I. Die Interessen Rußlands
Das Ende des Kalten Krieges und der schnelle Zerfall der Sowjetunion haben das ganze System der internationalen Beziehungen verändert. Die militärische Konfrontation ist beendet, und die Nachfolgestaaten der UdSSR haben enorme innergesellschaftliche Probleme; dies bedeutet jedoch nicht, daß die Länder von der westlichen Gemeinschaft vernachlässigt werden dürfen. Das ungelöste Problem der Auslandsverschuldung ist eine Belastung für die internationalen Beziehungen, obwohl die ehemalige Sowjetunion nicht nur ein enormes Rohstoffgebiet, sondern auch in Zukunft einen riesigen Absatzmarkt darstellen wird. Alle diese Überlegungen betreffen Rußland als Hauptnachfolger des sowjetischen Imperiums. Spricht man über die Zukunft der Beziehungen Rußlands zu Europa, ist zuerst zu klären, was unter dem Begriff „Rußland“ zu verstehen ist und wo seine vorrangigen auswärtigen Interessen liegen. Ist die GUS für die Föderation Rußlands lebensnotwendig? Diese Frage kann positiv nur unter folgenden Prämissen beantwortet werden:
-Die russische Elite will in der ganzen ehemaligen UdSSR herrschen, indem sie praktisch die alte Unionszentrale ersetzt;
-in Rußland wird nicht der Übergang zur Demokratie westlicher Prägung, sondern eine autoritäre Präsidialmacht in Übereinstimmung mit den postkommunistisch-nationalistischen Regimen in den meisten anderen GUS-Staaten angestrebt.
Dieser Weg wurde in der Tat von der politischen Spitze Rußlands nach dem Augustputsch 1991 eingeschlagen. Einige Zugeständnisse zugunsten der anderen Mitgliedstaaten der Sowjetunion, wie z. B. die Unterzeichnung des Abkommens zur Gründung der Wirtschaftsgemeinschaft im Oktober 1991 waren dabei unvermeidlich. Ende 1991 war diese Politik völlig gescheitert. Die rus-sische Führung verfolgte folgende Interessen bei der Entstehung der GUS:
1. Aufrechterhaltung politischer und wirtschaftlicher Beziehungen auf multilateraler Ebene, um den Weg zu direkten Kontakten (ohne Vermittlung der neuen Zentrale in Moskau) einzelner Regionen der Föderation zu den ehemaligen Unionsrepubliken zu verhindern;
2. Schutz der Interessen von ca. 25-30 Millionen Russen, die außerhalb der Föderation leben, um ihren Drang zur Rückkehr nach Rußland zu bremsen, was fatale Folgen für die russische Wirtschaft hätte;
3. Sicherung der Absatzmärkte der großen staatlichen Industrien;
4. Unantastbarkeit der eigenen Grenzen.
Zum Jahresende 1992 hat sich aber erwiesen, daß diese Probleme im Rahmen der bilateralen Beziehungen Rußlands zu jedem der Nachfolgestaaten der Sowjetunion besser geregelt werden können als innerhalb der GUS. Hier ist stellvertretend ein Beispiel aus der Wirtschaft zu nennen: Berechnungen, die im Moskauer Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen durchgeführt wurden, bestätigen, daß rein ökonomisch gesehen die Einführung der Zölle zwischen souveränen Republiken in Anlehnung an das GATT-Meistbegünstigungsprinzip ihren objektiven Bedürfnissen entspricht. Auf der Grundlage der bilateralen Abkommen sind die Listen der Waren festzulegen, die während einer Übergangszeit und im abgesprochenen Rahmen zollfrei bewegt werden können. Erst nach dem Übergang zu marktwirtschaftlichen Verhältnissen innerhalb der neugegründeten Staaten und mit dem Vordringen der vom Staat unabhängigen Produzenten außerhalb nationaler Grenzen könnte vom Aufbau eines „Gemeinsamen Marktes“ die Rede sein
Für die Lösung der sicherheitspolitischen Probleme ist die GUS für Rußland aus folgenden Gründen kein praktikabler Weg: Die Unabhängigkeitsbestrebungen der nichtchristlichen Bevölkerungen, die sich in der Russischen Föderation an der Wolga, in Ost-und Westsibirien und insbesondere im Nordkaukasus befinden, werden von manchen GUS-Mitgliedern trotz ihrer gegenteiligen Verpflichtungen gezielt unterstützt, was unter anderem auf die vollständige Durchlässigkeit der Grenzen und die Beibehaltung eines gemeinsamen Zahlungsmittels zurückzuführen ist; die unmittelbare oder mittelbare Beteiligung der Armee, die direkt dem russischen Militärkommando unterstellt ist, an den Kämpfen in Moldawien, Tajikistan oder Georgien hat nicht zur Konsolidierung der Föderation Rußland beigetragen, sondern umgekehrt die öffentliche Meinung und die Parteipolitik noch tiefer gespalten; das auf dem Gipfeltreffen im Taschkent im Mai 1992 Unterzeichnete Abkommen zur gemeinsamen Verteidigung hat weder zur Reduzierung der Konflikte in den GUS-Staaten und zur Aufstellung der multinationalen Friedenstruppen geführt, noch ist „eine friedliche Scheidung“ bei der Kontrolle des atomaren und konventionellen Waffenpotentials der ehemaligen Sowjetunion erreicht worden.
