtestgelände Semipalatinsk schließen ließ und damit auf den Protest der Bevölkerung reagiert hat, versucht seitdem, sein atomares Erbe hinter sich zu lassen, die kranken Menschen zu heilen und den Boden und die Gewässer, die ebenfalls kontaminiert sind, zu rekultivieren. Die Russische Föderation scheint in der Politik gegenwärtig andere Wege zu gehen. Am 26. März dieses Jahres unterschrieb der Russische Vizepremier Jewgenij Gajdar eine Anordnung über die Weiterführung der Projektierungs-und Bauarbeiten an zwölf Atomkraftwerken (AKW). Im nachhinein ließ er sich für dieses Programm vom Finanzminister allein für das verflossene Quartal rund 800 Mio. Rubel überweisen. Kurz darauf folgte die Nachricht, daß die Russische Regierung im Juli/August der Rüstungsindustrie zusätzliche Mittel im Wert von umgerechnet 95 Mio. DM genehmigt hat, damit sie Waffenkäufe und Lohnzahlungen für das Militärpersonal bestreiten kann. Der neue, veränderte Trend führte dazu, daß der ökologische Berater des Präsidenten Jelzin, Alexej Jablokow, innerhalb der Regierung seinen Einfluß zugunsten neuer Männer aus dem technologisch orientierten Bereich abgeben mußte. Auch die Vorbereitung des Atomtestgebietes auf „Novaja Semlja“ weist auf die neue riskante Wende hin.

I., Der Westen zögert, und Rußland baut Reaktoren

Es geht mit dem Betrieb in der GUS weiter wie bisher, und Alternativen werden nicht erwogen.

Die Atomlobby unter der Leitung des russischen Atomingenieurwesens hat Interesse daran, die laufenden AKW weiterzubetreiben, die im Bau befindlichen fertigzustellen und das Atomprogramm in zwei Stufen (von 1990 bis 2000 und von 2000 bis 2010) auf neue Reaktorlinien auszuweiten. Damit behält sich die Russische Föderation den Zugriff auf alle Stationen des atomaren Brennstoffkreislaufes vor, von der Uranerzgewinnung bis zum Atommüll, einschließlich der Einbeziehung des Waffenplutoniums in den Brennstoffkreislauf. Kasachstan ist hierbei wiederum eine wesentliche Rolle zugedacht worden. Rußland denkt dabei sowohl an die Erweiterung des zwischenstaatlichen Marktes innerhalb der GUS als auch an den Zutritt zum Weltmarkt. Lieferungen mittlerer Reaktor-typen (WWER 440, 500, 600) sollen an den Iran gehen, große Reaktoren (WWER 1000) an die Volksrepublik China geliefert werden. Finnland und andere Staaten sind bereits in die Planung einbezogen, und über die russische Lieferung von fünf AKW an Kasachstan wurde bereits eine grundlegende Entscheidung getroffen.

Westliche Empfehlungen zur Nachrüstung einiger russischer AKW-Typen werden nunmehr als unlautere Konkurrenz abgelehnt. Rußland drängt auf den internationalen Markt für Kernmaterial, um über Deviseneinnahmen im Rahmen der internationalen Integration zu bestehen und letztlich den Ausbau der Nuklearenergie forcieren zu können.

In diesem Falle haben die G-7-Staaten die Chance vertan, entscheidende Schritte in die richtige Richtung zu gehen und die Finanzierung bereits bestehender ökologisch sicherer alternativer Energie-wende-Projekte zu unterstützen. Wären derartige Maßnahmen im Sinne von Projekten „Hilfe zur Selbsthilfe“ 1991 begonnen worden, hätte man bereits im Frühjahr 1994 die Wärme-und Stromversorgung einschließlich umfangreicher Energiesparmaßnahmen sichern können. Für 700 Mio. US-Dollar könnten alle AKW der Ex-UdSSR ersetzt werden; zum Beispiel durch kombinierte Gas-Dampfturbinenwerke, die maximal 1500 DM pro installierter Kilowattstunde (KWh) Leistung kosten würden, (das wäre nur ein Drittel der Summe für ein AKW). Sie hätten eine Bauzeit von maximal zwei bis drei Jahren, wenn sie mit einheimischen russischen Turbinen bestückt würden. Der Bau der traditionellen AKW dauert dagegen 12-15 Jahre und ist für die Volkswirtschaft damit in der gegenwärtigen Energiekrise kaum hilfreich.Die Weltbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung hätten die alternativen Projekte gemäß ihren Statuten unterstützen und damit eine schnelle Investition in die ökologisch sichere Entwicklung der Region und eines Zweiges der Volkswirtschaft der GUS bestreiten können.

Die Zeitbombe tickt weiter in der krisengeschüttelten Region. Selbst bei einer westlichen Nachrüstung würde sich die Sicherheit der russischen AKW nicht entscheidend verbessern lassen, da für die Gefahr eines GAUs nicht so sehr die technologische Ausrüstung, sondern -wie der russische Wissenschaftler Alexej Jablokow immer wieder warnt -zu 70 Prozent das schlecht ausgebildete und mangelhaft motivierte Personal der Anlagen verantwortlich zu machen ist. Die Beschäftigten der AKW haben beispielsweise monatelang keinen Lohn erhalten, weil die industriellen Stromabnehmer bei der Nuklearindustrie verschuldet sind. Zudem werden AKW immer mehr als Druckmittel in nationalen Auseinandersetzungen benutzt. Kürzlich drohte der Tschetschenen-General Dudajew mit terroristischen Anschlägen auf bestehende AKW und ließ damit die Gefährdung der Anlagen von außen nochmals deutlich werden.

