Die Überwindung des Ost-West-Duells, der Zerfall des Sowjetimperiums und die Herstellung der deutschen Einheit machten den Beginn der neunziger Jahre zum Ausgang einer Epoche der Verheißung. Ein politisches Erdbeben beseitigte betonierte Feindbilder und dämmte die Schreckens-visionen nuklearer Apokalypsen ein. Unter dem Optimismusschleier wurde jedoch bald wieder ein Kontinent sichtbar, der eigentümlich unaufgeräumt wirkt. Die große Friedens-Revolution scheint im Austrag ihrer selbst merkwürdig erstarrt: „Europa ist sicherer geworden, aber keine Insel des Friedens.“ Ethnische Konflikte, der Krieg auf dem Balkan, die politische Zerklüftung Osteuropas verstärken die Besorgnisse. Hat sich die einstige kompakte Bedrohungslage zwischen den Blöcken bloß zu einer Vielfalt neuer Risiken und Spannungslagen verformt?
Die Unwägbarkeiten solcher Herausforderungen verlangen jedenfalls von deutscher Sicherheitspolitik nicht nur in ihren militärischen Komponenten eine Doppelstrategie aus Kontinuität und Wandel, um den Umbruch als gleitende Zäsur stabilitätsfördemd zu gestalten. Kontinuität besteht laut Artikel 87a GG in der Landesverteidigung als „vorrangiger Aufgabe“ (Rühe). Ein zusätzlicher Auftrag ergibt sich aus einer „erweiterten Landesverteidigung“ (Rühe) nach Maßgabe des Artikels 24 GG. Für Aufgaben im NATO-Gebiet sollen in der Form von „Krisenreaktionskräften“ sechs bis sieben Brigaden als Sondereinheiten der teilaktiven bzw. gekaderten „Hauptverteidigungskräfte“ aufgestellt und dem Rapid Reaction Corps der NATO/ACE zugeführt werden. Der Aufbau dieser neuen Formation wurde am Oktober 1992 mit feierlichem Zeremoniell in Bielefeld eingeleitet. Vorbehaltlich entsprechender politischer Entscheidungen werden zudem im Oktober 1993 zwei Bataillone für Blauhelm-Aktionen der UNO verfügbar sein 2. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, „daß das Ende der Ost-West-Konfrontation nicht das Ende militärischer Gewaltanwendung bedeutet. Der Spielraum für Diktaturen und Gewalttäter ist eher gewachsen. Streitkräfte im Dienste von Demokratien bleiben daher zum Schutz und zur Wiederherstellung des Rechts und des Friedens unverzichtbar.“ Gerade deshalb benötige Deutschland Streitkräfte, so NATO-Generalsekretär Wörner weiter, die, implantiert in den Wirkungsverbund von NATO, WEU, KSZE, EG und Europarat, dem Ziel einer europäischen Friedensordnung verpflichtet sind
Ihrer Herstellung und Wahrung dient zudem das im Aufbau befindliche Europäische Korps, das, aus einer deutsch-französischen Initiative am 14. Oktober 1991 entstanden, zur Stärkung der operationeilen Rolle der WEU vorgesehen ist, aber auch als besonderer europäischer Beitrag im Rahmen der NATO eingesetzt werden kann. Als Auftragsbereiche sind vorgesehen: 1. die gemeinsame Verteidigung der Verbündeten entsprechend Artikel V des Washingtoner Vertrags oder entsprechend des Brüsseler Vertrags; \ 2. die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Friedens; 3. die humanitäre Hilfe-Leistung.
Der Primat der Landesverteidigung als Rechtfertigung für Stärke und Umfang der Streitkräfte erscheint auf den ersten Blick um so strittiger, als Verteidigungsminister Rühe selber einräumt, daß Deutschland erstmals nach langer Zeit von Staaten umgeben ist, die mit ihm ein Bündnis haben oder ihm ansonsten freundschaftlich verbunden sind. Warum dann so starke Kräfte für die Verteidigung?
Zunächst gilt wohl zweifelsfrei, daß die direkten Nachbarn der Bundesrepublik deren Grenzen durch Angriffsdrohungen nicht in Frage stellen. Gleichwohl sind Streitkräfte für zwei Fälle unverzichtbar: zum Auffangen politischer Druckwellen infolge regionaler Großkonflikte und zur Vermeidung politischer Erpreßbarkeit, d. h. zur Abwehr der Zumutung, vom handelnden Subjekt zum Objekt fremder Entscheidungen degradiert zu werden Den Verständnisschlüssel zu diesen denkbaren Szenarien, die bei einer Risikovorsorge nicht ausgeblendet werden dürfen, liefert die Bemer-kung von Außenminister Kinkel, er sähe „Europas Sicherheit in einem geopolitischen Umfeld, das sich wie ein Lavastrom ständig verändert“. Das Umfeld definiert der Minister mit der islamischen Welt und der GUS Diese Problemzonen können Entwicklungen nehmen, die Europa destabilisieren und deshalb eine zumindest stichwortartige Betrachtung der möglichen Konfliktdynamik sinnfällig machen. Dabei geht es um die Optimierung des strategischen Sicherheitskalküls im Sinne gebotener Wahrnehmung von realen und möglichen Krisen sowie ihrer tatsächlichen bzw. vermutlichen eventuellen Reichweiten.
Von welchem militärgeographischen und gesamt-politischen Dispositiv hat deutsche Sicherheitspolitik heute auszugehen, wenn diese die Gesamtgewährleistung aller Maßnahmen eines Staates zu verantworten hat, damit seine Bürger gemäß ihrer Verfassungswerte, Überzeugungen und Interessen ihr Leben zukunftsfähig, stabil und möglichst angstfrei gestalten können? Wo, so heißt die Leitfrage, gibt es Vertrauens-und Machtlücken, die es sicherheitspolitisch durch Früherkennung im Sinne geostrategischer Vorsorge möglichst effektiv zu rationalisieren gilt?