Die eventuelle Verstärkung oder genaue Institutionalisierung der GUS und selbst ihr Weiterbestehen in einer amorphen Form entspricht deshalb in absehbarer Zeit nicht den politischen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen der russischen Föderation. In einer solchen Struktur würde außerdem die Bedeutung der asiatischen Staaten wachsen. Die wichtigsten traditionellen Partner Rußlands befinden sich im Westen.
II. Erläuterungen des Begriffs „Rußland“
Geht man davon aus, daß die GUS nicht lebensfähig ist, so kann man sich drei mögliche Szenarien der inneren Entwicklung Rußlands vorstellen:
1. Rußland mit klar definierten Strukturen föderativer Art. Es ist kein Zufall, daß der im März 1992 Unterzeichnete Föderationsvertrag bis zum Jahresende nicht in Kraft getreten und durch zahlreiche Klauseln erweitert worden ist. Tatarstan, Tschetschenien und das Tjumen-Gebiet haben sich von Anfang an geweigert, den Vertrag zu unterschreiben; für Baschkirien und Jakutien gelten Ausnahmeregelungen.
2. Übergang zur Konföderation. Die Anhänger einer solchen Entwicklung fordern das Recht auf eine eigene Innenpolitik (Sozial-, Kultur-undRechtspolitik), auf eine unabhängige Außenhandelspolitik sowie auf den freiwilligen Austritt für solche Territorien, die nur von einer Nationalität bewohnt sind. Zahlreiche Beispiele einer solchen Entwicklung im Jahre 1992 können angeführt werden: Referendum in Tatarstan, die Verfassung Jakutiens, das Vereinigungsprogramm des Uralgebiets usw. Trotz des Bestehens des Föderationsvertrages geht die Entwicklung immer schneller in Richtung dieses Szenarios.
Vollständige Regionalisierung. Hierbei geht es darum, daß die Regionen vom Baltischen Meer bis zum Pazifik allmählich das Recht auf einen wirtschaftlichen Alleingang und die Symbole einer Staatsmacht erhalten. Selbstverständlich wird man nicht überall Grenzen etablieren, aber das internationale Recht würde schon von Anfang an eine wichtige Säule der Beziehungen zwischen den verschiedenen Territorien der Russischen Föderation bilden. Wichtige Ursachen der Regionalisierung bestehen in den Schwierigkeiten der radikalen Wirtschaftsreform und der damit verbundenen Festsetzung eigener Wirtschaftsprioritäten: Weiterführung der kommunistischen Sozialpolitik, Ausfuhrverbote in andere Regionen Rußlands, eigene Steuerpolitik, Einführung eigener Zahlungsmittel (Bezugsscheine, Betriebsbons) 3.
Die gravierenden Mentalitätsunterschiede innerhalb der russischen Bevölkerung beschleunigen die Entwicklung entsprechend dem dritten Szenario. Träumen die Russen, die in'den anderen GUS-Staaten leben, und die russischen Minderheiten innerhalb der ehemaligen autonomen Republiken noch von einer vertieften bilateralen Kooperation, so sind die Russen auf dem Rest des riesigen Territoriums der heutigen Föderation schon im Begriff, ihre eigenen örtlichen, historischen Wurzeln neu zu entdecken und ihre Regionen selbstständig zu gestalten.
