Armut und Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland
Gerd Iben
/ 25 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Der Beitrag befaßt sich zuerst mit einer Definition von Armut und weist nach, daß Armut kaum wissenschaftlich bestimmbar ist, sondern -als politischer Begriff -mit der Bereitschaft einer Gesellschaft zur Verteilung ihres Reichtums und zur sozialen Gerechtigkeit zusammenhängt. Die absolute Armut der Dritten Welt ist zwar in den Industriestaaten in aller Regel nicht anzutreffen, doch ist die relative Armut in einer reichen Gesellschaft wegen der damit verbundenen Diskriminierung und Isolierung nicht leichter zu ertragen. Sie läßt sich als Einkommensarmut in Beziehung zum Durchschnittseinkommen beziffern und wird meist mit der Sozialhilfeschwelle gleichgesetzt, die bei etwa 40 Prozent des Durchschnittseinkommens liegt. Uns geht es aber nicht nur um das Einkommen, sondern um ein sogenanntes Lebenslagenkonzept, das Armut in all ihren Auswirkungen auf die Lebensgestaltung zu beschreiben sucht. Außerdem werden Beziehungen zur Sozial-, Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-und Finanzpolitik sowie zum Normensystem hergestellt. Der zweite Teil des Beitrags ist der Wohnungsnot gewidmet, die in engem Zusammenhang mit niedrigem Einkommen steht. Ihre Entstehung wird auf demographische, politische, wirtschaftliche und persönliche Ursachen hin untersucht, wobei den letzteren das geringste Gewicht zukommt. Die Spekulation auf den sich selbst steuernden Markt und der Verzicht auf die immer notwendige soziale Steuerung des Marktes sowie erhebliche Wanderungsbewegungen haben den Wohnungsmarkt nicht nur für die sozial benachteiligten Schichten, sondern inzwischen auch für Mittelschichtangehörige nahezu zerstört. Inzwischen sind die steigenden Mieten ein wesentlicher Grund für den Abstieg vieler Familien in Armut -vor allem in Ballungsräumen. Im Schlußteil geht es um die Frage der Gegensteuerung durch Wohnraumsicherung und Vermeidung von Obdachlosigkeit.
I. Zur Definition von Armut
1. Absolute und relative Armut
Wir können nicht davon ausgehen, daß es ein allgemeines Verständnis von Armut in unserer Gesellschaft gibt. Weder in der Öffentlichkeit noch in der tagespolitischen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland findet das Thema größere Beachtung. Von der gegenwärtigen Bundesregierung wird die Existenz von Armut geleugnet -wie von der vorangegangenen Regierung auch: Entsprechende Maßnahmen der Sozialpolitik, heißt es, verhinderten, daß Armut entstehe.
In der deutschen Öffentlichkeit denkt man bei Armut an das Elend in der Dritten Welt. Vergleichbares gibt es in der Bundesrepublik nicht; Armut wird hier auf einzelne Notlagen reduziert. Selbst die davon Betroffenen fühlen sich durch das Wort „arm“ beleidigt und diskriminiert. Das hängt mit dem geschichtlichen Bedeutungswandel des Begriffes zusammen: „Arm“ galt bis ins späte Mittelalter hinein als die Bezeichnung eines integrierten Standes der Gesellschaft, der für die Wohltätigkeit der Frommen von Bedeutung war und nicht verachtet wurde. Der Arme als Almosenempfänger an der Kirchentür war als Prüfstein der Gläubigkeit der Wohlhabenden ein wichtiges Glied der Gemeinde. Auch galt die freiwillige Armut einiger Mönchsorden (Bettelmönche) als gottgefällig.
Diese Einschätzung änderte sich durch die Verarmung der Landbevölkerung und die Land-Stadt-Wanderung im ausgehenden Mittelalter. Der dadurch ausgelösten „Bettelplage“ versuchte man durch Bettelordnungen, Verfolgung der ortsfremden Bettler, durch Arbeits-und Zuchthäuser Herr zu werden Später trugen die protestantische Wertethik und der Calvinismus zu einer Ächtung der Armut bei; Erfolg und Reichtum wurden als göttlicher Segen und Belohnung des Tüchtigen verklärt.
Diese Auffassung hat sich in einer wirtschaftlichen Umverteilungspolitik der Regierungen der USA und Großbritanniens niedergeschlagen und auch in unserem Land unter dem Motto „Leistung muß sich wieder lohnen“ ihre Anhänger gefunden. In allen drei Staaten kam es unter diesem Vorzeichen zu einer starken Auseinanderentwicklung der Einkommen und einem raschen Anwachsen der Armutspopulation.
Während in den USA und auch in Großbritannien durch eine sogenannte „poverty line“ deutlich wird, wer aufgrund eines Grenzwertes des Einkommens zu den Armen zu zählen ist, wird darüber in Deutschland gestritten. Wir haben im Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ein sogenanntes Lebenslagenkonzept von Armut vorgelegt. Dieses weist Armut als ein viele Lebensbereiche (Arbeit, Bildung, Wohnen, Gesundheit, Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben) bestimmendes und komplexes Problem aus, das durch Geld oder Einkommen nur sehr einseitig beschrieben werden kann
Doch bleibt als harte Bestimmungsgröße nur das Einkommen, das in Beziehung zum Durchschnittseinkommen einer Gesellschaft gesetzt wird. So entsteht der Begriff der relativen Armut, der von dem der absoluten Armut zu unterscheiden ist. Absolute Armut beschreibt die lebensbedrohenden Situationen in der Dritten Welt und ist hierzulande selten. Mit dem Anstieg des allgemeinen Lebensstandards hat Armut in den modernen westlichen Industriegesellschaften als physisches Überlebensproblem weitgehend an Bedeutung verloren. Sie wird jedoch in ihrer relativen Dimension immer wieder neu reproduziert. Zwar scheint sie hier in aller Regel nicht als äußeres Elend auf, aber sie wird von den Betroffenen nicht weniger einschneidend erlebt: In einer reichen Umwelt ist es sehr viel bitterer arm zu sein.
2. Zum Begriff der Einkommensarmut
Der im folgenden verwendete Armutsbegriff beruht auf einem relativen Armutskonzept: Als „arm“ wird danach eingestuft, wem der Zugriff auf materielle Ressourcen (Einkommen) weitgehend versperrt ist: 60 Prozent des Durchschnittseinkommens kennzeichnen eine armutsnahe Einkommenssituation, 50 Prozent ein mittleres Armutspotential, 40 Prozent (Sozialhilfeschwelle) gelten als strenge Einkommensarmut.