Betrachten wir aus deutscher Perspektive die sicherheitsrelevanten Segmente Europas, so gehören zweifelsfrei die im folgenden beschriebenen Faktoren und Tendenzen in die deutsche Sicherheitsplanung, wobei es -dies sei ausdrücklich angemerkt -keineswegs um den Aufbau fiktiver Bedrohungslagen geht.
I. Zur sicherheitspolitischen Perzeption Osteuropas
Die Russische Föderation als größte Republik der GUS ist gut 50mal größer als die Bundesrepublik; sie umfaßt eine West-Ost-Ausdehnung von 9000 km. Auf diesem Gebiet von 17 Mio. km 2 befindet sich weiterhin die zweitgrößte Militärmacht der Welt. Vorerst bis zur Jahrhundertwende bleibt Moskau im Besitz von ca. 4000 strategischen Nuklearwaffen. Der aktuelle Rüstungsetat weist 80 Mrd. Rubel aus. In den Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR (inklusive der noch im Baltikum, Polen und Deutschland stationierten Potentiale) befinden sich noch 3, 6 Mio. Soldaten, 9000 Kampfflugzeuge, 46000 Panzer, 53000 Geschütze etc. Bei den VKSE-Beschlüssen in Helsinki (10. Juli 1992) über die künftigen Personal-stärken hat sich Moskau nicht unter 1450000 Soldaten herunterhandeln lassen Ob die Ukraine, der zweitgrößte Staat in Europa, den bis 1994 vorzunehmenden Abbau der auf diesem Gebiet stationierten Interkontinentalraketen durchführt, ist ebenso ungewiß wie die endgültige Aufteilung der Schwarzmeerflotte und die Befeh Juli 1992) über die künftigen Personal-stärken hat sich Moskau nicht unter 1450000 Soldaten herunterhandeln lassen 7. Ob die Ukraine, der zweitgrößte Staat in Europa, den bis 1994 vorzunehmenden Abbau der auf diesem Gebiet stationierten Interkontinentalraketen durchführt, ist ebenso ungewiß wie die endgültige Aufteilung der Schwarzmeerflotte und die Befehls-gewalt auf der Krim.
Ehemalige Untertanengebiete Moskaus wollen heute als Partner behandelt und als Rivalen respektiert werden. Die Reduktion der UdSSR hat ethnische, religiöse und historische Bruchlinien neu aufgeworfen und gleichzeitig so etwas wie eine „strategische Heimatlosigkeit“ Ostmitteleuropas geschaffen. Mitgliedschaften im Nordatlantischen Kooperationsrat ändern daran aufgrund der strukturellen Unverbindlichkeit noch nichts 8.
Innerhalb der Russischen Föderation steigen mit dem Erstarken nationaler Bewegungen die Zerfallstendenzen. In Republiken wie Georgien, Moldowa, Aserbaidschan, Armenien und Tadschikistan herrscht offener bzw. verdeckter Bürgerkrieg. Selbstbewußt betrachten vor allem Belorußland und die Ukraine die GUS als bloße „Abwicklungsgemeinschaft“ und sabotieren deshalb den Aufbau von stabilen Koordinierungsinstrumenten für die GUS 9. Eine „Konföderation kaukasischer Bergvölker“ wendet sich gegen Moskau. Kosaken formieren sich allenthalben als Milizen, um in zaristischer Manier Abtrünnige des Imperiums zu züchtigen 10. *Z*u*de*m bleibt der Konflikt zwischen politischer und militärischer Führung in Moskau nur leidlich verhüllt. Die seit Gorbatschow fortgesetzte Politik der vermeintlichen Preisgabe einstiger Macht und Größe, Prestigeverlust und Per-spektivlosigkeit der Armee setzen hinter eine anhaltende Duldsamkeit der Generalität ein Fragezeichen Sie hatte bereits ihre Hände im Spiel beim Putsch am 19. August 1991. Der Staatsstreich scheiterte offensichtlich nur am Dilettantismus der KGB-Gruppe, die Boris Jelzin festsetzen sollte. Jelzin entkam infolge von Koordinierungsmängeln und konnte an seiner berühmten Panzer-Rede vor dem „Weißen Haus“ nicht gehindert werden
Ob sich ein Staatsstreich wiederholt, bleibt ebenso ungewiß wie die Beantwortung der Frage, ob Ruß-land „nach Europa“ kommt und seine Westorientierung von Dauer sein wird. Experten warnen vor der Annahme, westliche Vorstellungen von Liberalität, Demokratie, Selbstverantwortung, Leistungsethik und Marktwirtschaft seien schlichtweg auf Rußland übertragbar. „Die Kommunisten sind“, so Johann Georg Reißmüller am 20. Mai 1992 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, „mit ihrer Ideologie des , neuen Menschen 1 fürchterlich gescheitert. Die westliche Welt muß sich vorsehen, daß sie nicht eine neue, sozusagen demokratische Version des Irrtums erfindet und an den Russen exerziert. Sie soll auf Veränderungen in Rußland hinwirken -aber mit dem notwendigen Realismus, der vor Ungeduld, unvernünftigen Forderungen und vor Illusionen warnt.