Um eine krisenartige Spaltung zu vermeiden, scheinen folgende wirtschaftspolitische Maßnahmen unentbehrlich:
-ein spezifisches Subsidiaritätsprinzip bezüglich der Teilung der binnenstaatlichen Kompetenzen, wobei die Regierung in Moskau nur für folgende Problemkreise verantwortlich bleibt: Annäherung der Geldpolitiken einzelner Regionen; klare Regelung des Zusammenwirkens zwischen dem Rubel und seinen regionalen Ersatzmitteln; Prinzipien des Verlassens der Ru-belzone; gemeinsames Handeln bei großen natürlichen Katastrophen sowie der Behandlung der Übersiedlerströme; -breite Außenwirtschaftskompetenzen einzelner Gebiete, wobei die Fragen der Auslandsverschuldung vorläufig gemeinsam geregelt werden. Die bestehenden internationalen Handelsabkommen sollen dieser Realität angepaßt werden, indem man entsprechende Klauseln einführt.
Solche Selbstbestimmungsmöglichkeiten werden das Entstehen mehr oder weniger fester Regionen-gruppen zwischen den von Russen bewohnten territorialen Einheiten anhand der geographischen Lage, Wirtschaftsstruktur und Mentalitätsähnlichkeit bewirken. Dabei wird ohne Zweifel der europäische Kern Rußlands den Teil konstituieren, der allein schon aus geschichtlichen Gründen (traditionelle Geschlossenheit gegenüber den Invasionen, Begreifen eigener historischer Wurzeln, begrenzte Assimilation anderer Völkerschaften, liberale, westlich orientierte Weltanschauung) eine eigene Entwicklungsperspektive aufweist. Der europäische Teil der heutigen Russischen Föderation kann nicht nur in allgemeinen Angelegenheiten unabhängig sein, sondern ist auch an den Beziehungen zum Westen besonders interessiert.
III. Die Wirtschaftsbeziehungen zu anderen GUS-Staaten
Die Verstärkung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit des europäischen Rußlands soll zum Wachstum seiner ökonomischen Verflechtung mit Weißrußland und der Ukraine führen. Bezüglich Weißrußlands ist das auf ein hohes Niveau der Komplimen4 zurückzuführen: Über zwei Drittel der aus der Russischen Föderation für die führenden Branchen der weißrussischen Industrie (Lkw-Bau, Elektrotechnik, Produktion der langlebigen Konsumgüter) gelieferten Halbfertigwaren kommen aus dem europäischen Teil des Landes.
Für die ukrainische Führung bedeutet diese Entwicklung in Rußland
-im politischen Bereich: Zurücknahme der Ansprüche der Moskauer Zentrale auf politische Dominanz und die Bereitschaft, gleichberechtigte Beziehungen zu unterhalten;
-im ökonomischen Bereich: Gleichstellung mit dem europäischen Rußland in der Energieversorgung aus Sibirien;
-im monetären Bereich: Beschleunigung des Zahlungsverfahrens durch die Übergabe der Kompetenzen von der russischen Zentralbank auf die regionale Ebene.
Die schnellere Entfaltung dieser Wirtschaftsbeziehungen des europäischen Rußlands im Vergleich zu seinen nichteuropäischen Regionen trägt dazu bei, daß sich seine Branchenstruktur der der europäischen Staaten annähert und die Produktionseffektivität infolge der Arbeitsteilung zunimmt. Die wachsende Annäherung des europäischen Rußlands an die slawischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion soll nicht bedeuten, daß alle drei als eine feste Gruppe in die westeuropäische Werte-und Wirtschaftsgemeinschaft eintreten. Die vertiefte Integration der ostslawischen Staaten untereinander kann erst nach erfolgreicher Einbeziehung in das europäische System vor sich gehen.
Die Perspektiven der Wirtschaftsbeziehungen Rußlands zu Weißrußland und der Ukraine hängen überwiegend von der Vertiefung der Zusammenarbeit in folgenden Bereichen ab:
1. Tempo und Endziele der Wirtschaftsreformen. Rußland und insbesondere sein europäischer Teil hat hier die besten Chancen. Weißrußland geht mit behutsamen Schritten in Richtung einer „sozial gesicherten Marktwirtschaft“. In der Ukraine dominiert das Vorhaben, „eine unabhängige nationale Wirtschaft durch die provisorische Stärkung der planmäßigen Lenkungsmechanismen“ aufzubauen.