Nach einem Vorschlag der EG-Kommission von 1981 ist als arm zu bezeichnen, wer weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient (mittleres Armutspotential). Danach müßten sogar 6, 5 Prozent der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer aus den Niedriglohngruppen der Bundesrepublik (80 Prozent davon sind Frauen) als arm eingestuft werden HSi. nzu kämen alle Sozialhilfeempfänger, deren Einkünfte bei 40 Prozent des Durchschnittseinkommens liegen. Es hat sich durchgesetzt, die Sozialhilfeschwelle als Armutsgrenze zu betrachten. Seitens der Bundesregierung wird in der Sozialhilfe jedoch eine wirksame Form der Armutsvermeidung gesehen, weshalb sie diese Grenze nicht akzeptiert.
Als arm wird heute also im allgemeinen bezeichnet, wer mit seinem Einkommen nur 40 Prozent des Durchschnittseinkommens erreicht (strenge Einkommensarmut) und zur Stillung seiner Lebensbedürfnisse auf Unterstützungsleistungen angewiesen ist, die oft mit Diskriminierung verbunden sind. Der Armutsbericht des Caritasverbandes von 1992 legt demgegenüber 50 Prozent des Durchschnittseinkommens als Armutsgrenze oder als Existenzminimum fest.
Armut ist in der Regel mit Einschränkungen gesellschaftlicher Teilhabe und einer Tendenz zur Ausgrenzung aus der Gesellschaft verbunden. Die These von der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“, derzufolge eine wachsende, stabile Minderheit der Bevölkerung nicht an Wachstums-und Wohlfahrtsgewinnen teilhat, bringt das gesellschaftliche Problem zum Ausdruck.
3. Das Problem mit der Definition
Gegen die o. g. Definition von Armut läßt sich einwenden, daß sie nicht hinreichend operationalisierbar ist und zu viele „weiche“ Begriffe enthält wie „Stillung der Lebensbedürfnisse“, „Diskriminierung“, „gesellschaftliche Teilhabe“, die sich einer Meßbarkeit entziehen und eine große Interpretationsbreite aufweisen. Das gilt allerdings für den größten Teil der Begriffe der politischen Alltagssprache wie Menschenwürde, Dialog, Anerkennung etc. Die mangelnde „Härte“ und wissenschaftliche Überprüfbarkeit des Armutsbegriffs ist uns in der Arbeit mit einer klassischen Armutsgruppe -den Obdachlosen -nie zum Problem geworden, solange ein politischer Wille zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit dahinterstand. Um eine Definition mußten wir uns erst bemühen, als Armut regierungsamtlich ebenso abgestritten wurde wie die Wohnungsnot.
Armut ist im Grunde kein wissenschaftlicher, sondern ein politischer Begriff, vergleichbar dem der „sozialen Benachteiligung“. Wir benutzen diesen Terminus seit den sechziger Jahren. Er wirkt weniger diskriminierend und transportiert zugleich einen sozialpolitischen Anspruch. Der Tatbestand der Armut ist deshalb bei der Bundesregierung so unbeliebt, weil er die Erfolgsbilanz trübt. Aus genau diesem Grund wird er von der jeweiligen Opposition sehr gern benutzt.
Andere Staaten scheinen mit dem Armutsbegriff weniger Probleme zu haben. So hat es in den USA seit dem „Krieg gegen die Armut“ von 1965 regelmäßige Armutsberichte und eine entsprechende Armutsforschung gegeben, ebenso in Großbritannien, seit 1987 in Frankreich und danach auch in der Schweiz. Auf EG-Ebene laufen seit einigen Jahren Armutserhebungen. Es erscheint also naheliegend, auf im internationalen Gebrauch übliche Armutsdefinitionen zurückzugreifen, obwohl man auch hier einwenden könnte, sie seien auf unsere Verhältnisse nicht übertragbar.
Aber welche Definitionen bieten sich als brauchbar an? Die amerikanische „poverty line“ legt ein immer wieder revidiertes Mindesteinkommen für vier Personen fest. Der von der EG-Kommission „Kampf gegen die Armut“ und von Forschern wie Richard Hauser benutzte Abstand zum Durchschnittseinkommen (50 oder 40 Prozent) ist zuerst ein statistisches Problem. Denn das Durchschnitts einkommen ist insofern eine fragliche Bestimmungsgröße, als es die Einkommensverteilung und ihre Streubreite verschleiert, ebenso die aufgehende Schere durch Verarmung von Bevölkerungsgruppen bei gleichzeitigen starken Zugewinnen anderer. Mit dem einstigen Warenkorb der Sozialhilfe hat man -ähnlich wie mit der „poverty line“ -versucht, ein lebensnotwendiges Minimum zu definieren, das seit 1961 aber immer weiter hinter die allgemeine Einkommensentwicklung zurückgefallen ist.
Das zur Berechnung der Sozialhilfe Statistikmodell sollte ursprünglich eine Anhebung des Niveaus bewirken, soll aber in seiner Endfassung einen Abstand zu den untersten Lohngruppen einhalten. Diese Lohngruppen waren in der Vergangenheit nicht selten auf zusätzliche Sozialhilfe angewiesen. Geht die Einkommensschere weiter auseinander, so wird auch das Zurückbleiben der Sozialhilfe festgeschrieben. Nur eine überproportionale Anhebung der unteren Lohngruppen -bei einer Abkehr von linearen Tarifverbesserungen -könnte sich dann positiv auf die Sozialhilfe auswirken. Vorläufig bleibt die Sozialhilfeschwelle eine zu niedrig gezogene Armutsgrenze. Das hängt auch damit zusammen, daß Sozialhilfe ursprünglich nur als punktuelle Nothilfe konzipiert worden ist, seit Jahren aber als Dauerexistenzsicherung benötigt und damit zweckentfremdet wird.