II. Die Lage in Kasachstan

Wie verhält sich das souveräne Kasachstan zu der Tatsache, daß auf seinem Territorium -in Semipalatinsk, Westkasachstan, Alma-Ata, Tschimkent und Dshezkazgan -AKW gebaut werden sollen? Die Mehrheit der kasachischen Bevölkerung ist nach der Erfahrung mit dem geborstenen Tschernobyl-Reaktor, und mehr noch durch die Erfahrungen mit den Folgen der Atomtests auf eigenem Boden, vehement gegen eine Ausweitung der Atomindustrie. Vorrangig erscheint für Kasachstan die energiepolitische Umorientierung. Im Jahre 1989 konnten bereits für 6, 2 Mio. Rubel Brennstoff und für 8, 7 Mio. Rubel Elektrizität eingespart werden. Ein wissenschaftliches Forschungsinstitut hat ein alternatives Energiekonzept für die Kustanaj-Turgaj-Region erarbeitet, das die ökologischen Gesichtspunkte in den Vordergrund rückt und von Stromlieferungen aus Gas-DampfTurbinen, Dieselkraftwerken, kleinen Heizkraftwerken, Windaggregaten und Sonnenkollektoren ausgeht. Nach Berechnungen von Wissenschaftlern könnten Windaggregate, die es im früheren Rußland überall gab, 14 Mio. KWh in die Aral-region liefern. Mittels Sonnenenergie würde in Mittelasien auf einer Fläche von 70 mal 70 km Strom (adäquat der Leistung von 600 Mio. Tonnen Erdöl) produziert. Man muß berücksichtigen, daß alle diese alternativen Forschungen in den Jahren des Totalitarismus stagnierten, da die Ministerien nur an der Durchführung von aufwendigen und kostenintensiven Wasserkraftwerken in der Art von „Hydroprojekt“ interessiert waren.

Gegenwärtig erhält Kasachstan auch aus den USA Hilfe. Am 31. August 1992 wurde in Alma-Ata ein „Memorandum über die Zusammenarbeit auf dem Energiesektor“ unterzeichnet. Eine Delegation hat die industriellen Brennpunkte besucht und mit einem neuen Energiekonzept auf der Basis von Privatisierung, Gesetzgebung und Energieeinsparung einen Marshallplan für diesen Zweig der kasachischen Ökonomie in Gang gesetzt. Vielleicht gelingt es der Republik, sich von den Strom-lieferungen aus Rußland und Turkmenistan freizumachen?

Die Haltung von Vertretern der kasachischen Regierung scheint allerdings ambivalent zu sein. Der frühere Parteichef Kunajew schreibt in seinen Memoiren darüber, wie er sich in den letzten Jahren immer wieder erfolgreich gegen die von der russischen Regierung seinem Land angedienten AKW zu wehren wußte. Heute scheint es, daß einige Vertreter der kasachischen Regierung, wie z. B.der Minister für Außenwirtschaftsbeziehungen, R. Dienbajew, zwar keine unsicheren russischen Reaktoren wollen, die westlichen jedoch durchaus ins Kalkül ziehen. Der Minister äußerte vor dem Staatsbesuch in Frankreich im September dieses Jahres: „Wir erstreben eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kosmosforschung. Möglich wäre auch der Bau von AKW, woran die Akademie der Wissenschaften besonders interessiert ist.“

Dennoch gilt es, noch einmal nachzuvollziehen, wieso Kasachstan auf die diversen AKW-Angebote verhalten reagiert, obwohl sich die Verhandlungen in Bischkek an einer erneut verstärkten Zusammenarbeit einiger GUS-Staaten orientiert haben. Es liegt am atomaren Erbe.

III. Das atomare Erbe

Unter sowjetischer Herrschaft ist Kasachstan zu einem einzigen ökologischen Katastrophengebiet verkommen. Präsident Nursultan Nasarbajew wiederholte 1991 in seinem Wahlkampf immer wieder: „Indem sie vorgingen wie der Elefant im Porzellanladen, haben die Moskauer Ministerien den Aral vernichtet, die goldene Steppe von Ekibastus zugeschüttet. Das Erdöl kam nicht denjenigen zugute, die es gefördert haben. Um Atomtest­gelände zu errichten, wurden die besten Ländereien der Hirten zweckentfremdet. Von einer Kompensation ist nie die Rede gewesen.“

Kasachstan ist die einzige Republik, in der der militärische Komplex der UdSSR sein Programm eines geschlossenen atomaren Zyklus erreicht und bis heute seine ökonomische und politische Kontrolle über ein „Ausland“ behalten hat. Der Konzern „Wolkowgeologija“ befaßt sich mit der Projektierung von Uranlagerstätten bis hin zur Errichtung von Rüstungsbetrieben. Nur in Kasachstan wurde mit dem Firmensignet „Stepgeologija“ die Förderung und Bearbeitung von spaltbarem Material und die Erprobung aller Arten von Bomben und Raketen vorgenommen. Das Land ist in 40 Jahren in eine einzige große Atomproduktionsstätte verwandelt worden, und die Perestrojka und Rüstungskonversion haben nichts daran geändert. Beide Konzerne beherrschen einen Großteil der industriellen Struktur Kasachstans und haben damit weite Gebiete unter ihrer Kontrolle. Zwar wurde durch den Minister für Ökologie und Bioressourcen Kasachstans die Erfassung und Begutachtung der radioökologischen Messung aller großen Objekte, die die Quellen für die radioaktive Verseuchung ausmachen, in Gang gesetzt. Der Einfluß der industriellen Lobby ist aber so groß, daß der Auftrag an die Vereinigung „Wolkowgeologija“ gegeben wurde und damit der Bock zum Gärtner gemacht worden ist.