2. Einführung präferentieller Handelsbeziehungen untereinander. Von allen GUS-Staaten sind Rußland und Weißrußland in diesem Bereich besonders weit gegangen. Im Juni 1992 wurde zwischen ihnen ein bilaterales Abkommen unterzeichnet, das einen gegenseitigen zollfreien Handel anstrebt und eine gemeinsame Behandlung der Drittländer (einschließlich der GUS-Staaten) einführt. Zwischen Rußland und der Ukraine sind dagegen zahlreiche Hemmnisse (z. B. Einfuhr-und Ausfuhrquoten und Abgaben für Transitlieferungen) aufgetaucht. Die Errichtung von ca. 30 Zollämtern an der Grenze zur Ukraine ist von der russischen Regierung geplant.
3. Übergabe der Kompetenzen auf die Betriebs-ebene. Das Weiterbestehen der bilateralen Verträge, die den Umfang, die Nomenklatur und die Ausfuhrpreise vorschreiben, hat sich im Jahr 1992 als wenig sinnvoll erwiesen. Insbesondere bei den Lieferungen zwischen Rußland und Weißrußland, in denen 130 Waren auf admini strative Weise festgelegt waren, haben sich die Marktverhältnisse nur geringfügig durchgesetzt.
Annäherung der Wirtschaftsstrukturen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen spielt der Austausch von langlebigen Konsumgütern, die jedoch immer defizitärer werden, eine wichtige Rolle. Ihre Ausfuhren in die Ukraine bilden nur 3, 6, nach Weißrußland 0, 8 Prozent der Produktion in Rußland, die Einfuhren 1, 8 bzw. 1, 1 Prozent des russischen Verbrauchs 4. Aus Gründen des Effektivitätszuwachses soll dieser Anteil erweitert werden.
Regelung der Finanzverpflichtungen. Das heutige Abrechnungssystem mit den GUS-Mitgliedstaaten widerspricht den Zielen der makroökonomischen Stabilisierung in Ruß-land. Einerseits führen die Zentralbanken der ehemaligen Unionsrepubliken eine kaum kontrollierbare Kreditvergabe durch. Andererseits werden von der russischen Zentralbank kurzfristige Kredite ausgegeben, um die Exporte der staatlichen Betriebe zu sichern (erlaubter Umfang -40 Mrd. Rubel für den Handel nach Weißrußland und 15 Mrd. für den Handel mit der Ukraine) 5.
Nach unseren Schätzungen haben die ukrainischen Unternehmen auf diesen Wegen im Jahre 1992 in der Tat über 1000 Mrd. Rubel verdient. Die vernünftigste Lösung dieses Problems ist die Einführung eigener Währungen. Für die Ukraine ist das schon mit der „Grivna“ geschehen. Zwar hat Weißrußland im Oktober 1992 in Bischkek das Abkommen über den Rubel-Raum mitunterzeichnet, aber die Verhandlungen über die Einführung des Talers werden fortgesetzt
Die Unabhängigkeit Weißrußlands und der Ukraine vom Rubel als erste Stufe, die Mitbeteiligung der Vertreter verschiedener Regionen der Föderation Rußlands an der Gründung der russischen Zentralbank als zweite Stufe und die wachsende Unabhängigkeit des europäischen Rußlands in Währungsfragen als dritte Strufe könnten zur Stabilisierung der ökonomischen Beziehungen zwischen diesen drei ostslawischen Staaten im europäischen Raum beitragen.
IV. Rußlands Politik gegenüber den zentraleuropäischen post-sozialistischen Staaten
Drei Probleme bestimmen die Perspektiven der Beziehungen Rußlands zu den baltischen Staaten: Abzug der Armee, Behandlung der russischen Minderheit und das Interesse an Wirtschaftsbeziehungen. Der ständige Druck der baltischen Seite in den ersten zwei Fragen ist aus psychologischen Gründen leicht verständlich. Das Bestreben, politische Angelegenheiten nicht auf bilateraler, sondern auf multilateraler Ebene (KSZE, UNO) zu lösen, sowie eine Behandlung der russischen Minderheit, die fast stalinistisch-nationalistische Züge trägt, befähigen Rußland, sich von den baltischen Staaten klar zu distanzieren.