4. Das Lebenslagenkonzept
Einen anderen Zugang zum Problem der Armut bekommt man mit dem eingangs schon erwähnten Lebenslagenkonzept. Im o. g. Armutsbericht haben wir versucht, in Fortführung der Ansätze von Peter Townsend und unseres Obdachlosenkonzepts ein solches Lebenslagenkonzept zu entwikkeln. Graphisch läßt es sich gut mit dem von Peter Tschümperlin aufgezeichneten „Pentagon der Armut“ (vgl. Abbildung) verdeutlichen
Darin werden persönliche Merkmale und Erlebnis-weisen mit sozialen, normativen und ökonomischen Rahmenbedingungen verknüpft. Dadurch werden einseitige Sichtweisen vermieden; dennoch wird die Isolierung einzelner Bedingungen möglich, zumal nicht alle Faktoren gleichzeitig untersucht werden können. Eine ganzheitliche Herangehensweise bleibt erhalten. Dabei ist wichtig, daß viele der im „Pentagon“ aufgezählten, aber keineswegs vollständigen Faktoren sowohl Ursache als auch Folge von Armut sein können. Beispielsweise können Sozialisationsdefizite wie mangelnde Ich-Stärke Ursache und Folge von Armutsprozessen sein. Deshalb muß eine präventive Arbeit beides im Blick haben oder möglichst an allen fünf Ecken des „Pentagons“ ansetzen. Denn eine Schädigung einer der Ecken des Pentagons bringt das ganze Geflecht durcheinander. So zerstört zum Beispiel Langzeitarbeitslosigkeit die sozialen Beziehungen, das Selbstwertgefühl, das Verhältnis zu gesellschaftlichen Werten und die Bedürfnisstillung und Konsumfähigkeit. Andererseits hängt die persönliche Bewältigung von Langzeitarbeitslosigkeit auch davon ab, inwiefern die anderen Ecken tragfähig bleiben. Unter Armutsbedingungen sind in der Regel alle Ecken des Pentagons beeinträchtigt, wie sich etwa an der Lebenslage von obdachlosen Familien nachweisen läßt.
An dieser Stelle drängt sich auch die Frage nach einer „Kultur der Armut“ auf. Darunter sind zum Beispiel Verhaltensweisen wie Festhalten an überholten Traditionen, Autoritätsgläubigkeit, Fixierung auf traditionelle Geschlechterrollen, Fatalismus, Apathie, Informationsmangel zu fassen. Die Kultur der Armut könnte als schwer zu änderndes Merkmal angesehen werden, das die Reproduktion von Armut mitverursacht. Es läßt sich jedoch nachweisen, daß sie, die ähnliche Erscheinungsweisen in vielen Ländern aufweist, weniger Ursache als Folge von Armut ist und als eine erzwungene Überlebenstechnik überflüssig wird und sich zurückbildet, sobald sich die Verhältnisse der Armen bessern. Dies haben wir auch im Obdachlosenbereich wiederholt feststellen können.
Ein Lebenslagenkonzept kann den genannten Faktoren der „Kultur der Armut“ Rechnung tragen, indem es insgesamt sehr viele Einzelfaktoren zu erfassen und eine gewisse ganzheitliche Sichtweise zu erreichen sucht. Die notwendige Operationalisierung dieses Konzepts fällt jedoch nicht leicht. Der englische Armutsforscher Townsend hat diesen Versuch unternommen und eine Unzahl von Einzelfaktoren gewichtet, um daraus für die jeweilige Person oder Familie einen sogenannten Deprivationsindex zu errechnen d. h., das Maß der individuellen Armut läßt sich in Punktwerten ausrechnen. Armutsberichte und solche Berechnungen sind nur im Rahmen einer ausgleichenden Sozialpolitik hilfreich. Denn jede Armutsdefinition hängt in ihrer Wirksamkeit vom sozialpolitischen Konsens einer Gesellschaft ab. So hat der traditionell hohe soziale Konsens der skandinavischen Staaten dort bislang eine Armutsentwicklung weitgehend verhindern können.
Die Definition von Armut steht in engem Zusammenhang mit dem wirtschaftspolitischen System einer Gesellschaft. Während es in den ehemals sozialistischen Staaten keine Armut geben durfte, wird sie in einer kapitalistischen Gesellschaft eher als notwendige „Negativprämie“ angesehen, die als Antrieb zu mehr Leistung gebraucht wird. Durch die Einführung der Freien Marktwirtschaft sollen nun im Osten Europas Wohlstandsgesellschäften entstehen. Wesentliche Voraussetzungen dafür -eine durch starke Gewerkschaften gestützte Sozialpolitik und eine Antikartellgesetzgebung -fehlen jedoch noch.
Mit einer Armutsdefinition werden auch sozial-ethische Prinzipien berührt. Unter der ausschließlichen Wertdominanz des Geldes in der Waren-und Konsumgesellschaft wird Einkommensarmut zum Makel und führt zu Isolation und Ausgrenzung, wie es Chassä in seiner Arbeit „Armut nach dem Wirtschaftswunder“ überzeugend dokumentiert und interpretiert hat Er weist diese Tendenz zur Isolation in einem noch laufenden Forschungsprojekt über „Armut auf dem Land“ nach.
Eine Definition von Armut ist also immer mit gesellschaftlichen Bewertungen verbunden, die sich für die Betroffenen als Diskriminierung und Benachteiligung auswirken können. Ob Änderungen in der Begrifflichkeit auch den Armen etwas bringen, muß mit der Erzählung eines alten Mannes bezweifelt werden: „Einst war ich arm. Dann brachten sie mir bei, ich sei unterprivilegiert. Dann war ich sozial und kulturell benachteiligt, später unterversorgt. Aber ich bin immer noch arm“.
II. Armut und Wohnungsnot: Entwicklung
Seit Beginn der achtziger Jahre hat sich die soge-nannte „neue Wohnungsnot“ entwickelt, die regierungsamtlich schon ebensolange bestritten wird wie die „neue und alte Armut“. Ihr rasches Anwachsen in den letzten Jahren droht mit dem Zusammenbruch des Wohnungsmarktes und den wachsenden Flüchtlingsströmen aus dem Osten und der Dritten Welt in den nächsten Jahren katastrophale Ausmaße anzunehmen, worauf seit längerem und wiederholt hingewiesen worden ist.
