I. Einführung
Wie eine künftige Weltwirtschaftsordnung auszusehen, in welche Richtung sie sich zu entwickeln hat, hängt wesentlich von den Erwartungen ab, die man mit ihr verbindet. Sucht man in ihr primär das übergreifende Regulativ für eine unangefochtene Gestaltung des internationalen Wettbewerbs, so wird der Schwerpunkt zwangsläufig auf dem Anspruch der Reziprozität, der Gegenseitigkeit liegen. Von der Einlösung dieses Anspruchs sind am ehesten für all jene Länder, die mit eigenen konkurrenzfähigen Leistungen am internationalen Marktgeschehen beteiligt sind, gleichmäßige Vorteilssicherungen zu erwarten. Auf dieser Grundlage ist etwa die erste und ursprüngliche Fassung der Welthandelsordnung, das Allgemeine Zoll-und Handelsabkommen (GATT) von 1947, konzipiert.
Sucht man hingegen in der Weltwirtschaftsordnung das übergreifende Regulativ für die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, so wird man sich mit einem solchen Ansatz nicht zufriedengeben können. Der Schwerpunkt wird sich notwendig verlagern: Radikal einbezogen werden muß auch der Schwächere, der ökonomisch hoffnungslos an den Rand Gedrängte und Zukurzgekommene. Dies wird gegebenenfalls selbst einseitige Vorleistungen und Vorteilssicherungen für ihn nicht ausschließen dürfen. Nur unter dieser Voraussetzung wird Welt-wirtschaftsordnung als Instrument zur Überwindung des desolaten Zustandes der Zweiten und des Elends der Dritten Welt überhaupt erst tauglich.
Zu einer so verstandenen Weltwirtschaftsordnung würde dann allerdings mehr gehören als eine entsprechend auf dieses Ziel ausgerichtete Welthandelsordnung. Mit Handelsordnungen allein, und seien sie auch noch so sehr auf Chancen für den Schwächeren hin ausgerichtet, läßt sich wirkliche Armut nicht überwinden. Wem es an elementarer ökonomischer Leistungskraft mangelt, mit dem lassen sich Geschäftsbeziehungen -und um deren Regelung geht es ja bei Handelsordnungen -gar nicht erst aufbauen. Er muß erst einmal dazu in Stand gesetzt werden. Soll also eine Welt-wirtschaftsordnung dem hier beschriebenen Ziel gerecht werden, gehört zu ihr nicht nur ein Ordnungsrahmen zur Koordinierung und Verbesserung der Bedingungen internationaler wirtschaftlicher Transaktionen im Sinne der Welthandelsordnung, sondern ebensosehr auch ein Ordnungsrahmen, der die spezifisch sozialen Anforderungen im Miteinander der Wirtschaftsgesellschaften auf entsprechend effiziente und berechenbare Grundlagen stellt.
II. Die Entwicklung der Wirtschaft zur Weltwirtschaft als ethische Herausforderung
Tatsächlich hat die seit Ende des letzten Weltkriegs rasant voranschreitende Intemationalisierung der Wirtschaft ganz neue Ausgangslagen geschaffen. Die einzelnen Volkswirtschaften sehen sich in großen Bereichen zunehmend in die Weltwirtschaft verflochten. In vielerlei Hinsicht lassen sie sich nur noch als Teil eines inzwischen längst global ausgelegten, hochsensiblen, über alle Ländergrenzen hinweg agierenden Wirtschaftsgefüges verstehen. Dieser Prozeß der Globalisierung der modernen Wirtschaft zeigt sich insbesondere an drei Erscheinungen
1. An der Internationalisierung des Warenaustauschs. Der „Offenheitsgrad“ der meisten Volkswirtschaften -darunter versteht man die Summe aus Export-und Importquote am Bruttosozialprodukt -ist höher als je zuvor. Die Auslandsnachfrage ist für nicht wenige Produktionsbereiche wichtiger geworden als die In-1 * landsnachfrage. Aber auch der Anteil der Importe am Inlandsverbrauch ist durchweg gestiegen. Demzufolge läßt sich in bezug auf zahlreiche Güter und ihre Märkte streng genommen nicht mehr von nationalen Märkten, sondern nur noch von Weltmärkten sprechen.
2. An der Intemationalisierung der Produktion. Direktinvestitionen im Ausland gewinnen für die Wettbewerbsfähigkeit von Firmen erhebliches Gewicht. Der Anteil der Auslandsproduktion von Inlandsfirmen hat ständig zugenommen. Darüber hinaus hat sich innerhalb sogenannter transnationaler Unternehmen, die ihre Produktionsprozesse inzwischen weltweit planen, eine intensive Arbeitsteilung über viele Ländergrenzen hinweg ausgebildet.
An der Globalisierung der Finanzmärkte. Banken tätigen heute ihre Aktiv-und Passivgeschäfte mit Ausländem ebenso selbstverständlich wie mit Inländern, inzwischen in nicht unbeträchtlichem Maße auch durch eigene Vertretungen im Ausland. Der Austausch steigt, Kapitalbewegungen kennen keine Grenzen. Am deutlichsten zeigen dies wohl die ungeheuren Umsätze im internationalen Wertpapierverkehr. „Es gibt nur noch eine Aktienbörse in der Welt und sie ist ganztägig geöffnet; wenn der Handel in Tokio beginnt, werden in Los Angeles gerade die Schlußkurse festgesetzt.“
Betrachten wir die Einheit der Menschheit in Freiheit als ein der geschichtlich-personalen Entfaltung des Menschen adäquates und damit ethisch zutiefst gerechtfertigtes Ziel, so wird man gerade die Entwicklung der Wirtschaft von der relativ geschlossenen Volkswirtschaft zur offenen Weltwirtschaft in eben jenen größeren Zusammenhang einzuordnen haben. Ohne eine Intemationalisierung der Wirtschaft wäre dieses Ziel in der Tat nicht erreichbar. Von daher aber stellt dieser Vorgang ungeachtet aller weiter notwendigen Korrekturen einen gewaltigen Schritt nach vom dar.