Der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen findet kein großes Interesse auf beiden Seiten. Zwar haben die Importe von Konsumgütern aus Estland, Lettland und Litauen die russischen Exporte 1990 um das 3,5 fache überstiegen, aber der absolute Umfang war so gering, daß er nur für einige wenige Warengruppen von größerer Bedeutung war Die Wirtschaftsblockade nach der Unabhängigkeitserklärung Litauens im März 1990 und die Außenhandelspolitik gegenüber Estland Anfang 1992 haben gezeigt, daß in der Umbruchzeit die Lieferungen der Investitionsgüter aus Rußland keine entscheidende Rolle spielen. Außerdem orientieren sich aus politischen Gründen die Unternehmen im Baltikum zwangsläufig nach Skandinavien hin. Der vollständige Übergang zu Marktpreisen auf Dollarbasis ab 1993 wird wesentlich die Abhängigkeit von Rußland auch im Energiebereich reduzieren.
Anfang September 1992 wurde „das Abkommen über den freien Handel“ zwischen Rußland und Estland unterzeichnet, das in der Tat durch die Einführung von Zöllen und der Ausfuhrquotierung und -lizensierung wesentlich weiter vom tatsächlich freien Warenverkehr entfernt ist als das von der russischen Seite angestrebte Rahmenabkommen mit der EG Dieses Abkommen soll als Muster für Lettland und Litauen dienen.
Wesentlich günstiger sehen die Perspektiven der Beziehungen Rußlands zu den ehemaligen europäischen Comecon-Staaten aus. Einerseits hat sich trotz des drastischen Niedergangs des Handels nach dem Übergang auf Dollarbasis ab 1991 eine Trendwende bei einigen Branchen bereits angedeutet. Andererseits ist die politische und psychologische Abneigung gegenüber dem „großen Bruder“ allmählich überwunden, was mit der endgültigen Beseitigung der kommunistischen Zentrale in Moskau, der Übergabe der historischen Geheimdokumente (Erschießung der polnischen Offiziere 1940, „Einladung“ der Militärgruppen nach Prag 1968) und der Erhaltung guter Beziehungen zwischen ost-und westslawischen Völkern auf der persönlichen Ebene zusammenhängt.
Nach Meinung einiger russischer Experten aus dem Rat für Außen-und Sicherheitspolitik entspricht der Beitritt der ehemaligen Comecon-Staaten zum europäischen Sicherheitssystem kaum den Interessen der heute bestehenden Föderation Rußland, da sie ihre Isolation nur noch verstärken würde Anders sieht es für das europäische Rußland aus. Seine europäischen Interessen kann es auf unabhängige Weise am effektivsten über die Vermittlung der zentraleuropäischen Staaten als Zwischenstufe der neuen europäischen Architektur durchsetzen. Aus geopolitischer Sicht sind Po-len, Bulgarien und die Slowakei für Rußland am wichtigsten. Der Widerspruch besteht aber darin, daß gerade Polen und die Slowakei aufgrund ihrer wirtschaftlichen Struktur und politischen Neigung die Beziehungen zu Weißrußland bzw.der Ukraine vorziehen.
Auf der anderen Seite sind die Lieferungen aus Ungarn und der Tscheche! für die Versorgung . mit Investitions-und Konsumgütern besonders wichtig: von dort stammen ca. 15 Prozent aller nach Rußland eingeführten lebenswichtigen Güter Gerade diese Länder sind aber die Hauptgläubiger Rußlands (ca. drei bis fünf Mrd.
US-Dollar). Sie sind von Rußland aus nur über die Ukraine zu erreichen, mit der die Fragen der Transitkosten und der Transportfreiheit noch nicht geregelt sind.
Wegen ihres relativ kleinen Wirtschaftspotentials, ihrer bescheidenen Rolle in der internationalen Politik und ihrer Westorientierung werden die ehemaligen Comecon-Staaten kaum eine spürbare Rolle in der russischen Außenpolitik spielen. Im Gegensatz zu den Beziehungen mit den baltischen Staaten muß man sich hier mit der Erweiterung des bestehenden Niveaus begnügen.
V. Die EG als Hauptziel russischer Politik
Die entscheidende Abhängigkeit von den westlichen Industrieländern wird in Rußland kaum mehr in Frage gestellt: der Präsident benutzt die Autorität des Internationalen Währungsfonds, um seine eigene Politik im Parlament durchzusetzen; die Einwohner der Großstädte stehen Schlange, um humanitäre Lebensmittelhilfe zu bekommen; die Privatfirmen suchen neue Wege, um auf die Absatzmärkte dieser Staaten zu kommen oder von dort Waren zu beziehen. Dabei ist die EG das Ziel, die heute nicht nur die größte Überlebenshilfe leistet, sondern -nach Ansicht vieler postsowjetischer Politiker -auch einen schnellen Weg zur Integration verspricht.