1. Wie ist diese „neue Wohnungsnot“ zu beschreiben und wo liegen ihre Ursachen?
In den sechziger Jahren wurde in der Bundesrepublik Deutschland die Wohnungszwangsbewirtschaftung nach und nach aufgehoben. Die Zahl der Obdachlosen belief sich nach Schätzungen in dieser Zeit auf durchschnittlich 1, 5 bis 2 Prozent der Bevölkerung bzw. auf 800000 Personen. Auch lebten sehr viele Familien in überbelegten und Substandardwohnungen, so daß es einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt mit ausreichender Versorgung aller nie gegeben hat. Noch 1982 waren 500 000 Wohnungen nicht mit WC, Bad und Sammelheizung ausgestattet Die vielzitierten Leerstände von Wohnungen kamen fast ausschließlich durch spekulative Bauprojekte mit teuren Mieten zustande, die für die Mehrzahl der Wohnungssuchenden unerschwinglich waren, bei Mietsenkungen aber bald belegt wurden 1G 1leichwohl dienten diese kurzzeitigen Leerstände als ein Argument für den Ausstieg des Bundes aus dem sozialen Wohnungsbau und für dessen drastische Einschränkung.
Die Volkszählung 1989 ergab, daß wir in der Bundesrepublik gegenüber dem 1976 behaupteten Gleichstand von Haushalten und Wohnungen nun fast 1 Million mehr Haushalte als Wohnungen haben. Dem seither von der Bundesregierung eingeräumten Fehlbestand von 800000 Wohnungen stehen Schätzungen des deutschen Mieterbundes von nahezu 2, 5 Millionen fehlender Wohnungen -jetzt allerdings in Gesamtdeutschland -gegenüber Der Wohnungsmangel ist inzwischen nicht mehr alleiniges Kennzeichen von Ballungsräumen, sondern hat auch die Landkommunen erreicht, die für die ihnen zugeteilten Flüchtlings-und Aussiedler-kontingente keine Unterbringungsmöglichkeiten mehr finden und nach Wohncontainern rufen.
Dessen ungeachtet wird von einigen Politikern immer noch behauptet, von einer Wohnungsnot könne keine Rede sein, solange die durchschnittliche Pro-Kopf-Wohnfläche bei 35 Quadratmetern liege. Der hohe Durchschnittswert wäre wirklich günstig, wenn wir von einer Gleichverteilung ausgehen könnten, wovon absolut nicht die Rede sein kann. Leider kennen wir keine Untersuchungen über die Relationen von Einkommen und Wohnungsgröße, sondern nur über den Zusammenhang zwischen starkem Anstieg der Wohnkosten und sinkendem Einkommen. Während Gutverdienende nur noch etwa ein Zehntel ihres Einkommens für das Wohnen in der Erstwohnung verwenden müssen, geben Bezieher niedrigerer Einkommen ein Drittel und nicht wenige sogar über die Hälfte ihres verfügbaren Einkommens dafür aus Damit wird die Mietbelastung zu einem erheblichen Armutsrisiko -was auch im Armutsbericht des Caritasverbands nachgewiesen wird. Aber die Wohnungsnot kommt erst dort richtig zum Vorschein, wo das Einkommen nicht mehr für die Miete ausreicht und die Zahl der Obdachlosen und der dringend Wohnungssuchenden mit geringem Einkommen -und das sind fast 90 Prozent der registrierten Wohnungssuchenden -drastisch steigt. Der Zustand des Wohnungsmarktes ist zuallererst abzulesen an der Länge der Warteschlangen und der zurückgehenden Zahl der Wohnungsvermittlungen, an der wachsenden Zahl der obdachlosen Familien und Alleinstehenden und an den sprunghaft steigenden Mieten. Aus Hamburg wurde 1990 z. B. ein Fehlbestand von 47000 Wohnungen gemeldet. Die Anzahl der Obdachlosen lag dort bei 10000; die Summe, die jährlich für Hotelunterbringungen aufgebracht werden muß, bei 150 Millionen DM Armut und Wohnungsnot treffen bei obdachlosen Familien und Alleinstehenden am schärfsten aufeinander. Ihre Lage ist in den vergangenen drei Jahrzehnten vielfach beschrieben worden. Die neue Wohnungsnot droht aber auch ursprünglich nicht arme Familien in Armut abzudrängen.
2. Wo liegen die eigentlichen Ursachen für die „neue Wohnungsnot“?
Es lassen sich m. E. vier Ursachen unterscheiden: -demographische, -politische, -wirtschaftliche und -persönliche Ursachen. a) Demographische Ursachen Durch die Veränderung der Bevölkerungsstruktur -durch das Anwachsen der Bevölkerung -stieg die Wohnungsnachfrage. Geburtenstarke Jahrgänge, eine hohe Scheidungsrate und die wachsende Zahl von Einpersonen-Haushalten (in Frankfurt am Main z. Z. 50 Prozent aller Haushalte) hatten eine steigende Nachfrage nach Wohnraum zur Folge. Hinzu kamen die Konzentration von Arbeitsplätzen in Ballungsgebieten und entsprechende Pendlerströme sowie die verstärkte Zuwanderung von Flüchtlingen, Aus-und Übersiedlern. Die wachsende Nachfrage (durch überwiegend einkommensschwache Gruppen) fiel zusammen mit einem starken Schwund an preiswertem Wohnraum und dem Ende des sozialen Wohnungsbaus. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre müssen wir davon ausgehen, daß den Einkommensschwächeren jährlich etwa 20 Prozent der preiswerten Wohnungen durch Umwandlungen in Eigentum, Zweckentfremdung, Auslaufen der Mietpreisbindung und Luxusmodernisierung entzogen werden. Gleichzeitig wächst seit einigen Jahren der Anteil der Bevölkerung, der durch Arbeitslosigkeit, Einkommensstagnation und soziale Abstiegsprozesse am Zuwachs des Wohlstandes nicht teilhat und damit als Mitbieter aus dem Markt herausfällt. Dies gilt bereits für jeden zehnten Bürger der alten Bundesrepublik. In den USA und Großbritannien sind die Gruppen noch wesentlich größer. Ist diese Entwicklung Zufall, entspricht sie Marktgesetzen oder ist sie politisch gewollt? b) Politische Ursachen Politische Grundüberzeugungen spielen eine wesentliche Rolle: Während die konservativen Parteien gesellschaftliche Problemlösungen vom Individuum, der Familie, allenfalls noch von der Kommune, also von herkömmlichen Gemeinschaften erwarten, vertrauen Vertreter liberaler Richtungen auf das freie Spiel der Kräfte, also auf die Funktionsfähigkeit des Marktes. Sozialdemokraten und Grüne fordern demgegenüber Interventionen des Staates.