IV. Das Uranimperium

Das Uranimperium gehörte zu den bestgehüteten Geheimnissen und lieferte 40 Prozent von der Ex-UdSSR benötigten Urans. Das Moskauer Ministerium für mittleren Maschinenbau verfügte über Hunderte von mittleren und großen uranverarbeitenden Komplexen. Bis zum Jahre 1946 lag die Uranförderung vorwiegend in Tadshikistan; nach 1947 schossen aber an mehreren Stellen Mittel-asiens, vor allem begünstigt durch die billige Häftlingsarbeit, Atomzentren aus dem Boden. Mitte der fünfziger Jahre gab es bereits das Kirgisische Bergbau-Metallurgie-Kombinat (nach seiner Rekonstruktion umbenannt in „Jushpolymetall“) im Ort Kara-Balta (das Tschujsker Gebiet von Kyrgystan). Die Hinterlassenschaft sieht wie folgt aus:

1. im Dshambulsker Gebiet radioaktive Abfälle von 54 Mio. Tonnen mit einer Radioaktivität von 9 000 Curie auf 190 Hektar,

2. im Dshezkazgansker Gebiet 57 Mio. Tonnen mit 7 600 Curie auf 25 Hektar,

3. im Tschimkentsker Gebiet 2 Mio. m 3 flüssige radioaktive Abfälle mit jeweils neun Curie und

4. im Ksyl-Ordinsker Gebiet 3 Mio. m 3 mit jeweils 21 Curie Aktivität.

In diesem Fall wird deutlich, daß bereits in den fünfziger Jahren das Schwergewicht der Uranförderung von Kirgisien nach Kasachstan verlagert wurde, weil in den Steppen Zentralkasachstans und auf der Halbinsel Mangyschlak gewaltige Uranvorkommen (vor allem in Kombination mit Phosphor und Molybdän) gefunden wurden, wie sie die Atomindustrie in erhöhtem Maße benötigte. 1955 entstand das Belogorsker Anreicherungskombinat, das sich besonders auf seltene Metalle spezialisierte.

Im Jahre 1960 begann man mit dem Bau des zweiten Anreicherungskombinats von Stepnogorsk, auch Bergbau-Chemisches Kombinat genannt. 1964 war schon eine Satellitenstadt für das Personal fertiggestellt worden, und ab 1971 wurde in der Stadt gleichzeitig die für die Uranförderung benötigte Schwefelsäure produziert. Uran kam aus den Minen von Saozemyj, Koktschetaw und Schan-Tobe. Die Stadt mit nahezu 26000 Beschäftigten galt gleichzeitig als das Verwaltungszentrum für alle übrigen Uranbezirke. Stepnogorsk wie auch die Städte Kurtschatow, Leninsk und Priozersk sind dabei sogenannte Geheimstädte, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind.

Die dritte Etappe am Ende der sechziger Jahre führte zur Ausbeutung der Uranvorkommen der Halbinsel Mangyschlak (heute: Mangystau), die sich als äußerst ergiebig erwiesen. Sie führten zur Gründung des großen Prikaspisker Bergbau-Metallurgischen Kombinats. 1959 war hier für die Beschäftigten der Verteidigungsindustrie die Stadt Schewtschenko (heute Aktau) aus dem Boden gestampft worden. Für die Trinkwasserversorgung erhielt sie einen eigenen „Schnellen Brüter“ (BN350) zur Meerwasserentsalzung. Als der Reaktor 1973 in Betrieb genommen wurde, konnte die Bevölkerung binnen kurzem auf 180000 Arbeiter anwachsen. Alle radioaktiven Abfälle aus der umfangreichen Produktionskette rund um die Stadt betragen 68 Mio. Tonnen auf 7500 Hektar. Sie werden vorzugsweise in den kilometerlangen Giftmüllsee Koschgar-Ata im Einzugsbereich der Stadt „entsorgt“, der sich bei weiterem Absinken des Kaspischen Meeres dahinein ergießen kann.

In den siebziger Jahren entstanden in Dshambul und im Tschimkentsker Gebiet, in Dshezkazgan und Karshala weitere Urandörfer. Bei Navoj, im Gebiet Tschiili in der Nähe von Ksyl-Orda, wurden Bergwerke mit besonders intensiven Auslau­ gungsverfahren angelegt. Das Rohuran wurde anschließend in das Navojsker Kombinat in Usbekistan versandt. Mehr als 5 Mio. m 3 Schwefel-und Salpetersäure sind im Erdboden verblieben und können sich durch tektonische Verschiebungen in den Aral absetzen.

