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Die Osteuropaforschung, das Ende der Sowjetunion und die neuen Nationalstaaten | APuZ 52-53/1992 | bpb.de

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Die Osteuropaforschung, das Ende der Sowjetunion und die neuen Nationalstaaten

Gerhard Simon

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa und das Ende des Staates Sowjetunion sind Ereignisse von weltgeschichtlichem Rang. Die Osteuropaforschung ist nicht in der Lage gewesen, sie vorausschauend zu bedenken, weil sie jahrzehntelang ihr Augenmerk wesentlich auf die Stabilitätsfaktoren des Sowjetsystems gerichtet hatte. Die Frage nach der Krise oder gar einem möglichen Zusammenbruch des kommunistischen Systems war unzulässig. Ebenso wie die westliche Öffentlichkeit, hatte die Osteuropaforschung den Status quo in Europa als Selbstverständlichkeit verinnerlicht. Das Ende des Staates Sowjetunion war die Folge des Zusammenbruchs der KPdSU. Die Kommunistische Partei hatte die UdSSR als Nachfolgestaat des Russischen Reiches geschaffen, ohne sie gab es keinen Grund für das Fortbestehen des Vielvölkerimperiums. Es brach so rasch auseinander, weil sich seit Jahrzehnten eine politische Alternative zur Einparteiherrschaft formiert hatte: die Nationen. Sowjetische Nationalitäten-politik hatte durch ein Gemisch aus positiven Maßnahmen und Repressalien ungewollt zur Nationenbildung beigetragen. Die Nationalbewegungen haben sich zugleich mit ihrem Erfolg in jüngster Zeit in vielen Fällen in Richtung auf ethnokratische Tendenzen radikalisiert. In Rußland wächst der Revisionismus, der den Verlust des Imperiums nicht verkraftet. Diese wechselseitige Radikalisierung bedeutet eine erhebliche Gefahr für die politische Stabilität in der Zukunft. Auf der anderen Seite gibt es auch Beispiele für die Rückkehr der Nationalbewegungen zur Mäßigung. Die Wege zu einer liberalen Demokratie bleiben offen.

I. Eine Wissenschaft versagt

Die Osteuropawissenschaft hat versagt. Es gab seit Generationen keinen so tiefen Einschnitt in die historische Gestalt Osteuropas wie seit 1989. Die seitdem in Gang gekommenen Umwälzungen sind so weitreichend, daß bisher die Folgen schwer abzusehen sind und daß viele Zeitgenossen es vorziehen, der Konfrontation mit der veränderten Realität aus dem Wege zu gehen.

Der Vorwurf an die Wissenschaft ist ein anderer: Sie hat nicht nur den Umbruch nicht vorausgesehen, was vielleicht verzeihlich ist. Große Teile der Osteuropawissenschaft sind in den vergangenen Jahrzehnten damit beschäftigt gewesen, die Konsolidierung, Stabilität, Wandlungs-und Anpassungsfähigkeit sowie manchmal sogar die Vorbildlichkeit der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Osteuropa herauszuarbeiten. Die DDR-Forschung war teilweise eine Speerspitze dieser Art von Osteuropawissenschaft. Die Osteuropawissenschaft hat sich also nicht nur als unfähig erwiesen, das herannahende Ende des kommunistischen Systems zu erkennen, sie hat -jedenfalls in beträchtlichen Teilen ihrer wissenschaftlichen Bemühungen -Nachdruck und Augenmerk genau auf das Gegenteil von dem gelegt, was schließlich eintrat. Sie hat nicht nur keinen Beitrag zur Erkenntnis von Realität geleistet, sie hat sogar gezielt zur Verschleierung der Realität beigetragen. Die Osteuropawissenschaft hat in erheblichem Umfang auf die falsche Karte gesetzt. Dieser Sachverhalt wird auch dadurch nicht besser, daß er zur Zeit weitgehend verschwiegen wird. In Deutschland jedenfalls gibt es so gut wie keine Versuche, Rechenschaft abzulegen oder gar kritische Fragen an die eigene Zunft zu stellen. Wir werden dies sicherlich ähnlich wie nach 1945 als Aufgabe der nächsten Generation hinterlassen. Sie wird dann vermutlich um so radikaler mit uns ins Gericht gehen.

Die Osteuropawissenschaft war bis vor wenigen Jahren im großen und ganzen der Meinung, daß das sowjetische politische und gesellschaftliche System sicherlich manche Mängel aufweist; auch die abnehmende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit war nicht verborgen geblieben, und ebenso wurde viel davon gesprochen, daß die Ideologie des Marxismus-Leninismus ihre mobilisierende Wirkung verloren habe. Dennoch herrschte weitgehend Konsens dahingehend, das System werde weiter fortbestehen, ja es erfülle noch immer die Voraussetzungen, weiter Weltmacht zu spielen, und das wichtigste: die Menschen seien dort im großen und ganzen mit den Verhältnissen zufrieden, wenn aber nicht, so würden sie doch immer zufriedener. Weiter waren viele Wissenschaftler davon überzeugt, das kommunistische System sei seit Stalins Zeiten zunehmend toleranter und „liberaler“ geworden, und in dieser Richtung werde die Entwicklung auch weiter verlaufen. Es werde sozusagen einen weichen Übergang von der Einparteidiktatur zu einem Mehrparteiensystem geben, die KPdSU und die anderen regierenden kommunistischen Parteien befänden sich in einem Prozeß der Konstitutionalisierung. Dahinter stand die Vorstellung, es werde zu einer Konvergenz zwischen Ost und West kommen, wobei der Konvergenz-punkt je nach politischer Neigung von den einen mehr im Westen und von den anderen mehr im Osten angesiedelt wurde. Deswegen wurden auch Gorbatschow und die Perestrojka -insbesondere in Deutschland -einhellig begrüßt, weil man in ihnen das sah, was man für zukunftsweisend hielt.

