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Der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf 1992 | APuZ 44/1992 | bpb.de

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APuZ 44/1992 Der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf 1992 Der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf 1992 Der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf 1992 Amerikanische Innenpolitik unter Präsident Bush Armut und Sozialpolitik unter der Bush-Administration Zur Lage der US-Wirtschaft. Bestandsaufnahme und Perspektiven am Ende der ersten Amtszeit von George Bush Die Außenpolitik der USA unter George Bush

Der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf 1992

Hartmut Wasser

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Wählerapathie, -frust und/oder -protest kennzeichnen den Stimmungshintergrund der amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1992. Offenkundige Mediokrität der Bewerber ums Weiße Haus, Folge des gegenwärtigen Systems der Präsidentenauslese, erregt seit langem Anstoß bei den Amerikanern; dazu verstärkt sich jener seit Watergate und Vietnam aufgebrochene Trend, den SozialWissenschaftler als „Decline of Political Trust“ definieren, weil derzeit ein Mangel an ethischer Grundhaltung der politischen Klasse immer unverhüllter zutage tritt. Prognosen des Wahlausgangs gleichen 1992 schon deshalb einem Drahtseilakt ohne Netz, weil niemand weiß, welche (partei-) politischen Konsequenzen Wählerunmut und die Parole „Throw the Rascals out“ erzeugen werden. Hinter dem Unbehagen an politischen Institutionen, Parteien, Amts-und Mandatsträgem steckt in erster Linie die Sorge vieler Bürger um die außen-, mehr noch: die innenpolitische Befindlichkeit der USA. Der „amerikanische Traum“ steckt in der Krise, traditioneller Optimismus gerät ins Wanken, und die beiden Glaubensgrundsätze der Nachkriegszeit, daß auf dem Boden der neuen Welt die „Überflußgesellschaft“ mit Dauercharakter gegründet werden könne, die gleichsam automatisch auch die „gute“ Gesellschaft sei, haben ihre Überzeugungskraft eingebüßt. Der Republikaner George Bush und sein demokratischer Herausforderer Bill Clinton tun sich schwer, mit ihren politischen Ambitionen und Zielsetzungen die tiefreichende Skepsis der Amerikaner in bezug auf die Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Lebensfragen der Nation aufzubrechen.

I. Die Problematik der Wahl

1992 verfallen die USA wieder einmal in jenen Zustand politischer Unberechenbarkeit, der alle Welt erstaunt: Im Zeichen anstehender Präsidentschaftswahlen lösen sie sich gleichsam aus weltpolitischen Interdependenzen und wenden ihren Blick fast ausschließlich aufs Innere des Landes. Neben dem Einzug in das Weiße Haus wird um die 435 Sitze des Repräsentantenhauses, ein Drittel der Senatsmandate und eine Vielzahl politischer Ämter in Einzelstaaten und Kommunen gerungen -nach Verfahren zumeist, deren Umständlichkeit für sich allein genommen schon die für deutsche Verhältnisse geringe Wahlbeteiligung begreiflich macht. Gerade das Rennen um die Präsidentschaft verläuft nach so komplexen Gesetzlichkeiten, daß man sie, so das sarkastische Urteil des renommierten Historikers Arthur Schlesinger jr., „Ausländern auch deshalb nicht erklären kann, weil die Amerikaner sie selbst nicht begreifen.“ Wenn sich der Weg ins Weiße Haus als echtes Hürdenrennen erweist, hat dies ebenso mit historischen Besonderheiten wie aktuellen Gegebenheiten zu tun; sie haben bislang allen reformerischen Bemühungen Paroli geboten