Jede der genannten Erwartungen ist in reiner Ausprägung sicher falsch und muß durch Gegen-vorstellungen korrigiert werden. Die Wiederaufbauphase nach dem Krieg und die Zeiten der sozial-liberalen Koalition waren durch den Glauben an die lenkende und ausgleichende Rolle des Staates geprägt, wie sie sowohl im Aalener Programm der CDU mit Aussagen zur Verstaatlichung und zur Sozialen Marktwirtschaft als auch im Godesberger Programm der SPD niedergelegt ist.
Mitte der siebziger Jahre regten die Jungsozialisten mit ihrem kommunalpolitischen Programm einen Rückzug auf die kleinere Gemeinschaft als Wohn-, Öko-oder Therapiegemeinschaft an, die ungewollt den Neo-Konservativen das Schlagwort „mehr Selbsthilfe, weniger Staat“ zuspielten. Die Rückschritte des Wohlfahrtsstaats waren aber nicht erst das Ergebnis der sog. „Wende“ von der SPD/FDPzur CDU/CSU/FDP-geführten Bundesregierung. Sie waren schon unter Helmut Schmidt eingeleitet worden, der angesichts einer aus heutiger Sicht geringfügigen Staatsverschuldung das Modell einer antizyklischen Geldpolitik zugunsten eines Sparprogramms aufgab. Das soziale Netz wurde durchlässiger.
Die wesentliche Ursache der Wohnungsnot liegt im Irrglauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes, dem der soziale Wohnungsbau und die Gemeinnützigkeit geopfert worden sind: Nachdem die Regierungen der USA und Großbritanniens unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher durch drastische Mittelkürzungen den sozialen Wohnungsbau weitgehend „beerdigt“ hatten und damit das größte Obdachlosenheer der Geschichte entstehen ließen, folgte 1986 auch hierzulande die Verabschiedung des Bundes aus dem sozialen Wohnungsbau. Die Begründung lautete, der Staat dürfe nicht in Bereiche hineinregieren, die der Markt besser regulieren könne. Es war nur folgerichtig, dem Glauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes auch die Gemeinnützigkeit der großen Wohnungsbauträger zu opfern. In der Vergangenheit waren die Gemeinnützigen ein wichtiges Korrektiv des Marktes; mit ihrer Sozialpflichtigkeit bremsten sie erfolgreich die Mietpreisentwicklung. Die „Frankfurter Rundschau“ nannte die Aufhebung der Gemeinnützigkeit die „größte Verschleuderungsaktion öffentlichen Vermögens“, weil ein bislang stiftungsmäßig gebundenes und mit Steuergeldem begünstigtes Vermögen von etwa 450 Milliarden DM ohne Gegenleistung der privaten Verwertung überlassen wurde Hier hätten zumindest langfristige Bindungen und Belegungsrechte ausgehandelt werden müssen.
Der Glaube an die alles heilenden Marktgesetze ist insofern eine Selbsttäuschung, als es kaum einen gesellschaftlichen Bereich gab und gibt, in dem nicht durch Subventionen, Bindungen, Kartellgesetze, Wettbewerbsregelungen, Steuererleichterungen oder Abschöpfungen massive Korrekturen und Steuerungen erfolgten. Zweifellos hat der Markt mit Hilfe solcher Steuerungsinstrumente, durch das Ineinandergreifen privater Interessen und staatlicher Hilfen, weithin gut funktioniert. Doch wird die Marktideologie falsch und verhängnisvoll, wenn sie als Selbststeuerung mißverstanden wird. Der sich selbst steuernde Markt kann für die Starken eine Weile gut funktionieren, solange bis der Stärkste sich ein Monopol gesichert hat und es schließlich keinen Markt mehr gibt.
Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist auch die Zurücknahme der Sozialpflichtigkeit des Eigentums gegenüber dem Eigennutz. Sowohl die vom Bundesverfassungsgericht korrigierte, aber dennoch befürwortete Erleichterung der Eigenbedarfskündigung, die viele Räumungsklagen ausgelöst hat, als auch die Einschränkung der Wiedereinweisung und der Vorrang einer höheren Rendite in höchstrichterlichen Urteilen haben den sozialen Konsens unserer Gesellschaft untergraben. In die Reihe der gesetzlich veranlaßten Umverteilungen gehört auch, daß mit dem Rückzug aus dem sozialen Wohnungsbau der Bund den Wohlhabenden empfohlen hat, sich steuererleichtert im Wohnungs-, vor allem Altbaubestand zu bedienen und Eigentum zu bilden. Noch immer werden so jährlich 100 000 bisher preiswerte Mietwohnungen in Eigentum umgewandelt und den Einkommensschwächeren entzogen. Die höchstrichterliche Erleichterung der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen hat in Ballungsgebieten eine bedrohliche neue Spekula'tionswelle ausgelöst. In Frankfurt am Main gingen kurz nach dem Beschluß von Karlsruhe im Juli 1992 bereits 1153 Umwandlungsanträge ein Eine Aufnahme des Rechts auf eine angemessene Wohnung in das Grundgesetz kann nur ein erster Schritt gegen eine solche Rechtsprechung sein. c) Wirtschaftliche Ursachen Wohnungen sind auch eine Ware und unterliegen damit wirtschaftlichen Verwertungsinteressen, die den Wohninteressen der Bewohner entgegenstehen können. Während der Besitzer einer Wohnung oder eines Hauses an einer möglichst hohen Rendite interessiert ist, muß der Mieter oder Käufer sehen, daß ein nicht zu großer Teil seines Einkommens von den Kosten für die Wohnung aufgezehrt wird. Diese sich widerstreitenden Interessen haben eine Chance auf Interessenausgleich, solange Angebot und Nachfrage weitgehend ausgeglichen sind. Steigt aber mit dem Wohnungsmangel die Macht der Anbieter, so steigt in gleichem Maße die Ohnmacht der Nachfrager. Der Markt gerät aus den Fugen, funktioniert aber um so besser für die Wohlhabenden, da die ärmeren Mitbieter als Konkurrenten weggefallen sind.