Wir wissen heute, daß diese hohen Erwartungen keine reale Basis besaßen. Bevor wir danach fragen, warum die Wissenschaft versagt hat, soll die Frage gestellt werden, ob ihr das überhaupt vorgeworfen werden kann. Wenn man wissenschaftliche Erkenntnis als einen Teil von Zeitgeist, öffentlicher Meinung und öffentlichen Erwartungen definiert, dann wird man der Osteuropawissenschaft keine Vorwürfe machen können. Sie hat nur das aufgenommen und selbstverständlich mit Tausenden von Fußnoten versehen, was die politisch interessierte Öffentlichkeit und die Politiker ebenso sahen. Osteuropawissenschaft ging durchaus konform mit den nichtwissenschaftlichen Einschätzungen und Erwartungen in der Gesellschaft. Vielleicht kann es anders auch nicht sein, und wahrscheinlich wird es auch in Zukunft so bleiben. Gesellschaft und Politik in Westeuropa und Nordamerika hatten sich seit den sechziger Jahren mit dem Status quo in Europa, d. h. mit der Abgrenzung der Interessensphären, hervorragend eingerichtet. Der Ost-West-Konflikt galt als eine unverrückbare Größe, die geradezu als das bonum commune (Gemeinwohl) betrachtet wurde, das es im Interesse von Frieden und Sicherheit um jeden Preis zu schützen und zu erhalten galt. Jede Politik wurde daran gemessen, ob sie diesen Status quo festigte oder in Frage stellte.

Implizit stand dahinter die Vorstellung, daß es zwei Arten von Demokratie gebe, eine für den Westen und eine für den Osten. Selbstverständlich nahmen wir für uns parlamentarische Demokratie, Pressefreiheit, Autonomie der Wissenschaft und Freiheit der Forschung in Anspruch. Das Aufbegehren der Osteuropäer in Polen, in Ungarn und zuletzt -in Form der Bürgerrechtsgruppen -auch in Rußland wurde zwar im Westen hier und da mit einer gewissen persönlichen Sympathie aufgenommen und wohl auch manchmal, mehr oder weniger heimlich, unterstützt, aber aus politischer Perspektive waren die „Solidarität“ in Polen ebenso wie Sacharow und die paar Hundert russischen Bürgerrechtler ein Störfaktor, weil sie jedenfalls implizit das Gleichgewicht in Europa in Frage stellten. Wir haben Jaruzelski, Breshnew und Gorbatschow die größere Weisheit und staatsmännische Weitsicht zugesprochen, denn auf ihrer Seite schien nicht nur die Macht, sondern auch die Geschichte zu stehen.

Es gibt darüber hinaus spezifische Gründe dafür, warum die Osteuropawissenschaft versagt hat. Da ist zunächst das Problem der Quellen und Materialien der Forschung. Auf kaum einem anderen Gebiet war das sowjetische System so effizient, wie bei der Fälschung der Daten über sich selbst. Die Effizienz war so groß, daß das System am Ende über sich selbst nicht mehr Bescheid wußte; dies war letztlich ein zentraler Grund für sein Scheitern. Wir aber wußten im Prinzip, daß wir belogen werden. Es ist jedoch nicht leicht, tagtäglich gegen einen raffinierten und massiven Strom der Desinformation anzugehen und Distanz zu wahren. Am Ende haben wir uns eben doch in vielen Fällen täuschen lassen. Das gilt zuerst für die Statistik und hier insbesondere für die Wirtschaftsstatistik, die größtenteils „Spielmaterial“ war, allerdings nicht nur für uns, sondern auch für die Osteuropäer selber, wo sich Tausende von Wissenschaftlern in Dutzenden von Instituten nutzlos die Zeit vertrieben. Die Grenze zwischen Betrug und Selbstbetrug ist fließend.

Eine besondere Verantwortung für das Versagen der Osteuropawissenschaft tragen die sozialwissenschaftlichen methodischen Forschungsansätze, die in den vergangenen zwanzig Jahren aufgenommen wurden. Schuld daran sind nicht die sozialwissenschaftlichen Forschungsansätze an sich, sondern die Sozialwissenschaftler, die die Fragestellungen, Methoden und Theorien, die an westlichen Industriegesellschaften gewonnen worden waren, leichtfertig auf die Verhältnisse der osteuropäischen Diktaturen übertragen haben. Wendete man Modemisierungstheorien, Bürokratietheorien oder den Gruppeninteressen-Ansatz auf kommunistische Gesellschaften in Osteuropa an, so kamen viele Sozialwissenschaftler zu dem Ergebnis, daß die Verhältnisse in Ost und West ziemlich gleich waren bzw. immer gleicher wurden. Schließlich gab es in Ost wie in West Industrialisierung, Urbanisierung und eine Bildungsexpansion von gewaltigem Ausmaß. Hier und dort liefen also in gleicher Weise Modernisierungsprozesse, die Sozialwissenschaftler waren mit ihren Forschungsergebnissen zufrieden. Politik, Menschenrechte und die Freiheit des einzelnen oder von Gruppen existierten als Probleme und Fragestellungen nicht mehr. Die Politik wurde aus der Wissenschaft hinausdiskutiert.