“ Die Offerten des Westens zur Zusammenarbeit werden in Rußland vielfach als Bedrohung empfunden. „Gerade Moskau“, schreibt Wiktor Kriwulin, „wird heute zum Objekt eines elementaren untergründigen Hasses, zur neuen Babylonischen Hure, wo sich die . käuflichen Agenten des Westens festgesetzt haben, die Demokraten, die Rußland angeblich ausrauben und zerstören. Die westlichen Lebensformen sind für die nationale Mentalität wie eh und je zu kompliziert und fremdartig.“ „Rußland ist heute sehr uneinheitlich. Es gibt alte Freunde, möglicherweise Gefährten im Kampf der Demokraten gegen die totalitäre Union... Aber es gibt auch ein kriegerisches Rußland mit dem Erbe des imperialen Denkens, dem es in den neuen Grenzen ungewohnt ist.. ,“ Öffnung nach Westen oder Rückfall in Despotie, Konföderation oder nationale Zerklüftung stehen in Osteuropa zur Entscheidung mit jeweils schwer schätzbarem Wirkungsradius an. Nicht von ungefähr hat Finnland jüngst die Anschaffung von 64 neuen amerikanischen Jagdbombern beschlossen. Hinzu kommt der Erwerb von 90 Kampfpanzern des Typs T-72, 300 Artillerie-Geschützen, 5000t Munition, 300 Flakgeschützen etc. aus dem NVA-Erbe der Bundesrepublik. Die kleine Republik Estland will sich eine eigene Marine zulegen, während es durch eine diskriminierende Behandlung der 475000 russischen Einwohner einen scharfen Konflikt mit Moskau riskiert. Norwegens Besorgnis wegen der Armierung der strategisch wichtigen Halbinsel Kola nimmt zu. Trotz desolater Wirtschaft entwickelt Rußland vier neue Hochleistungskampfflugzeuge, darunter ein mit dem amerikanischen Stealth-Fighter Lockheed F 117A vergleichbares Muster Umgekehrt könnten auch die wenig geschmälerte NATO-Präsenz der USA in Westeuropa, die -wenngleich reduzierte -Fortsetzung des SDI-Programms, die Optionselastizität von NATO, WEU und Europa-Korps die Moskauer Entscheidungsprozesse mit aggressiven Neurosen durchwuchern. Dies in der durchaus klassischen Reaktion, wonach innerer Autoritätsverlust am ehesten durch äußere Erfolge wiederhergestellt wird. Kurzum: „Deutschland ist Nachbar des Gürtels der Unsicherheit“, wie einer der besten Osteuropa-Kenner, Eberhard Schulz, resümiert
Dieser Gürtel verlängert sich in Richtung Süd-Ost. Rund achtzig Nationalitätenkonflikte haben Moskauer Politikwissenschaftler auf einstmals sowjetischem Territorium ausgemacht von denen sich sechsundvierzig im Kaukasus und Mittelasien befinden. Hier richten sich vornehmlich im Religiösen wurzelnde politische Ideologien gegen Verwestlichung und Europäisierung. Der Kampf um die Beerbung der früheren sozialistischen Gegen-macht zum Westen kann durchaus zu einer militanten Re-Islamisierung jener Regionen führen, die Scharnier sind zwischen der russischen Südflanke und dem Iran, welcher als Wiege einer Revolutionierung der islamischen Staatenwelt fungieren könnte Eine antiwestlich grundierte Konflikt-schleppe von Afghanistan bis Algier, neuerdings auch unter Einbeziehung Ägyptens, scheint sich um das Mittelmeerbecken zu legen Die arabische Welt will Tausende von Freiwilligen zur Unterstützung der Muslime in Bosnien bereitstellen. Auch die Türkei in ihrem besonderen regional-kulturellen Selbstverständnis könnte sich zum Protektor der Gläubigen Allahs aufwerten. Der Kampf um Mazedonien und das Kossovogebiet steht bevor, in Rumänien werden 600000 Ungarn unruhig, auf einst sowjetischem Gebiet könnten zwei Millionen Deutschstämmige unter dem Druck der Verhältnisse noch stärker nach Westen drängen. Die Teilung der Tschechoslowakei macht deren Streitkräfte nervös, und Österreich beabsichtigt die Ausrüstung seines Bundesheeres mit modernsten Kampfhubschraubern.
Die Verbindung von Petrodollars und Islamismus und der Immigrationsdruck infolge der Hunger-katastrophen auf dem „Schwarzen Kontinent“ erheben die Mittelmeerregion samt nordafrikanischer Gegenküste zum neuen Gravitationszentrum italienischer, spanischer und französischer Sicherheitspolitik. Gerade für die Südeuropäer ist die frühere massierte Bedrohung durch den War-schauer Pakt zu einem bizarren Risiken-Tableau verformt worden, das aufgrund der spezifischen geopolitischen Konfliktlagen den Mittelmeeranrainern im NATO-Bündnis sehr komplexe multilaterale und zugleich nationalspezifische Entscheidungsräume zuweist. Hier hat die westliche Bündnisstrategie auf der Grundlage politischer Geschlossenheit und der Stärke gemeinsamen Handelns Konkordanzprobleme zu meistern und um so mehr die Kunst des Spagats angesichts unterschiedlicher Gefahrenzonen zu üben, als ja die Eigenverantwortlichkeit der Euro-Gruppe in der NATO für den europäischen Pfeiler der atlantischen Allianz wachsen soll.