Arbeitslosigkeit und Verarmungsprozesse größerer Bevölkerungsgruppen lassen die davon Betroffenen als Nachfrager ausscheiden. Immer größere Gruppen des bisherigen Mittelstandes sind nicht mehr in der Lage, bei den Mietsteigerungen mitzuhalten: Erzieher, Sozialarbeiter, Polizeibeamte, mittlere Angestellte, aber auch Rentner können ihre Wohnungen in Ballungsräumen nur noch mit entsprechenden Zulagen der Anstellungsträger oder durch Sparvermögen finanzieren. Neben dem Wohngeld muß also oft eine weitere Mietsubvention erfolgen, um die Preise des angeblich freien Marktes künstlich niedrig zu halten. Auch wirtschaftliche Konzentrationsprozesse führen zu Marktverwerfungen, wenn z. B. in Frankfurt am Main ein nahezu unersättlicher Büroflächenbedarf und gutverdienende Singles die angestammte Wohnbevölkerung vertreiben.
Zu den wirtschaftlichen Ursachen der Wohnungsnot ist des weiteren die private und öffentliche Verschuldung zu rechnen. Die Verschuldung der öffentlichen Hand, die inzwischen die immer kritisierten nordamerikanischen Verhältnisse nahezu erreicht hat, treibt die Zinsen hoch, verhindert so Investitionen im Wohnungsbau und erhöht die Belastungen der privaten Hausbauer. Die Überschuldung vieler privater Haushalte im alten Bundesgebiet mit Konsumentenkrediten (im Durchschnitt mit DM 15000) hat dazu geführt, daß z. B. 1990 1, 2 Millionen Haushalte hätten Konkurs anmelden müssen wenn es diese Form der Schuldentilgung auch für Privatleute gäbe. Sie bleiben lebenslang mit dem nicht abtragbaren Schuldenberg verbunden, es sei denn, ein tüchtiger Berater lastet auch denen einen Teil der Schulden an, denen er gebührt -den Kreditgebern des „schnellen Geldes“.
Wir haben im Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ausführlich über die Verschuldung geschrieben und auf entsprechende Untersuchungen (z. B. von Franz Koch hingewiesen. Hier ist festzuhalten, daß 80 bis 95 Prozent aller Räumungsklagen mit Mietschulden begründet werden, wobei Mietschulden nur das Symptom für eine längerfristige Überschuldung sind. Auch im Armutsbericht des Caritasverbandes wird mehrfach auf den hohen Grad der Verschuldung von Privathaushalten hingewiesen. d) Persönliche Ursachen Verschuldung gilt in der Regel als individuelles Versagen, als persönliche Schuld. Das wird fragwürdig, wenn 50 Prozent aller Haushalte überschuldet sind und jährlich über eine Million Haushalte zahlungsunfähig werden.
Mit Hilfe der Werbung wird eine Konsumhaltung stimuliert, die eine volle gesellschaftliche Teilhabe nicht so sehr davon abhängig macht, was jemand leistet, sondern was er/sie sich leisten kann. Kreditzinsen sind ein so bedeutender Wirtschaftsfaktor, daß man die Kaufenthaltung oder -Verzögerung bis zur vollen Ansparung des Barbetrags der breiten Masse gar nicht empfehlen dürfte. Ich will damit nicht behaupten, daß es nicht doch individuelle und persönliche Schuldanteile an Wohnungsnot gibt, sonst müßte man jede persönliche Verantwortung leugnen, aber wir sollten mit dem Etikett der persönlichen Schuld äußerst zurückhaltend sein. Es müßte dann auch nach den familiären, schulischen, beruflichen und massenmedialen Sozialisationsinstanzen gefragt werden und danach, inwieweit ihre falschen normativen Setzungen für das Einzelschicksal verantwortlich sind.
III. Möglichkeiten der Gegensteuerung oder Steuerungsinstrumente des Wohnungsmarktes
Das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte, das Wohlfahrt für alle verspricht, führt in der Praxis eher zur Machtanhäufung in wenigen Händen als zu ausgleichender sozialer Gerechtigkeit. Der sich selbst überlassene Markt wirkt durch den Zwang des Wettbewerbs entsolidarisierend und begünstigt Bereicherung einerseits, Armut und Arbeitslosigkeit andererseits
Steuerungsinstrumente müssen sich daran messen lassen, inwieweit sie den demokratischen Grundprinzipien der Gegenseitigkeit, Freiheit, und Gleichheit gerecht werden. Eine Überbetonung des Prinzips Freiheit hat Entsolidarisierung und Ungleichheit zur Folge. Wenn der Staat seine Rolle nicht nur auf die des „Nachtwächters“ zum Schutz der Mächtigen und Besitzenden reduzieren will, so ist er im Sinne des Sozialstaatsprinzips zu sozialem Ausgleich und zu entsprechender Umverteilung ermächtigt und verpflichtet
Die bürgerliche Erwerbsgesellschaft kann aus sich heraus eine gerechte Sozialordnung nicht hersteilen, sondern ist auf eine staatliche Verteilungspolitik und auf die aktive Rolle gesellschaftlicher Verbände (z. B.der Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbände) angewiesen. Soziale Gerechtigkeit muß im politischen Meinungsstreit immer neu ausgehandelt werden, wobei die Prinzipien des Rechtsstaats, der den einzelnen vor dem unnötigen Zugriff des Staates schützt, mit den Prinzipien des Sozialstaates in Einklang zu bringen sind, der zugunsten der Schwächeren und Benachteiligten zu korrigierenden Eingriffen verpflichtet ist. Dabei gilt es, die negativen Seiten des Sozialstaates, wie Aufblähung der Bürokratie, Verrechtlichung und Bevormundung, ebenso abzuwenden wie die Überhöhung individualer Rechtsansprüche, z. B.den übersteigerten Schutz des Eigentums Diese Fragen sind in bezug auf den Wohnungsmarkt besonders von Dieter Brühl und Dietrich Harke (Darmstadt) wiederholt behandelt worden