Die wichtigste Verarbeitungsstufe für die Urananreicherung lag jedoch in Ost-Kasachstan in der Stadt Ust'Kamenogorsk im Ulbinsker Metallurgie-kombinat. Bis 1991 produzierte das Ulbinsker Kombinat Kernmaterial für Bomben und atomare Brennelemente. In einer zweiten Produktionslinie wurde Beryllium als Zusatz zum Atombrennstoff und für die Ummantelung von Atombomben hergestellt. Der größte bekanntgewordene Unfall geschah am 12. September 1990, als im Kombinat eine große Menge metallischen Dispersionsmaterials freigesetzt wurde. Die Informationen über die radioaktive Belastung schwanken erheblich; die Menge des anteiligen Berylliums wurde mit einer Größenordnung von 40 kg bis 100 Tonnen angegeben. Nach dem Unfall war eine Kommission der IAEO aus Wien gemeinsam mit Experten aus dem Obersten Sowjet Kasachstans acht Monate lang mit der Untersuchung befaßt. Obwohl kein offizieller Bericht veröffentlicht wurde, ließ Nasarbajew 1992 die ganze Stadt zum ökologischen Katastrophengebiet erklären. Zeitungen berichten, daß die Erblast in der einmal von 15000 Arbeitern hochgelobten Stadt „Atomgrad“ etwa „vier Tschernobyl“ beträgt. Dessenungeachtet plant hier die japanische Firma „Honda“ ab 1994 ein Autowerk mit einem Jahresausstoß von 270000 Pkw zu eröffnen, vermutlich um das brachliegende Arbeitskräftepotential zu nutzen.

Der Höhepunkt der Uranförderung wurde Mitte der achtziger Jahre erreicht. 30 Schachtanlagen und Tagebaue waren in Betrieb mit einer Zahl von rund 90000 Beschäftigten. Die Planung sah vor, bis zum Jahre 1995 innerhalb des Zelina-Urananreicherungs-Kombinats die Produktion um das Anderthalb-bis Zweifache zu steigern. Nach der Auflösung der UdSSR traf die „Konversion“ besonders hart die Uranproduktion. Sie wurde im Jahre 1991 radikal um 63 Prozent gesenkt und soll bis 1995 nur noch fünf bis zehn Prozent der Produktionslinie umfassen. Auch das Priskaspiisker Kombinat ist durch die Konversion betroffen worden, die Produktionsanlagen für die Urananreicherung wurden auf 30 Prozent heruntergefahren. 2000 Mitarbeiter mußten entlassen werden. Ein Teil der Produktion wurde auf Mineraldünger, Skandium und Zahnpasta umgestellt (ein Jointventure mit einer italienischen Firma zur Produktion von jährlich 260 Mio. Tuben Zahnpasta).

V. Das Semipalatinsker Testgelände

Auf einem Areal von 18000 qkm wurden 467 ober-und unterirdische Tests mit Atombomben und der Wasserstoffbombe durchgeführt, und die Bevölkerung von ca. 1, 3 Mio. Menschen ist mehrfach durch radioaktiven Ausfall bedeckt worden. In den Jahren 1949-1956 wurde die für die Anwohner der Downwind-Gemeinden zuträgliche Dosis von 50 Ber pro Jahr festgelegt, also 100 mal über dem internationalen Grenzwert. Es gab jedoch keine Sorge um die in diesen Regionen lebenden Hirten. Sie wurden nicht evakuiert, allenfalls als „Bioobjekte“ für die Auswirkung der Strahlenteste auf ihre Gesundheit beobachtet. Ihre Immunität hat sich drastisch verringert, die Sterberate um 40 Prozent erhöht. Die Information über den radioökologischen Zustand des Terrains ist immer noch in den Händen der Militärs, obwohl 1992 die Offenlegung der Daten vom kasachischen Präsidenten verfügt wurde. Gegenwärtig siedeln sich große Mengen von Reemigranten aus China und der Mongolei im Semipalatinsker Rajon an. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Militärs auch an ihnen die Effekte der Radioaktivität messen werden.

Neben Semipalatinsk hat es weitere Testgebiete gegeben: Sary-Schagan (bei der Stadt Priozersk), wo Ende der fünfziger Jahre Experimente zur Raketenabwehr stattfanden. Ferner die sogenannte „Südliche Seismische Expedition“ auf dem Gebiet von Azgir, wo 17 Atomexplosionen mit einer Stärke bis zu 70 Kilotonnen durchgeführt wurden. In der Nahrungskette am Ort findet sich Strontium, Caesium und Plutonium, vor allem deshalb, weil die Tests in ungeeigneten Salzkuppeln durchgeführt wurden. Die unterirdisch gesprengten Kavernen füllen sich mit Wasser, womit die Radionuklide unterirdisch weit migrieren können. Caesium ist an der Bodenoberfläche bis zu einem 17fach überhöhten Wert vorhanden. Die medizinische Untersuchung der Bevölkerung der Azgir-Zone in der Nähe von Atyrau hat ergeben, daß die Zahl der Erkankungen und Todesfälle 2-3, 5 mal den Regionaldurchschnitt übertreffen. Die Zunahme an Krebserkrankungen, vor allem Leukämie, ist erheblich, und 95 Prozent der Kinder leiden unter schwerer Anämie. In vieler Hinsicht ist der Gesundheitszustand der Bewohner hier wesentlich schlechter als bei den in der Tschernobyl-Gefahrenzone Verbliebenen. Bisher sind als Testgebiete bekannt geworden:

1. Das Uralsker Gebiet mit dem Raketentestgelände „Kapustin Jar“, das 1952 eingerichtet wurde. Die kasachische Bevölkerung wurde da­ mals ausgesiedelt und eine Militärstadt errichtet, unter deren Müllhalde sich der alte Friedhof der Kasachen „Torgaj“ befindet.

2. Das Atyrau-Gebiet, früher Guijew, mit dem 1952 angelegten „Azgir“. Auch hier wurden die Kasachen ausgesiedelt. Zehn Jahren lang wurde das Gelände für jede Art von Sprengungen genutzt, obwohl sich daneben das Mausoleum „Kurmangazy“ befindet. Das Terrain war gleichzeitig auch Übungsplatz für die Militärflieger der Truppen des Warschauer Vertrages. Ein weiteres Testgebiet für Raketen, „Tajsajgan“ befand sich beim Mausoleum von Utemisow.