Seit Jahrzehnten artikuliert sich im In-und Ausland heftige Kritik am Marathonrennen zum Weißen Haus, das politische Potenzen zuweilen gnadenlos verschleißt; wird Sinn und Zweck der „Primaries“ (Vorwahlen) ebenso angezweifelt wie der Nutzen des antiquierten „Electoral College“ (Wahlmännergremium für Präsident und Vizepräsident), das wahlverfälschende Überraschungen mindestens der Theorie nach niemals ganz ausschließen läßt und durch das „Winner Take all“ -Prinzip gegebenenfalls einem Minderheitspräsidenten ins Amt verhilft. Femsehgesetzlichkeiten können Außenseitern den Weg ins Weiße Haus ebnen, denen politische Expertise und Vertrautheit mit der Washingtoner Herrschaftsmaschinerie abgeht. So ungeniert verkaufen heute PR-Agenten ihre Auftraggeber, daß manchen Sozialwissenschaftlem das politische System der USA zur „Mediakratie“ verformt erscheint, in der das Medium zur Botschaft wird und „Mediokrität“ als Trumpf gilt, wenn sie nur in telegenem Gewände auftritt Einschlägige Gesetzesregelungen zur Wahlkampf-finanzierung, desolate Parteistrukturen und die hohe Zahl der „Vorwahl“ -Staaten zwingen die Bewerber um das Präsidentenamt zu immer langwierigeren und aufwendigeren Bemühungen um die Wählergunst. Der „Demokratisierung“ von Wahlen mag damit gedient sein, wenn der monatelange Kontakt der Kandidaten zu örtlichen Versammlungen, Vereinen, Bürgerinitiativen, zum „Vorwahl“ -Publikum ganz generell, im Verein mit dem Zwang zu permanenter Medienpräsenz als solche gelten darf. Weil aber eine so geartete „Basisdemokratie“ leicht zur Politgroteske degenerieren kann, ermutigt das gegenwärtige System der Präsidentenauslese die große Persönlichkeit ganz offensichtlich nicht zum Kampf ums Weiße Haus Eben dieser Umstand, die (vermeintliche oder wirkliche) Mediokrität der Präsidentschaftsbewerber, erregt seit langem Anstoß bei den Amerikanern und trägt gewiß zur vielbeklagten Wählerapathie bei Seit den Tagen John F. Kennedys hat -vielleicht mit Ausnahme von Ronald Reagan -kein Präsidentschaftsbewerber mehr die US-Bürger aufgerüttelt und ihre Phantasie beschäftigt. 1980 sprach man von „ABC“ -(Anybody but Carter-) Wahlen; 1984 war Langeweile das Signum des ungleichen Wettbewerbs zwischen Ronald Reagan und Walter Mondale; die Alternative Bush -Dukakis 1988 oder ihre aktuelle Variante Bush-Clinton im laufenden Jahr war und ist wenig geeignet, allgemeine Zweifel an der „leadership“ -Qualität, an Amtseignung und Charisma der Kandidaten auszuräumen.

II. Rückgang des politischen Vertrauens

Dazu kommt das in den neunziger Jahren eskalierende Unbehagen der Amerikaner an einem Mangel ethischer Grundwerte der politischen Klasse Seit Watergate stößt sich die Öffentlichkeit an der ununterbrochenen Serie von Skandalen und Skandälchen im Umkreis des Weißen Hauses und des Kapitols (Sitz des Kongresses), in die sich in der jüngeren Vergangenheit auch diverse Präsidentschaftsbewerber eingereiht haben. Seit „Trust“, genauer: „Decline of Trust“ zum konsequenz-trächtigen Politikphänomen geraten ist, scheinen die Amerikaner immer weniger geneigt zu sein, sich Alexander Hamiltons Bonum-commune-Gesinnung zu eigen zu machen, die er 1787/88 folgendermaßen Umrissen hat: „Die Annahme, daß alle Menschen käuflich seien, wirkt sich in der Politik kaum weniger verderblich aus als ihr Gegenteil. Das Prinzip der übertragenen Macht setzt voraus, daß die Menschen ein gewisses Maß von Tugend und Ehrenhaftigkeit besitzen, welches seinerseits ein gewisses Maß an Vertrauen rechtfertigt; und die Erfahrung bestätigt diese Theorie.“ Offensichtlich doch nicht ganz nach Meinung der heutigen Amerikaner, die sich enttäuscht äußern über die moralischen Qualitäten von Amts-und Mandatsinhabem bzw. solchen, die sich um politische Herrschaftspositionen bewerben. Die Parole „Throw the Rascals out“ wird immer lautstärker skandiert und hat inzwischen in mehreren Einzelstaaten per Volksentscheid zur zeitlichen Begrenzung von Mandatsträgerschaften geführt; die Wähler Colorados zogen sogar, trotz aller juristischen Bedenken gegenüber der Befugnis, die Organisation des Bundeskongresses von außen her zu beeinflussen, ihren Repräsentanten in Washington eine Zwölfjahresgrenze. Das Feudalismusgehabe der politischen Klasse, der Automatismus der Selbstrekrutierung und die bisherige Versteinerung der Machtstrukturen -bei den November-wahlen 1990 hat ein einziger Senatssitz den Inhaber gewechselt, sind 418 von 435 Sitzen im Repräsentantenhaus von den „Incumbents“ (Amtsinhabem) behauptet und die restlichen 17 zum Teil nur deshalb neu besetzt worden, weil die bisherigen Mandatsträger nicht mehr kandidierten -schlagen sich in bedenklichen Befunden der Demoskopie nieder; nahezu die Hälfte aller aktuell Befragten glaubt, die große Mehrzahl der Amts-und Mandatsträger sei korrupt. Die Bürger monieren, daß sich die Regierenden nicht um die sozialen und wirtschaftlichen Sorgen der Bürger kümmerten, und sie seien mangels Kompetenz auch nicht in der Lage, die bitter beklagten Krisensymptome der USA in den Griff zu bekommen.