Die Lockerung des Mieterschutzes und die Erleichterung der Mietanhebungen durch die Beschränkung des Mietspiegels auf die Neuvermietungen der letzten drei Jahre sollten Investitionen erleichtern, haben aber lediglich zu einer Mietenverteuerung geführt bis hin zu Wuchermieten, gegen die Kontrollinstrumente weitgehend ausfallen. „Wohnungsämter und Staatsanwälte verfolgen solche Fälle nur lasch und stellen die Verfahren schnell ein“ -schon weil ihnen das Personal dafür fehlt. In Frankfurt am Main sind 1987 nur in sechs Fällen Sanktionen wegen Mietwuchers erlassen worden, während in 30 Fällen das Verfahren eingestellt wurde Das gleiche gilt für die Verfolgung von Zweckentfremdungen, wofür es in Hessen in 15 Städten zwischen 1983 und 1989 nur 216 Bußgeldbescheide gab. Auch Bußgelder gegen Leerstände haben sich kaum als wirksam erwiesen. Eine wichtige Signalwirkung kommt schon eher der Wohnungsbeschlagnahme zu, die aber nur vorübergehend möglich ist und in Frankfurt am Main im Juni 1990 angewandt worden ist. „Hier wäre die Wiedereinführung eines Nutzungsgebotes im Sinne von § 39c des Bundesbaugesetzes von 1976 hilfreich“ oder eine Sondersteuer für Leerstände Immerhin hat die Frankfurter Beschlagnahme schon ein Einlenken der Hausbesitzer bewirkt
Das Steuerungsinstrument der Eigentumsförderung hat sich für Einkommensschwache insofern negativ ausgewirkt, als viele Mietwohnungen in Eigentum umgewandelt wurden. Der Sickereffekt des Eigenheimbaus blieb ebenfalls äußerst dürftig, zumal wir mit der Eigentuihsquote von 43 Prozent noch das europäische Schlußlicht darstellen, wie im Wohnungsbau generell. Die Neubauleistung lag zwischen 1986 und 1989 nur bei 3, 2 Wohnungen pro 1000 Einwohner, in den Niederlanden dagegen bei 7, 5, in Belgien bei 6, 6 etc. Der Mietwoh nungsbau lag sogar nur bei durchschnittlich 1, 1 Wohnungen auf 1000 Einwohner
Hier kann in den letzten Jahren nur noch von einer Aussteuerung des Wohnungsbaus gesprochen werden. Daran haben auch die Profiterleichterungen durch das Recht, die Miete in drei Jahren um 30 Prozent zu erhöhen oder die Einführung der sehr fragwürdigen Staffelmieten nichts geändert, während in den zurückliegenden Zeiten eines straffen Mieterschutzes rege gebaut wurde. Die Gleichung, daß steigende Gewinne auch steigende Investitionen bedeuten, stimmt in diesem Bereich ebenso-wenig wie in manchen anderen. Es kommt hier sehr viel mehr auf Stetigkeit und Ausgleich in der Gesetzgebung an. Nur eine sozial gerechte Ordnung ist verläßlich und vertrauensbildend.
Mit dem Rückzug des Bundes aus einer angemessenen Wohnungsbauförderung -die Wiederankurbelung des sozialen Wohnungsbaus geschieht halbherzig und mit zu kurzen Bindungszeiten -wurden den Ländern Aufgaben zugeteilt, die sie ihrerseits auf die Kommunen verlagerten. An der Frage der jetzt freiwerdenden Kasernen wird sich zeigen, ob der Bund den bedrängten Gemeinden zu Hilfe kommt. Den kleineren Gemeinden fehlen oft nicht nur Steuerungsinstrumente wie z. B. Belegungsrechte, sondern auch das Wissen um vorhandene Instrumente. Welcher Politiker ist schon in der Lage, sich in seiner oft kurzen Wahlperiode so kundig zu machen, daß er der Verwaltung die politischen Vorgaben liefern kann, auf die sie zur Nutzung ihres Instrumentariums wartet.
Da einzelne Steuerungsinstrumente nur begrenzte Reichweiten haben, bedarf es eines Bündels von Steuerungsinstrumenten, die untereinander wiederum auszutarieren sind. Außerdem ist eine hohe einschlägige Fachkompetenz notwendig, über die ein einzelnes Amt meist nicht verfügen kann.
Deshalb komme ich nun abschließend zu Lösungsvorschlägen, wie wir sie im Grundriß schon im Marburger Gutachten von 1970 entworfen haben und wie sie ausformuliert in den Empfehlungen des Deutschen Städtetages von 1987 zur „Sicherung der Wohnungsversorgung.. zu finden sind.
Angesichts der jahrelangen Versäumnisse und des nur schleppenden Wiederauflebens des sozialen Wohnungsbaus schwinden die Hoffnungen auf eine rasche Lösung der Wohnungsprobleme. 1989 wurde bei der Errichtung von Mietwohnungen nur eine Bedarfsdeckung von ca. fünf Prozent erreicht. „Man muß davon ausgehen, daß die Lücke zwi-sehen Angebot und Nachfrage weiter wachsen wird.“ Vor dem Hintergrund der Finanzknappheit von Ländern und Gemeinden ist mit den 2, 7 Milliarden des Bundes im sozialen Wohnungsbau kein Staat zu machen; damit können die Planzahlen von 300000 Wohnungen pro Jahr keineswegs erreicht werden.
Das wichtigste kurzfristige Ziel muß deshalb in der Sicherung eines erschwinglichen Wohnungsbestandes liegen, dessen Ausverkauf und sprunghafte Verteuerung sofort gebremst werden müssen. Es gab 1989 eine Gesetzesinitiative der Grünen zur Begrenzung des Mietanstiegs und gegen die Wohnungsnot sowie im Juni 1990 von der SPD den Entwurf eines „Gesetzes zur Bekämpfung von Wohnungsnot“ doch ist aus Bonn keine Einigung zur Eindämmung der Wohnungsnot zu erwarten.
Es bleibt die Länderebene, auf der von Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen Bundesratsinitiativen zur Mietenbegrenzung gestartet worden sind, mit dem Ergebnis, daß hessische Kommunen immerhin mit Unterstützung und Verständnis rechnen können, wenn sie -wie z. B. Frankfurt am Main -mit der Beschlagnahme von Leerständen die bisherigen gesetzlichen Möglichkeiten extensiv nutzen.