Wenn wir ferner die Tatsache ernst nehmen, daß Wettbewerb als strukturelles Element für eine effiziente, von Eigeninitiative, Risikobereitschaft und Leistungswillen bestimmte Wirtschaft unerläßlich ist, dann muß dies in gleicher Weise auch für die Entfaltungsbedingungen von Wirtschaft auf internationaler Ebene gelten. Wir haben es also bei der Ausweitung des dezentralen Entscheidungssystems „Marktwirtschaft“ auf weltwirtschaftliche Prozesse nicht mit einem Verfallssyndrom zu tun. Soll diese Wirtschaft tatsächlich zu einem Instru-ment des „Gemeinwohls der Menschheitsfamilie“ 3 werden, so kann sie hierbei auf dieses grundlegende Ordnungsprinzip nicht verzichten
Dennoch müssen wir darüber hinaus ebenso die Tatsache in Rechnung stellen, daß freier Wettbewerb auf offenen Märkten aus sich heraus, ohne entsprechende Rahmenordnungen, noch keine humanen Symmetrien in die ökonomischen Abläufe zu bringen, geschweige denn soziale Gerechtigkeit zu schaffen vermag. Genau diesem Problem aber sehen wir uns hier in eminenter Weise konfrontiert. Letztlich wiederholen sich damit -jetzt freilich auf globaler Ebene -dieselben grundlegenden Schwierigkeiten, vor die sich bereits die jungen Industrienationen des 19. Jahrhunderts mit ihrer Option für Wettbewerb und der daraus resultierenden „Sozialen Frage“ in bezug auf eine gerechte Gestaltung ihrer Volkswirtschaften gestellt sahen. Wenn sich aber für diese die soziale Frage als im Prinzip lösbar erwies, so wesentlich deshalb, weil hier der Staat selbst als oberster Souveränitätsträger unmittelbar einzugreifen und das marktwirtschaftliche System sozialpolitisch auszutarieren bzw. wie in der Bundesrepublik mit der Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft in eine inzwischen hochentwickelte soziale Rahmenordnung einzubinden vermochte.
Gerade für diesen Lösungsweg fehlen jedoch auf weltwirtschaftlicher Ebene alle Voraussetzungen. Hier gibt es in der Tat keine dem Staat und seinen Befugnissen vergleichbare, mit eigener Souveränität ausgestattete überstaatliche Ordnungsmacht, die jene sozialpolitischen Aufgaben in bezug auf eine „Weltwirtschaftsgemeinschaft“ zu erfüllen vermöchte, wie sie die einzelnen Staaten im Hinblick auf ihre eigenen Volkswirtschaften wahmehmen und leisten. Wenn aber eine solche überstaatliche Ordnungsmacht fehlt, von wem anders sollte dann noch die Initiative zur Schaffung einer für die Durchsetzung dieser Aufgabe notwendigen globalen wirtschaftlichen Rahmenordnung ausgehen können als von den Einzelstaaten selbst? Damit scheinen wir mit unserem Problem auf schwankenden Boden zu geraten. Staaten sind in ihren Entscheidungen autonom. Dies macht eine Lösung gewiß nicht leichter, aber auch nicht weniger drän gend. Jedes weitere Ausweichen vor der hier liegenden Herausforderung verbietet sich aus fundamentalen ethischen Gründen ebenso wie aus Gründen des wohlverstandenen Interesses aller. Dies machen folgende Überlegungen deutlich:
1. Die Intemationalisierung der Wirtschaft ist faktisch vollzogen und als solche irreversibel. Das Interesse der einzelnen Länder, an der überwältigenden Fülle der Produkte, aber auch an den spezifischen Investitionsangeboten des so entstandenen Weltmarkts zu partizipieren und umgekehrt die eigenen Ressourcen und Güter in diesen Markt einzubringen, ist ungebrochen. Demgegenüber haben sich Versuche, die Chance der eigenen Entwicklung mit einer bewußten Abkoppelung der nationalen Wirtschaft vom Weltmarkt verbessern zu wollen, als Fehlschläge erwiesen. Sie wurden durchgängig mit „Stagnation und Rückgang“ bezahlt
2. Die Ausweitung und Öffnung der Märkte führt ihrerseits zu immer größeren Interdependenzen und damit zu wachsender Abhängigkeit der einzelnen Volkswirtschaften voneinander. Mit dem Maß an wechselseitiger Abhängigkeit aber wächst zugleich der generelle Kooperationsdruck. Wo sich Nachteile und Vorteile des andern mit eigenen Nachteilen und Vorteilen verknüpfen, ist am ehesten der Weg zur Abstimmung über konkurrierende Interessen zu größtmöglichem Vorteil aller und damit zu entsprechenden Vereinbarungen gewiesen. Genau darin haben wir denn auch die Voraussetzungen für das Allgemeine Zoll-und Handelsabkommen von 1947 zu suchen, das seitdem mehrfach, und zwar was seine Grundlagen betrifft, in durchaus konstruktiver, weiterführender Weise geändert, heute von fast hundert Staaten unterzeichnet ist.
3. Tatsächlich ist das sich aus der gegenseitigen Durchdringung der Märkte ergebende Interesse an Zusammenarbeit durchaus noch steigerungsfähig. Wo die wechselseitigen Abhängigkeiten genügend groß sind und von den Beteiligten gleichzeitig die ungeheuren Vorteile erkannt werden, die sich für sie durch eine noch engere Verbindung ihrer Volkswirtschaft erreichen lassen, liegt der Schritt zur Fusionierung dieser Wirtschaften und damit der Schritt zur Schaffung noch größerer, in sich konsistenter Wirtschaftsräume unmittelbar nahe. „Unter dem Dach globaler wirtschaftlicher Verflechtung vollzieht sich eine verstärkte regionale Integration.“ Das Beispiel der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und ihrer Entstehung hat dies auf besonders eindrucksvolle Weise gezeigt.
4. Nicht jede Abhängigkeit von den Entwicklungen des Weltmarktes führt aber zugleich auch zu neuen Formen der Kooperation oder läßt sich für die eigene Volkswirtschaft wenigstens als Vorteil nutzen. Abhängigkeit impliziert als solche immer auch entsprechende Möglichkeiten der Verletzbarkeit. Jede Marktsättigung, jede Wettbewerbsverschiebung kann hier empfindliche Negativwirkungen hervorrufen und Konjunkturrückgänge, Verluste an Arbeitsplätzen sowie Unausgeglichenheiten der Außenhandelsbilanz nach sich ziehen. Fortgeschrittene Industrieländer mit ihrer Vielfalt an Produktionsbereichen und ihren zum Teil hochentwickelten sozialen Netzen werden damit in der Regel vergleichsweise leicht fertig.