3. Das Aktjubinsker Gebiet. Hier lag „Emba 5“, das gewaltige Atomraketentestgelände, von dem aus die in Kapustin Jar gestarteten Raketen im Fluge vernichtet werden sollten. Das Geschoß verfehlte oft seine Bahn und schlug in besiedelte Viertel ein. Die Kinder sammelten die Raketenreste in der Steppe auf, um sie zu verkaufen, auch wenn ihnen danach die Haare ausfielen. Gleichzeitig stellte „Emba 5“ auch ein chemisch-bakteriologisches Testgebiet dar.

4. Das Mangystau-Gebiet. Die radioaktiven Abfälle im See Koschkar-Ata befinden sich direkt neben einer bedeutenden Begräbnisstätte gleichen Namens aus dem 9. -10. Jahrhundert. Im Zentrum des Gebietes neben der Begräbnis-stätte Beket-Ara wurden in den siebziger Jahren drei unterirdische Atomtests durchgeführt. Am Nordufer der Halbinsel befindet sich das Militärtestgebiet für Seestreitkräfte. 1990 wurde auf dem Ust-Just-Plateau noch eine Atombombe gezündet, bei der eine große Menge der dort beheimateten Antilopen um-kam.

5. Das Ksyl-Orda-Gebiet mit dem Testgelände „Aralsk 5“, der „Insel der Wiedergeburt“, für chemische und bakteriologische Waffentests sowie das Raketentestgelände für Kosmosflüge Bajkonur, das in der Nähe von Leninsk bei einem Heiligtum der Turkvölker, dem Grab von Korkut-Baba, eingerichtet wurde.

6. Das Dshezkazgansker Gebiet zwischen dem Südteil des Aralmeeres und dem Balchasch-See. Es ist ein einziges großes Testgebiet von 1000 km Länge.

7. Tschimkent. Zu beiden Seiten des Gebirgszuges Karatau im Ksylkum Gebiet wurden Atomversuche gemacht. Auch hier befindet sich in direkter Nähe der Komplex der Wallfahrtsorte von Turkestan mit einer großen Anzahl von nationalen Heiligtümern.

8. Das Turgajsker Gebiet (an der Grenze zu Kustanaj) für sogenannte „friedliche“ Tests.

9. Die Taldy-Kurgan-Region. Hier befindet sich das Sary-Oseksker Testgebiet zur Vernichtung von Atomraketen.

In den 19 Gebieten Kasachstans haben sich zwölf offizielle und sieben inoffizielle Testgebiete befunden. In dem gesamten Gebiet, in dem die Tests durchgeführt wurden, leben immer noch 75 Prozent der Bevölkerung, die gesundheitlich erheblich geschädigt wurden. Wie aber aus der vorigen Aufzählung deutlich wird, haben sich nicht nur im Semipalatinsker Testgebiet, beim Grab des National-dichters Abaj, sondern auch in allen anderen Regionen nationale Heiligtümer der Kasachen befunden, zu denen ihnen der Zugang verwehrt wurde, nachdem die Militärs sich wie „Außerirdische“ darauf niedergelassen hatten.

Das kasachische Nationalgefühl und ihre Würde ist dadurch in hohem Maße verletzt worden, und nicht zuletzt hat Tschingis Ajtmatows Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“, in dem dieses Problem thematisiert wird, seit 1980 seine unterschwellige Wirkung in Kasachstan gezeigt.

Seitens der UdSSR wurden in die Atomsprengungen für sogenannte „friedliche Zwecke“ große Erwartungen gesetzt, und die Unternehmen begannen hemmungslos zu experimentieren, ohne an die Verseuchungsfolgen zu denken. Für zivile Zwecke wurden in 24 Jahren auf der Linie Arkalyk-Dshezkazgan-Tschimkent bis nach Aktjubinsk rund 115 Atomsprengungen durchgeführt. Sie dienten der Erschließung der Uranvorkommen und der Bestimmung der Salzschicht in der Kaspi-Region. Militärische Tests dagegen fanden im Gurjew-Gebiet (Azgir) zur Erschließung eines neuen Testgeländes statt; allerdings erwies sich das Terrain als nicht geeignet, als nach der Explosion zu starke Gasaustritte vorkamen. Atomsprengungen wurden zur Erweiterung versiegender Erdölquellen, zur Verkleinerung von Kohleflözen und zwecks Anlegung von Kavernen zur Lagerung von toxischen Industrieabfällen durchgeführt.

Im Jahre 1965 fand nach einer Vorbereitungsphase von zwei Jahren auf Semipalatinsk eine „friedliche“ Sprengung mit gewaltigem Effekt statt. In der Tiefe von 50 Metern sollte bewiesen werden, daß das ehrgeizige Projekt der Umleitung eines Teils der sibirischen Flüsse nach Mittelasien durch Atomsprengungen kostengünstig bewältigt werden könnte. Das Experiment brachte gewaltige Erdaufwerfungen zustande und einen „Atomsee“ von einem halben Kilometer Durchmesser. Es war aber nicht der einzige Versuch dieser Art. Atomsprengungen zu geologischen Erkundungszwecken fanden bis ins ferne Jakutien hinein statt. Was wäre passiert, wenn dieser Versuch zur Durchführung des Jahrhundertprojekts günstig ausgefallen wäre? Wer ist der Initiator dieser Wahnsinnsidee gewesen? Die Schuldigen werden wohl nie zur Verantwortung gezogen werden können.