II. Zur sicherheitspolitischen Perzeption Westeuropas
Die Bundesrepublik bleibt auf den Schutz von USA und NATO dauerhaft angewiesen. Deutschland besitzt keine eigenen ABC-Waffen und kann bei ohnehin bald reduzierter Truppenanzahl (370000) auf den Abwehrschild der atlantischen Gemeinschaft nicht verzichten. „Die NATO ist als einziges funktionierendes Sicherheitsbündnis der Garant für Frieden und Stabilität in Europa.“
Deutsch-französische Verbände (Eurokorps) haben im Ernstfall allenfalls subsidiäre Qualität. Hinzu kommt, daß Paris seine Truppen weiterhin der integrierten Kommando-Struktur der NATO vorenthält. Die Bildung des Eurokorps und zuvor schon der deutsch-französischen Brigade erregten den Verdacht, daß Frankreich mit seiner rüstungsindustriellen Prädominanz weiter an seiner Politik festhält, den Einfluß der USA in Europa zu schwächen und für Paris eine stärkere Führungsrolle auf dem Kontinent zu sichern. Bis vor kurzem waren französische Kurz-und Mittelstreckensysteme in für Deutschland höchst ungünstiger Weise disloziert. Indessen deuten Frankreichs Rücknahme der Hades-Werfer-Brigade, die Einstellung der Atomwaffentests sowie ein seit Maastricht verstärkter Dialog mit Bonn auf Wandlungsprozesse hin. Großbritannien, das stets dann eine Tandem-Politik mit Frankreich scheute, wenn dies Washington hätte verärgern können (Londons Nein zu Frankreichs Offerte einer gemeinsamen Entwicklung von Cruise Missiles mag hier als Stichwort genügen), bleibt weiter der besonderen angelsächsischen Verbindung zu den USA verpflichtet
Während Italien seine Sicherheitspolitik mit seiner Funktion als NATO-Südflanke identifiziert, sucht Spanien in NATO und WEU durch bedingte Kontingentierung von Streitkräften eine Sonderrolle nach französischem Vorbild zu exerzieren, während die Benelux-Länder ihre Rückversicherung via Brüssel auf London und Washington ausrichten.
Die Umbruchlage, in der Europa seine neue Sicherheitsdoktrin definieren muß, zeigt immer noch die üblichen Tendenzen und Traditionen einer Versäulung bündnispolitischer Allgemein-und nationaler Sonderinteressen. Dies nicht zuletzt auch unter dem Druck der jeweiligen Rüstungsindustrien, denen die Beibehaltung der alten Typen-Konkurrenz im Ausrüstungsbereich ebenso angenehm wie die logistischen Kompatibilitätsgebote der neuen Wehrstrukturen willkommen sind. Von der Erhaltung des Mischkonzeptes aus supranationalen Bekenntnissen bzw. Institutionen kann ebenso ausgegangen werden wie von der parallelen Fortsetzung intergouvemementaler Sonderrege-Jungen. Ein Hauptgrund dafür ist die unterschiedliche Intensität der geostrategischen Betroffenheit durch folgende Tatsachen: 1. Mit dem Ende des Kalten Krieges sind Risiken und Bedrohungslagen nicht verschwunden. Eine Parzellierung nuklearer Potentiale schafft dieselben noch nicht ab. Steinzeit-Nationalismus, politische Theologien, Fanatismus und Migrationskatastrophen sowie der Zuwachs an atomaren Schwellenländem treffen nicht jeden Staat, jede Region unmittelbar gleich. 2. Die Großmächte Rußland, USA und China werden sich jeweils durch kollektive Sicherheitssysteme zu nichts zwingen lassen, was sie selbst nicht wollen. Sie können das Maß ihrer Sicherheitsbedürfnisse noch aus sich selbst definieren und autonom gestalten. Die USA können die NATO verlassen, die Bundesrepublik kann es nicht. Zwar heißt es im Unterstützungsabkommen vom 15. April 1982, daß „Deutsche und Amerikaner, Europäer und Amerikaner in einer Schicksalsgemeinschaft leben“, doch tun dies die USA mit singulären operativen Möglichkeiten. 3. Aufgrund der Interessenunterschiede zwischen einer atlantisch-pazifischen Weltmacht und einer gehobenen europäischen Mittelmacht kann es keine partnerschaftlichen Gleichgewichte geben. Es besteht keine Sicherheitsidentität; sie gestaltet sich vielmehr sektoral und komplementär. Aus diesem Grunde muß prinzipiell und unabhängig von vagen oder wechselnden Feindbildern die unmittelbare Landesverteidigung Hauptaufgabe der Bundeswehr bleiben, da Deutschland nicht nach seinen Vorstellungen und Notwendigkeiten einen Bündnispartner bedingungs-und vorbehaltlos in seine Dienste nehmen kann. Die Fortdauer und mögliche Vertiefung der ost-und südosteuropäischen Konflikte mit einem Überschwappen (Spillover-Effekt) der Instabilitäten auf die Mitte des Kontinents stellen sich in ihrer Dramatik für Großbritannien bereits anders dar als für die Bundesrepublik, erst recht aber für die Bürger Amerikas. Solche graduell unterschiedliche Krisen-Wahrnehmung der „einheitlichen Gefahrenlandschaft“ namens Europa verlangt besondere nationale Sicherheitsvorsorge, die dennoch davon ausgehen muß, daß sie letztlich unzureichend bleibt, wenn sie im Alleingang gestaltet wird. Schon eine Mit-verantwortung für den friedlichen Wandel in Osteuropa kann ohne Deckung und Abstützung durch die USA und die UNO von Westeuropa allein nicht wirksam geleistet werden. Der Fortschritt zum Neuen braucht deshalb Deckung durch das Bewährte, um die Wandlungsprozesse stabil zu gestalten. „Westbindung plus Ostverbindungen“ bildet wohl zunächst weiterhin die gültige Ausgangsbasis für deutsche Sicherheitspolitik
III. Chancen und Grenzen „erweiterter“ Landesverteidigung