Ganz und gar anders stellen sich die Dinge demgegenüber für die meisten Entwicklungsländer dar. Verletzungen dieser Art können hier bereits schwerwiegende Folgen für die Gesamtintegration ihrer Wirtschaft in die Weltwirtschaft haben und damit ihre Wohlfahrt entscheidend treffen. Was sich ihnen als Weg zu Fortschritt und Entwicklung anbot, wird ihnen unter eben solcher Voraussetzung zum Verhängnis. Wo die für eine von Technik und Wissenschaft bestimmte moderne Wirtschaft erforderlichen immensen kulturellen Transformationsleistungen erst noch zu erbringen sind, ohne daß dazu weder die notwendige Zeit noch die notwendigen sachlichen und personellen Mittel zur Verfügung stehen, wo ferner der größte Teil der vorhandenen Ressourcen vor allem für die eigene dramatisch wachsende Bevölkerung dringend benötigt wird und wo dann am Ende auch noch das, was man auf dem Weltmarkt tatsächlich anzubieten in der Lage ist, infolge von Überangebot von ständigem Preisverfall bedroht ist, da kann eine erfolgreiche weltwirtschaftliche Eingliederung nicht gelingen, da ist der wirtschaftliche Niedergang und damit die Verelendung ganzer Länder und großer Bevölkerungsmassen geradezu vorprogrammiert.
Um Bewußtmachung eben dieses Problems einer sich auf globaler Ebene anbahnenden neuen Armut ging es bereits Paul VI. in seiner 1967 erschienenen Sozialenzyklika „Populorum progressio“, „Über den Fortschritt der Völker“. Es war die erste Enzyklika, die ihre Aufmerksamkeit systematisch auf die großen weltwirtschaftlichen Zusammenhänge richtet, wenn Paul VI.seine Situationsanalyse mit der lapidaren Feststellung beginnt: „Heute ist -darüber müssen sich alle klar sein -die soziale Frage weltweit geworden.“ Gerade im Zuge dieser ihrer Ausweitung aber gewinnt die Frage nochmals eine neue Dimension. Sie stellt nicht mehr nur eine Herausforderung für den sozialen Frieden einzelner Gesellschaften dar, sondern wirkt sich nunmehr auch als gefährlich destabilisierender Faktor auf das internationale Ordnungsgefüge insgesamt aus. Sie vermag Prozesse in Gang zu setzen, die das friedliche Miteinander der Völker in vielfältiger Weise und in zunehmendem Maße bedrohen. Was hier gärt, fordert, soll es nicht am Ende zu verheerenden, unsteuerbaren Auswirkungen kommen, ganz neue produktive Antworten, mit denen dem elementaren Anspruch auf soziale Gerechtigkeit auch auf globaler Ebene endlich Rechnung getragen wird. Entwicklung und Frieden lassen sich unter den erreichten Voraussetzungen nicht länger voneinander trennen. Nur wo dem einen Bahn gebrochen wird, ist auch das andere zu sichern.
5. Eine zusätzliche Verschärfung gewinnt die wirtschaftliche Gesamtsituation mit dem sukzessiven Zusammenbruch der sozialistischen Systeme seit Beginn der neunziger Jahre. Dabei fällt als erstes ins Gewicht, daß mit der darin zum Ausdruck kommenden Absage an jegliche Form einer Planwirtschaft ein solcher Weg auch für die Entwicklungsländer als mögliche Option und damit als Alternative zur Marktwirtschaft obsolet geworden ist. Umso nachdrücklicher sehen sich die Entwicklungsländer nunmehr allein auf den westlichen Weg verwiesen. In Wahrheit bedeutet dies jedoch auch, daß sich ihr ökonomisches Schicksal unablösbar mit dem verknüpft, was ihnen die den Weltmarkt beherrschende industriell entwickelte Welt an tatsächlichen Chancen eröffnet bzw. an Möglichkeiten beläßt. Dasselbe Problem stellt sich nun aber zusätzlich für die Länder der bisherigen soge-nannten Zweiten Welt, wenngleich unter etwas anderen Voraussetzungen. Hier handelt es sich nämlich um Länder, die einerseits schon über einen gewissen industriellen Entwicklungsstand verfügen, andererseits aber mit der Ausbildung der für deren humane Effizienz erforderlichen sozialstrukturellen Voraussetzungen noch ganz am Anfang stehen. Für die hochentwickelten westlichen Industrienationen bedeutet beides, das weithin ungelöste Problem der Dritten Welt ebenso wie die nicht weniger brisante Problemlage der Zweiten, zuvor kommunistischen Welt eine in Wahrheit noch längst nicht voll begriffene, ungeahnte Herausforderung: Die damit geforderte Nacharbeit ist von den Betroffenen selbst alleine nicht zu leisten. Ob die hier einzubringende gezielte Assistenz von eben jenen geleistet wird, für deren Weg man optiert, entscheidet letztlich das blanke Überleben aller übrigen. Läßt der Westen weiter die Dinge treiben und entzieht sich der ihm gestellten Aufgabe, so schafft er sich damit ohne Zweifel immer unkalkulierbarer werdende Konfliktpotentiale, deren Herr zu werden er am Ende womöglich gar die eigenen menschenrechtlichen Prinzipien verraten müßte, unter denen er angetreten ist.
6. Die größte Herausforderung jedoch, der sich die Menschheit heute gegenüber sieht, stellt die im Kontext von Industrialisierung und Bevölkerungswachstum immer nachhaltiger hervortretende Zerstörung der natürlichen Umwelt dar. Sollen die damit heraufbeschworenen immensen Gefahren endgültig gebannt werden, so macht gerade dies eine entsprechend umfassende Umgestaltung und Fort-entwicklung der weltwirtschaftlichen Rahmenordnung unausweichlich. Wirtschaftliches Wachstum läßt sich nur dort auch als Fortschritt geltend machen, wo es von den Bedingungen der Natur mit-getragen wird, andernfalls schlägt es über kurz oder lang negativ auf seinen Urheber, den Menschen, zurück. Die dem Prozeß menschlichen Wirtschaften zugrunde zu legende umweltethische Leitforderung lautet demnach: „Gesamtvernetzurig“ -Rückbindung unserer gesamten Ökonomie in das sie tragende Netzwerk der Natur (Prinzip der Retinität). In all dem geht es um nicht weniger als um ein an der Bewahrung der Schöpfung orientiertes, neues Verständnis von wirtschaftlicher Entwicklung, von wirtschaftlichem Wachstum und wirtschaftlichem Fortschritt. „Sustainable development“ -„tragfähige Entwicklung“ heißt dies mit dem entscheidenden Stichwort des Brundtland-Berichts von 1987, das seit dem Umweltgipfel von Rio 1992 endgültig in die ökonomisch-ökologische Diskussion Eingang gefunden hat. Der damit einzuschlagende Weg in die weltwirtschaftliche Zukunft impliziert insofern auch keine Absage an technologisch-ökonomischen Fortschritt, wohl aber dessen entschiedene Einbindung in unabdingbar zu wahrende Voraussetzungen der Natur. Insgesamt liegt in eben dieser Notwendigkeit der Einbindung zugleich der entscheidende Motivationsfaktor, der unter allen übrigen am unerbittlichsten zu einer generellen Neuorientierung in Sachen Weltwirtschaft und ihrer Entwicklung zwingt. Wo jeder der Beteiligten auch zum Betroffenen wird, kann auf die Dauer niemand Solidarität verweigern.
