I. Die neue Aktualität eines alten Themas
Die deutsche Einigung erfolgte im Oktober 1990 durch den Beitritt von fünf neuen Bundesländern über Art. 23 des Grundgesetzes, so daß die Verfassungsordnung der Bundesrepublik um das Gebiet der gleichzeitig aufgelösten DDR erweitert wurde. Obwohl damit das Grundgesetz verfassungsrechtliche Voraussetzungen für den schnellen Einigungsvorgang bereithielt, löste die „Wiedervereinigung“ eine Verfassungsdebatte aus, die über die „technische“ Anpassung des Grundgesetztextes an die neuen Verhältnisse weit hinausging. Anknüpfungspunkt für diese Diskussion war der Artikel 5 des Einigungsvertrages, der die zukünftigen Verfassungsänderungen behandelt und in diesem Zusammenhang das Bund-Länder-Verhältnis, die Neugliederung im Bereich Berlin/Brandenburg, die Aufnahme von Staatszielen und eine Volksabstimmung über das geänderte Grundgesetz erwähnt.
Bundestag und Bundesrat setzten im November 1991 eine 64köpfige gemeinsame Verfassungskommission ein, die in erster Linie den in Art. 5 des Einigungsvertrages aufgeführten Katalog sowie eventuelle Grundgesetzänderungen beraten soll, die sich aus der Verwirklichung der Europäischen Union ergeben. Darüber hinaus befaßt sich die Kommission auf Initiative der Bundestagsfraktion der SPD und der Gruppe der Grünen/Bündnis 90 auch mit der Aufnahme von Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz.
Die Vorschläge zur Einführung plebiszitärer Elemente gehören angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Verfassungskommission nicht zu den aussichtsreichsten. Sie werden aber in der Publizistik und in der Wissenschaft besonders ausführlich diskutiert, weil sie für das Demokratieverständnis in der Bundesrepublik eine grundlegende Bedeutung haben. Ihre Aktualität ist dabei nur zum Teil auf die antikommunistische Volksbewegung zurückzuführen, die in den Jahren 1989/90 zum Sturz der Diktaturen in der DDR und in den anderen Ländern des Warschauer Pakts einen entscheidenden Beitrag leistete. Die Forderung nach einer verstärkten unmittelbaren Mitwirkung der Bürger gewann vielmehr schon in der „alten“ Bundesrepublik unter dem Eindruck der zahlreichen Bürgerinitiativen in den siebziger Jahren an Bedeutung.
Ein Blick in die Parteiprogramme zeigt, daß auch die sogenannten etablierten Parteien den basisdemokratischen Forderungen Rechnung tragen mußten: Die CDU erklärte 1978 in ihrem Grundsatzprogramm: „Repräsentative Demokratie schließt nicht die Möglichkeit direkter Entscheidung des Volkes aus.“ Entsprechend dem liberalen Manifest der Freien Demokraten vom Februar 1985 sollen Volksbegehren, Bürgerentscheid, Direktwahl der Bürgermeister und Landräte sowie die Abänderung der Parteilisten bei Wahlen das repräsentative System ausbauen und glaubwürdiger machen. Das neue Grundsatzprogramm der SPD aus dem Jahre 1989 spricht sich ebenfalls für eine Erweiterung der Bürgerbeteiligung in Bund, Ländern und Gemeinden aus. Innerhalb „gesetzlich festzulegender Grenzen“ sollen demnach Volksbegehren und Volksentscheid „die parlamentarischen Entscheidungen ergänzen“.
Der internationale Vergleich kommt bei der aktuellen Diskussion über plebiszitäre Elemente etwas zu kurz. Dies hängt damit zusammen, daß es für diese Form der Willensbildung in westlichen Demokratien kein einheitliches Muster gibt. In den Vereinigten Staaten sind Volksbegehren und Volksentscheid weit verbreitet -jedoch nur in den Einzelstaaten, d. h. auf „Länderebene“, und im lokalen Bereich. Während in Italien das Referendum gegen Gesetze durch die Verfahrensvorschriften eingeschränkt wird, ist das österreichische Volksbegehren für das Parlament nicht bindend Hinzu kommt, daß der eigentliche Bezugspunkt für alle Fragen der unmittelbaren Demokratie -das politische System der Schweiz -gegenwärtig mehr Fragen als Antworten vermittelt. Hier hat in den letzten zwanzig Jahren die Zahl der Referenden gegen Gesetze und die Zahl der Initiativen zur Verfassungsänderung erheblich zugenommen. Die politischen Entscheidungen der Berner Vierparteienregierung werden hierdurch erschwert und verzögert. Dies gilt insbesondere für die Europapolitik der Schweiz, wo gleichzeitig mit der Ratifizierung des EWR-Abkommens 60 Bundesgesetze geändert werden müssen („Eurolex“).
Die Befürworter einer plebiszitären Ergänzung des Grundgesetzes stützen ihre Argumentation deshalb vorwiegend auf die deutsche Verfassungsgeschichte. Sie weisen auf die Weimarer Reichsverfassung hin, die neben der Volkswahl des Reichspräsidenten das Volksbegehren und den Volksentscheid vorsah. Auch die 1946 und 1947 verabschiedeten Landesverfassungen ermöglichen die unmittelbare Mitwirkung der Gesamtbevölkerung bei politischen Entscheidungen. Ein Volksbegehren wird demnach in der Regel zum Volksentscheid gestellt, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten unterzeichnet hat. Hessen und Rheinland-Pfalz verlangen sogar die Unterschrift eines Fünftels der Stimmberechtigten. In den Ländern der sowjetischen Besatzungszone konnten damals auch Parteien und Organisationen einen Volksentscheid beantragen, falls sie „glaubhaft machen“, daß sie ein Fünftel der Stimmberechtigten vertreten. Bei Verfassungsänderungen sahen die frühen Landesverfassungen ebenfalls eine Volksabstimmung vor, z. T. zusätzlich zur Zweidrittelmehrheit des Landtages. Schließlich kann nach dem Text der meisten Landesverfassungen auch der Landtag durch einen Volksentscheid vorzeitig aufgelöst werden.