Es zeigte sich sogar in entscheidenden sozialwissenschaftlichen Bereichen, daß die Einparteiherrschaft den westlichen „spätkapitalistischen“ Industriegesellschaften überlegen war. Zu diesem Ergebnis kam beispielsweise die Partizipationsforschung. Denn der Prozentanteil der Menschen, die in den Gewerkschaften, beim Roten Kreuz, in Jugendverbänden und auch in politischen Parteien organisiert waren, lag in aller Regel in den osteuropäischen Gesellschaften höher als in westlichen Gesellschaften. Die Zahl der Krankenhausbetten, der Ärzte pro Einwohner und in vielen Fällen auch die Zahl der Studenten pro Einwohner überstieg in manchen osteuropäischen Gesellschaften die entsprechenden Werte im Westen. Es galt lange Zeit in erheblichen Teilen der Osteuropaforschung als ausgemacht, daß hinsichtlich der medizinischen Versorgung, der pädagogischen Betreuung und überhaupt der sozialen Fürsorge kommunistische Systeme den kapitalistischen überlegen seien. Der Mythos vom zuverlässigen sozialen Netz im sowjetischen System ist erst von der Glasnost Ende der achtziger Jahre zerstört worden. Es stellte sich jetzt auch heraus, daß die Vollbeschäftigung bzw. das angebliche Recht auf Arbeit für alle ebenfalls ein Mythos waren. So wurde in einem zunächst geheimgehaltenen Beschluß des ZK der KPdSU im März 1986 festgestellt, daß der Anteil der Menschen ohne Beschäftigung in Aserbaidshan 28 Prozent, in Tadschikistan 26 Prozent und in Usbekistan 23 Prozent betrug. Dabei handelte es sich überwiegend um Jugendarbeitslosigkeit, denn die sehr starken nachwachsenden Jahrgänge konnten nicht angemessen in das Arbeitsleben integriert werden.Der sozialwissenschaftliche Ansatz zur Erkenntnis sozialistischer Gesellschaften kombinierte häufig zwei Fehler miteinander, die sich so kumulierten. Erstens wurde die Selbstdarstellung des Sowjetsystems emstgenommen. Zweitens wurde so getan, als ob das gleiche dasselbe sei. Ein Krankenhaus-bett in Turkmenistan wurde einem Krankenhaus-bett in Köln, die Gewerkschaftsmitgliedschaft eines Kumpels im Donbass der Mitgliedschaft in der IG Metall gleichgestellt. Leserbriefe an die „Prawda“ verglich man mit den Leserbriefen an die „Zeit“. Zehntausende von öffentlichen Stellungnahmen in der Verfassungsdiskussion in der Sowjetunion Mitte der siebziger Jahre nahm man als Beweis für Partizipation und den hohen Grad des öffentlichen Bewußtseins.

Die vielleicht fatalste Konsequenz des Überwiegens sozialwissenschaftlicher Fragestellungen und sozialwissenschaftlicher methodischer Ansätze in der Osteuropaforschung war die Unfähigkeit, das Herannahen der politischen Krise auch nur ansatzweise zu erkennen. Sogar noch 1989 -nach den erdrutschartigen Wahlen in Polen, bei denen die Kommunisten zu einer unbedeutenden Minderheit wurden -galt in weiten Teilen der Osteuropaforschung und der Öffentlichkeit, daß Polen eben Polen sei und daß hieraus mitnichten abgeleitet werden könne, daß etwa die KPdSU sich in einer Krise befände oder gar die Macht aus den Händen verlieren könnte. Die Osteuropaforschung hatte seit Jahrzehnten nicht mehr die Frage gestellt, ob das politische System zusammenbrechen könnte. Es ist ein beinahe tragisch zu nennendes Paradoxon: Während in den zwanziger und dreißiger Jahren die Stimmen jener ziemlich laut zu hören waren, die dem Sowjetsystem den baldigen Zusammenbruch voraussagten, gab es zu dem Zeitpunkt, als das Sowjetsystem tatsächlich zusammenbrach, so gut wie niemanden, der dies diagnostiziert hatte.