Für die Stabilisierung der neuen Sicherheitsarchitektur soll die Bundesrepublik größere Verantwortung übernehmen. Nach 40jährigem Schutz durch die westliche Allianz wird nunmehr eine moralische Bringschuld angemahnt, die indessen durchaus als friedenspolitische „Randnutzung“ für deutsche Sicherheitsstabilität optimierbar ist „Alle Welt erwartet von uns, daß wir unglaublich viel tun“, faßte Björn Engholm diese Erwartungen zusammen
Die Bonner Regierung, zumal das Verteidigungsministerium, ist vorbehaltlich gesetzlicher Klärungen zur Übernahme weiterer Aufgaben durchaus bereit. Volker Rühe definiert die „erweiterte“ Landesverteidigung in ihren möglichen Dimensionen wie folgt: „Und Frieden in Freiheit für alle Europäer wird nicht nur davon abhängen, daß Sicherheit und Stabilität vom Atlantik bis zum Ural gewährleistet werden. Sicherheit für Europa muß einschließen die breitangelegte Vorsorge gegenüber krisen-und konfliktträchtigen Entwicklungen in anderen Regionen der Welt mit allen Instrumenten, die uns politisch und wirtschaftlich zur Verfügung stehen. Die Chancen zur Friedensgestaltung in Europa werden wir nur nutzen können, wenn wir diesen möglichen Gefährdungen realistisch begegnen.“
Diese Realitätspflicht gilt indessen nicht nur für die Krisen-Perzeption, sondern auch in gleicher Weise für die Wirkungsmöglichkeiten, die Deutschland hat. Überprüft man sie, wird angesichts eines verständlichen, indessen nicht unbedenklichen Ehrgeizes der neuen Führung im Außen-und Verteidigungsministerium so etwas wie eine Vernachlässigung des Gebots selbstbe wußter Bescheidenheit erkennbar. Erwartungen kommen hoch, die unserer Staatsräson illusionäre Elemente zumuten. So etwa in der Frage eines ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat. Daß es sich hierbei um rhetorisches Muskelspiel handelt, zeigt folgende Überlegung: Mit Deutschland säßen neben Großbritannien und Frankreich drei Westeuropäer im Rat, die zusammen nur etwa 200 Mio. Menschen vertreten. Indien, Japan oder Brasilien würden so etwas nicht hinnehmen, geschweige denn der afrikanische Kontinent ohne einen einzigen Vertreter. Beim Gipfel der 108 Unabhängigen Staaten in Jakarta Anfang September 1992 wurde wie nie zuvor der Führungsanspruch der alten Vor-mächte und maßgeblichen Industriestaaten in Frage gestellt.
Vielleicht haben nicht ganz uneigennützige Schmeichelworte des Auslands von Deutschlands neuer Größe zu einem eurozentrischen Selbstbewußtsein verleitet, das die Gebote disziplinierter Ziel-Mittel-Relationen vernachlässigt. Diesen Eindruck gewinnt man auch, aus einer offiziösen, an sich in großen Teilen wohlfundierten Studie des neuen Leiters des Planungsstabes im Verteidigungsministerium, Vizeadmiral Weisser, wenn dieser „der deutschen Sicherheitspolitik in den nächsten Jahren vier Schwerpunktaufgaben“ zuweist: „ 1. Die Europäischen Prozesse müssen energisch vorangetrieben werden.
2. Die transatlantischen Beziehungen verlangen neue Inhalte.
3. Deutschland soll Rußland so eng wie möglich an Europa heranführen.
4. Das Krisen-und Konfliktpotential in der Dritten Welt muß mit einer umfassenden Gesamtstrategie vermindert werden.“
Zu Punkt 1 ist kritisch anzumerken, daß die Bundesrepublik kein initiatives Durchsetzungsvermögen zugunsten dieser Prozesse mobilisieren kann. Die imperativen Mängel zeigen sich z. B. über-deutlich an der anhaltenden Taubheit der westlichen Nachbarn gegenüber dem Ersuchen von Bundeskanzler Kohl, ähnlich viele Kriegsflüchtlinge aus Bosnien aufzunehmen, wie es die Bundesrepublik tut London benutzt weiter Brüssel, um britische EG-Politik zu betreiben. Sonderregelungen (Sozialgesetzgebung) wurden in Maastricht ebenso erzwungen wie jüngst Vorrechte für Frankreich und England bei der Müllverklappung in der Nordsee, ganz zu schweigen vom britischen Austritt aus dem Europäischen Währungssystem. Die Briten verweigern zudem gegenwärtig jeglichen Beitritt zum Europäischen Korps, und Bonn hat das zu akzeptieren. Hinzu kommt als Bremse der „europäischen Prozesse“ die zunehmende Europa-Unwilligkeit in der Bevölkerung und ihre tiefgreifende Entfremdung gegenüber den eigenen Regierungen, die die Europäische Union quasi zum Selbst-ultimatum erhoben und mit ihrer Umwidmung Europas vom Kultur-zum rechtsverbindlichen Heimatbegriff das psychische Behagen der Völker stören. Welche Kraft kann zudem von Bonn mobilisiert werden, um den Balkan, die selbstbewußte Türkei, das eigenständige Griechenland oder gar die GUS-Staaten in die europäischen Prozesse einzubinden, die bei allem subjektiven Wohlmeinen doch auch den Verdacht westeuropäischen Hegemonie-Strebens verstärken? Nicht einmal ein wirksamer Boykott der Belieferung Serbiens ist von dem angeblichen neuen Koloß Deutschland gegen viel kleinere EG-Mitglieder erreichbar.
Zweitens formuliert Admiral Weisser mit der Forderung nach neuen Inhalten des transatlantischen Verhältnisses als Ziel: „Die deutschamerikanischen Beziehungen können nur krisenstabil sein, wenn sich beide Staaten aufeinander verlassen können... Deutschland müsse bereit sein, seine Streitkräfte dort einzusetzen, wo kollektive Sicherheitsentscheidungen ihren Einsatz verlangen.“ Dies sei nicht nur Schlüssel zur Europafähigkeit der Deutschen, sondern auch Grundbedingung für eine Partnerschaft mit Amerika, die dem Imperativ von Solidarität und Fairneß gehorche.