Die „antiplebiszitäre Wende“ in der Verfassungsdiskussion der Nachkriegszeit fand offenbar erst im Sommer 1948 statt. Die westdeutschen Ministerpräsidenten wandten sich auf ihren Konferenzen in Koblenz (8. -10. Juli 1948) und Rüdesheim (21. 122. Juli 1948) gegen die Volksabstimmung über das Grundgesetz, während die drei westlichen Besatzungsmächte zunächst auf die unmittelbare Bestätigung der Verfassung durch das Volk nicht verzichten wollten. Den zweiten Schritt in diese Richtung unternahm der von den Ministerpräsidenten einberufene Verfassungskonvent von Herrenchiemsee (10. -23. August 1948). Er verzichtete in seinem Grundgesetzentwurf nicht nur auf die Volkswahl des Präsidenten, sondern auch auf Volksbegehren und Volksentscheid. Lediglich für Grundgesetzänderungen sah der Herrenchiemseekonvent zusätzlich zur Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat eine Volksabstimmung vor. Gründe für seine Zurückhaltung gab der Konvent nicht an, obwohl der Hamburger Vertreter Drexelius monierte, eine Erörterung dieses Problems fehle im Bericht
Der Parlamentarische Rat folgte dieser Linie und strich im Verlauf der Grundgesetzberatungen auch die Volksabstimmung über Verfassungsänderungen. Die Frage nach den Gründen für diese antiplebiszitäre Zurückhaltung wird in der Regel mit dem Hinweis auf die negativen Erfahrungen zur Zeit der Weimarer Republik begründet. Dieser vereinfachenden Interpretation stehen allerdings die frühen Landesverfassungen von 1946/47 entgegen, weil ihre Bestimmungen über Volksbegehren und Volksentscheid ebenfalls vor dem Hintergrund der Weimarer Erfahrungen formuliert wurden. Die zeitliche Folge der Verfassungsberatungen wird demnach die Frage nach den Motiven nicht allein beantworten. Man darf auch nicht davon ausgehen, daß die Nachkriegspolitiker im Jahre 1946 bereits auf gesicherte Erkenntnisse zum Weimarer Verfassungssystem zurückgreifen konnten. Zwischen 1945 und 1948 ist vielmehr eine bemerkenswerte Weiterentwicklung der Verfassungsvorstellungen zu beobachten. Die Bestimmung des konstruktiven Mißtrauensvotums in der Verfassung von Württemberg-Baden (Art. 73) vom 28. November 1946 wurde z. B. noch mehrfach geändert, bevor sie die im Art. 67 des Grundgesetzes festgelegte Form fand. Die frühen Landesverfassungen von 1946 sahen Notstandsbestimmungen vor, die drei Jahre später keine Aussicht auf Annahme gehabt hätten (Art. 79 Württ. -Baden, Art. 50 Württ. -Hohenzollem). Sie enthalten auch ausführliche Programmerklärungen zur Sozial-und Wirtschaftsordnung, auf die der Parlamentarische Rat 1948/49 ebenfalls verzichtete. Der sozialdemokratische Verfassungsexperte Dr. Walter Menzel schlug 1947 auf dem SPD-Parteitag sogar noch die Volkswahl des zukünftigen Reichspräsidenten vor, ohne auf Widerspruch zu stoßen
Wie diese Beispiele zeigen, wurden die verfassungspolitischen „Lehren aus der Vergangenheit“ in einem langfristigen Prozeß formuliert. Sie entstanden in enger Verbindung mit der tagespolitischen Auseinandersetzung der ersten Nachkriegsjahre sowie mit den damaligen Ideen über den Wiederaufbau nach einer politischen und moralischen Katastrophe. Die an den Verfassungsdiskussionen beteiligten Politiker und Publizisten leiteten deshalb aus dem Scheitern der Weimarer Republik und aus der nationalsozialistischen Diktatur unterschiedliche Schlußfolgerungen ab. Diese Pluralität der Meinungen lag auch dem Verzicht des Parlamentarischen Rates auf plebiszitäre Elemente zugrunde: Die Weimarer Erfahrungen spielten zwar in allen Argumentationen eine Rolle, wurden aber im Sinne der jeweiligen politischen Option interpretiert.
Neuerdings wird der Verzicht des Parlamentarischen Rates auf Volksbegehren und Volksentscheid auch mit dem Hinweis auf die Zuspitzung des Ost-West-Gegensatzes in den Jahren 1948/49 begründet: Die Verfassungsväter und Verfassungsmütter hätten eine „Abschottung“ betrieben gegenüber den von der SED (in Übereinstimmung mit dem sowjetischen Außenminister Molotov) erhobenen Forderungen nach einer Volksabstimmung über die deutsche Einheit Diese Überlegung ist insofern zutreffend, als die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder, der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und der Parlamentarische Rat grundsätzliche Bedenken gegen eine Volksabstimmung über das Grundgesetz hatten. Diese Bedenken ergaben sich auch aus der damaligen internationalen Lage, die von der Blockade Berlins überschattet war. Das von der SED inszenierte „Volksbegehren für die Einheit Deutschlands“ spielte aber in diesem Zusammenhang keine Rolle, weil es deutlich als Propagandaaktion zu erkennen war und in Westdeutschland über den Bereich der KPD hinaus keine Unterstützung mobilisieren konnte.
Wenn man von der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes Anregungen für die aktuelle Verfassungsdiskussion erwartet, muß deshalb die Fragestellung sorgfältig differenziert werden. Die Gründe des Parlamentarischen Rates für die Bevorzugung repräsentativer Willensbildung sind genauer zu prüfen. Der Begriff „plebiszitäre Elemente“ ist ebenfalls aufzuschlüsseln. Vor allem ist jedoch zu unterscheiden zwischen der damaligen Ablehnung einer Volksabstimmung über die provisorische Verfassung und dem Verzicht der Verfassungsautoren auf Volksbegehren bzw. Volksentscheid im Grundgesetz selbst.
II. Der Verzicht auf ein Plebiszit über das Grundgesetz
Das Grundgesetz wurde 1949 nicht durch eine Volksabstimmung, sondern durch das Votum der westdeutschen Landtage ratifiziert. Dieses Verfahren entsprach dem Wunsch der deutschen Ministerpräsidenten und Parteipolitiker, während die Besatzungsmächte ursprünglich eine Volksabstimmung gefordert hatten. Die Ratifizierung durch die Landtage war vom Ergebnis her zwar „antiplebiszitär“. Die Gründe für dieses Verfahren ergaben sich allerdings nicht aus allgemeinen verfassungspolitischen Überlegungen, sondern aus der Teilung Deutschlands und aus der Zuspitzung des Ost-West-Konflikts in den Jahren 1948/49.
Die Ministerpräsidenten und Parteipolitiker waren einerseits bestrebt, das Besatzungsregime abzulösen und selbst die Hauptverantwortung für die innen-und wirtschaftspolitischen Entscheidungen zu übernehmen. Andererseits wollten sie mit ihrer positiven Antwort auf das Angebot der Londoner Sechsmächtekonferenz die bereits bestehende Teilung Deutschlands nicht festschreiben. Diesem Dilemma versuchten sie mit Hilfe der Provisoriumsthese zu entkommen: Sie forderten die Einberufung eines indirekt gewählten „Parlamentarischen Rates“ (statt einer Verfassungsgebenden Versammlung), die Formulierung eines „Grundgesetzes“ (statt einer Verfassung) und den Verzicht auf eine Volksabstimmung über dieses Grundgesetz.
In der Frage der Ratifizierung des Grundgesetzes machten die Militärgouvemeure allerdings Vorbehalte geltend: Sie verwiesen auf die Londoner Beschlüsse, in denen eine Volksabstimmung vorgesehen war, sagten aber zu, die deutschen Einwände ihren Regierungen zu übermitteln. Während die Briten und Franzosen offenbar im Juli 1948 bereit waren, einer Ratifizierung durch die Landtage zuzustimmen, wollte die amerikanische Militärregierung zunächst die weitere Entwicklung in Deutschland abwarten
Die Provisoriumsthese wurde auch von den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates übernommen und veranlaßte sie, sich bei den Verbindungsoffizieren der Besatzungsmächte weiterhin für den Verzicht auf eine Volksabstimmung über das Grundgesetz einzusetzen. Gleich zu Beginn der Bonner Grundgesetzberatungen zeigte sich allerdings, wie unterschiedlich dieser Provisoriumsvorbehalt interpretiert wurde: Auf der einen Seite argumentierte der Sozialdemokrat Carlo Schmid, die Besatzungsmächte hätten mit dem Jahre 1945 die Volkssouveränität in Deutschland blockiert und diese im Zusammenhang mit den westdeutschen Verfassungsberatungen nur teilweise zurückgegeben. Die Arbeit des Parlamentarischen Rates unterliege zunächst einer räumlichen Einschränkung, weil das ganze deutsche Volk als „Nation une et indivisible“ nicht handlungsfähig sei, sondern nur sein westlicher Teil. Die Möglichkeiten des Parlamentarischen Rates waren nach Carlo Schmid darüber hinaus auch in substantieller Hinsicht beschränkt: Die Besatzungsmächte hätten mit den Frankfurter Dokumenten bestimmte Vorgaben festgelegt, und das Grundgesetz müsse ihnen zur Genehmigung vorgelegt werden. Die Entscheidungen in der Außenpolitik und in wichtigen Fragen der Wirtschaftspolitik würden den Westdeutschen weiterhin vorenthalten. Da in Westdeutschland dementsprechend nur eine „fragmentarische Ausübung“ der Volkssouveränität möglich sei, konnte man nach den Worten Carlo Schmids keinen Staat gründen, sondern nur ein „Staatsfragment“ organisieren.