Fehleinschätzungen und Idiosynkrasien der Forschung bündelten sich noch einmal wie in einem Brennglas bei den Problemen von Nationalismus und Nationen. Weil der Nationalismus in Westeuropa und in Nordamerika nach 1945 einen erheblichen Funktionswandel und Funktionsverlust durchgemacht hat, wurde unterstellt, daß sich ähnliche Prozesse auch in Osteuropa in den sozialistischen Staaten abspielten. Gestützt wurde diese Annahme insbesondere durch die Selbstdarstellung, die bekanntlich den Nationalismus zu einem Attribut der bürgerlichen Gesellschaft erklärt hatte. Außerdem stellte die Forschung fest, daß in den sozialistischen Gesellschaften Osteuropas die üblichen und bekannten Manifestationen nationalen Selbstbewußtseins und nationaler Politik nicht vorhanden waren. Es gab keine politischen Parteien, Massenbewegungen, Vereine oder Schriftsteller, die etwa die Wiederherstellung oder Begründung nationaler Staatlichkeit oder gar den Austritt aus der UdSSR forderten. Daß die Abwesenheit aller dieser Manifestationen sich allein mit dem ausgezeichneten Funktionieren der Repressionsorgane erklären läßt, dies war denn doch zu sehr ein Argument des gesunden Menschenverstandes, als daß es in der Wissenschaft Gewicht hätte beanspruchen können. So erwies sich die Osteuropaforschung in weiten Teilen als unfähig, die alternativen Kräfte namhaft zu machen, die an die Stelle des degenerierten kommunistischen Systems treten würden. Sozialwissenschaftliche Forschungsansätze hatten im Gegenteil dazu aufgerufen, der Nation als einem sogenannten künstlichen Gebilde keine gesonderte Aufmerksamkeit zu schenken und sie allenfalls als Ausdruck eines verkehrten sozialen Bewußtseins zu behandeln.

II. Das Ende der Sowjetunion

Warum brach der Staat UdSSR auseinander? Es hat in der europäischen Geschichte zahlreiche Wechsel des politischen Systems, Revolutionen und gesellschaftliche Umwälzungen großen Stils gegeben, ohne daß deshalb der betroffene Staat als solcher in eine Existenzkrise geraten wäre oder, wie in unserem Fall, aufhörte zu bestehen. Warum haben Krise und Ende des politischen Systems im Falle der Sowjetunion auch zum Ende des Staates geführt? Wir haben seit 1988 die zweite Runde des Zusammenbruchs des Russischen Reiches erlebt. Die erste Runde hat 1917 und in den Jahren danach stattgefunden. Am Ende des Ersten Weltkrieges und im Gefolge der russischen revolutionären Umbrüche von 1917 zerfiel das Russische Reich in einzelne Staaten und Regionen, die sich teilweise sofort zu eigenen Nationalstaaten erklärten, während andere lediglich Autonomie suchten und die Wiederherstellung eines neuen Rußland auf föderaler Grundlage anstrebten. In vielen Fällen brach das Russische Reich schon damals an den gleichen Grenzen auseinander wie jetzt. Obwohl die Nationalbewegungen wesentlich schwächer entwickelt waren als heute, reichte ihre Kraft schon 1917 dazu aus, ein durch Weltkrieg und Reaktion geschwächtes Vielvölkerreich auseinanderzusprengen. Die Parallelen zwischen damals und heute sind frappierend. Am besten entwickelt waren und sind die Nationalbewegungen bei den baltischen Völkern. Am wenigsten artikuliert waren und sind sie im Falle der islamischen Völker Zentralasiens, und die Ukraine und die Ukrainer stehen wie immer in der Mitte.Die Bolschewiki unter Lenin stoppten zunächst im Bürgerkrieg den Zerfall des Russischen Reiches und machten ihn dann in erster Linie mit Hilfe der Roten Armee rückgängig. Die Sowjetunion als Staat war Nachfolger des Russischen Reiches, aber sie wurde durch ganz besondere und erst von den Bolschewiki entwickelte Instrumente zusammengehalten. Der wichtigste Zusammenhalt für den Fortbestand des Russischen Reiches in der Gestalt der Sowjetunion war die Kommunistische Partei. Mit dem Zusammenbruch der KPdSU Ende der achtziger Jahre verschwand diese wesentliche Klammer. Von daher sind der Machtverfall der KPdSU und das Ende des Staates Sowjetunion durch die historische Logik miteinander verbunden. Um diese These noch weiter zuzuspitzen, kann man formulieren: Ohne die kommunistische Partei an der Macht konnte die Sowjetunion als Staat nicht bewahrt werden. Insofern ist das Ende der Sowjetunion nicht einer verfehlten Nationalitätenpolitik Breshnews oder Gorbatschows an-zulasten. Sowjetische Nationalitätenpolitik seit dem Oktober 1917 hatte die Herrschaft der Kommunisten zur Voraussetzung. Es wäre unsinnig, von ihnen zu erwarten, politische Programme für den Fortbestand des Vielvölkerstaates zu entwickeln, die nicht von einer solchen Voraussetzung ausgehen. Diejenigen, die in den achtziger Jahren zuerst verdeckt und dann offen den politischen Kampf gegen die KPdSU aufnahmen, bewirkten zugleich das Auseinanderbrechen des sowjetischen Staates.