Die EG ließ ihrerseits eine einmalige Chance verstreichen, indem sie es im Herbst 1991 versäumte, ein Abkommen mit der GUS als nur einer Vertragspartei zu unterzeichnen An Stelle direkter Kontakte mit den unabhängig gewordenen Staaten hat die EG die Beziehungen zu der Unionszentrale in Moskau bis zu ihrer endgültigen Auflösung gepflegt. In der Folge war die EG bereits Anfang 1992 einem kaum zu kontrollierenden Druck von seiten der meisten GUS-Staaten ausgesetzt.
Den politischen Realitäten entsprach auch nicht die Entscheidung des EG-Ministerrates vom März 1992, gleiche Bedingungen bei den Verhandlungen über die künftigen Rahmenabkommen mit den vier größten ehemaligen Unionsrepubliken anzubieten. Zu unterschiedlich sind die politischen und ökonomischen Prioritäten, die geographische Lage und die nationalstaatlichen Probleme in Weißrußland, der Ukraine und der Russischen Föderation, um sie gleich zu behandeln (nur in Rußland sind erfahrene Experte vorhanden, die die Verhandlungen mit der EG überhaupt führen könnten). Für Kasachstan ist dabei auch rein geographisch gesehen (laut Artikel 237 des EWG-Vertrages) der Beitritt als strategisches Ziel eines eventuellen Assoziierungsabkommens ausgeschlossen.
Die Ursachen einer solchen Politik der EG, die von den Realitäten überholt wird, sind auf die Schwierigkeiten der Durchsetzung.des Selektionsprinzips hinsichtlich der neuen Staaten in der internationalen Politik zurückzuführen, was aber sowohl aus politischen als auch aus ökonomischen Gründen unvermeidbar scheint. So haben z. B. die Vertreter der G-7 und insbesondere der Kommissionspräsident Jacques Delors nach dem Zerfall der Sowjetunion gefordert, die Zentrale in Moskau solle weiter für die gemeinsame Rückzahlung der Schulden verantwortlich sein. Man mußte aber schon Ende 1991 Rußland befähigen, die gesamte Verschuldung allein zu übernehmen Im Laufe des Jahres 1992 hat die Russische Föderation tatsächlich anstatt ihres Anteiles von 61 über 96 Prozent aller Tilgungen geleistet. Sie sollte deshalb im Vergleich zu anderen Beteiligten gefördert werden. Zum Jahresende 1992 ist die Entwicklung schon soweit fortgeschritten, daß von der Festsetzung eines neuen „Prinzips der Spezifität“ bezüglich der territorialen Einheiten innerhalb der Russischen Föderation die Rede ist. Einige an der Wolge liegende ehemalige autonome Republiken (z. B. Tatarstan und Baschkiren) melden ihre Interessen bereits direkt in Brüssel an. Zahlreiche Vergünstigungen und Sonderrechte im Außenwirtschaftsbereich machen solche Schritte auch für andere Teile des Landes möglich. Andererseits ist die EG für die immer mehr unabhängig werdenden Regionen im Fernen Osten sowohl politisch als auch wirtschaftlich nur wenig interessant.
Die prinzipielle Frage besteht darin, ob und inwieweit diese in Rußland durchgesetzten Unabhängigkeitsmerkmale im Rahmenabkommen mit der EG berücksichtigt werden sollen. Es ist durchaus verständlich, daß die EG heute von der Einheit des Zollraumes und der politischen Macht in der Russischen Föderation ausgehend, keine spezifische Regelungen für einzelne Regionen treffen will. Die Vertreter der EG-Kommission müssen aber die Perspektive der Trennung mitberücksichtigen, damit nicht in wenigen Jahren eine eventuell notwendige Revision des Abkommens, wie es jetzt bereits mit dem Ende 1989 Unterzeichneten Abkommen EWG -Sowjetunion der Fall ist, für sie ganz unerwartet käme.