Die Gegenposition zum „Staatsfragment“ vertrat Theodor Heuss. Er verstand das Wort „provisorisch“ mit dem Blick auf die Teilung Deutschlands vorwiegend im geographischen und „volkspolitischen“ Sinn. Was die Strukturen der westdeutschen Verfassung betreffe, müsse man aber „etwas Stabileres“ mit einer gewissen Symbolwirkung schaffen. Diese Argumentation erwies sich als politisch wirkungsvoll, weil Heuss sie mit zwei konkreten Vorschlägen verband: Er setzte sich für die Einrichtung des Bundespräsidenten ein, dessen Amt nicht „in die ungewisse Geschichte abgeschoben werden soll“, und für den Namen „Bundesrepublik Deutschland“, weil sich hiermit „eine starke moralische Attraktion für die jungen Menschen“ verbinde.
Neun Monate später, bei der Schlußabstimmung des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949, bestanden zwischen den Parteien nach wie vor unterschiedliche Ansichten über die Bedeutung der provisorischen Lösung. Die Standpunkte hatten sich jedoch unter dem Eindruck der mühsamen Kompromisse mit den drei Besatzungsmächten etwas angenähert: Carlo Schmid vertrat nach wie vor seine Konzeption des Staatsfragments und wurde hierbei von seinem Fraktionskollegen Walter Menzel unterstützt. Er bezeichnete das Grundgesetz als einen „Bauriß für einen Notbau“ und fügte hinzu: „Diese Ordnung wird nicht die Verfassung Deutschlands sein.“ Die Abschlußrede von Theodor Heuss ließ den Elan der Eröffnungsrede vermissen und klang etwas resignierend. Das vorliegende Ergebnis stimme nicht mit seiner Vorstellung von der besten Verfassung überein, sondern sei das „heute politisch Mögliche“. Heuss machte hierfür die ständige Auseinandersetzung mit „Kräften“ außerhalb des Parlamentarischen Rates verantwortlich und nannte an erster Stelle die orakelhaften Stellungnahmen der drei Besatzungsmächte. Er schloß mit der Hoffnung, daß der Parlamentarische Rat „ein ganz kleines Stück festen Bodens für das deutsche Schicksal geschaffen“ habe. Dr. Seebohm, der für die „Deutsche Partei“ sprach, bezeichnete die „Rückkehr zur Selbstregierung“ als einen schwierigen Prozeß, der „Schritt um Schritt“ erfolgen müsse
Das Grundgesetz hatte sich im Laufe der Beratungen zu einer umfangreichen und vollständigen Verfassung entwickelt; die große Mehrheit der „Verfassungsväter“ (und Verfassungsmütter) war aber davon überzeugt, eine provisorische Lösung geschaffen zu haben. Eine Volksabstimmung über das Grundgesetz schien deshalb aus ihrer Sicht sowie angesichts der deutschen Teilung und der nach wie vor bestehenden Besatzungsherrschaft nicht akzeptabel zu sein.
Der grundsätzliche Vorbehalt des Parlamentarischen Rates und der führenden Politiker in den westdeutschen Ländern gegen das Verfassungsplebiszit wurde durch politisch-taktische Überlegungen verstärkt, die sich aus der Situation der Jahre 1948/49 ergaben: Zunächst hatten die Westmächte selbst das Risiko einer Volksabstimmung über das Grundgesetz durch ihre Festlegung des Abstimmungsmodus erheblich erhöht. Die Londoner Sechsmächtekonferenz forderte eine Abstimmung in den einzelnen Bundesländern. Falls die Bevölkerung in zwei Drittel der Länder (d. h. in acht von elf) zustimmte, war demnach ein positives Votum für das Grundgesetz zustande gekommen. Vier kleine Länder konnten dagegen das Grundgesetz zu Fall bringen, obwohl sie -wie der schleswigholsteinische Ministerpräsident Lüdemann bemerkte-möglicherweise noch nicht einmal ein Drittel der Einwohner der Bizone stellten Es ging also bei dem von den Besatzungsmächten vorgeschlagenen Referendum nicht um eine Mehrheitsentscheidung der westdeutschen Bevölkerung, sondern es bestand die Gefahr, daß eine Minderheit von vielleicht 20 Prozent der Abstimmenden ein negatives Ergebnis herbeiführen könnte.Die drei westlichen Besatzungsmächte stellten im dritten Frankfurter Dokument ein Besatzungsstatut in Aussicht, mit dem sie ihre Befugnisse für die Zeit nach der Einrichtung der westdeutschen Regierung festlegen wollten. Zum Inhalt dieses Statuts konnten sie jedoch den deutschemVertretern keine konkreten Angaben machen, da die Verhandlungen hierüber zwischen Washington, London und Paris zunächst ohne Ergebnis blieben. Die Fraktionen des Parlamentarischen Rates ergriffen Ende 1948 selbst die Initiative in dieser Frage und verabschiedeten am 10. Dezember eine Erklärung, in der die deutschen Vorstellungen über den Inhalt des Besatzungsstatuts aufgeführt wurden Eine Einigung der drei Besatzungsmächte in dieser wichtigen Frage kam erst auf der Washingtoner Außenministerkonferenz Anfang April 1949 zustande, so daß der Text des Besatzungsstatuts gleichzeitig mit dem Abschluß der Grundgesetzberatungen bekannt wurde.
In der abschließenden Diskussion des Parlamentarischen Rates über das Grundgesetz befaßten sich alle Redner mit der Problematik dieses Statuts. Der Sozialdemokrat Dr. Menzel bezeichnete das Besatzungsstatut -und nicht das Grundgesetz -als die eigentliche Verfassung Westdeutschlands. Dr. von Brentano (CDU) erklärte, der Inhalt des Statuts sei „für keinen Deutschen erfreulich“; es komme darauf an, in welchem Geiste es von seiten der Besatzungsmächte angewandt werde Eine Volksabstimmung über das Grundgesetz hätte gleichzeitig auch eine Abstimmung über das Besatzungsstatut bedeutet. Damit wäre eine Situation eingetreten, die man auf deutscher Seite seit der Übergabe der Frankfurter Dokumente auf jeden Fall vermeiden wollte. Führende Politiker der beiden großen Parteien sprachen sich gegen ein Junktim zwischen Grundgesetz und Besatzungsstatut aus. Carlo Schmid warnte damals vor der „Plebiszitierung des Besatzungsstatuts“, weil hiermit die spätere „Selbstgestaltung des deutschen Volkes“ präjudiziert werde
Schließlich bestärkte die Blockade Berlins den Parlamentarischen Rat in seiner Zurückhaltung gegenüber einer Volksabstimmung über das Grundgesetz. Die westdeutschen Politiker befürchteten, die Sowjetunion würde versuchen, ein Verfassungsreferendum im Westen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Hierbei ging es nicht um die pseudoplebiszitären Propagandaaktionen des von der SED gesteuerten „Deutschen Volkskongresses“, sondern um die Machtmittel der Besatzungsmacht. Bereits zu Beginn seiner Beratungen befaßte sich der Parlamentarische Rat in einer Sondersitzung mit dem Vorgehen von Polizei und sowjetischem Militär gegen Demonstranten in Ost-Berlin. Fünf Jugendliche wurden im Anschluß an diese Demonstration von einem sowjetischen Militärgericht zu je 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt Die Sowjetunion verfügte über weitergehende Sanktionsmöglichkeiten bis hin zur Behinderung des Luftverkehrs nach West-Berlin.