Nun könnte man einwenden, daß sich im Laufe von 70 Jahren eine Fülle von Bindungen und Klammern zwischen den Regionen, Nationen und Republiken innerhalb des Staates entwickelt hätten, die auch ohne und außerhalb der KPdSU fort-wirkten. Insbesondere seit den dreißiger Jahren ist die gegenseitige ökonomische Abhängigkeit und die Fesselung der einzelnen Landesteile aneinander oberstes Ziel der Wirtschaftspolitik der KPdSU gewesen. Diese ökonomische Kooperation darf aber nicht mit wirtschaftlicher Integration verwechselt werden. Eine Integration, die rationalen ökonomischen Kriterien folgt, hat nicht stattgefunden. Die wirtschaftliche Abhängigkeit war außerordentlich kostspielig, ineffizient und eben nicht ökonomisch, sondern politisch motiviert. Sie führte zu gewaltiger Verschwendung in der Volkswirtschaft. Baumwolle wurde nicht in Usbekistan verarbeitet, sondern in Zentralrußland. Die Bevölkerung Usbekistans erhielt Getreide und andere landwirtschaftliche Produkte nicht aus dem eigenen Umland, sondern aus Kasachstan. Rohstoffabhängige Industrien wurden in Lettland errichtet, wo keinerlei entsprechende Rohstoffe vorhanden waren.

Die Monopolstruktur der sowjetischen Wirtschaft tat ein übriges, um die gegenseitige Abgängigkeit zu verstärken. Hinter dieser Wirtschaftsordnung stand ein klares politisches Kalkül. Die allseitige ökonomische Fesselung der Republiken sollte alle Träume von Autonomie oder gar Separation von vornherein unmöglich machen. Bis in die achtziger Jahre waren denn auch die sowjetische Führung ebenso wie die meisten Beobachter im Lande selbst und im Westen davon überzeugt, daß es zu einer Desintegration der Sowjetunion oder gar zu einer Auflösung des Staates niemals kommen könne, weil die harten ökonomischen Fakten dies nicht zulassen würden. Aber rücksichtslos antimarxistisch und unter Mißachtung aller sozial-ökonomischen Determinanten zerfiel der Staat Sowjetunion in seine nationalen Bestandteile. Insgesamt zeigten die Prozesse in Osteuropa seit Ende der achtziger Jahre die erstaunlich geringe determinierende Kraft ökonomischer Faktoren. Ebenso wie das Sowjetsystem unter Hintanstellung ökonomischer Rationalität geschaffen worden war, zerfiel es ohne Rücksicht auf die großen ökonomischen Kosten, die zweifellos damit verbunden sind. In westlichen Industriegesellschaften bestimmten die sozial-ökonomischen Faktoren in wesentlich höherem Maße die Politik, als das jemals im angeblich marxistischen Sowjetsystem der Fall gewesen ist. Hier war die Wirtschaft stets die Magd der Politik.

Das Ende des Staates Sowjetunion wird jedoch erst dann verständlich, wenn man sich klarmacht, daß es zur Herrschaft der KPdSU eine Alternative gab: die Nationen. Die Nationen waren zunächst die einzige denkbare und erreichbare Alternative nach dem Zusammenbruch der alten politischen Macht. Nur sie konnten in das Machtvakuum eintreten und es mehr oder weniger angemessen ausfüllen. Nur die nationale Idee war stark genug, um die Gesellschaft im Kampf gegen die Diktatur zu mobilisieren. Die Nationalbewegungen waren die Speerspitze des antikommunistischen Widerstandes. Die Ideen von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft allein waren als Alternative nicht ausreichend. Ohne die Schubkraft der Nationalbewegungen hätte das alte Regime nicht so leicht beseitigt werden können.

An dieser Stelle muß erklärt werden, woher denn die Nationen mit ihrer Fähigkeit zur politischen Aktion kamen. Schließlich war das sowjetische System doch angetreten, um die Nation -jedenfalls als politischen Faktor -obsolet zu machen und nationales Bewußtsein allenfalls noch in der Form der Folklore zuzulassen. Wie kann erklärt werden, daß ausgerechnet die Nationen nach 70 Jahren Sowjetregime als politische Alternative zur Verfügung standen? Hier ist ein Paradox zu konstatieren: Eine Ideologie und ein politischesSystem, die mit dem Anspruch angetreten waren, den politischen Nationalismus zu überwinden, haben wesentlich zur Nationenbildung beigetragen. Fast alle Nationen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion waren am Ende der Sowjet-zeit sozial fester gefügt, kulturell tiefer verankert und politisch in höherem Maße aktionsfähig als zu Beginn der sowjetischen Periode in der russischen Geschichte. Die Sowjetmacht hat sowohl durch eine Reihe positiver Maßnahmen als auch durch die Politik der Repressalien zur Nationenbildung beigetragen.