Hier wird verschleiert, daß Amerika substantiell allein bestimmt, was ihm als kollektives Sicherheitsinteresse im Sinne praktischer Maßnahmen gilt. Der Krieg am Golf zeigte dies ebenso wie die Passivität des Pentagon im Jugoslawien-Konflikt. Eine Weltmacht hat andere Zielprojektionen („issues“) als Deutschland, das gegen Restrisiken des Schirmes der USA in ganz vitaler Weise bedarf, während die Bundesrepublik nach Zusammenbruch des Sowjetimperiums für die USA eine zwar wichtige Relais-Station zum Nahen Osten ist (wartime host support-Abkommen seit 1982), aber notfalls Washington seine logistischen Brückenköpfe auch in England oder Italien ausbauen könnte. Kurz: Deutschland bleibt ein wichtiger Partner, aber ein Junior-Partner der USA, der seine sicherheitspolitischen Wünsche in Washington vortragen, aber nicht aus eigener Kraft durchsetzungsfähig gestalten kann, wie es umgekehrt Washington direkt oder indirekt vermag. Bei der kollektiven Gestaltung einer neuen Friedensordnung können viele mitwirken, aber die Welt bleibt dabei auf das Engagement Amerikas vorrangig angewiesen
Drittens vermag Deutschland zwar die Wünsche Rußlands, weiterhin zweitgrößte Land-, See-und Nuklearmacht der Welt, nach Kapital-und Technologiehilfe zu bedienen, es kann damit aber nicht zugleich auf den Demokratisierungsprozeß und die ethnischen Konflikte unmittelbaren Einfluß nehmen. Bonn kann nur seinen guten Dienst anbieten. Im Fall eines offenen Konfliktes zwischen Rußland und der Ukraine etwa oder einem baltischen Staat bliebe Deutschland seufzender Zuschauer ähnlich wie bislang im Jugoslawien-Krieg. Wenn Rußland „kommt“, kommt es von sich aus; mit der Fähigkeit, sich trotz gegenwärtiger Taumel-Lagen jederzeit aus eigenem Willen wieder aus europäischen Bindungen zurückzuziehen, ohne daran gehindert werden zu können. Die im START-Vertrag vom Juli 1991 mit Moskau verabredete Reduzierung von 11000 auf 6000 nukleare Sprengköpfe bis 1999 stellt faktisch keine qualitative, sondern eher eine quantitative Verringerung der örtlichen Bedrohungskapazität dar.
Die Entwicklung einer Gesamtstruktur für die Konfliktbewältigung der Dritten Welt, die Weisser viertens fordert, ist eine Aufgabe, die Deutschlands lediglich bescheidene Möglichkeiten geradezu hervorhebt. Selbst bei einem einheitlichen EG-Handeln von 340 Mio. Menschen stehen dem ca. 5 Mrd. entgegen mit Riesenräumen, großteils modemitätsfeindlichen Religionen, Bevölkerungsexplosionen und mehrheitlich diktatorischen Herrschaftssystemen. Die in der UNO vertretenen wirklichen Demokratien sind an vier Händen abzählbar. Ohnehin ist die „Dritte Welt“ -im Grunde eine Worthülse -wohl kaum geneigt, die Supernova eines EG-Europa mit gemeinsamer Wirtschafts-, Außen-und Sicherheitspolitik (GASP), d. h. mit einer politischen sowie ökonomischen Hegemonie, hinzunehmen, die noch stärker als bisher Weltmarktpreise und Rohstoffpolitik der unterentwickelten Länder negativ beeinflussen könnte. Nicht auszuschließen ist, daß bei Herstellung eines einigen Europa machtpolitische Gegen-gebilde entstehen, für die sich Japan, Indien, Südamerika, Rußland und die USA als politische Magnetkerne empfehlen, um die Westeuropa begünstigenden Asymmetrien auszubalancieren und zu konterkarieren
Die machtpolitischen Möglichkeiten der Bundesrepublik, ihre Vernetzung in vielfältigen Allianzen, die Sicherheit vor Deutschland und Sicherheit für Deutschland gewährleisten, sowie die gegenwärtigen mentalen Dispositionen der Deutschen erzwingen das nüchterne Fazit, daß Deutschland Sicherheitspolitik in Europa nicht gestalten, sondern nur m/fgestalten kann. Es entscheidet dabei nicht über die verbindliche Partitur für das Konzert der Mächte, weder über das Dirigentenpult noch über die Erste Geige; es ist lediglich ein wichtiges, tragendes Orchestermitglied, ohne sich mit solistischen Aktionen heraussteilen zu können. Freilich hält gerade dieser Mangel an Droh-und Erzwingungspotentialen das Niveau des Mißtrauens gegen Deutschland -abgesehen von historischen Implikationen -niedrig. Deshalb ist die Bundesrepublik besonders beim Aufbau einer europäischen Sicherheitsgemeinschaft dazu berufen, durch Dialog, Transparenz und Zuverlässigkeit das politische Klima zu verbessern. Gespräche und Begegnungen wie z. B. zwischen polnischen und russischen Offizieren mit deutschen Berufs-kollegen haben bereits wichtige Fortschritte erbracht, die weit über die funktionalen Kontakte im Rahmen vereinbarter Verifikationen und Introspektionen hinaus entspannungsfördemd wirken werden.