Nachdem sich der „Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge“ Frankfurt am Main lange in der Wohnungsfrage zurückgehalten hatte, meldete er sich mit engagierten Beiträgen in Heft 12/1990 seines Nachrichtendienstes und -in einem Hearing im Dezember -mit einem in Bonn vorgetragenen Papier mit Vorschlägen zur Eigentumsbildung der Einkommensschwächeren -statt der einseitigen Begünstigung der gut Verdienenden -wieder zu Wort. Außerdem werden Maßnahmen zur Wohnungssicherung vorgeschlagen wie die folgenden: -Rücknahme der vorzeitigen Ablösemöglichkeit für öffentlich geförderten Wohnungsbau, ersatzweise Verlängerung der Nachwirkungsfristen; -Verlängerung der Kündigungsfristen bei Umwandlung von Miet-in Eigentumswohnungen; -Schaffung der Möglichkeit des Umwandlungsverbots in Gebieten mit Erhaltungssatzungen; -befristetes Verbot der Umwandlung von Mietin Eigentumswohnungen in Gebieten mit erhöhtem Wohnbedarf (Gebiete, in denen die Zweckentfremdungsverordnung gilt); -gezielte Förderung des sozialen Wohnungsbaus für die Bevölkerungsteile, die sich nicht aus eigener Kraft mit Wohnraum versorgen können, insbesondere Schaffung von Wohnungsbeständen mit langfristiger Bindung; -dauerhafte Sicherung des Bestandes von Sozial-wohnungen; -Vergabe der von den ausländischen Truppen und ihren Angehörigen freiwerdenden Wohnungen bevorzugt an Einkommensschwache und sozial Benachteiligte; -Wiedereinführung der Gemeinnützigkeit von Wohnungsuntemehmen; -zielgerichtetere und häufigere Anwendung der Fehlbelegungsabgabe als Instrument im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Sie sollte allerdings differenzierter einsetzbar sein, z. B. in der Weise, daß je nach Bedarfssituation in den Städten ein unterschiedlich hoher Ausgleichsbetrag gefordert werden kann. Die Erlöse aus der Fehlbelegungsabgabe sollten von der Kommune in diesem Gebiet zur Bestandserhaltung und Neu-schaffung von Wohnraum wieder eingesetzt werden.
Damit schließt sich der „Deutsche Verein“ den Empfehlungen des Städtetages und Forderungen an, die schon auf der Frankfurter Tagung zur Wohnungsfrage von 1987 in einigen Beiträgen detailliert erhoben worden sind Über die aufgeführten Forderungen dürfte ein breiter öffentlicher Konsens herstellbar sein. Doch geht es vor allem darum, die zuständigen Behörden durch eine Bündelung der Kompetenzen handlungsfähiger zu machen. Denn die Aufsplitterung von Zuständigkeiten und die damit verbundene Ineffizienz hilft zwar Probleme kleinzuarbeiten und unter den Teppich zu kehren, löst sie aber nicht.
Köln hat mit der Bündelung der Behördenkompetenzen und mit der Einrichtung einer zentralen Fachstelle für Wohnungssicherung den Anfang gemacht
Die Lobby für die von Wohnungsnot Betroffenen wächst. Denn das Neue ist, daß es sich nicht mehr um typische Randgruppen, um die klassischen Armen oder um die „Fußkranken“ der gesellschaftlichen Entwicklung handelt, sondern daß immer größere Kreise von Verarmung und Wohnungsnot bedroht und betroffen sind. So finden wir unter den Wohnungslosen zunehmend gut ausgebildete jüngere Menschen. Der weitgehende Zusammenbruch des Wohnungsmarktes, der inzwischen auch von den Betrieben als Hemmnis der Stellenvermittlung erkannt wird, und die steigenden Mieten konfrontieren immer mehr Menschen mit der Gefahr, nicht mehr aus eigenen Mitteln eine Existenz bestreiten zu können und in die Abhängigkeit der Sozialfürsorge zu geraten. Diese Drohung und die fehlende Perspektive, diese Lage aus eigener Kraft überwinden zu können, schaffen den Nährboden für die „Jagd auf Sündenböcke“. Andere, noch ohnmächtigere Gruppen müssen schuld sein an der eigenen Misere.
Viele Kommunen stehen schon heute vor den Problemen, die Soziallasten nicht mehr tragen zu können. Die Frage, ob wir uns den Sozialstaat noch leisten können, wird inzwischen ungeniert aufgeworfen. Wir brauchen eine entschiedene Gegen-steuerung zur Verhinderung der Aufspaltung unserer Gesellschaft in die Erfolgreichen und die Versager, die Mächtigen und die Ohnmächtigen, denn solche harten Grenzziehungen, die immer größere Gruppen vom gesellschaftlichen Fortschritt abkoppeln, entziehen der Demokratie den Boden. Die Freiheitlichkeit einer Gesellschaftsordnung ist Z ohne ein entsprechendes Maß an ausgleichender Gerechtigkeit und Solidarität nicht zu garantieren.
Neben der globalen Gegensteuerung gegen ideologische Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft ist aber auch die konkrete Arbeit vor Ort notwendig. Lebendige Stadtteile sind ein wichtiges präventives Element gegen neue soziale Brennpunkte. Mitsprache und Engagement von Stadtteilbewohnern wendet sich zwar auch oft gegen die Neuansiedlung von Behinderten und Randgruppen, aber wir brauchen neue Formen der Nachbarschaftsarbeit, um die informellen sozialen Netze tragfähiger und sensibler für soziale Fragen werden zu lassen. Das schamhafte Verstecken von Armut, Arbeitslosigkeit und anderen Formen der Hilflosigkeit, die Tendenz zur Selbstisolierung der von Notlagen Betroffenen muß aufgebrochen und gemeinsam zur Sprache gebracht werden, damit Stadtpolitik nicht erst dann einsetzt, wenn ein Stadtteil verelendet und zum sozialen Brennpunkt mit kriminellen Subkulturen geworden ist. Die beste Bekämpfung besteht darin, Brennpunkte von vornherein zu verhindern. Der Städtetag hat dazu hilfreiche Empfehlungen erarbeitet. Die sich verschärfende Not am Wohnungsmarkt wird hoffentlich genügend politischen Druck erzeugen, um diese Empfehlungen auch in die Praxis umzusetzen.
Gerd Iben, Dr. phil., geb. 1932; Professor für Sonder-und Sozialpädagogik an der Universität Frankfurt a. Main. Veröffentlichungen: Zahlreiche Beiträge zur Randgruppenarbeit, Obdachlosigkeit, Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit, zu Schulproblemen, zum sozialen und lebensweltorientierten Lernen; Mitautor des ersten Armutsberichts des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.