Dennoch bleibt generell festzuhalten: Das Ringen um eine neue Weltwirtschaftsordnung in unserem Jahrhundert hat seinen Ausgang weder bei der Umweltfrage noch bei der sich globalisierenden sozialen Frage, sondern wesentlich bei der Frage nach einer übergreifenden Koordinierung der zwischenstaatlichen ökonomischen Austauschprozesse genommen, und diese Frage macht ohne Zweifel bis heute auch seinen innersten Kern aus. Die beiden anderen Problemkomponenten sind demgegenüber erst im weiteren Prozeß der weltwirtschaftlichen Entwicklung in ihrem ganzen, ungeheuren Gewicht hervorgetreten. Wenn sich uns also heute das Problem der Weltwirtschaftsordnung als ein derart umfassendes ethisches Problem stellt, so werden wir auch dann von diesen genealogischen Zusammenhängen und deren innerer Systematik nicht absehen dürfen. Gerade deshalb aber erscheint es zunächst erforderlich, den besonderen Stellenwert, der der Welthandelsordnung -also GATT -und den sich daran kristallisierenden Bemühungen in diesem Gesamtkontext zukommt, genauer in Blick zu nehmen.
III. Das Allgemeine Zoll-und Handelsabkommen als ordnungsethische Antwort
Als regulative Idee fungiert hierbei die Idee einer internationalen Arbeitsteilung mit dem Ziel friedlichen Austausches von aufeinander verwiesenen und einander ergänzenden nationalen Märkten. Als Maßstab für ein diesem Ziel dienendes Verhalten wurde das „Pareto-Kriterium“ zugrunde gelegt. Demzufolge sind Handelsabsprachen zwischen Nationen so zu treffen, daß erstens der hierbei von den beteiligten Ländern angestrebte Nutzen ein gegenseitiger ist (Prinzip der „Reziprozität“) und daß zweitens der Wirtschaft keines weiteren Landes dadurch Schaden entsteht. Um letzteres sicherzustellen, rekurriert GATT auf das Prinzip der „unbedingten Meistbegünstigung“. Hiernach gelten Zugeständnisse, die ein Land einem anderen einräumt, gleichzeitig als allen übrigen Unterzeichnerstaaten gegenüber gemacht. Auf diese Weise tragen die einzelnen Staaten im Verfolgen ihres Eigenwohls immer auch ein Stück weit dazu bei, die „Weltwohlfahrt“ als Ganzes voranzubringen. Grundsätzlich geht es hier also um die Herstellung von Handelsbedingungen, die auf dem ethischen Fundament einer durch das Prinzip der „unbedingten Meistbegünstigung“ multilateral ausgeweiteten Reziprozität beruhen. In der Konsequenz führte dies zum prinzipiellen Verbot von mengenmäßigen Handelsbeschränkungen. Die einheimische Produktion sollte nicht mehr durch Export-bzw. Importkontingentierungen geschützt werden, sondern allein noch durch Zölle, die ihrerseits wiederum im Rahmen von bisher sieben Zollsenkungsrunden (GATT-Runden) in bezug auf viele Produkte harmonisiert und deutlich gesenkt wurden. Bis 1979, dem Abschluß der sogenannten Tokio-Runde, konnte auf diesem Wege multilateraler Vereinbarungen die durchschnittliche Zollbelastung auf vier Prozent des Warenwertes herabgesetzt werden
Damit waren ohne Zweifel erste Schritte auf dem Weg zur Installierung einer Ordnung getan, die ein größeres Maß an Fairneß und Gemeinwohlorientierung in den internationalen Wettbewerb zu bringen versprachen. Man erkannte schon bald, daß die hier entwickelte Konzeption, wie sie dem GATT-Vertrag von 1947 zugrunde liegt, faktisch ganz auf den Umgang fortgeschrittener Industrienationen abgestimmt ist und damit auch nur zur Lösung der Konflikte, die sie miteinander haben, beitragen kann. Impliziert ist darin nämlich im Grunde eine Position beiderseitiger Stärke bei gleichzeitiger Abhängigkeit voneinander. Nur wo dies gegeben ist, sind die Kontrahenten in der Lage und zugleich auch motiviert genug, einander Vorteile einzuräumen und sich gegenseitige Zugeständnisse bei der Regelung des Güteraustausches zu machen, die dann ebenso auch allen anderen gegenüber gelten.
Diese Voraussetzungen, treffen jedoch gerade auf das Verhältnis zwischen armen und reichen Ländern nicht zu. Zu derlei Zugeständnissen sind die armen Länder auf Grund ihrer Armut gar nicht erst in der Lage. Und die Reichen gegenüber den Armen? Auch sie werden kaum Anlaß zu eigenen Vorleistungen sehen, solange die Ressourcen, Güter und Fähigkeiten, die die Armen zu bieten haben, nicht knapp genug sind, um sie sich durch Einräumen von Handelsvorteilen sichern zu müssen. Das Prinzip der Reziprozität greift hier also gar nicht. Die Abhängigkeit ist einseitig. So kann es denn nicht verwundern, daß Handelsvereinbarungen zu gegenseitigem Vorteil zwischen Industrie-und Entwicklungsländern nur selten getroffen werden. Dies bleibt weiterhin eine Sache der Industrieländer, die damit vor allem ihr eigenes Wohlstandsniveau verbessern können. Zwar partizipieren auch die Entwicklungsländer auf Grund des Prinzips der „unbedingten Meistbegünstigung“ an derlei Vereinbarungen. Aber eben nur theoretisch, sie können sich die Produkte auf Grund ihrer Armut trotzdem nicht leisten. Aufs Ganze gesehen wird hier deutlich, daß der GATT-Vertrag von 1947 in bezug auf eine umfassendere Koordinierung und effizientere Gestaltung des Wettbewerbs unter den Industrieländern mit seinem Ansatz zwar Fortschritte gebracht hat, daß er aber damit der Problematik der Entwicklungsländer nicht gerecht werden konnte. Das Prinzip der Reziprozität vermag zwar zwischen Starken Ausgleich zu schaffen, nicht aber zwischen Starken und Schwachen. Eine fortschreitende Einbindung der Entwicklungsländer in den Weltmarkt war auf diese Weise nicht zu erreichen. Im Gegenteil, die Einkommensunterschiede zwischen reichen und armen Ländern haben sich mit der einseitigen Favorisierung dieses Prinzips tendenziell noch vergrößert. Spätestens in den sechziger Jahren hat man dies deutlich erkannt. Die darüber entstandene Diskussion führte dann schließlich 1966 in der sogenannten Kennedy-Runde zu einer nicht unwichtigen Differenzierung der Bedingungen des ursprünglichen GATT-Vertrages. In einem eigens hinzugefügten Teil IV sagen die Industrieländer zu, von den Entwicklungsländern keine Reziprozität mehr zu verlangen. Darüber hinaus wurden auf eine Initiative der UNCTAD hin Vorzugszölle zugestanden.