Was den konkreten Inhalt dieses Abkommens anbelangt, so soll es einerseits den Zugang der in Rußland neu gegründeten unabhängigen Produzenten und Institutionen zum westeuropäischen Binnenmarkt erleichtern, andererseits dem europäischen Privatkapital entsprechende Signale ge-ben. Als strategisches Ziel wurde der Vorschlag der russischen Seite akzeptiert, den freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen-und Kapitalverkehr anzustreben. Dabei ist aber wichtig zu klären, wie lange die Übergangsetappe dauern soll. Rußland will z. B. die vollständige Abschaffung der spezifischen mengenmäßigen Beschränkungen und den freien Zugang der Arbeitnehmer, die EG dagegen die Beseitigung der Hindernisse für die Direktinvestitionen, den Schutz der Eigentumsrechte sowie den freien Wettbewerb bei der Vergabe der Staatsaufträge durchsetzen. Die Unterstützung der nichtstaatlichen Erdöl-und Erdgasproduzenten (bis heute werden von EG-Mitgliedstaaten die Liefergarantien über die Moskauer Zentrale angestrebt) durch die EG und insbesondere die Vergünstigungen bei der Anti-Dumping-Regelung sind weitere für den Erfolg der Reformen in Rußland wichtige Bereiche.
Die strategischen politischen Ziele und die sich daraus ergebenden Perspektiven der europäischen Politik Rußlands hängen grundsätzlich davon ab, welches der drei Szenarien der künftigen Entwicklung von seiner Spitze bevorzugt wird: Soll Rußland als ein fester Bestandteil des europäischen Systems, als der alleinige Repräsentant des eurasischen Raumes oder als eine Brücke zwischen Europa und Asien betrachtet werden?
Das erste Szenario scheint besonders attraktiv zu sein. Es ist aber nur im Falle einer vorangehenden Regionalisierung innerhalb der Russischen Föderation möglich. Das würde bedeuten, daß das europäische Rußland für die außereuropäischen Territorien eine Vermittlerrolle spielen würde. Gerade die Bevölkerung des europäischen Rußlands ist durch die Westorientierung stark geprägt, was seinen Einstieg in die europäische Wertegemeinschaft erleichtert. Die EG wird sich gezwungen sehen, mit Hilfe einer behutsamen, aber konsequenten „Einmischungspolitik“ diese Entwicklung zu beschleunigen, da gerade sie den Aufbau einer neuen europäischen Architektur mit dem Zentrum Europäische Union erlaubt und dabei die Gefahr von Konflikten nicht nur in Europa, sondern auch auf dem ganzen Gebiet der ehemaligen Sowjetunion reduziert.
Während das zweite Szenario nur in den Gedanken der ehemaligen Kommunisten und „Nationalpatrioten“ zum Ausdruck kommt, verfolgt Jelzin das dritte Ziel. Dementsprechend widerspricht der Aufbau der Europäischen Union den Interessen Rußlands, da sie zu seiner Isolation und zu der Abschwächung seiner geopolitischen Rolle in Eurasien führt Nach Ansicht des russischen Außenministeriums bestünden die Ziele der Föderation Rußlands als Ganzes in der Förderung der Mehr-Polarität der Außenpolitik westeuropäischer Staaten, und demzufolge in der Verlangsamung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit und in der Begrenzung sicherheitspolitischer Funktionen der WEU.
VI. Besondere Beziehungen zu Deutschland: Traum oder Realität?
Die endgültige Lösung der „künstlich hochgespielten deutschen Frage“, wie es noch 1988 in den offiziellen sowjetischen Medien hieß, hat die Notwendigkeit der Neugestaltung der deutsch-russischen Beziehungen auf die Tagesordnung gesetzt. Hier sei folgendes erwähnt:
1. Als Ergebnis der Vereinigung Deutschlands und des Zerfalls der Sowjetunion ist eine Situation entstanden, die niemals in der über dreihundert-jährigen Geschichte deutsch-russischer Beziehungen existiert hat: einerseits ist Deutschland ohne Zweifel Rußland weit überlegen, andererseits sind beide in der offiziellen Politik weder Verbündete noch Feinde.
2. Es gibt objektive Schwierigkeiten, die einer umfassenden Ausweitung bilateraler Beziehungen im Wege stehen: Von deutscher Seite sind es die enormen Kosten des Vereinigungsprozesses sowie die Gründungsprobleme der Europäischen Union; von russischer Seite die nicht ohne Erfolg von der Opposition hochgespielte Gefahr, die von einem größer gewordenen Deutschland ausgeht, in dem die Agressivität gegenüber Ausländern zunimmt, sowie die untergeordnete Rolle des Problems der Rußland-Deutschen.