VI. Weltraumbahnhof Bajkonur

Auch das Startgelände für sowjetische Raumfahrt-unternehmen befindet sich auf kasachischem Boden. In der Nähe von Ksyl-Ordinsk umfaßt es 6717 qkm und nochmals eine größere Fläche von 46010 qkm für die herabfallenden Raketentrümmer. Das Versorgungszentrum befindet sich in der Stadt Leninsk (90000 Einwohner), der eigentliche Startkomplex Tjuratam mit 82 Startplätzen dagegen 230 km südöstlich von Bajkonur. Auch hier wieder das typische Verwirrspiel mit geographischen Fakten, durch das man den militärischen „Gegner“ zu täuschen glaubte.

Das Kosmodrom untersteht dem Verteidigungsministerium der GUS (früher UdSSR). Das hochqualifizierte Personal besteht wie bei allen prestigeträchtigen Militäreinrichtungen praktisch nur aus Russen. Zu den Aufgaben gehörte der Start von Forschungssatelliten und interplanetaren Raumstationen, ballistischer Raketen und schwerer Spionagesatelliten. Das Kosmodrom brauchte dafür jährlich 600 Mio. KWh an Strom. Allein der Wasserverbrauch, der aus artesischen Brunnen bestritten werden muß, wo in der gesamten Aral-region das Wasser zur absoluten Mangelware zählt, beträgt pro Tag 16000 m 3.

Als Nasarbajew am 31. August 1991 auch das Kosmodrom unter die Verfügung der Kasachischen Republik stellte, wurden alle Militär-und Industrieeinrichtungen aus Moskau, Leningrad, Minsk und Dnepropetrowsk, die hier ihre Dependancen unterhielten, überrascht und begannen sofort, Teile ihrer Ausrüstungen über die beiden Militärflughäfen und die Eisenbahn abzutransportieren. Heute ist die Zukunft des „Sternenstädtchens“ mehr als ungewiß, es kann nur unter die kollektive Nutzung der Vereinigten GUS-Streitkräfte gestellt werden. Der nächste Kosmonaut, Nr. 158, hat allerdings kaum noch eine Chance, jemals zu starten. Die Weltraumstation „Mir“ befindet sich in schlechtem technologischem Zustand, der Shuttle „Butan“ wird nie mehr starten, und auch die beiden Vorgänger des Kosmonauten, Krikaljow und Aubakirow, sind wegen katastrophaler Gesundheitsschäden (nach ihrer Weltraumfahrt) bereits ausgeschieden. Letzterer wurde zumindest zum stellvertretenden Verteidigungsminister ernannt.

VII. „Insel der Wiedergeburt“

Während die radioaktive Hintergrundstrahlung auf den Startkomplexen von Bajkonur 3 000 Curie betragen soll, hat man in der Stadt Aralsk im Januar 1992 eine Radioaktivität von zwei Ber pro Tag gemessen. Die Aralinseln waren ebenfalls alleiniges Eigentum des Verteidigungsministeriums der UdSSR und seiner 6. KGB-Abteilung. Die Administration war in Aralsk ansässig, getestet wurde auf den Inseln. Einheimische hatten sich immer wieder über die Wolken gelben und schwarzen Rauchs beschwert, die von den Aral-inseln auszugehen schienen. Seit dem Jahre 1952 waren die Einwohner verpflichtet, den Militärs Esel und Haustiere für bakteriologische Versuche zu überlassen. 1976 kam es zu einem rätselhaften Massensterben unter den Fischen. Im Jahre 1989 hing so schwerer Rauch über der Turgajsteppe, daß innerhalb einer Stunde eine halbe Million Sajgaantilopen den Tod fand. Die Körper wurden mit Hilfe von Bulldozern zugeschüttet und der ganze Vorfall geheimgehalten. Ende des Jahres 1991 teilte die Presse endlich nach hartnäckigen Anfragen der Deputierten im Parlament mit, daß sich auf den Aralinseln in der Tat Labors für mikrobiologische Forschungen befänden, die sich der Erprobung von Abwehrstoffen gegen biologische Waffen widmen würden.

Am 7. März dieses Jahres wurden die Labors eilig aufgelöst und eine ganze Karawane aus der Militärabteilung 25484 bei dem Versuch gestoppt, große Traktoren, Benzintanks und Ausrüstungsgegenstände aus dem Institut für Mikrobiologie von den Aralinseln nach Rußland zu schaffen.

VIII. Atomreaktoren in Aktion

Der Widerstand, der in breiten Kreisen der kasachischen Intelligenz gegen den Bau von AKW in ihrer Heimat besteht, hängt vor allem auch mit ihren Erfahrungen zusammen: Kasachstan hat zwar nicht über AKW zur Stromerzeugung verfügt, wohl aber im Zuge des Atomprogramms über Forschungsreaktoren, und Atomunfälle hat es auch in Kasachstan gegeben; sie wurden aber verschwiegen.Im Jahre 1974, ein Jahr nach der Inbetriebnahme des schnellen Brüters (BN 350) zur Meerwasserentsalzung für Schewtschenko, kam es zu einem Natriumbrand durch ein Leck im Rohrsystem des Dampfgenerators. Jahrelang wurde es notdürftig geflickt, und der Reaktor soll mit reduzierter Leistung (65 Prozent) noch bis zum Jahre 2008 trotz der Sicherheitsmängel in Betrieb bleiben.