Den westdeutschen Politikern blieb auch nicht verborgen, daß man in Washington, London und Paris unter dem Eindruck der Blockade nicht nur die von der Londoner Sechsmächtekonferenz festgelegte Linie verfolgte, sondern auch über andere Möglichkeiten in der Deutschlandpolitik nachdachte. Auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee erklärte der amerikanische Verbindungsoffizier Prof. Carl J. Friedrich, die Grundgesetz-beratungen sollten selbst auf die Gefahr hin fortgesetzt werden, daß ihr Ergebnis aufgrund der Viermächtegespräche über Berlin später von den Militärgouverneuren nicht genehmigt werde 12. Dieser gutgemeinte Hinweis versetzte die deutschen Politiker in Alarmstimmung: Carlo Schmid, der auf Herrenchiemsee im Unterausschuß I mitgearbeitet hatte, erklärte drei Wochen später auf dem SPD-Parteitag in Düsseldorf: „Welcher Schlag würde der deutschen Demokratie versetzt, wenn sich etwa in Moskau oder anderswo die vier Besatzungsmächte auf eine andere Politik einigen würden als die des Londoner Abkommens. Wer garantiert uns, daß dies nicht geschieht?“ Aufgehoben wurde die Blockade Berlins erst am Mai 1949, gleichzeitig mit der Billigung des Grundgesetzes durch die westlichen Militärgouvemeure
Als sich im Winter 1948/49 der Erfolg der Luftbrücke abzeichnete, wurden die Mitglieder des Parlamentarischen Rates durch die offensichtlichen Differenzen zwischen den drei Westmächten verunsichert. Unterschiedliche Auffassungen bestanden nicht nur hinsichtlich des Besatzungsstall tuts, sondern auch über einzelne Bestimmungen des Grundgesetzes und die notwendigen Abkommen zur Vereinigung der drei Besatzungszonen. Zeitweise hatte man auf deutscher Seite den Eindruck, die Franzosen (oder zumindest ihr Militärgouverneur Koenig) wollten sich von den bisherigen Vereinbarungen zurückziehen. General Koenig erklärte noch am 11. März 1949 den Ministerpräsidenten seiner Zone in Baden-Baden, wenn man in den strittigen Fragen des Föderalismus zu keiner Einigung mit dem Parlamentarischen Rat komme, werde er seiner Regierung empfehlen, „nochmals einen Versuch mit einem neuen Gremium zu machen“
Die Ausschüsse des Parlamentarischen Rates waren angesichts der grundsätzlichen und situationsbedingten Vorbehalte bestrebt, die Entscheidung über die Volksabstimmung hinauszuschieben. Spätestens Anfang April 1949 gab die amerikanische Militärregierung dem Parlamentarischen Rat zu verstehen, daß sie auf ein Referendum zum Grundgesetz verzichten werde Der Allgemeine Redaktionsausschuß schlug daraufhin vor, die Ratifizierung durch die Landtage in das Grundgesetz aufzunehmen.
Einige Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren allerdings mit diesem Verfahren nicht einverstanden. Der CDU-Abgeordnete und spätere Außenminister v. Brentano beantragte im Hauptausschuß eine Volksabstimmung, bei der die Mehrheit der abgegebenen Stimmen im späteren Bundesgebiet entscheiden sollte. Er wiederholte seinen Antrag bei der zweiten und dritten Lesung im Plenum des Parlamentarischen Rates und fand hierfür die Unterstützung der beiden FDP-Abgeordneten Dr. Becker und Dr. Dehler. Während v. Brentano die Volksabstimmung als den „demokratische^) Weg... für die Annahme der Verfassung“ bezeichnete, hielt ihm Carlo Schmid entgegen, man wolle nur „ein Provisorium schaffen und habe nicht umsonst dieses Werk bescheiden ein Grundgesetz genannt...; einem Notbau gibt man nicht die Weihe, die dem festen Hause gebührt“. Der Antrag v. Brentanos wurde schließlich gegen 16 Stimmen vom Parlamentarischen Rat abgelehnt »
Aus einem Zeitabstand von mehr als 40 Jahren wird man die fehlende Legitimation des Grundgesetzes durch ein Plebiszit zwar bedauern. Die grundsätzlichen Bedenken der großen Mehrheit des Parlamentarischen Rates gegen die Volksabstimmung über ein „Provisorium“ dürfen jedoch nicht als vorgeschobene Begründung abgewertet werden, obgleich die Auffassungen über die Bedeutung des provisorischen Charakters uneinheitlich waren. Hinzu kamen die „realpolitischen“ Gründe: Unter den Bedingungen der Berliner Blockade wäre es politisch kaum zu verantworten gewesen, eine Abstimmung in Westdeutschland vorzubereiten.
Neben den Auswirkungen des Ost-West-Konflikts sorgte die Haltung der drei Westmächte für Unsicherheit unter den deutschen Politikern. Eine Ablehnung des Grundgesetzes durch die Besatzungsmächte aufgrund der Differenzen zwischen Washington, London und Paris war bis zum Schluß der Verfassungsberatungen nicht auszuschließen. Man konnte von den am Grundgesetzkompromiß beteiligten Parteien (CDU, SPD, FDP, Teile der CSU) nicht erwarten, daß sie ihr „Geschäftsrisiko“ durch die Vorbereitung einer Volksabstimmung erhöhten, die möglicherweise durch äußere Einwirkung hinfällig wurde. Ein positives Votum war aufgrund des von den Westmächten festgelegten Abstimmungsmodus (Mehrheit in zwei Dritteln der Länder) keineswegs sichergestellt.
Zum Schluß der Grundgesetzberatungen, die ohnehin länger dauerten als ursprünglich beabsichtigt, spielte schließlich auch der Zeitfaktor eine Rolle: Die Parteien hätten vor der ersten Bundestagswahl im Sommer 1949 einen zusätzlichen Abstimmungskampf über das Grundgesetz bestreiten müssen.
III. Der Verzicht auf plebiszitäre Elemente im Grundgesetz
Die Beratungen des vorbereitenden Verfassungskonvents von Herrenchiemsee zeichneten sich -wie eingangs erwähnt -durch eine große Zurückhaltung gegenüber plebiszitären Elementen aus. In seinem Verfassungsentwurf sah der Konvent lediglich den obligatorischen Volksentscheid bei Grundgesetzänderungen vor; im darstellenden Teil seines Berichts befürwortete er die Volksabstimmung bei einer Änderung der Ländergren zen Angesichts dieser Ausgangssituation stellt sich zunächst die Frage, welche Möglichkeiten der plebiszitären Willensbildung im Parlamentarischen Rat überhaupt diskutiert wurden.
Bei der Durchsicht der Protokolle lassen sich vier Bereiche unterscheiden: Volksbegehren und Volksentscheid waren vorgesehen für eine Änderung der Ländergrenzen, und sie wurden zumindest diskutiert für die allgemeine Gesetzgebung. Drittens zog der Parlamentarische Rat einen Volksentscheid bei Änderungen des Grundgesetzes in Erwägung. Viertens wurde bei den Grundgesetzberatungen auch die Auflösung des Bundestages durch Volksentscheid angesprochen. Die unmittelbare Wahl des Bundespräsidenten stand nicht mehr zur Debatte, da alle Fraktionen von einer parlamentarischen Wahl des Staatsoberhauptes ausgingen.
Die Beratungen des Parlamentarischen Rates über die unmittelbare Beteiligung der Betroffenen bei einer Änderung der Ländergrenzen kann man kurz zusammenfassen, obwohl sie langwierig und kompliziert waren. Letzteres lag einerseits an der Schwierigkeit, das Abstimmungsverfahren festzulegen, andererseits an der Vorstellung der Besatzungsmächte, alle Änderungen sollten noch vor Abschluß der Grundgesetzberatungen erfolgen. Die Volksabstimmung bei Gebietsänderungen und die Möglichkeit eines Volksbegehrens, um eine, Änderung der Ländergrenzen zu erreichen, waren jedoch zwischen den Fraktionen des Parlamentarischen Rates nicht umstritten. Mit dem Art. 29 des Grundgesetzes wurde zumindest ein plebiszitäres Element von regionaler Bedeutung, ein sogenanntes Territorialplebiszit, in das Grundgesetz aufgenommen
Die Frage nach der Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid hatte eine sehr viel weitergehende Bedeutung als dieses Territorialplebiszit, weil hiermit über die Regeln der demokratischen Willensbildung im zukünftigen politischen System Westdeutschlands entschieden wurde. Der sozialdemokratische Verfassungsexperte Dr. Walter Menzel stellte beide Einrichtungen zu Beginn der Grundgesetzberatungen zur Diskussion. Entsprechende Anträge wurden allerdings erst drei Monate später im Hauptausschuß gestellt -und zwar nicht von der SPD, sondern von den Vertretern der Zentrumspartei (Frau Wessel) und der KPD (Renner). Nach diesen Anträgen sollte ein Zehntel der Wahlberechtigten einen Volksentscheid über einen konkreten Gesetzesvorschlag herbeiführen können. Ob das gleiche Verfahren auch für ein bereits verabschiedetes Gesetz gelten sollte, blieb unklar. Beide Vorschläge wurden vom Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates am 8. Dezember 1948 abgelehnt. Die Zentrumsabgeordneten Frau Wessel und Dr. Brockmann wiederholten ihren Antrag am 5. Mai 1949 im Hauptausschuß sowie bei der zweiten und dritten Lesung des Grundgesetzes im Plenum des Parlamentarischen Rates. Die Fraktionen des Parlamentarischen Rates waren gegen Ende der Grundgesetzberatungen aber nicht mehr bereit, über Volksbegehren und Volksentscheid ausführlicher zu diskutieren und lehnten den Antrag ab.