Grundsätzlich bleibt aber für die aktive wie reaktive Sicherheitspolitik der Bundesrepublik bestimmend „unsere Unfähigkeit, uns allein zu verteidigen und unsere Abhängigkeit von Rohstoffen und Märkten in aller Welt, von freien See-und Flug-verbindungen“ So empfiehlt es das ureigene Interesse der Deutschen, im Rahmen „erweiterter“ Landesverteidigung den Schwerpunkt nicht auf die Demonstration von Stärke, sondern auf die Tugenden der primär vermittelnden politischen Gestaltungselemente für mehr Frieden zu legen, zumal sich gegenwärtig -pointiert formuliert -Deutschland in der Kontaktzone zwischen fragilem Wohlstand und möglichem Chaos befindet. Die augenblicklichen Zustände bestätigen leider die bereits im Neuen Strategiekonzept der NATO vom November 1991 formulierten Sorgen: „Risiken für die Sicherheit der Allianz ergeben sich weniger aus der Wahrscheinlichkeit des kalkulierten Angriffs auf das Hoheitsgebiet der Bündnispartner. Sie sind eher Konsequenz der Instabilitäten, die aus den ernsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten, einschließlich ethnischer Rivali täten und Gebietsstreitigkeiten, entstehen können, denen sich viele mittel-und osteuropäische Staaten gegenübersehen.“
Auf solche Konflikte mit stetiger Behutsamkeit und Umsicht moderierend einzuwirken muß Bestandteil deutscher Sicherheitspolitik mehr denn je werden, ohne sich interventionistischer Eigensucht verdächtig zu machen. Hier kann die Bundesrepublik in besonderer Weise das Wertepotential der bislang Atlantischen Gemeinschaft zum Scharnier nach Osten politisch mitgestalten gemäß der Zweckbestimmung des Bündnisses: „Auf der Grundlage der gemeinsamen Werte Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit wirkt das Bündnis seit seiner Gründung für die Schaffung einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in Europa.“ Die Rolle deutscher Streitkräfte kann dabei „nur“ sein, extreme Rückschläge auf diesem Weg der Konfliktabschmelzung aufzufangen. Ansonsten gilt es, mit Augenmaß und der Disziplin eines durch Katastrophen hoffentlich klug gewordenen Volkes den Friedensauftrag „mit sanfter Macht, nicht mit dem Knobelbecher“ zu gestalten. „Diese zukünftige Hauptaufgabe des Bündnisses im Krisenmanagement“, so der ehemalige Generalinspekteur Admiral Wellershoff, „wird vorrangig Maßnahmen politischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Art“ betreffen. Dazu gehören Langmut, Überzeugungsarbeit und eine große gesellschaftliche Zustimmung zu den politischen Strategie-Vorgaben für die Streitkräfte, die indessen nicht überfordert werden sollten mit der kompromißlerischen Zuweisung von heroischer Allzuständigkeit für den direkten Kampf, für humanitäre Katastrophenhilfe, für ökologische Verantwortung militärischen Handelns bis hin zum Aufbau partnerschaftlicher Beziehungen zu den Soldaten in Osteuropa
Um solche leistungsaristokratische Professionalität auch nur ansatzweise verbindlich machen zu können, bedarf es einer grundsätzlichen Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Bundeswehr und Gesellschaft. Letztere sollte nicht mehr -wie vielfach beobachtbar -mit positiv gefärbtem Desinteresse die Existenz von Streitkräften irgendwie hinnehmen, sondern sie muß sich aktiv zu ihnen bekennen und aus dem Gegen-und Nebeneinander ein Miteinander werden lassen. Dialog-angebote dazu kamen bislang vor allem von der Bundeswehr selbst, mit oft beschämenden Ergebnissen angesichts modischer Ignoranz und vorurteilsgetränkter Problemscheu Der Tugendbegriff des Dienens scheint vielen Soldaten durch eine zunehmend belastungsunwillige egoistische Gesellschaft korrumpiert, für deren Schutz man hochpräsent, hochmobil und einsatzfreudig sein soll, während spöttische Fragen nach dem verlorenen Auftrag der Bundeswehr herumzüngeln. Neu zu stellen ist auch die Frage nach der angemessenen Lastenverteilung, wenn sich das Problem einer Freiwilligenarmee bzw.der Wehrgerechtigkeit nach erfolgter Truppenreduzierung auf 370000 Mann von dieser Gesellschaft aufbauen wird
IV. Problem-Profile im Ausblick
Die Streitkräfte der Bundesrepublik haben zwei Kemaufgaben:
1. direkte Landesverteidigung als territorialen Heimatschutz;
2. erweiterte Landesverteidigung durch Teilnahme an friedenssichernden bzw.friedens-schaffenden Maßnahmen auf nichtheimischem Gebiet gemäß den einschlägigen Bündnispflichten.
Fähigkeit zum Bündnis setzt Politikfähigkeit durch Verteidigungsfähigkeit voraus Deren Struktur wird gegenwärtig noch durch die Auflösung der vierzig Jahre hinweg maßgeblichen Bedrohungsperzeptionen bestimmt. Den Umbruch gilt es vor allem sicherheitspolitisch zu gestalten gemäß dem Neuen Strategischen Konzept der NATO, d. h. nach Fortfall der ideologisch motivierten Macht-konkurrenz des Ost-West-Konflikts „auf niedrigst-möglichem Kräfteniveau“ militärischer Gewährleistung eine „europäische sicherheits-und verteidigungspolitische Identität“ anzustreben Dabei gelten im Wandlungsprozeß vom Verteidigungsbündnis hin zur Sicherheitsgemeinschaft NATO und EG/WEU als „harte“ Koordinaten, das KSZE-Dialogforum als eine „weiche“
Für die deutsche Sicherheitspolitik ergeben sich bis auf weiteres vier Dilemmata: 1. Die Berechenbarkeit Osteuropas ist schwierig.