In der Nähe von Alma-Ata befindet sich beim Institut für Atomphysik ebenfalls ein Forschungsreaktor. Bei einer Betriebsauslegung auf dreißig Jahre war der Reaktor bereits 27 Jahre in Funktion. Wegen Störanfälligkeit wurde er abgeschaltet. Die Akademie der Wissenschaften von Kasachstan will ihn in diesem Jahr wieder reaktivieren. Die Einheimischen wehren sich vehement gegen diesen Vorschlag, da sie bereits 100 ha fruchtbarsten Schwemmlandes für die Lagerung der atomaren Abfälle des Instituts opfern mußten. Der Reaktor wurde in einer seismisch aktiven Zone, in der Erdbeben bis zur Stärke zehn Vorkommen, angelegt und obendrein nur einen Kilometer vom wichtigsten Trinkwasserreservoir der Hauptstadt entfernt. Sogar im 13 km entfernten Balchasch-See wurde das aus dem Reaktor stammende Caesium-137 von japanischen Wissenschaftlern in gefährlich hohen Dosen entdeckt. Die Vereinigung der Kriegsveteranen der Stadt Alma-Ata hat deshalb die Bevölkerung „einmütig dazu aufgerufen, die Wiederinbetriebnahme des Reaktors und die geplante Erweiterung des Atommüllagers zu verhindern“.

Alma-Ata ist auch sonst hochbelastet, nicht allein durch die ohne Filter arbeitenden Industrieanlagen. Seit 1964 liegt es direkt unter der Downwind-Einwirkung der chinesischen Atomtests auf Lobnor. Professor Tschasnikow von der Bewegung „Nevada-Semipalatinsk“ und Hochschullehrer der Universität von Alma-Ata sieht einen direkten Zusammenhang zwischen Atomtests und Krebs-erkrankungen in Alma-Ata. In den Jahren 1970-1989 haben sich die Krebserkrankungen um das Dreißigfache erhöht. Die Sterberate ist um das Dreifache gestiegen und damit die höchste in ganz Kasachstan. In der angrenzenden Issyk-Region sind 50-70 Prozent der Bevölkerung an Krebs der inneren Organe erkrankt, 30-60 Prozent der Kinder haben Leukämie. In der Tschilik-Region um Alma-Ata sterben 60 Prozent der Neugeborenen noch innerhalb des ersten Lebensjahres an Krebs. Aus diesem Grunde sind von Hunderttausenden der Arbeiter und Schüler Unterschriften gegen die Weiterführung der chinesischen Atomtests gesammelt worden.

Trotz aller Proteste hat die Regierung das Institut für Atomphysik mit seinem Reaktor ohne öffentliche Diskussion in das kasachische Atomenergie-programm miteinbezogen. Der UNO-Beauftragte, der Wissenschaftler Bajtulin, verlangt deshalb die Offenlegung aller vorgesehenen Atomprojekte und ein entsprechendes Moratorium.

Die Geheimpolitik des militärischen Komplexes hat auch verhindert, daß etwas von der Existenz weiterer drei Forschungsreaktoren unterhalb der Wissenschaftlerstadt Kurtschatow, auf dem Semipalatinsker Testgebiet, bekannt wurde. Die unterirdische Stadt, in der die Wissenschaftler arbeiten, hat alles zum Leben Notwendige und ist sogar für das Überleben nach einem Atomschlag ausgerüstet. Sie arbeitet unentwegt an ihren Projekten. Betrieben wurden sie von der militärisch bedeutenden Moskauer Institution „Lutsch“ (Lichtstrahl). Diese Institution besteht bereits seit 1961. Vertraglich ist sie ebenfalls dem Nationalen Atom-zentrum Kasachstans zugeordnet. Zur hochkarätigen Militärforschung gehören auch die drei Reaktoren: IGR, der seit 1961 läuft, ein Impuls-Graphit-Reaktor, der dem „Abhärten“ elektronischer Systeme gegen Strahlenschäden dient. Der zweite Reaktor, IM, ist als Leichtwasserreaktor seit 1975 in Betrieb, und der letzte Typ, RA, .seit 1987 in Betrieb, ist ein in der Welt bislang nur in diesem Modell existierender Hochtemperaturreaktor, der die Antriebsaggregate zum Flug auf den Mars in Gang setzen soll. Die amerikanischen Rüstungsfirmen „Aerojet“, „Babcook“ und „Westinghouse“ haben sich aufgrund seiner Qualität für diesen Reaktor interessiert, ohne sich bislang auf eine Beteiligung festzulegen.

IX. Dem Drachen wachsen neue Köpfe

Der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew hat am 31. August 1991 das Testgebiet von Semipalatinsk geschlossen. Nun soll es als Nationales Forschungszentrum weiterbetrieben werden, weil Kasachstan und die Russische Föderation am 9. Juni 1992 eine Verteidigungsgemeinschaft beschlossen haben.

Diesen Vereinbarungen war bereits Ende Mai der gemeinsame „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ vorausgegangen. Er wurde für den Zeitraum von 25 Jahren abgeschlossen. Beide Länder werden gemeinsam ihre Verteidigung organisieren, militärische Objekte nutzen und den Luft-und Weltraum über ihrem Gebiet kontrollieren. Die Priorität, die beide Länder dem Konsens beimessen, beruht auf demfast zahlengleichen Bevölkerungspotential von russischen Facharbeitern in Kasachstan, auf dem hohen Grad der wirtschaftlichen Integration und der langgestreckten gemeinsamen Grenze. Die Orientierung auf das ökonomische Potential und die Einführung westlicher Technologien läßt Kasachstan in den Augen Rußlands zu einem perspektivischen Partner werden. Rußland muß andererseits am Frieden mit den zehn Mio. Moslems in der eigenen Region und damit an stabilen Beziehungen zu den angrenzenden muslimischen Republiken interessiert sein, weil sich andernfalls diese Region als äußerst instabil, z. B. als ein Umschlagplatz für Kontrabande, Waffen und Rauschgift für die ganze GUS, erweisen könnte.