Die Möglichkeit und die Notwendigkeit von Sonderbeziehungen zu Deutschland, die russische Germanisten im Frühjahr 1991 angeregt hatten, waren von Anfang an aus folgenden Gründen nicht zu realisieren:
1. Der Vorschlag einiger sowjetischer Politologen, die Sowjetunion solle noch vor der Wahl in der ehemaligen DDR im März 1990 „die Zustimmung zu ihrem NATO-Beitritt gegen politische Zugeständnisse von der westdeutschen Seite erkaufen“ (z. B. konkrete Wirtschaftsverpflichtungen mit langfristiger Perspektive, Sonderbehandlung im Vergleich zu anderen ehemaligen Comecon-Staaten in Fragen des EG-Beitritts und der Annäherung an die NATO), wurde von Gorbatschow solange abgelehnt, bis er durch die tatsächlichen Ereignisse überholt wurde.
2. Die entsprechenden rechtlichen Grundlagen wurden nach der Wiedervereinigung weder im Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit (im Artikel 6 sind nur die regelmäßigen Konsultationen und im Artikel 9 die Schaffung günstiger Bedingungen für die unternehmerische Tätigkeit erwähnt), noch im neuen Wirtschaftsabkommen (außer der Förderung der Zusammenarbeit zwischen kleinen und mittleren Unternehmen im Artikel zwei) angedeutet
3. Die Hoffnungen auf die Erhaltung der besonderen Wirtschaftsbeziehungen zur ehemaligen DDR haben sich nicht realisiert, was nach dem Ende der von der Bundesregierung (in Überein-stimmung mit der EG) gewährten Übergangszeit folgendermaßen aussieht:
-Die russischen Exporteure konnten nur im bescheidenen Umfang von der provisorischen Erleichterung des Zuganges auf diesen Markt profitieren. Es ist z. B. kaum gelungen, auf das dezentrale Betriebsniveau überzugehen (von den 76 im Sommer 1990 auf Ministerebene mit DDR-Beteiligung im Comecon-Rahmen geschlossenen Übereinkünften werden nur drei von russischen nichtstaatlichen Firmen weitergeführt)
-Die russischen Importeure haben Anfang 1991 in begrenztem Umfang den direkten Zugang zu den von der deutschen Regierung garantierten Vorzugskrediten in Höhe von zehn Mrd. DM erhalten die von der Unionszentrale weiterverteilt worden sind. Ohne diese Kredite könnten die Exportrisiken der Unternehmen aus dem ostdeutschen Raum nicht abgesichert werden.
Die Vorstellung von besonderen Beziehungen zu Deutschland hat zu einer völlig falschen Einschätzung der Ansichten der deutschen Vertragspartner geführt. Darauf beruhen auch die Forderungen der russischen Regierung bezüglich der Auszahlung an die Kriegsopfer in Höhe von fünf bis acht Mrd. DM sowie der Gewährung neuer Sonderkredite. Deutschland, auf das ca. 53 bis 57 Prozent aller an die ehemalige Sowjetunion eingeräumten Kredite für 1990-1992 entfallen und das enorme Finanzmittel für den Wiederaufbau der ehemaligen DDR benötigt, will vor allem ein klares System der Rück-Zahlung der Schulden haben. Die Besorgnis, das deutsche Kapital verliere dadurch seine Stellung auf dem russischen Markt (Verminderung der Zahl von Joint-ventures ab Sommer 1992) und lasse sich von südkoreanischen Firmen überholen, kann die Haltung Deutschlands in dieser Frage kaum ändern. Es besteht kein Zweifel, daß sich in der Zukunft die deutsch-russischen Beziehungen positiv entwickeln werden. Da es aber nicht gelingen wird, sie besonders eng zu gestalten wird das auf russischer Seite die Vorstellung nähren, sie hätten sich verschlechtert. Die Vertiefung der direkten Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und dem europäischen Rußland -zunächst auf der dezentralen Ebene (Bundesländer -Bezirke) -könnte schon jetzt dieses Problem abmildern (das europäische Rußland braucht keinen Sonderstatus, sondern eine den anderen europäischen Nicht-EG-Staaten ähnliche Behandlung) und ist auch infolge der inneren Prozesse in der Russischen Föderation zukunftsorientiert. Dies würde einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau eines Systems der politischen und wirtschaftlichen Sicherheit zunächst bis an der Wolga leisten, wobei das über die Europäische Union (als Kern dieses Systems) handelnde Deutschland objektiv und ohne Konfrontation die Rolle eines Vermittlers übernähme.