Politik-und Parteienverdrossenheit herrscht, überwiegend gut begründet, diesseits und jenseits des Atlantik: In den breit gefächerten Wahlkämpfen des laufenden Jahres zeitigen sie erstmals weiterreichende Konsequenzen. Zum einen haben die Größen der Demokratischen Partei 1992 nicht bloß deshalb auf eine Präsidentschaftskandidatur verzichtet, weil lange Zeit der Republikaner George Bush zu fest im Sattel zu sitzen schien; sie fürchten wohl auch die Entschlossenheit der Wähler, Denkzettel zu verteilen, wie sie in einer Reihe von nationalen Meinungsbefragungen im vergangenen Jahr bekundet worden ist. Zum zweiten spielt die Glaubwürdigkeit der Kandidaten eine zentrale Rolle im laufenden Wahlkampf, was gerade der demokratische Kandidat, Bill Clinton, tagtäglich aufs neue schmerzlich erfahren muß. Sein Hauptproblem ist jene Glaubwürdigkeits-lücke, die sich nicht so sehr durch frühere Liebes-affären, gelegentlichen Marihuana-Konsum in studentischen Tagen oder mangelnde Vietnamkriegsbegeisterung auftut, sondern primär aus jener Liaison von Politik und Geschäft erwächst, in die er mit seiner Frau Hillary über Regierungskontrakte für das Anwaltsbüro der gut verdienenden Juristin verstrickt ist. Und drittens schließlich werden sich vermutlich „Incumbents“ zum ersten-mal in vielen Jahren wirklich schwer tun mit ihrer Wiederwahl.

Schon bei den Kongreßwahlen von 1990 zeichneten sich die Schwierigkeiten vor allem der Abgeordneten des Repräsentantenhauses deutlich ab, als ihr Stimmenvorsprung gegenüber den Herausforderern erheblich zusammenschmolz; und im laufenden Jahr kommt die Ungewißheit hinzu, die der „Redistricting“ -Prozeß (Anpassung der Wahlkreise an die Bevölkerungsentwicklung) in vielen Wahlkreisen erzeugt. Die zur Wiederwahl anstehenden Senatoren -erheblich mehr Demokraten als Republikaner -konnten sich vor sechs Jahren kein behagliches Stimmenpolster verschaffen: Mit durchschnittlich 58 Prozent der Wählerstimmen zogen die 34 Sieger nach Washington, und 16 von ihnen blieben unter 55 Prozent (zum Vergleich: 1990 konnten die Sieger durchschnittlich 65 Prozent der Stimmen erringen; nur acht Sitze blieben unter dieser Marge) Entscheiden wird sich das Schicksal der „Incumbents“ in erster Linie an der Wahlbeteiligung. Wenn Wählerapathie dominiert -in den letzten Jahren hat nur noch jeder zweite volljährige Amerikaner an Präsidentschafts-, nur noch jeder dritte an Kongreßwahlen teilgenommen -, dürften die „Incumbents“ mit einem blauen Auge davonkommen; wenn die Ressentiments aber in aktivistischen Zorn Umschlagen, bislang Gleichgültige zur Wahlurne strömen und die Zahl der Protestwähler anschwillt, werden die Amts-und Mandatsinhaber in Turbulenzen geraten.