III. Rußland auf der Suche nach einer Identität

Es war bereits von der frappierenden Parallelität der Vorgänge in den Jahren nach 1917 und seit Ende der achtziger Jahre die Rede. Der wesentlichste Unterschied zwischen damals und heute betrifft wohl die Russen und Rußland. Während damals alle politischen Kräfte in Rußland von der extremen Rechten bis zur kommunistischen Linken -diese allerdings entgegen ihrer Propaganda vor 1917 -für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung des Russischen Reiches eintraten, sind das russische Selbstbewußtsein und die russische Politik heute in dieser Frage tief gespalten. Während die jetzige Regierung Jelzin-Gajdar und die sie tragenden Gruppierungen zähneknirschend das Ende des Imperiums akzeptiert haben, wächst in Rußland der Revisionismus. Die Bestrebungen, in der einen oder anderen Form das Imperium wiederherzustellen oder doch Rußland eine Sonderrolle im eurasischen Raum zu erhalten, stellen eine der gefährlichsten Bedrohungen für die politische Stabilität in den nächsten Jahren dar. Die Formierung des russischen Revisionismus kann nicht überraschen. Man muß sich eher wundern, daß er erst nach dem Ende der UdSSR zu einer bestimmenden politischen Kraft in Rußland geworden ist. Dies liegt wohl auch daran, daß der Zusammenbruch der Sowjetunion so rasch kam. Wertet man das Ende des Imperiums als Verlust, und so geschieht es bei vielen Gruppen der politischen Öffentlichkeit in Rußland, so ist festzustellen, daß Rußland in keinem der Kriege der vergangenen Jahrhunderte Verluste hat hinnehmen müssen, die auch nur annähernd mit der jetzigen Verkleinerung des Staates vergleichbar wären. Die Frage lautet, ob das Ende des Imperiums wirklich ein Verlust für die russische Nation ist oder nicht umgekehrt die Voraussetzung und Bedingung für ihre Wiedergeburt. Darüber wird heute in Ruß-land bis zur Hysterie gestritten.

Die Russen sind zweifellos keine normale Nation im europäischen Sinne, und das russische nationale Bewußtsein unterscheidet sich wesentlich von dem im übrigen Europa. Es war stets auf den Staat und nicht auf das Ethnos gerichtet, wobei dieser Staat im russischen Selbstverständnis und in der politischen Realität immer ein Vielvölkerstaat war. Die Reduktion des russischen nationalen Bewußtseins auf das Ethnos bedeutet im Prinzip das Ende des Imperiums. Allerdings wurde dieser Zusammenhang weder von den russischen Nationalisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch von ihren zeitgenössischen Nachfolgern begriffen oder anerkannt. Diejenigen, die heute in Rußland die Wiederherstellung eines russisch bestimmten Imperiums fordern, tun dies in aller Regel im Namen der russischen Idee, der russischen Nation, die von der Geschichte prädestiniert worden sei, als Ordnungsund Führungsmacht im eurasischen Raum den Völkern vorzustehen. Die Revisionisten verstehen nicht, daß man sich entscheiden muß: Entweder kann man ein Imperium aufbauen bzw. wiederherstellen, oder man tritt für die Renaissance der russischen Nation, für die Priorität der russischen Werte, der russischen Kultur und der russischen Geistigkeit ein. Da die Revisionisten beides zugleich wollen, werden sie scheitern. Aber bevor sie scheitern, können sie massiv die politischen Verhältnisse auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion destabilisieren und die Prozesse der Staatsbildung erschweren und verzögern.

Dabei muß anerkannt werden, daß die Russen nach dem Ende des Russischen Reiches in Gestalt der Sowjetunion sich in einer sehr viel schwierigeren Lage befinden als viele andere Nationen. Den Russen wird in höherem Maße als anderen Nationen die Rechnung für 70 Jahre kommunistische Herrschaft präsentiert. Während viele andere Nationen aus dem Ende der UdSSR als die Gewinner hervorgegangen sind und heute die Chance haben, Nationalstaaten aufzubauen oder wiederherzustellen, wurde die russische Nation durch das Ende ihrer imperialen Geschichte in eine tiefe Identitätskrise gestoßen. Die russische Nation findet sich in einem Staat wieder, der nicht nur allenthalben über keine vernünftigen Grenzen verfügt, sondern sie ist erstmals in der neueren Geschichte damit konfrontiert, daß ein erheblicher Teil des Volkstums, nämlich etwa 25 Millionen Menschen, sich außerhalb des russischen Staates befindet. Ein Großteil dieser Russen ist erst seit den dreißiger Jahren, also in den letzten beiden Generationen, in die nichtrussischen Republiken übergesiedelt. Diese russischen Fachleute in den nichtrussischen Republiken waren die natürlichen Agenten und Garanten des Imperiums. Nun sind sie aus privilegierten Vertretern der Zentralmacht an der Peripherie zu nationalen Minderheiten in den neuen Staaten geworden, wo sie manchmal der Diskriminierung und den Ressentiments der neuen Herren ausgesetzt sind. Allerdings, und dies ist typisch für den derzeitigen Zustand der russischen Politik, wird die Zurücksetzung der Russen außerhalb Rußlands vielfach in Moskau oder Sankt Petersburg viel schmerzlicher und brüskierender empfunden als von den tatsächlich Betroffenen in Tallinn, Riga oder Taschkent. Der gegenwärtig zu beobachtende Rechtsdruck der Politik in Rußland hat dazu geführt, daß die Sorge um die „Kinder Rußlands“ im „nahen Ausland“ in das Zentrum der politischen Tagesordnung gerückt ist.

Der andere, vom russischen Selbstbewußtsein bisher nicht verkraftete Vorgang ist die Loslösung der Ukraine aus dem gemeinsamen Staatsverband. Die russische Intelligenz und Politik haben lange Zeit die Forderungen nach einem eigenen ukrainischen Staat nicht ernst genommen und sie für eine überspannte Idee einiger ukrainischer Extremisten gehalten. Während das Verlangen der baltischen Nationen nach staatlicher Selbständigkeit oder die Austrittsbestrebungen der Georgier und Armenier auf Verständnis in Rußland rechnen konnten, wird die Loslösung der Ukraine vielfach bis heute offen oder verdeckt nicht akzeptiert. Auch viele Politiker und Publizisten, die sich den demokratischen und antikommunistischen Kräften zurechnen, waren wie selbstverständlich davon ausgegangen, daß zumindest die drei ostslawischen Völker auch in einem postkommunistischen Staat beisammen bleiben würden, daß aber zumindest zwischen ihnen eine Art Staatenbund entstehen würde.