Dies war, wollte man in Sachen Entwicklungsländer auf der Ordnungsebene vorankommen, ohne Zweifel ein weiterer Schritt nach vorn. Es sind damit Konditionen geschaffen, mit deren Hilfe sich die Gewinnspannen bei den Exporten für diese Länder im Prinzip zusätzlich verbessern lassen, was dann wiederum der Gesamtentwicklung des jeweiligen Landes zugute kommt. Vorausgesetzt bleibt freilich auch hier, daß ein entsprechend nachhaltiger Bedarf an den angebotenen Gütern besteht, daß sie also knapp genug sind, um derart einseitige Vorteilssicherungen für die Anbieter seitens der Nachfrager trotzdem interessant zu machen und zu rechtfertigen. Genau dies aber trifft in bezug auf die meisten Güter, die die Entwicklungsländer als Exportgüter in den Weltmarkt einzubringen haben, gar nicht erst zu. Insofern sind die Ausgangslagen solcher Länder in der Regel doch sehr viel schlechter, als daß die genannten GATT-Zugeständnisse so schnell irgendeine Relevanz gewinnen könnten
Nicht wenige unter ihnen, und hier vor allem jene, die stark von Rohstoffexporten abhängig sind, mußten vielmehr umgekehrt in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen Rückgang ihrer Exportpreise hinnehmen. Das gilt z. B. in eklatanter Weise für die Länder Schwarzafrikas. Dabei vermochte hier der Versuch, die wachsenden Einnahmeverluste durch entsprechende Steigerung der Produktionsmengen auszugleichen, gewiß keine Lösung zu bringen. Am Ende führte dies nur zu weiterer Übersättigung des Weltmarkts mit den angebotenen Produkten und damit zu weiterem Verfall der Preise. Der Anteil Afrikas am Weltexport, ohnehin minimal genug, zeigt denn auch eine stetig abnehmende Tendenz. Betrug er 1955 4, 7 Prozent, so lag er 1988 nur noch bei 1, 9 Prozent. In seiner Bedeutung für die Weltwirtschaft ist Afrika damit zu einer „praktisch vernachlässigbaren Größe“ geworden, und das überdies noch in einer Phase des stärksten Bevölkerungswachstums seiner Geschichte. Was sich mit dieser Ausweglosigkeit der Entwicklungsländer, und hier ist Afrika ja nicht allein zu nennen, an Schrecken und Leiden für die Betroffenen, aber auch an Risiken für die Welt verbindet, gibt der Frage nach einer wirklich zureichenden Weltwirtschaftsordnung einen ganz neuen Emst.
Bei aller Notwendigkeit, hier endlich eine grundlegende Wende herbeizuführen, wird man jedoch aus dem bisher Gesagten nicht den Schluß ziehen dürfen, daß die Ursache der Verelendung der Dritten Welt unmittelbar in möglichen Defiziten des GATT-Vertrages zu suchen ist, daß also eine Änderung der Lage nur über ganz entschiedene Verbesserungen dieses Vertrages erreicht werden könnte. Solche Überlegungen haben in der Tat während der siebziger Jahre eine Rolle gespielt. Hierzu gehört u. a. auch der Vorschlag, die Welthandelsordnung fundamental zu ändern und ihr an Stelle des Pareto-Kriteriums das Fairneß-Prinzip von Rawls zugrunde zu legen Folgt man diesem Prinzip, so dürfen internationale Handelsverträgenur unter der Voraussetzung abgeschlossen werden, daß sie gleichzeitig jenen Ländern Vorteile bringen, die als die jeweils Ärmsten zu ermitteln sind. Das aber bedeutet, daß diesen Ländern im Hinblick auf die jeweiligen Vereinbarungen gewissermaßen ein Kontroll-und Vetorecht eingeräumt wird. Damit würde der Markt freilich Mechanismen unterworfen, die die Entscheidungsspielräume derart einengen, daß dies faktisch zu einer Erosion des Wettbewerbsprinzips führen müßte. An eine Anhebung der Weltwohlfahrt wäre dann aber erst recht nicht zu denken.
Angesichts derart radikal ansetzender, in ihren Konsequenzen kaum durchschaubarer Konstruktionen bleibt zu fragen, ob nicht mit den 1966 am GATT-Vertrag vorgenommenen Korrekturen in Wahrheit bereits das Äußerste an Möglichkeiten ausgeschöpft wurde, um damit das sicherzustellen, was ein Ordnungsinstrument des Welthandels, das ja als solches das Wettbewerbsprinzip nicht außer Kraft setzen darf und will, von sich aus zur Schaffung von mehr sozialer Gerechtigkeit beizutragen vermag. Wenn nun aber dennoch im Zusammenhang mit GATT durchaus auch Kritik am Platz ist, dann betrifft dies eine ganz andere Tatsache, jene nämlich, daß gerade die Industrienationen, die sich diese Ordnung ursprünglich gegeben haben, von Anfang an immer wieder dahin tendierten, die Geltungsbereiche des Abkommens nunmehr unter Zuhilfenahme nichttarifärer Handelsrestriktionen (z. B. technische Normauflagen, Zulassungsbeschränkungen, Gesundheitsschutzbestimmungen) möglichst einzuengen, um so den besonders gefährdeten Produktionssektoren ihrer eigenen Volkswirtschaften möglichst günstige Konditionen zu sichern.