III. Der „amerikanische Traum“ in der Krise

Hinter dem Unbehagen an Politikern und Parteien -auch ihr Erscheinungsbild trübt sich erneut ein, folgt man demoskopischen Befunden -steckt freilich in erster Linie die Sorge vieler US-Bürger um die außen-, viel mehr noch: die innenpolitische Befindlichkeit ihres Landes.

Die politische Kultur der USA war traditionell durch einen Optimismus geprägt, der sich auf die Bewältigung von Gegenwartsproblemen ebenso wie auf die Gestaltung der Zukunft bezog. In den neunziger Jahren aber verstärken sich pessimistische Regungen, glaubt die Mehrheit aller Amerikaner, es sei ihr Land „seriously off on the wrong track“ Was führt sie zu dieser düsteren Annahme? Unter anderem wohl die Einsicht, daß zwei Glaubensgrundsätze der Nachkriegsjahr-zehnte endgültig Schiffbruch erlitten haben: die Schaffung der „Überflußgesellschaft“ auf dem Boden der Neuen Welt einerseits und die aus ihr gleichsam automatisch erwachsende „gute“ Gesellschaft andererseits. Die Amerikaner sorgen sich heute um die gewaltigen Schuldendefizite in den öffentlichen und privaten Haushalten; und sie blicken irritiert auf die ungelösten sozialen Probleme des Landes. Die erstaunlichen Vorwahlerfolge des politischen Außenseiters und republikanischen Rechtskonservativen Pat Buchanan oder der kometenhafte Aufstieg des texanischen Milliardärs Ross Perot bekunden den Zynismus einer desillusionierten Bevölkerung, die das „Government“ im weitesten Sinne für das Scheitern ihrer Visionen verantwortlich macht. 76 Millionen „Baby Boomers“, zwischen 1946 und 1964 geboren, werden 1992 die stärkste Gruppe der Wähler stellen. Sie rechnen sich überwiegend der „middle dass“ zu und bewerten ihre persönlichen Lebensumstände in der unmittelbaren Gegenwart eher positiv. Sie sorgen sich aber um den Erhalt ihres Lebensstandards in der Zukunft. Wird eine angemessene Erziehung ihrer Kinder noch finanzierbar sein? Wie werden sich die Gesundheits-, Pflege-und Unterbringungsbedürfnisse ihrer Eltern lösen lassen, die steigende Lebenserwartungen hegen dürfen? Wie wird es um ihren eigenen Ruhestand bestellt sein, wer soll ihn finanzieren? Und schließlich: Können die überkommenen Werte der amerikanischen Ideologie -Individualismus, Leistungsbereitschaft, Freiheit, Gleichheit, Privateigentum, demokratischer Rechtsstaat, Familiensinn etc. -Zeitläufte überdauern, die von wachsenden sozialen und rassischen Spannungen, von der „Multikulturalismus“ -Debatte mit ihren separatistischen Tendenzen, von einer überbordenden Kriminalitätsrate und zerfallenden Familienstrukturen geprägt sind? Ob solche Ängste im einzelnen ausreichend begründet sind oder nicht, ist hier nicht zu diskutieren; sicher ist nur, daß sie in das Wählerverhalten einfließen werden