Der SPD-Abgeordnete Dr. Menzel erwähnte in seinem Grundsatzreferat vor dem Plenum des Parlamentarischen Rates auch die Möglichkeit einer Auflösung des Bundestages. Ein entsprechender Antrag wurde aber erst Monate später von der KPD gestellt und vom Hauptausschuß am 8. Dezember 1948 mit 11: 7 Stimmen abgelehnt.
Der Plan eines Volksentscheids für Änderungen des Grundgesetzes hatte demgegenüber zunächst Aussicht auf Erfolg, weil der Grundgesetzentwurf des Herrenchiemsee-Konvents einen entsprechenden Vorschlag enthielt. Alle Verfassungsänderungen sollten demnach nicht nur mit Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat, sondern außerdem in einer Volksabstimmung mit Mehrheit beschlossen werden. Der Parlamentarische Rat erblickte hierin jedoch ein zu großes Hindernis für Grundgesetzänderungen. Er setzte deshalb an die Stelle der obligatorischen Volksabstimmung ein fakultatives Verfassungsreferendum: Nachdem Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit zugestimmt hatten, konnte innerhalb von 14 Tagen ein Viertel der Mitglieder beider Kammern einen Volksentscheid über die Grundgesetzänderung herbeiführen. Bei den interfraktionellen Gesprächen in der Schlußphase der Beratungen wurde auch dieses plebiszitäre Element gestrichen. Der Fünferausschuß verzichtete in seinem Vorschlag vom 5. Februar 1949 auf die Volksabstimmung und schrieb nur noch die Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat vor.
Dieser Überblick läßt erkennen, daß die Aufnahme von plebiszitären Elementen in das Grundgesetz kein zentrales Thema der Verfassungsberatungen war. Sie spielten im Parlamentarischen Rat eine wesentlich geringere Rolle, als man unter dem Eindruck der gegenwärtigen Verfassungsdiskus sion erwarten könnte. Carlo Schmid (SPD) sprach zu Beginn der Grundgesetzberatungen vom „volksstaatliche(n) Postulat“, demzufolge jeder Bürger in gleicher Weise an der Gesetzgebung teilhaben müsse. Ob dies auf dem Wege der „plebiszitären unmittelbaren Demokratie“ oder „in Form der repräsentativen Demokratie“ erfolge, sei eine „Zweckmäßigkeitsfrage“
Die Frage nach den Motiven des Parlamentarischen Rates stellt sich in doppelter Hinsicht: Zunächst wird man versuchen, die Gründe für die Ablehnung der konkret vorgeschlagenen Einrichtungen plebiszitärer Willensbildung zu ermitteln. Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob die Autoren des Grundgesetzes generelle Vorbehalte gegenüber der unmittelbaren Demokratie hatten. Die Erinnerung an die Weimarer Republik spielte bei der Diskussion im Parlamentarischen Rat eine Rolle: Theodor Heuss erwähnte den Volksentscheid über die Fürstenenteignung aus dem Jahre 1926 als ein Beispiel dafür, daß „Dinge künstlich gemacht worden sind, denen man von vornherein ansah, daß sie nicht zum Zuge kommen...“. Mit dem Volksbegehren gegen den Young-Plan (1929) wurde seiner Ansicht nach „eine komplizierte Sache in vereinfachter Darstellung an das Volk herangetragen“. Der Sozialdemokrat Dr. Katz begründete seine Vorbehalte weniger mit dem Volksentscheid zur Fürstenenteignung, der vom Ergebnis her mit nahezu 14, 5 Millionen Ja-Stimmen ein Erfolg der politischen Linken war. Er erinnerte an das Volksbegehren zur Auflösung des preußischen Landtages vom April 1931, bei dem sich „die Extreme so wunderbar... zusammengefunden haben“. Dieses Volksbegehren, das sich de facto gegen die aus Sozialdemokraten, Zentrum und DDP gebildete preußische Regierung Otto Brauns richtete, wurde ion einer Koalition der rechten Mitte getragen, die von der NSDAP bis zur liberalen DVP reichte. Später unterstützte auch die KPD auf Anweisung der Moskauer Komintern-Zentrale diese Aktion
Die Erinnerungen der Mitglieder des Parlamentarischen Rates an die Volksbegehren der Weimarer Republik waren teilweise ungenau und ihre hieraus abgeleiteten Konsequenzen nicht ohne Widerspruch. Insgesamt spielte der Rückblick auf die Weimarer Erfahrungen eher eine ergänzende Rolle. Die Beispiele und Argumente sind nicht so zwingend, um die Abstinenz der Grundgesetzauto ren gegenüber plebiszitären Elementen allein erklären zu können. Größeres Gewicht hatten ihre Demokratievorstellungen sowie ihre Einschätzung der politischen und sozialen Situation von 1948/49, auf die der Parlamentarische Rat als ein Gremium von Parteipolitikern Rücksicht nehmen mußte.
Bereits in der Eröffnungsdebatte des Parlamentarischen Rates am 8. und 9. September 1948 wurden Demokratie-und Gesellschaftsvorstellungen formuliert, die gegen die Einführung plebiszitärer Elemente sprachen: Theodor Heuss zog den Vergleich zur Schweiz und bezeichnete das Volksbegehren „in den übersehbaren Dingen mit einer staatsbürgerlichen Tradition“ als „wohltätig“. In einer großräumigen Demokratie zur Zeit der „Vermassung und Entwurzelung“ stelle es dagegen eine „Prämie für jeden Demagogen“ dar. Später, im Hauptausschuß, fügte er hinzu, die Frage von Volksbegehren und Volksentscheid sei kein Problem der Demokratie, sondern „ein Problem der soziologischen Situation, in der sich ein Volk befindet“. Der Sprecher der CDU, Dr. Süsterhenn, folgte ähnlichen Überlegungen und vertrat die Auffassung, das Volk sollte politisch nicht als „amorphe Masse“, sondern „gegliedert in Ländern“ handeln. Er leitete hieraus die Forderung nach einer zweigleisigen politischen Willensbildung ab: einmal durch das Votum des einzelnen Staatsbürgers „in der Isolierung der Wahlzelle“, zweitens, indem die Länder bei den Entscheidungen des Bundes mitwirken. Als Vertreter der bayerischen CSU im Parlamentarischen Rat erklärte der Abgeordnete Dr. Schwaiber, seiner Ansicht nach sei das Volk ein wohlgeordneter Organismus und keine „ungegliederte Masse“, die von oben nach unten künstlich aufgespalten werden könne. Die zukünftige westdeutsche Verfassung müsse dementsprechend ein „abgewogenes Gleichgewichtssystem“ hersteilen, das von den bereits bestehenden Ländern getragen werde
Die Vorbehalte gegen Volksbegehren und Volksentscheid ergaben sich demnach bei einem Teil der Grundgesetzautoren aus einer in den Nachkriegsjahren weitverbreiteten Gesellschaftskritik, die sich auf Gustave Le Bon, Karl Jaspers und Ortega y Gasset stützte. In der Auflösung der gesellschaftlichen Bindungen des modernen Menschen erblickte man die tieferen Ursachen für das Scheitern der Demokratien zwischen den beiden Weltkriegen und für den Aufstieg der modernen Diktaturen. Otto Heinrich von der Gablentz, der zu den Mitbegründern des Berliner CDU-Kreises gehörte, bezeichnete damals die Überwindung der Vermassung als die „soziale Frage des 20. Jahrhunderts“ und forderte, auch unter den Bedingungen des technischen Zeitalters müsse dem Menschen die Möglichkeit gegeben werden, sich in einem überschaubaren engeren Lebenskreis ein selbständiges Urteil zu bilden und sein Leben in eigener Verantwortung zu gestalten