Die Denkschrift der EKD „Gemeinwohl und Eigenwohl“ weist hier mit Recht auf die Fragwürdigkeit einer solchen Praxis hin und nimmt dies zum Anlaß, eine ganze Reihe von Kritikpunkten aufzulisten: „Der Agrarhandel war weitgehend von den verabredeten Regeln ausgenommen, der internationale Dienstleistungsverkehr blieb völlig unberührt, und bei verarbeiteten Produkten wurde fast ausschließlich die Importseite, der Zugang zu den Märkten anderer Staaten, geregelt. Selbst die Importe von Industriewaren unterliegen nicht vollständig den Bestimmungen des Abkommens: Für Textilien und Bekleidung wurde schon früh ein eigenes (protektionistisches) Regime geschaffen; Stahl wurde später weitestgehend ausgenommen. Ferner gingen Länder nach und nach dazu über, zur Vermeidung höherer struktureller Arbeitslosigkeit einen außenhandelsbedingten Strukturwandel durch selektive protektionistische Maßnahmen zu verlangsamen. So blieb es nicht aus, daß Anfang der achtziger Jahre Abweichungen vom Prinzip der unbedingten Meistbegünstigung eher die Regel als die Ausnahme bildeten.“ Wenn also im Zusammenhang mit dem GATT-Vertrag gerade der Dritten Welt zusätzliche Nachteile entstehen, dann liegt das offensichtlich nicht an der Vernunft des Vertrages selbst, sondern an seiner Aufweichung durch protektionistische Praktiken der Industrieländer.
Natürlich wird man wiederum für jede der genannten Abweichungen „gute Gründe“ geltend machen können. Und das geschieht ja auch ständig. Dennoch muß gefragt werden, ob der Preis für den Schaden, den man auf diese Weise vom eigenen Haus abzuwenden sucht, nicht am Ende von denen bezahlt werden muß, die daran, von ihren eigenen Voraussetzungen her, noch ganz anders zu tragen haben. Als Dienst am „Weltgemeinwohl“ läßt sich das aufs Ganze gesehen nicht interpretieren. Eine um so größere Bedeutung kommt deshalb in diesem Zusammenhang der Bewältigung jener Aufgaben zu, die sich die GATT-Mitglieder mit der 1986 eröffneten, jedoch bis zum jetzigen Zeitpunkt immer noch nicht abgeschlossenen Uruguay-Runde gestellt haben. Die wichtigsten Verhandlungsziele sind hier: stärkere Integration der Entwicklungsländer in das multilaterale Handelssystem, Abbau der Agrarsubventionen in der EG, Japan und den USA sowie Liberalisierung des internationalen Dienstleistungsaustausches und der Niederlassungsrechte, für die es bisher noch keine GATT-Regeln gibt.
Tatsächlich behält der GATT-Vertrag als solcher auch für eine künftig zu gestaltende Weltwirtschaftsordnung seine eigene, im Prinzip unersetzliche Bedeutung, vorausgesetzt, daß er auch inhaltlich entsprechend umfassend ausgelegt und ausgeschöpft wird. Was ihm hingegen dann immer noch an Begrenztheiten bleibend anhaftet, liegt, wie bereits aufgezeigt, in seinem Wesen als Handelsvertrag. Auch ein Handelsvertrag kann zwar der Weltwohlfahrt und deren Anhebung dienen, aber eben immer nur in den Grenzen, die ihm gesetzt sind, nämlich denen einer klugen sozialen Aussteuerung des Selbstinteresses der Beteiligten.
IV. Koordinative Entwicklungshilfe: Der strukturelle Ansatz für die Herstellung einer globalen sozialen Rahmenordnung
Wie aus dem bisher Gesagten deutlich geworden ist, hängt die Verwirklichung einer tragfähigen Weltwirtschaftsordnung wesentlich davon ab, inwieweit es gelingt, den normativen Rahmen für den Umgang der ökonomischen Akteure miteinander weltweit so zu gestalten, daß ihre Aktivitäten zugleich dem Wohl aller, also auch dem der ökonomisch Unterpriviligierten, der Zurückgebliebenen und an den Rand Gedrängten, dienen. Das aber ist über eine am Wettbewerbsgedanken orientierte Welthandelsordnung alleine nicht zu erreichen, vielmehr bedarf es hierzu einer eigenen zusätzlichen, an den unmittelbaren Erfordernissen des Schwachen orientierten, ebenso global angelegten sozialen Strategie. Zu einer auf dem Reziprozitätsprinzip aufbauenden weltweiten Tausch-ordnung muß gleichzeitig eine auf dem Personalitäts-und Solidaritätsprinzip beruhende, an Elemente der bisherigen Entwicklungshilfe anknüpfende, strukturell jedoch entschieden stärker ausgestaltete Distributionsordnung hinzutreten. Erst daraus empfängt die Weltwirtschaftsordnung eine Dignität, die sie über jede nach bloßen Interessen und Nützlichkeitserwägungen verfahrende Ordnungsgestalt erhebt: Sie wird so selbst zum integrierenden Bestandteil des Ringens um Menschenwürde und Menschenrechte.
Dieser Weg drängt sich um so mehr auf, als es ja in Wahrheit der Weg ist, den die modernen westlichen Demokratien für sich selbst längst eingeschlagen haben, auch wenn er dabei nicht von allen mit der gleichen Entschiedenheit verfolgt und ausgebaut wurde. Wo der Menschenrechtsgedanke einmal Wurzel gefaßt hat und zur Grundlage politischer Ordnung gemacht wird, kann man es auf die Dauer nicht bei der institutioneilen Absicherung rein individuell gefaßter Freiheitsrechte im Sinne einer formalen Chancengleichheit bewenden lassen. Wo es um Menschenrechte geht, geht es durchgängig auch um soziale Anspruchsrechte und damit um die Herbeiführung und Durchsetzung einer auch material entfalteten Chancengerechtigkeit. Ohne Zweifel haben wir es hier mit Optionen zu tun, die ihrer ganzen Ausrichtung nach in besonderer Weise in das genuin christliche Selbstverständnis vom Menschen zurückverweisen. Was sich heute an Menschenrechtsforderungen, und hier insbesondere mit deren sozialen Aspekten geltend macht, setzt in Wahrheit die Wirkungsgeschichte eines Ethos voraus, das dem Menschen auf eine einzigartige Weise gerecht wird, indem es bei dem ansetzt, was über seine Eigenschaften und Leistungen hinausweist: Erst die Liebe entdeckt den Menschen als Person. Erst wo auf diese Weise dem Weg zur personalen Existenz des Menschen Bahn gebrochen ist, zu dem also, was seine Würde ausmacht, erscheint es denkbar, nun auch umgekehrt das um der Entfaltung dieser Würde willen Geforderte zum Gegenstand eigener einklagbarer Rechte zu machen. Genau darin liegt der neuzeitliche Schritt zur Konzeption von Menschenrechten. Das Recht kommt endlich dort an, wo die Liebe schon ist, beim Menschen als Person. Erst so wird dann auch die Schaffung von Bedingungen plausibel, die es verhindern, daß die Schwachen und Geringen aus der Solidarität mit den übrigen herausfallen.