Kommt es zum Rückfall in imperiale oder totalitäre Despotien, entstehen aus nationalistischem Ehrgeiz weitere Explosivräume? Oder gelingt tatsächlich die Kehre hin zu stabilen demokratischen Strukturen? Eine möglicherweise erforderliche Konflikteinhegung verlangt deutsche politische Sensibilität, aber auch militärische Abschirmkräfte und ein gemeinsames Vorgehen der westlichen Allianz für den Fall grenzüberschreitender Konfliktausweitungen an den osteuropäischen Nahtstellen zum Westen. 2. Bisher hat die westliche Politik auf den strukturellen Wandel des europäischen Friedens-und Sicherheitsproblems noch nicht einheitlich reagiert Es bleiben beim Ausbau des europäischen Pfeilers der atlantischen Allianz zu viele nationale Sonderinteressen wirksam. Nachdem Frankreich offensichtlich seine Sicherheitspolitik stärker zu „europäisieren“ und mit Deutschland abzustimmen beginnt, verstärkt sich Londons Politik der Vorbehalte. Zudem beharren die USA bei reduzierter Truppenpräsenz und knapperem Militäraufwand auf ihrer Rolle als Weltmacht 3. Die Notwendigkeit von über die unmittelbare Landesverteidigung hinausgehenden möglichen Kampfeinsätzen deutscher Streitkräfte ist nach vierzigjähriger geschichtsbestimmter Zurückgenommenheit schwerlich der deutschen Bevölkerung mehrheitsfähig zu vermitteln. Wohlfeiler Populismus erachtet sogar die Streitkräfte als „Sparbüchse“ der Nation oder stellt prinzipiell die Existenzberechtigung der Bundeswehr in Frage. 4. Dies beeinträchtigt die Motivation der Soldaten um so mehr, als die Einbindung der NVA-Reste, die Veränderung der Personal-und Dienstpostenstruktur infolge der Rückführung auf 370000 Mann, dazu die gleichbleibend mäßige Besoldung bei steigendem Leistungs-und Verantwortungsdruck die Binnenprobleme der Streitkräfte weiter auflädt. Sie erkennen den Primat der politischen Führung vorbehaltlos an, bekommen aber umgekehrt zu wenig öffentliche Anerkennung als wichtigstes und leistungsfähigstes Exekutivorgan unserer Sicherheitspolitik.
Isolierung und Trotz könnten sich im Soldaten mit dem Bewußtsein verbinden, die eigentliche staatsbürgerliche Verantwortungselite in dieser res publica zu sein. Zumal Tendenzen zunehmen, daß angesichts des fortwährenden ungehemmten Immigrationsdrucks, der Destabilisierung der politischen Führungsautorität, des Verfalls unserer Rechtskultur und der öffentlichen Gesittung die Bundesrepublik selbst zum Einsatzgebiet der Bundeswehr im Geltungsfall der Notstandsgesetze werden könnte. Aber gerade solche möglichen Vorstellungen verbieten es, Sicherheitspolitik zur bloßen Angelegenheit der Streitkräfte zu verkürzen.
Sicherheitspolitik ist die umfassendste gesamtpolitische Aufgabe, die uns die Zukunft stellt. Dabei muß im Heute als Zeit zwischen den Zeiten die Krise vor allem als Chance begriffen werden; sonst würde sich dieses Jahrhundert der Nationalkriege, totalitären Verblendungen und Katastrophen verabschieden, ohne daß Hoffnung bliebe. Vernehmbarer Larmoyanz steht die Tatsache entgegen, daß die Offenheit der gegenwärtigen Situationen einen Riesenfortschritt gegenüber der Epoche des Kalten Krieges bedeutet und daß die Neubestimmung von Sicherheit keine Politik der kurzen Entschlüsse verträgt. Sie braucht Zeit zur Reife und zum festen Stand. Recht betrachtet, beweist sich an moderner Sicherheitspolitik, daß die Verantwortung für die Welt nicht mehr teilbar ist. Bezogen auf die notwendige Suche nach einer neuen Sicherheitsstruktur ist realitätspflichtig davon auszugehen, daß „Krieg und Bürgerkrieg wieder zu Mitteln der Politik geworden sind, auch der europäischen. Deutschland, gelegen an der Nahtstelle zwischen den Sphären der Stabilität und des Chaos, muß daher ein herausragendes Interesse am Aufbau einer europäischen Gemeinschaft haben, die sich den gewandelten Verhältnissen anpaßt.“ Um diese dauerhaft im Geist der UN-Charta gestalten zu können, muß deutsche Sicherheitspolitik Partner und Nachbarn so weit wie möglich für die Übernahme jener Vorstellungen zu gewinnen suchen, die den Ansatzpunkt der Nachkriegstradition deutscher Außenpolitik bestimmten: „das Bemühen um Entspannung, Verständigung und multilaterale Kooperation“
Deutschlands Selbstverpflichtung auf diese Tugenden bleibt aussichtsreich, wenn „wir klug, mutig und vorsichtig zugleich“ handeln Klug, aber nicht hinterhältig, mutig, aber nicht leichtfertig, vorsichtig, aber nicht verzagend Politik gestalten, um die Deutschlands Staatsräson bedrängende Machtbesessenheit wie Machtvergessenheit dauerhaft und verläßlich auf Distanz zu bringen. Eine so verstandene Aufbauhilfe für den Frieden in Europa diente nicht nur dem ureigensten Sicherheitsinteresse der Bundesrepublik, sondern böte zugleich -ideell wie materiel -die Chance, den wohl bedeutsamsten Beitrag zur „Wiedergutmachung“ begangenen, aber nicht vergangenen Unrechts zu leisten