Was den Wahlen 1992 ihren besonderen Charakter verleiht, sind die Umstände, unter denen sie stattfinden, ist die Thematisierung konkreter Lebensfragen der Nation, die in der Vergangenheit oft genug kaum die Kandidaten interessierten und wo von „Issues“ (Sachproblemen) jedenfalls nur am Rande die Rede war -Paradebeispiele stellen die Wahlkämpfe von 1984 und 1988 dar. In diesem Jahr vollzieht sich der nationale (und einzelstaatliche) Wettbewerb zwischen Parteien und Kandidaten zum erstenmal unter neuen weltpolitischen Rahmenbedingungen, d. h. nach Beendigung des Kalten Krieges; und Kontroversen um Lösungen für die sozioökonomischen Probleme des Landes dominieren die Kampagnen mehr als zuvor. George Bushs „Neue Weltordnung“ interessiert da vergleichsweise wenig, wo es die Strukturen des internationalen Machtsystems erlauben, sich mindestens zeitweilig auf die inneren Probleme des Landes zu konzentrieren; da wird die Verteilung der „Friedens-Dividende“ zum sehr viel brisante-ren Thema.

Im wesentlichen wird die Präsidentschaftswahl 1992 von drei großen Debatten und Auseinandersetzungen beherrscht, zwei innen-und einer außenpolitischen, wobei die beiden Sphären teilweise miteinander verwoben sind. Die Debatte kreist um die Frage, welche praktischen Lösungen für die ökonomischen Probleme der USA gefunden werden können. Expandierende Staatsausgaben und Steuererleichterungen (von denen neben der Unterschicht freilich vorwiegend die Reichen profitierten) haben weder die Einkommens-und Lebenssituation derer verbessert, die ohne College-Abschluß am Wirtschaftsprozeß partizipieren, noch haben sie die sozioökonomischen Disparitäten zwischen den Schichten der US-Gesellschaft verringert oder die (internationale) Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Industrien verbessert.

Eng verbunden mit der Thematisierung dieser Frage ist die andere Kontroverse, warum der hochbürokratisierte Wohlfahrtsstaat bei der Lösung der chronischen Sozialprobleme des Landes gescheitert ist: Weder hat er die Armen aus ihrer mißlichen Lage befreit oder ihre Zahl verringert, noch erschwingliche und adäquate Formen der Gesundheitsfürsorge hervorgebracht, von der Beseitigung bildungs-und erziehungspolitischer Defizite ganz zu schweigen. Ob zuviel oder zuwenig Staatsinterventionismus, ob „Big Government“ in Gestalt komplexer Bürokratien oder Ineffektivität des „Divided Government“ die Misere zu verantworten haben, ist dabei ebenso umstritten wie die moralischen Aspekte der Sozialpolitik. Dem Streit darüber, wer überhaupt öffentliche Unterstützung verdiene, unter welchen Prämissen sie zu gewähren sei und wie Hilfe zur Selbsthilfe geraten könne, kommt angesichts der ideologischen Prämissen des „Amerikanismus“ erheblich größeres Gewicht zu, als dies für vergleichbare Kontroversen über sozialpolitische Sachverhalte in Kontinentaleuropa der Fall ist. Die dritte Debatte schließlich versucht, Antworten zu finden auf die Frage nach der künftigen Rolle der USA in einer veränderten Welt, die der Supermacht fürs erste ernsthafte militärische Bedrohungen erspart, sie aber mit Wirtschafts-und Handelsrivalen ebenso konfrontiert wie mit stabilitätsgefährdenden Nationalitätenkonflikten. Isolationisten und Internationalisten verschaffen sich derzeit Gehör, Advokaten eines „kosmopolitischen Kapitalismus“ (Robert Reich) und Befürworter eines nach japanischem Muster gestrickten „nationalen Kapitalismus“, „Unilateralsten“ und „Multilateralsten“ stehen sich gegenüber, wo es um die Gestaltung der auswärtigen Beziehungen der USA geht. Dabei teilen nicht etwa parteipolitische Positionen die Präsidentschaftskandidaten (oder Mandatsbewerber) säuberlich in zwei Lager; Demokraten und Republikaner finden sich auf beiden Seiten der unscharfen Trennlinien.