Was die politischen Strukturen und Verfassungskonzeptionen betrifft, so führte diese Kritik der Massengesellschaft zu der Forderung, im Nachkriegsdeutschland müsse eine „konstitutionelle Demokratie“ aufgebaut werden. Diese sollte sich durch eine möglichst weitgehende Gewaltenteilung auf Bundesebene und durch einen starken Einfluß der Länder auf die Bundespolitik auszeichnen. Der Begriff „Konstitutionalismus“ bezeichnet nach der Definition von Franz Neumann „Doktrinen und Praktiken, denen mehr daran liegt, die Macht zu beschränken, als daran, ihr eine bestimmte Richtung zu geben und sie für besondere soziale Zwecke zu verwenden“. Mit der Aufnahme von Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz bestand aber die Gefahr der Durch-brechung des so verstandenen Konstitutionalismus. Das kunstvolle System der checks and balances aus Gewaltenteilung und Föderalismus konnte gegebenenfalls durch das unkalkulierbare Votum der ungegliederten Bevölkerungsmasse außer Kraft gesetzt werden
Aus der Sicht des konstitutionell-demokratischen Verfassungsdenkens bestand kein Widerspruch zwischen der Zulassung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Länderebene sowie ihrer Ablehnung für die Bundesverfassung: In den Ländern -glaubte man nicht ohne föderalistische Selbstüberschätzung -stimme die Bevölkerung im Bewußtsein ihrer Landeszugehörigkeit und im überschaubaren Rahmen ab. Deshalb sei kaum zu befürchten, daß hier das Volk zur „Masse“ degeneriere. Theodor Heuss machte diesen Unterschied vor dem Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates deutlich, als er erklärte: „Wir haben die Initiative und das Referendum in den kleinräumigen Demokratien, wo sie wunderbar funktionieren.“
Befürworter der konstitutionellen Demokratie handelten auch durchaus im Sinne ihrer Verfas sungskonzeption, wenn sie für eine Volksabstimmung über Verfassungsänderungen eintraten. Da diese Volksabstimmung zusätzlich zur Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat erforderlich sein sollte, hätte sie die Grundgesetzänderungen erschwert oder diese gar -wie einige Mitglieder des Parlamentarischen Rates befürchteten -de facto unmöglich gemacht. Die Einführung eines zusätzlichen Sicherungsmechanismus war aber das ausgesprochene Ziel der konstitutionell-demokratischen Argumentation zur Verfassungsänderung, wie sie von Dr. Süsterhenn (CDU) und Dr. Schwaiber (CSU) vertreten wurde. Schwaiber befürwortete im Organisationsausschuß das Verfassungsreferendum mit der Begründung: „Mir steht die Verfassung viel zu hoch, als daß ich eine Abänderung ohne besondere Erschwernisse zulassen würde.“
Die Motive für die Ablehnung plebiszitärer Elemente sind damit im Bereich der CDU/CSU, der FDP-und der DP-Abgeordneten des Parlamentarischen Rates weitgehend geklärt. Bei den Vertretern der übrigen Parteien ist die Motivfrage nicht so einfach zu beantworten, weil sie den Mechanismen der unmittelbaren Demokratie nicht unbedingt ablehnend gegenüberstanden. Als potentielle Befürworter von Volksbegehren und Volksentscheid waren zunächst die Zentrumspartei und die KPD anzusehen, weil sie im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen entsprechende Anträge stellten. Auffällig ist, daß ihre Redner in der Eröffnungsdebatte des Parlamentarischen Rates, die Abgeordneten Paul (KPD) und Brockmann (Z), Volksbegehren und Volksentscheid überhaupt nicht erwähnten. Der Vorstoß des Zentrums war offenbar situationsbedingt und verfolgte das Ziel, das sogenannte Elternrecht auf dem Wege der unmittelbaren Gesetzgebung durchzusetzen, nachdem seine Aufnahme ins Grundgesetz gescheitert war Der KPD-Abgeordnete Renner begründete im Dezember 1948 Volksbegehren und Volksentscheid mit der Gewaltenteilung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, die von kommunistischer Seite generell abgelehnt wurde. Man habe dem Bundestag eine „inferiore Rolle gegenüber dem Bundesrat gegeben“ und als „Rücksicherung“ auch noch ein Bundesverfassungsgericht vorgesehen. Die großen Fraktionen des Parlamentarischen Rates hätten damit bewiesen, daß sie „kein Vertrauen... zur Kraft der Demokratie“ besitzen
Zu den potentiellen Befürwortern unmittelbarer Willensbildung gehörte insbesondere die sozialdemokratische Fraktion des Parlamentarischen Rates. Ihr Verhalten scheint auf den ersten Blick widersprüchlich, weil sie dieses Thema durch ihren Sprecher Dr. Walter Menzel gleich zu Beginn der Grundgesetzberatungen zur Diskussion stellte, im weiteren Verlauf aber keine entsprechenden Anträge vorlegte. Auch in der SPD hatte sich aufgrund der Nachkriegserfahrungen in den Ländern und aufgrund der innerparteilichen Diskussion eine Demokratie-und Verfassungskonzeption entwickelt, die zwar in vielen grundsätzlichen Fragen mit den konstitutionell-demokratischen Vorstellungen übereinstimmte, hinsichtlich der Ausgestaltung der Gewaltenteilung und des Föderalismus aber andere Absichten verfolgte. Die Grundlage des sozialdemokratischen Verfassungsdenkens war das Ziel sozialer Reformen in Verbindung mit einer neuen Wirtschaftsstruktur. In der zukünftigen „Gemeinwirtschaft“ sollte sich die staatliche Rahmenplanung mit Marktmechanismen verbinden, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer verwirklicht und bestimmte Industrien in Gemeineigentum überführt werden.
Die Erfahrungen in der Landespolitik der Nachkriegsjahre einschließlich der mühseligen Sozialisierungsdiskussionen in Hessen und Nordrhein-Westfalen hatten gezeigt, daß diese weitgesteckten Reformziele kaum über „soziale“ Grundrechte oder ständige Volksentscheide zu erreichen waren. Die wichtigste Voraussetzung für die Verwirklichung der „Gemeinwirtschaft“ schien vielmehr eine entsprechende Mehrheit in einer funktionsfähigen Legislative zu sein. Hermann Heller hatte bereits 1930 in seiner Schrift „Rechtsstaat oder Diktatur?“ der „Volkslegislative“ die entscheidende Rolle bei der Erweiterung der „bürgerlichen“ zur sozialen Demokratie zugesprochen Für den engeren Bereich der Verfassungspolitik ergab sich hieraus die Zielsetzung, die Handlungsfähigkeit des Parlaments zu sichern und der parlamentarischen Mehrheit einen möglichst breiten Spielraum zu verschaffen. Aufgrund der verfassungs-und gesellschaftspolitischen Zielsetzung ist diese Demokratievorstellung als „soziale Mehrheitsdemokratie“ zu bezeichnen
Diese Konzeption lag auch dem Bericht Menzels vor dem Plenum des Parlamentarischen Rates am 9. September 1948 zugrunde: Gleich zu Beginn seiner Ausführungen wandte er sich dem zukünftigen Parlament („gesetzgebende Versammlung“) zu, weil dieses Parlament die „alleinige Souveränität im westdeutschen Raum verkörpern“ werde. Seine Position sollte gestärkt werden u. a. durch das Wahlverbot nichtdemokratischer Parteien und eine Neufassung des Mißtrauensvotums, das zum „Kampfmittel eines auf das Positive eingestellten demokratischen Parlamentarismus“ umgewandelt werden müsse. Plebiszitäre Mechanismen waren aus Sicht der mehrheitsdemokratischen Zielsetzung gegenüber dem Parlament von zweitrangiger Bedeutung.