Tatsächlich zeichnet sich jedoch eine ganz andere Konstellation ab, die aus der Sicht der russisch-national Denkenden als die schlechteste Variante betrachtet wird: nämlich ein enges Zusammengehen der islamischen Nachfolgestaaten mit Ruß-land. Präsident Jelzin hat eben diese Entwicklung im Dezember 1991 verhindern wollen, als er kurzentschlossen -zunächst mit der Ukraine und Weißrußland -die GUS gründete. Dennoch rückten danach die Ukraine und Rußland weiter auseinander, während die meisten islamischen neuen Staaten -jedenfalls vorläufig -eine enge Anlehnung an Rußland suchten. Die Motive dabei sind in erster Linie ökonomischer Natur; hinzu kommt, daß die islamischen Staaten noch weniger als andere auf ihre Selbständigkeit vorbereitet waren und auf russische Hilfe hoffen. Wie lange diese Anlehnung der islamischen Staaten dauern wird, ist allerdings eine offene Frage, und manches spricht dafür, daß die ehemalige Kolonialmacht Rußland sehr bald mit der kolonialen Undankbarkeit der neuen Staaten konfrontiert sein wird. Die islamischen Staaten brauchen nicht zu befürchten, durch eine vorübergehende enge ökonomische, politische und militärische Bindung an Rußland ihre Identität zu verlieren. Die kulturelle, sprachliche und mentale Distanz der islamischen Völker zu Rußland ist so groß, daß es undenkbar erscheint, ein russischer Staat könnte die islamischen Völker durch Assimilation oder Akkulturation aufsaugen. Genau dies aber befürchten, nicht zuletzt aufgrund jahrhundertealter Erfahrung, die Ukrainer. Ein ukrainischer Staat, eine ukrainische Kultur und eine ukrainische Selbständigkeit können sich nur in Distanz zu Rußland entfalten oder gar nicht.

Wohin soll sich Rußland wenden? Der traditionelle russische Staat in Form eines Vielvölkerimperiums besteht nicht mehr, und eine russische Nation im europäischen Verständnis gibt es nicht. Grundsätzlich sind zwei Wege denkbar: die Wiederherstellung des Imperiums oder die Formierung einer Nation auf dem heutigen Territorium der Russischen Föderation. Die Wiederherstellung eines Imperiums dürfte auf absehbare Zeit ohne die Anwendung militärischer Gewalt nicht möglich sein. Leider zeigt das Beispiel im ehemaligen Jugoslawien, daß dieser Weg keineswegs von vornherein ausgeschlossen werden kann. Ob der Frieden erhalten bleibt oder nicht, wird fast ausschließlich davon abhängen, wer in den nächsten Jahren in Moskau regiert. Es wäre ziemlich naiv anzunehmen, irgend jemand von außen (vom Westen) würde eine russische Regierung durch Zwangsmittel daran hindern, mit militärischer Gewalt zumindest einen Teil des Imperiums wieder anzuschließen. Da es nicht einmal gelungen ist, die in ihrem Potential begrenzte serbische Armee zur Beendigung des Krieges zu zwingen, dürfte es um so weniger möglich sein, eine zum Krieg entschlossene russische politische Führung und Armee aufzuhalten. Die erhebliche Sympathie, die Serbien nach wie vor unter russisch-nationalen Politikern und Publizisten genießt, gibt zu Sorge Anlaß. Andererseits darf davon ausgegangen werden, daß die jetzige Führung unter Jelzin entschlossen ist, ausschließlich mit politischen Instrumenten Politik zu machen. Auch deshalb muß der Westen daran interessiert sein, die gegenwärtige russische Regierung zu stützen.

Der andere Weg, nämlich der Nationenbildung innerhalb der Russischen Föderation eindeutig die Priorität einzuräumen, erfordert zu allererst Selbstbeschränkung. Die Nationenbildung innerhalb der Russischen Föderation hat es vor allem mit drei Problemkomplexen zu tun. Zuerst muß sie gegen die Schatten der Geschichte kämpfen; dies ist vielleicht die schwierigste Aufgabe. Das stereotype Bild von Rußland innerhalb und außerhalb des Landes besagt, Rußland habe sich seit dem 14. Jahrhundert in einer unaufhaltsamen Expansionüber den eurasischen Kontinent ausgebreitet, und die Expansion sei die unverzichtbare Leitlinie der russischen Geschichte. Das bekannte Diktum, Rußland werde niemals ein Stück Land wieder aufgeben, auf das einmal ein russischer Soldat seinen Stiefel gesetzt hat, klingt heute wie Hohn und Spott. Zwar war dieses Diktum zu keiner Zeit historisch richtig, daß es jedoch durch die Geschichte ad absurdum geführt werden würde, wie es jetzt geschehen ist, dies hat vor zehn Jahren wohl niemand für denkbar gehalten.