IV. Strittige Wahlkampfthemen

Einige detaillierte Konfliktfelder sollen im folgenden angesprochen werden, die den Präsidentschaftswahlkampf 1992 thematisch prägen. Als Dauerbrenner beschäftigt das Haushaltsdefizit die amerikanische Öffentlichkeit auch in diesem Jahr, wobei im Hinblick auf Lösungsmöglichkeiten hauptsächlich zwei Positionen auszumachen sind. Die „republikanische“ setzt nach wie vor auf angebotsorientierte Rezepte, will Investitionen durch Steueranreize begünstigen, die Kapitalzuwachssteuer (Capital Gains Tax) senken, den Kauf von Immobilien begünstigen und Einsparungen im Budget forcieren, von denen neben den verteidigungs-auch die sozialpolitischen Ausgaben betroffen sein sollen. Die „demokratische“ Position willdie Bezieher von Spitzeneinkommen (mehr als 200000 US-Dollar im Jahr) stärker besteuern, dafür den Mittelschichten niedrigere Einkommensteuern bescheren, die Investitionen steuerlich begünstigen und im übrigen den Haushalt durch massive Einschnitte in den Verteidigungsetat mittelfristig konsolidieren.

Die Stagnation der US-Ökonomie und die Sorge um die internationale Konkurrenzfähigkeit der amerikanischen Wirtschaft bestimmen gleichermaßen den politischen Diskurs des Jahres 1992. Der Republikaner Bush hat in seiner Botschaft zur Lage der Nation im Januar Anleihen beim altehrwürdigen Lord Keynes gemacht, um der hartnäckigen Rezession zu Leibe zu rücken, die sich nur sehr zögerlich auflöst. „Wachstumspaket“ heißt die Devise, mit der die Republikaner seither der Arbeitslosigkeit begegnen wollen. Zehn Mrd. US-Dollar sollte der Staat sofort in die Wirtschaft pumpen, 150 Mrd. US-Dollar längerfristig in ein marodes Verkehrssystem; auf der Privatseite soll Firmen und Familien durch kurzfristig gewährte Steuer-und kreditpolitische Anreize das Geldausgeben erleichtert werden.

Freilich haben die Demokraten, die beide Häuser des Kongresses kontrollieren, abweichende Vorstellungen von einem richtig gehandhabten „Deficit Spending“. Mehr Staatsinterventionismus zur Bekämpfung der nach wie vor bei ca. sieben Prozent pendelnden Arbeitslosigkeit, erheblich stärkere Kürzung des Verteidigungshaushaltes für ökonomische Ankurbelungsprozesse und soziale Hilfen sowie stärkere Steuerabschläge bei mittleren und kleineren Einkommen sollen die Wirtschaftsflaute überwinden und den Wahlsieg sicherstellen. Denn die Stimmung des Wahlvolkes ist derzeit durchaus „sozialdemokratisch“ mindestens insofern eingefärbt, als 75 Prozent aller Amerikaner den Staat zu größerer Aktivität im Bereich der Arbeitsmarkt-(und etwa auch: der Bildungspolitik auffordern. Da sich Exekutive und Legislative angesichts unterschiedlicher parteipolitischer Präferenzen im Wahljahr 1992 wechselseitig blockiert (und damit ein neues Beispiel für die Schwierigkeiten der Konsensbildung im fragmentiertgewaltenteiligen System des US-„Government“ geliefert) haben, ist bei all dem für die Bürger wenig herausgekommen