Dies kommt auch in dem Bericht Menzels zum Ausdruck, der Volksbegehren und Volksentscheid nur „unter bestimmten technischen Voraussetzungen“ in Erwägung zog. Vor dem SPD-Parteitag 1947 hatte er aber bereits wesentlich kritischer über das „schwerfällige Instrument des Volksentscheids oder des unmittelbaren Volksbegehrens“ gesprochen und auf den möglichen Widerspruch zwischen parlamentarischer Verantwortung und unmittelbarer Demokratie hingewiesen. Wenn man einen Volksentscheid unbegrenzt zulasse, erklärte er bei der Erläuterung der „Richtlinien für den Aufbau der deutschen Republik“, könnten sich die gewählten Volksvertreter bei schwierigen Fragen der Verantwortung entziehen, indem sie diese auf die Wähler „abwälzen“
Die Gefahren des Widerspruchs zwischen unmittelbarer und parlamentarischer Demokratie sowie die Sorge, das Parlament könne seine zentrale Position im Verfassungssystem verlieren, veranlaßten schließlich die SPD, im Parlamentarischen Rat auf Volksbegehren und Volksentscheid zu verzichten. Der Organisationsausschuß diskutierte am 13. Oktober 1948 lediglich über die Volksabstimmung zu Verfassungsänderungen, die seit Herrenchiemsee in Art. 106 des Entwurfs vorgesehen war. Die SPD-Fraktion beantragte wenig später die Streichung des Verfassungsplebiszits aus dem Grundgesetzentwurf, weil dieses Verfahren eine „ungeheure Verschleppung“ jeder Verfassungsänderung zur Folge habe. Wo die Anhänger konstitutionell-demokratischer Vorstellung eine zusätzliche Sicherung einbauen wollten, erblickte Dr. Katz als Sprecher der SPD-Fraktion und Vertreter mehrheitsdemokratischer Auffassungen die Gefahr von „Manipulation“ und die „Möglichkeit zu etwaigen demagogischen Experimenten“. Wenn zur Zweidrittelmehrheit des Bundestages bei Verfassungsänderungen schon ein entsprechendes Votum des Bundesrates hinzukommen mußte, sollte der Spielraum der Legislative nicht noch zusätzlich begrenzt werden
Die Anfang Dezember 1948 vorgelegten Anträge der Zentrumspartei und der KPD auf Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid für die allgemeine Gesetzgebung kamen für die größeren Fraktionen des Parlamentarischen Rates überraschend, weil sich die Fachausschüsse mit dieser Materie nicht befaßt hatten. Sie waren ohne Aussicht auf Erfolg, da sie sowohl dem konstitutionell-demokratischen als auch dem mehrheitsdemokratischen Verfassungskonzept widersprachen. Der SPD-Abgeordnete Dr. Katz wies die Anträge im Hauptausschuß zurück und bezeichnete sie in den „jetzigen aufgeregten Zeiten“ als „unpraktisch“. Die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid paßte nicht in das vom Parlamentarischen Rat festgelegte Regierungssystem, als dessen „Angelpunkt“ er das konstruktive Mißtrauensvotum ansah. Man habe eine repräsentative Demokratie geschaffen, in der gewählte Abgeordnete die Entscheidungen zu treffen und „durchzukämpfen“ hätten. Der Wähler gebe sein Mandat an den Abgeordneten, dem er den entsprechenden Sachverstand zutraue, und damit sei „die Herrschaft des Volkes festgelegt“
IV. Der Brückenschlag zur gegenwärtigen Diskussion
Wie die hier skizzierte Entstehungsgeschichte zeigt, waren die Gründe des Parlamentarischen Rates, auf plebiszitäre Elemente im Grundgesetz weitgehend zu verzichten, uneinheitlich und vielschichtig. Eine einfache Erklärung, etwa durch den Verweis auf den Ost-West-Konflikt, verkennt das komplizierte Geflecht von Beschränkungen und Rücksichtnahmen, in dem die „Verfassungsmütter“ und „Verfassungsväter“ 1948/49 agieren mußten. Gegen eine Volksabstimmung über das Grundgesetz sprachen die damaligen Verhältnisse im besetzten und geteilten Deutschland, gegen Volksabstimmungen im Grundgesetz die verfas-sungs-und sozialpolitischen Vorstellungen der großen Mehrheit des Parlamentarischen Rates. Die Gesellschaftsvorstellungen der Grundgesetzautoren entsprachen den politischen Ideologien der Nachkriegszeit. Dies gilt im Bereich der „konstitutionellen Demokratie“ für die Furcht vor der Massengesellschaft, im Bereich der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ für das Modell einer Gemeinwirtschaft, welches u. a. die Effektivität nicht-privater Grundstoffindustrien und Großbetriebe voraussetzte.
Ob die hieraus abgeleiteten verfassungspolitischen Schlußfolgerungen ebenfalls unzeitgemäß sind, bedarf aber sorgfältiger Prüfung. Die Frage nach der Neuaufnahme sogenannter plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz kann ohnehin nicht durch eine Rückbesinnung auf die Argumente des Parlamentarischen Rates allein beantwortet werden. Der internationale Vergleich sowie die mehr als 40jährige Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik haben in diesem Zusammenhang größere Bedeutung. Der Begriff „plebiszitär“ bezeichnet nicht nur Volksbegehren und Volksentscheid, sondern umfaßt auch andere Formen der unmittelbaren Bürgerbeteiligung.
Der Unterschied zwischen repräsentativen und plebiszitären Elementen wurde in den fünfziger Jahren unter dem Eindruck der Proteste gegen die Wiederbewaffnung und gegen eine mögliche atomare Bewaffnung der Bundeswehr zunehmend dogmatisiert. Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel bezeichnete 1958 das Grundgesetz als eine „super-repräsentative Verfassung“. Der Staatsrechtler Werner'Weber kam im gleichen Jahr -von entgegengesetzten Positionen ausgehend -zu der Auffassung, das Grundgesetz habe durch den Verzicht auf plebiszitäre Willensbildung die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß das „Volk... vollständig und ausnahmslos durch die politischen Parteien mediatisiert“ werde
Die Anfang 1973 vom Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission Verfassungsreform folgte dieser Linie und lehnte die Aufnahme plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz ab. Volksbefragung, Volksentscheid und Volksinitiative -heißt es in ihrem 1976 vorgelegten Abschlußbericht -könnten die Integrationskraft der großen Parteien schwächen, die Bedeutung des Parlaments verringern und sogar die „Funktions-und Integrationsfähigkeit der freiheitlichen demokratischen Grund-Ordnung der Bundesrepublik insgesamt beeinträchtigen“ Die Bundesrepublik schien dem verfassungspolitischen Imperativ Immanuel Kants zu entsprechen, der unter dem Eindruck der französischen Verfassung von 1791 in seiner Schrift über die „Metaphysik der Sitten“ die Forderung aufstellte: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anderes sein als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittels ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen.“
Noch während sich die These von der „super-repräsentativen“ Demokratie als „herrschende Lehre“ etablierte, wurde sie bereits durch neuere Entwicklungen in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik in Frage gestellt: Mit der soge-nannten Kanzlerdemokratie hatte sich inzwischen ein Regierungstyp etabliert, dessen plebiszitäre Züge kaum zu übersehen waren. Der Journalist Alfred Rapp bezeichnete 1959 in seinem Buch „Bonn auf der Waage“ die Bundestagswahlen von 1953 und 1957 als „eine Art Volkswahl des Bundeskanzlers“. Die Wahlentscheidung sei in beiden Fällen eine unmittelbare Abstimmung über die Person und die Politik Adenauers gewesen. Auf diese Weise sei das „verfemte plebiszitäre Element“ sozusagen durch die Hintertür in die neue deutsche Demokratie wieder eingetreten. Der Staatsrechtler und Verfassungsrichter Gerhard Leibholz bewertete die Wahlen von 1953 und 1957 als eine Bestätigung seiner Parteienstaatslehre. Wahlen werden demnach in der modernen Demokratie zu „plebiszitären Akten“, bei denen die Wählerschaft ihre Auffassung über die Kandidaten und Programme der Parteien „kundgibt“
Während die Repräsentativverfassung Grundgesetz nicht geändert wurde, entwickelten sich demnach plebiszitäre Mechanismen neuer Art: Unter Einbeziehung eines Personal-und Sachplebiszits wählt der Wähler nicht nur Repräsentanten, die seine Angelegenheiten im Parlament stellvertretend wahrnehmen. Er votiert gleichzeitig für einen bestimmten Kanzlerkandidaten sowie für eine bestimmte Koalition und erwartet, daß diese Koalition für die gesamte Legislaturperiode gebildet wird
Auch im Parlamentarischen Rat wollte man offenbar nicht alle Mechanismen plebiszitärer Willensbildung ausschließen: Dr. Katz (SPD), der Volksbegehren und Volksentscheid strikt ablehnte, war gleichzeitig der Autor des Art. 68 GG (Vertrauensfrage). Er begründete diese Verfassungsbestimmung mit dem Hinweis, die Regierung solle sich des Instruments der Vertrauensfrage auch bedienen können, wenn sie „den Wunsch hat, eine wichtige politische Frage durch das Volk entscheiden zu lassen“. Drei Wochen später rechtfertigte er den Verzicht auf Volksbegehren und Volksentscheid mit dem Argument: „Wenn wichtige Fragen strittig sein sollten, wird die Auflösung des Bundestages herbeigeführt.“ Er wiederholte diese plebiszitäre Begründung der Vertrauensfrage bei der zweiten Lesung des Grundgesetzes im Hauptausschuß, als er -ohne auf Widerspruch zu stoßen -erklärte: „Der Sinn des Artikels... ist, der Regierung die Chance zu Neuwahlen zu geben, wenn sie es für gegeben erachtet.“ Die so verstandene Vertrauensfrage ist zwar ein Machtmittel der Regierung und wurde bei der vorzeitigen Auflösung des Bundestags in den Jahren 1972 und 1983 auch in diesem Sinn angewandt. Sie entspricht aber gleichzeitig dem Verfassungskonzept der „sozialen Mehrheitsdemokratie“, weil sie den Appell an die Wählerschaft zuläßt, ohne daß die politische Willensbildung am Parlament vorbeiläuft.