Auf dem Semipalatinsker Gelände laufen 1992 die „Forschungen“ weiter, die laut Vertrag der Erprobung der Militärtechnik dienen. Vorgesehen sind Versuche zur Schaffung von Atomwaffen mit erhöhtem Sicherheitsgrad, Erprobungen der Sicherheit von Atomsprengungen, Forschungen zur Festigkeit von Raketenaggregaten unter der Wirkung ionisierender Strahlung, großflächige Versuche zur Erprobung der Sicherheit von Beobachtungsstandorten für das höhere Militärpersonal, großflächige Versuche mit Hochsicherheitsanlagen in bezug auf ihre mechanische Festigkeit bei Atomversuchen, die mit traditioneller Militärtechnik geführt werden, Forschungen zur Verwendung der unterirdischen Stollen zur Lagerung von Industriemüll und zur Vernichtung der strategischen und Angriffswaffen, Forschungen zum Erhalt superfester Stoffe unter Nutzung von Raketensprengstoff und Experimente mit Sprengungen der Militärtechnik zur Kontrolle von Atomversuchen unter Einbeziehung der Erdbebenstation in Karakalinsk, Bajan-Aul und Karaus.

Ferner stehen Forschungen über die Wirkungen der Atomtests auf das ökologische Gleichgewicht des Semipalatinsker Gebiets im Rahmen des Programms „Region“ an. Dies sind Vorstellungen der „Forscher“, zu denen aber von der staatlichen ökologischen Kommission jeweils die Genehmigungen zu erteilen sind. Aber wo bleibt bei diesem Vorhaben die Kontrolle durch die Öffentlichkeit?

Die Verteidigungsministerien der Russischen Föderation und der Kasachischen Republik verpflichten sich, daß „die wissenschaftlichen Projekte der Verwirklichung gemeinsamer Verteidigungsprogramme“ dienen. Das Testgelände erhält eigene Truppenformationen, die in den Bestand des wissenschaftlichen Komplexes eingehen, die von beiden Verteidigungsministerien eingesetzt werden, wobei die Ernennung der Offiziere und der Fähnriche ausschließlich vom Verteidigungsministerium der Russischen Föderation (12. Hauptverwaltung) vorgenommen wird. Damit erhält Rußland auf seinem früheren kasachischen Kolonialgelände eine militärische Langzeitbasis Nr. 52605, die unter dem Kommando der Offiziere aus Rußland steht. Damit wird die Anordnung des kasachischen Präsidenten Nasarbajew zur Schließung des Semipalatinsker Testgeländes desavouiert.

Als neuer Aspekt kommt hinzu, daß in Kasachstan bereits so viel radioaktiver Müll aufgehäuft ist, daß es ernsthafte Überlegungen gibt, daraus ein Geschäft zu machen. Die Amerikaner bieten über die russische Vermittlung -so daß in erster Linie Ruß-land daran verdient -für die Einlagerung von einem Kilogramm radioaktivem Müll aus den USA bis zu 1200 US-Dollar. Die Südkoreaner legten ein Angebot über eine Mio. US-Dollar pro Tonne Atommüll vor und bieten an, ein weiteres Atommüllager zu finanzieren. Japan und Indien haben ebenfalls ihr Interesse signalisiert. Auch die Russen wollen offenbar in Kasachstan „entsorgen“. Jelzin hatte seinen Wählern versprochen, die hoch-belastete Region von Tscheljabinsk, die an radioaktivem Müll zu ersticken droht, innerhalb von drei Jahren zu räumen. Das wäre eine Aufgabe für 25-30 Jahre, denn die Atomlager „strahlen“ mit einer Radioaktivität von 1, 5 Mrd. Curie. Tschernobyl hat vergleichsweise bisher nur 50 Mio. Curie angesammelt.

Der Plan scheint eindeutig, in den aus früheren Atomsprengungen vorhandenen Kavernen im Gebiet Atyrau und Semipalatinsk, die erstaunlicherweise technisch genau die Maße für die Einlagerung der Müllkassetten aufweisen, allen Atommüll und obendrein die chemischen Waffen zu lagern.

Kasachstan hat in 40 Jahren einen überaus hohen Preis für die militärischen Ambitionen des totalitären Regimes bezahlt und muß weiter dafür zahlen. Heute wäre die Liquidierung der Folgen der Atomtests und der sozial-ökologische Schutz der dort lebenden Bevölkerung die vorrangige Aufgabe, die allerdings die ökologische Konversion der Verteidigungsobjekte und der Atomindustrie voraussetzen würde. Nach der Umweltkonferenz von Rio sollte für alle Länder allmählich das Prinzip des Überlebens der Zivilisation absolute Priorität vor militärischen Interessen haben. Die Macht-konstellationen innerhalb der GUS haben sich schneller verschoben, als der kasachische Präsident Nasarbajew, der 1991 Semipalatinsk schließen ließ, über einen ökologischen Status für dieses Atomtestgebiet nachzudenken in der Lage war.

Fussnoten

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Gundula Bahro, Dr. phil., geb. 1936; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Orient-Institut in Hamburg. Zahlreiche Publikationen zum Umweltschutz in der ehemaligen Sowjetunion.