Es liegt auf der Hand, daß die Kirchen in besonderer Weise gefordert sind, sich zum Anwalt derer zu machen, denen diese Solidarität verweigert wird. Wenn nach Ausweis der neutestamentlichen Botschaft der Dienst am „Geringsten“ (Mt. 25, 40) als Testfall des Christlichen zu betrachten ist, so hat dies notwendigerweise auch generelle Auswirkungen auf zu setzende Handlungsprioritäten. Die den Problemen der Entwicklungsländer gewidmete Sozialenzyklika Johannes Pauls II. spricht deshalb nachdrücklich von der hier zu treffenden „Option für die Armen“ als einer Konsequenz des „Vorrangs der Liebe“ Darüber hinaus stellt die genannte Enzyklika aber noch einen damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden weiteren wichtigen Aspekt heraus, wie er sich in dieser Form erst auf der Grundlage der Zuordnung von christlichem Liebesgebot und neuzeitlichem Menschenrechtsdenken für die theologisch-ethische Reflexion zu erkennen gibt, nämlich den der strukturellen Voraussetzungen des wachsenden Massen-elends der Dritten Welt, der Bedeutung defizitärer globaler Sozialstrukturen für die gesamte Armutsproblematik. Wirtschaftliche und politische Bedingungen, die Unterentwicklung verfestigen und verschärfen, müssen hiernach wesentlich als „Strukturen der Sünde“ verstanden werden.
Zwar haben auch derartige Strukturen ihren Ursprung im Mißbrauch menschlicher Verantwortung, also in der Sünde als personaler Tat. Gleichzeitig aber stellen sie gegenüber der Sünde selbst eine Wirklichkeit sui generis dar. Indem sie sich mit ihren defizitären Gestaltungen Geltung verschaffen, gewinnen sie über ihren personalen Ursprung hinaus eine eigenständige, prägende Kraft. Sie schaffen „Abhängigkeiten und Hindernisse, die viel weiter reichen als die kurze Lebensdauer der einzelnen Menschen“ Entsprechend aber bedarf es -auch das gehört zur „Option für die Armen“ -zur Überwindung eben solcher Strukturen zugleich eines genuin politischen Willens, der an den Menschenrechten ausgerichtet und vom Gedanken universeller Solidarität geleitet bleibt.
Aber noch ein weiterer, erst in unserem Jahrhundert im Rahmen der christlichen Gesellschaftslehre entwickelter sozialethischer Schlüsselbegriff, als Wegweiser für strukturelle Entscheidungsprozesse gerade auch im Hinblick auf die Entwicklungsproblematik längst unentbehrlich geworden, muß in diesem Zusammenhang genannt werden, nämlich das Subsidiaritätsprinzip. Auch dieses Prinzip verdankt die ihm eigene Ausrichtung und Dynamik nicht weniger wesentlich dem Impetus des christlichen Liebesgebotes. Subsidiarität meint in ihrem Kern: Hilfe zur Selbsthilfe, Ermöglichung von Eigenverantwortung und der Entwicklung von Kompetenz, Hilfe, die den anderen nicht von sich selbst abhängig zu machen, sondern ihn zu sich selbst zu befreien sucht. Es ist keine Frage: Wo immer es darum geht, den Entwicklungsländern über bloße Überlebenshilfen hinaus auch tatsächliche Zukunftsperspektiven zu eröffnen, setzt dies voraus, daß gerade dieses Prinzip in vollem Umfang zur Geltung gelangt. Entwicklungshilfe, die sich daran nicht orientiert, muß damit rechnen, daß sie sich von vornherein um ihre eigentliche Wirkung bringt, schlimmstenfalls sogar negativ zu Buche schlägt.
Es gibt in jüngster Zeit ein besonders bedrückendes Beispiel für derartige Fehlstrategien, ein Vorgang, der geschichtlich ohne Vergleich bleibt und für den, obschon damit die gesamte Entwicklungssituation der betroffenen Länder aufs schwerste belastet ist, eine Lösung bis heute aussteht. Es geht um jene überaus leichtfertige, als „exportorientierte Entwicklungsstrategie“ vermarktete Kreditpolitik der im internationalen Geschäft tätigen Banken gegenüber den Entwicklungsländern während der siebziger Jahre. Tatsächlich führte zu dieser Zeit die aus verschiedenen Ursachen herrührende Überschwemmung der Weltfinanzmärkte mit US-Dollars (Preisgabe der Dollar-Gold-Konvertibilität 1971, Recycling des Petrodollar-Stromes nach der Ölpreiserhöhung 1973/74) zu einem nachdrücklichen Sinken der Zinssätze, und da in den Industrieländern die Investitionsmöglichkeiten abnahmen, suchte man für die überschüssige Liquidität gewinnbringende Anlagen in der Dritten Welt. Dies alles geschah zudem damals durchaus unter den Augen und mit Zustimmung der Weltbank und der Entwicklungshilfeinstitutionen der Industrieländer.
Keine zehn Jahre später, unter erheblich veränderten Weltmarktbedingungen, wurde das Resultat einer derart kurzgreifenden „Entwicklungshilfe“ sichtbar: ein zuvor nie dagewesener gigantischer Verschuldungsprozeß der Dritten Welt, der diese in ihren Möglichkeiten immer mehr einschnürt und aus dem sie sich aus eigenen Anstrengungen allein nicht mehr zu befreien vermag. Einen Ausweg aus der Krise kann es für die hier von einer neuen, modernen Form von „Schuldensklaverei“ bedrohten Länder denn auch am Ende nur geben, wenn die Lösung dieses Problems zum Gegenstand einer gemeinsamen internationalen Strategie gemacht wird, die die so entstandene Schuldenkrise als einen nicht weiter zumutbaren Sonderfall, als eine Fehlleistung der neuzeitlichen Sozialgeschichte erkennen läßt und über eine faire und gerechte Abwägung der Dinge die Lasten neu verteilt.