Die „Realverfassung“ der Bundesrepublik Deutschland hat demnach durchaus plebiszitäre Eigenschaften, obwohl ihr die typischen Mechanismen der unmittelbaren Demokratie fehlen. Die Begriffe „repräsentativ“ und „plebiszitär“ bezeichnen auch keineswegs gegensätzliche Demokratiemodelle, denn jedes demokratische System enthält sowohl repräsentative als auch plebiszitäre Elemente. Dieser repräsentativ-plebiszitäre Doppel-charakter wird in der gegenwärtigen Diskussion kaum beachtet: Man übernimmt allzu leichtfertig die These von der „super-repräsentativen“ Verfassung und leitet hieraus die Notwendigkeit einer plebiszitären Anreicherung des Grundgesetzes ab.
Auf der anderen Seite ist aber auch die Behauptung widerlegt, der Parlamentarische Rat habe sich für eine ausschließlich repräsentative Willensbildung entschieden, und eine plebiszitäre Ergänzung widerspreche deshalb dem Sinn des Grundgesetzes. Die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid wurde vom Parlamentarischen Rat als eine „Zweckmäßigkeitsfrage“ (C. Schmid) betrachtet, die er eindeutig negativ beantwortete.
Ein Hauptargument zugunsten neuer plebiszitärer Einrichtungen ist in der gegenwärtigen Diskussion der Hinweis auf die Verfestigung des Parteien-staats. Volksbegehren und Volksentscheid sollen dem „Politikmonopol“ der Parteien entgegenwirken und die „Zuschauerdemokratie“ in eine „Teilnehmerdemokratie“ umwandeln Diesem Argument liegt die idealisierende Vorstellung zugrunde, in einer modernen Referendumsdemokratie trete das Volk als Einheit auf und äußere seinen Willen per Mehrheitsvotum im Sinne der'„volontäe gänärale“. In Wirklichkeit bereiten Parteien und Interessengruppen die Abstimmungen mit professionellen Kampagnen vor und geben eine Parole für ihre Anhänger aus. In der Weimarer Republik wurde z. B.der Volksentscheid über den Young-Plan (1929) von NSDAP, DNVP und Stahlhelm vorbereitet. Das Volksbegehren zur „Fürstenenteignung“ (1926) mag einer „spontan entstandenen Volksbewegung“ entsprochen haben. Auch in diesem Fall nahmen sich aber die Parteien frühzeitig der Sache an In der Schweiz führte das allgemeine Gesetzesreferendum seit 1874 zur Ausbildung eines differenzierten Verhandlungsmechanismus zwischen den sozialen Gruppen und den Parteien. Da die „referendums-fähigen“ Parteien an der Regierung beteiligt werden mußten, bildete sich eine Konkordanzdemokratie, in der kein Platz war für eine starke parlamentarische Opposition
Im zeitgeschichtlichen und internationalen Vergleich zeigt sich demnach, daß die sogenannte unmittelbare Demokratie nicht ohne Vermittlungsinstanzen auskommt. Mit der Einführung neuer plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz würden die Parteien in diesem Bereich eine Schlüsselfunktion übernehmen. Die vermeintliche Schocktherapie für den Parteienstaat, deren Nebenwirkungen ohnehin nicht abzuschätzen sind, würde damit ins Leere laufen. Zur Aktivierung der Parteiendemokratie sollte man deshalb besser auf „homöopathische Mittel“ zurückgreifen: Neben der Direktwahl von Amtsträgern auf kommunaler und gegebenen-falls sogar auf Landesebene müßte die innerparteiliche Mitwirkung gestärkt werden. Innerparteiliche Vorwahlen für die Wahlkreiskandidaten und die Landeslisten wurden 1976 von der Enquete-Kommission Verfassungsreform ohne einleuchtende Begründung abgelehnt Ihre Einführung könnte die Attraktivität der Parteien ebenso erhöhen wie die Einrichtung eines innerparteilichen Referendums, über das bisher in der Bundesrepublik noch nicht ernsthaft diskutiert wurde. Der SPD-Bezirk Unterfranken plant allerdings eine Mitgliederabstimmung zur Asylpolitik. Die FDP des Kantons Zürich verschickt zur Zeit die Unterlagen für eine Urabstimmung ihrer Mitglieder zum EWR-Beitritt der Schweiz
Möglicherweise haben die zeitgebundenen Bedenken des Parlamentarischen Rates gegenüber plebiszitären Mechanismen doch noch eine Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion: Eine juristische Untersuchung zur unmittelbaren Demokratie aus dem Jahre 1991 begründet die Ambivalenz von Volksbegehren mit dem Hinweis, daß man sich nach ihrer Einführung die Themen und Initianten nicht mehr aussuchen könne. So wurde z. B. im September 1980 ein Volksbegehren der „Bürgerinitiative Ausländerstopp“ in Nordrhein-Westfalen nur gestoppt, weil es eine nach der Verfassung unzulässige Regelung von Finanzfragen beinhaltete Derartige Initiativen scheinen die konstitutionell-demokratischen Vorbehalte gegen irrationale Massenbewegungen zu rechtfertigen.
Außerdem werden in den bisher vorgelegten Entwürfen zum Volksbegehren in der Regel die wichtigsten Politikbereiche ausgespart. So bezeichnet etwa die von Nordrhein-Westfalen in der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates vorgeschlagene plebiszitäre Ergänzung des Grundgesetzes alle Initiativen als unzulässig, die den Haushalt des Bundes, Dienst-und Versorgungsbezüge oder öffentliche Abgaben zum Gegenstand haben Hinter dieser Einschränkung verbirgt sich offenbar der Grundgedanke der sozialen Mehrheitsdemokratie, daß sinnvolle Änderungen in der Sozial-, Wirtschafts-und Finanzpolitik nur mit parlamentarischen Mehrheiten beschlossen werden können.