Zweitens muß Nationenbildung innerhalb der Russischen Föderation bestrebt sein, die politische Nation über das russische Ethnos hinaus zu erweitern. Die Anstrengung muß darauf gerichtet sein, zumindest einen Teil der nichtrussischen Völker auf dem Territorium der Russischen Föderation -derzeit etwa 18 Prozent der Gesamtbevölkerung -in die neue politische Nation zu integrieren. Dies kann nur auf dem Wege der Föderalisierung Rußlands geschehen. Erste Schritte in diese Richtung hat die gegenwärtige Regierung in diesem Jahr unternommen. Im Unterschied zu Deutschland -aber in Anknüpfung an die russische Geschichte vor 1917 -wird die Russische Föderation der Zukunft wohl asymmetrisch gestaltet sein. Es besteht begründete Hoffnung, daß durch eine Umwandlung Rußlands in eine wirkliche Föderation zumindest ein Teil der separatistischen Bestrebungen nichtrussischer Völker aufgehalten werden kann.

Drittens ist die Nationenbildung innerhalb der Russischen Föderation mit dem Problem jener 25 Millionen Russen außerhalb der heutigen Grenzen konfrontiert. Ein Teil von ihnen wird voraussichtlich die russische Staatsbürgerschaft annehmen und wird nicht Staatsbürger der neuen Staaten werden. Aus diesem und andern Gründen wird jede zukünftige russische Regierung die Fürsorge für die Russen im sogenannten nahen Ausland zu einem nationalen Interesse erklären. Eine Stabilisierung der politischen Verhältnisse kann jedoch nur dann gelingen, wenn die russische Regierung und auch die russische Öffentlichkeit in Zukunft die Russen außerhalb der eigenen Grenzen nicht pauschal zu einem Teil der Nation der Russischen Föderation erklären. Es gilt, einen Kompromiß zu finden zwischen Fürsorgepflicht für die Russen im Ausland und Distanz zu ihnen, deren größere Hälfte voraussichtlich Staatsbürger eines andereg Staates werden wird.

Wie sind die Perspektiven der zukünftigen Entwicklung einzuschätzen? Die Nationalbewegungen sind in atemberaubender Weise erfolgreich gewesen. Sie haben wesentlichen Anteil am Zusammenbruch des kommunistischen Systems gehabt, und sie waren die Hauptfaktoren bei der Auflösung der UdSSR als Staat. Früher als vielfach erwartet, fanden sich die oppositionellen Nationalbewegungen als Regierungen von Staaten wieder, die es noch gar nicht gab. Die Nationalbewegungen haben sich im Zuge der Auflösung der UdSSR und der ersten Schritte in Richtung auf die Formierung der neuen unabhängigen Staaten überall deutlich radikalisiert. Während anfangs vor allem im Baltikum und in anderen westlichen Republiken die Nationalbewegungen große Anstrengungen unternahmen, demokratische und liberale Prinzipien und Ziele mit einzubeziehen, beobachten wir vor allem 1992 Tendenzen in Richtung auf Chauvinismus und Ethnokratie. Hier scheint das alte, in der Geschichte Europas und vor allem Deutschlands so nachdrücklich belegte Paradigma wieder durchzuschlagen, daß demokratische Nationalbewegungen gerade nach und durch ihren Erfolg zur Radikalisierung und im schlimmsten Fall zum Faschismus neigen.

Allerdings ist der Befund in Osteuropa nicht eindeutig. Während etwa in Estland, Lettland, in Rußland oder Georgien die National-Radikalen in die vorderste Reihe gerückt sind und sich teilweise auch bei Wahlen durchgesetzt haben, gibt es auch Beispiele dafür, daß siegreiche Nationalbewegungen zur Mäßigung zurückkehren. Dies gilt etwa für Armenien und Litauen. Der armenische Präsident Ter-Petrosjan vertritt einen ausgesprochen gemäßigten Kurs, muß sich allerdings gegen eine radikale Opposition behaupten. In Litauen hat zur allgemeinen Überraschung „Sajudis“ eine Wahl-niederlage erlitten, und die früheren National-Kommunisten mit ihrem stets populären Führer Brazauskas übernehmen in Wilna die Regierungsverantwortung. Hier dokumentiert sich nicht nur ein Stück Normalität des Parlamentarismus, sondern zeigt sich auch, daß die Wähler trotz katastrophaler wirtschaftlicher Lebensbedingungen für die Gemäßigten stimmen. Litauen ist seit den sechziger Jahren die Speerspitze der nationalen Bewegungen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion gewesen. Die Litauer waren die ersten, die förmlich ihre Unabhängigkeit von der UdSSR erklärten. Sie gehören jetzt wiederum zu den ersten, die sich in Wahlen für die Moderaten und gegen die Extremisten entschieden haben. Das in der europäischen Geschichte bis in die Mitte unseres Jahrhunderts vielfach belegte Umschlagen demokratischer Nationalbewegungen in chauvinistische Diktaturen ist offenbar nicht unausweichlich. Die Wege der Nationalbewegung zur parlamentarischen Demokratie bleiben in Osteuropa offen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Gerhard Simon, Dr. phil., geb. 1937; wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, apl. Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u. a.: Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion, Baden-Baden 1986; Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums (im Druck).