Ungeachtet der Frage, worin im einzelnen die Auslöser für diesen Vorgang zu suchen sind und wie sich hier die Verantwortungen verteilen, so ist doch das entscheidende Versagen darin zu sehen, daß man hier Kreditpolitik mit einer Leitidee verknüpft hat, deren inhärenten Ansprüchen zu genügen man auf den Grund der eigenen Geschäftsbedingungen im Ernstfall gar nicht in der Lage war. Entwicklungshilfe ist nun einmal keine handelsübliche Sache von Leistung und Gegenleistung, sondern eine Sache, in der es um Initiierung eines sich selbst erhaltenden Wachstums gerade des anderen geht. Das aber ist im gegebenen Fall nur über eine Zurückstellung, Einschränkung oder gar Suspendierung von dominanten Eigeninteressen erreichbar.
Im übrigen konnte es nicht ausbleiben, daß derart fragwürdige Vorgänge sich zunehmend auch im Hinblick auf die generelle Einschätzung möglicher für die Situation der Dritten Welt verantwortlich zu machender Grundursachen in entsprechender Weise auswirken mußten. Immerhin lautet der in Lateinamerika avancierte sozialethische Schlüssel begriff der siebziger Jahre, wie er dann sogar selbst von Theologien der Befreiung im Sinne einer Begründungskategorie aufgenommen wurde, „Dependencia“. Damit aber war das Fanalwort gegeben: Das Elend der Entwicklungsländer ist letztlich eine Folge der von den Industrienationen geschaffenenen ungerechten, ausbeuterischen Abhängigkeitsverhältnisse! Auch wenn eine derart auf den Dependenzbegriff abgestellte Argumentation von den meisten nicht gleich ideologisch so befrachtet verstanden sein will wie die alte marxistisch-leninistische „Imperialismustheorie“, die dabei Pate gestanden haben mag, so geht es darin doch sehr wohl um eine auf die Ebene der Überzeugung gehobene grundsätzlich gefaßte Ursachenbestimmung. Genau dies aber birgt Gefahren in sich.
Was sich hier als Ergebnis präsentiert, ist nicht nur von der Gesamtlage der Befunde her schwerlich abzudecken, es führt darüber hinaus zwangsläufig zum Aufbau von Feindbildern und blockiert damit jede weitere Diskussion. Gleichzeitig lenkt es -und das wiegt noch am schwersten -von einer effektiven Auseinandersetzung mit jenen zahlreichen anderen, endogen oder auch exogen bestimmten Ursachenzusammenhängen ab, denen jenseits aller defizitären Aspekte und Möglichkeiten politisch-ökonomischer Dependenz eine ganz eigene gravierende Bedeutung zukommt; sei es, daß sie die Situation der Entwicklungsländer generell, sei es, daß sie die des jeweiligen Landes in seiner Besonderheit entscheidend mitbestimmen.
Es wäre deshalb an der Zeit, gerade dieser Art von Ursachen auch unter ethisch-systematischem Gesichtspunkt sehr viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Betreffe dies nun, um nur einige Beispiele zu nennen, das letztlich erst auf der Grundlage des Fortschritts der modernen Medizin und deren weltweit erfolgreicher Bekämpfung der klassischen Seuchen möglich gewordene ungeheure Bevölkerungswachstum, nunmehr auch in der Dritten Welt, mit dem diese überhaupt erst eine Welt von Entwicklungsländern geworden ist. Oder betreffe dies die sich aus den Sichtweisen der einzelnen Religionen ergebenden unterschiedlichen Weltverständnisse in ihrer nicht zu unterschätzenden, Entwicklung fördernden oder auch Entwicklung hemmenden Relevanz. Oder betreffe dies gar die Ursachen für das schier unüberwindliche Defizit an Demokratie in den meisten der Entwicklungsländer -mit all den Chancen, die sich daraus für Korruption und die Bildung mafioser Strukturen ergeben.
Schon diese wenigen Hinweise belegen zur Genüge die Unhaltbarkeit des Ansatzes der Dependenztheorie, lassen aber um so mehr die immensen Schwierigkeiten erkennen, unter denen sich der Entwicklungsprozeß der Dritten Welt tatsächlich vollzieht. Um so größeres Gewicht muß der Erkenntnis und Berücksichtigung derartiger Ursachenzusammenhänge deshalb gerade dort beigemessen werden, wo es um effiziente Gestaltung von Entwicklungshilfe geht. Mit finanziellen Transfers ist es hier alleine oft nicht getan. Was als Hilfe zur Selbsthilfe konzipiert ist, ist nicht selten nur über eine Verknüpfung mit entsprechenden Auflagen, als einer dieser Hilfe korrelierenden Übernahme von eigener Verantwortung erreichbar. Insofern geht es also durchaus nicht um Bevormundung, wenn etwa die Hilfeleistung von der generellen Einhaltung der Menschenrechte abhängig gemacht wird, wenn sie, was inzwischen seine eigene Dringlichkeit hat, mit Schutzverpflichtungen für besonders gefährdete Ökosysteme verbunden ist, oder selbst wenn sie unmittelbar zweckgebunden angelegt ist und etwa im Bereich Familie, Gesundheit oder Bildung das Humanpotential der betreffenden Gesellschaft sichern und entfalten hilft.
Nun macht eine moralisch noch so hoch motivierte und verantwortungsethisch klug ausgelegte Entwicklungshilfe noch keine internationale soziale Rahmenordnung, die als Komplement zur Welthandelsordnung verstanden werden könnte. Und dennoch gehört eine solche keineswegs in den Bereich der Utopie. Genau betrachtet liegt der strukturelle Ansatz hierfür bereits in der Entschließung UNCTAD II (1968), mit der sich die Industrieländer für den Finanztransfer an die Entwicklungsländer auf ein Prozent ihres Bruttosozialprodukts als quantitatives Ziel festgelegt haben, ohne allerdings hierfür schon einen für alle verbindlichen Zeitplan aufzustellen.
Erst die längst fällige Revision dieser zeitlichen Unverbindlichkeitsklausel, die es den einzelnen Ländern, trotz klarer inhaltlicher Zielvorgabe, immer noch erlaubt, nach bloßem Ermessen zu verfahren, könnte hier den entscheidenden Durchbruch bringen. Es eröffnete sich damit erstmals die Chance zur Schaffung einer gemeinsamen Dispositionsplattform, die eine weltweit ausgerichtete, quantitativ wie qualitativ koordinierte Entwicklungshilfe und Sozialstrategie überhaupt erst möglich macht. In der Tat läge darin bereits der Übergang auf eine neue Ebene der Auseinandersetzung mit der weltweit gewordenen Sozialen Frage, der Ausgangspunkt zum Ausbau einer Weltwirtschaftsordnung, die den bisher vergeblich um ihre Entwicklung ringenden Völkern der Welt endlich Hoffnung gibt und sie nicht länger chancenlos beiseite läßt.