Daß die USA eine umfassende Wettbewerbsstrategie entwickeln müssen, um die Erosion ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abzubremsen, ist zwischen den Parteien und ihren Präsidentschaftsbewerbem im Grundsatz nicht mehr strittig, seit der „Rat für Wettbewerbspolitik“ (Competitiveness Policy Council), ein hochkarätig besetztes Expertengremium, nach den Vorschriften des Handelsgesetzes von 1988 im Jahre 1991 von Exekutive und Legislative berufen, in seinem ersten Jahresbericht die Schwachstellen des amerikanischen Wirtschaftssystems schonungslos aufgedeckt hat Angesichts des zwei Jahrzehnte lang faktisch stagnierenden Produktivitätswachstums, der „beispiellosen Abhängigkeit des jüngsten Wirtschaftswachstums von Kreditaufnahmen“, der Kumulierung der Handelsdefizite auf über eine Billion US-Dollar während des letzten Jahrzehnts, der Wandlung Amerikas vom größten Gläubiger der Welt zu ihrem größten Schuldner, vor allem auch im Hinblick auf den fatalen „Hang zu kurzfristigem Denken und Handeln“ in der Wirtschaft würden die USA im internationalen Wettbewerb der neunziger Jahre noch weiter zurückfallen, wenn es nicht gelinge, eine wirksame Gegenstrategie zu entwickeln. Sie müßte nach Meinung des Gremiums eine effizientere Wirtschaftspolitik umfassen, die das Haushaltsdefizit drastisch abbaut und zu einer wesentlichen Steigerung der heimischen Spar-und Investitionsquote führt; eine fundamentale Reform struktureller Schlüsselbereiche wie Erziehung, Ausbildung, Gesundheitssystem, Technologie und Handelspolitik ins Auge fassen; und schließlich auch eine Umorientierung der Untemehmenspolitik und Finanzmärkte auf längerfristige Perspektiven hin beinhalten. Der Bericht speist „Issues“ in den Wahlkampf ein, die, was z. B. die Notwendigkeit einer kohärenten Industriepolitik anbelangt, zwischen den Präsidentschaftsbewerbern der beiden großen Parteien durchaus kontrovers diskutiert werden, wobei Bill Clintons Reformvorstellungen weiter reichen als die des Präsidenten George Bush.

Nicht zuletzt gehört das Problem der „Welfare Reform“ im weitesten Sinne zu den zentralen Wahlkampfthemen. Seine Komplexität läßt sich auf den harten Kern der Diskrepanz von staatlichen Handlüngsmöglichkeiten und gruppenspezifischen Bedürfnissen oder Erwartungshaltungen reduzieren. Bund, Einzelstaaten und Gemeinden sehen sich angesichts einer rezessionsbedingten Stagnation auf der Einnahmenseite und beschleunigten Zuwächsen auf der Ausgabenseite, die u. a.demographisch, arbeitsmarktpolitisch oder vom „Werte-wandel“ her bedingt sind, nicht mehr in der Lage, die (übrigens von einer Reihe von Einzelstaatsverfassungen gebotene) Haushaltsbalance in vernünftigen Margen zu gewährleisten. Im Zeichen gestiegener Lebenserwartung vergrößert sich die Zahl der Amerikaner kontinuierlich, die „Social Security“ -Leistungen beanspruchen. Nicht nur die Zahl der Alten nimmt zu, sondern auch die der Armen: damit steigen u. a. die Kosten für die „Medicare“ -und „Medicaid“ -Programme, wobei moderne Technologie und ärztliche Selbstbedienungsmentalität auf beiden Seiten des Atlantik die Gesundheitsaufwendungen der öffentlichen Hände zusätzlich inflationieren.

1992 erhalten ca. 25 Millionen Amerikaner Berechtigungskarten für den Bezug verbilligter Lebensmittel („Food Stamps“ -Programm), nehmen über 13 Millionen Kinder an der preisreduzierten oder kostenlosen Schulspeisung teil. Insgesamt haben sich die seit den sechziger Jahren applizierten Strategien im Kampf gegen die Armut als wenig erfolgreich erwiesen: Die Zahl der Familien, die nach offiziellen Maßstäben als „arm“ bezeichnet wird, ist zwar prozentual in den letzten 20 Jahren etwas gesunken (von 36, 7 Prozent 1970 auf 33, 3 Prozent 1990); in absoluten Zahlen sind aber immer mehr Amerikaner zu Nutznießern staatlicher „Welfare“ -Programme geworden. Vor allem die Armut der „Urban Underclass“, speziell ihres schwarzen Segments (und in ihrem Rahmen diejenige der vielen „Teenage Mothers“ und „alleinerziehenden Familien“), stellt ein durch Permanenz zunehmend explosiver werdendes Problem dar und trägt dazu bei, daß etwa die Anforderungen an das Familienbeihilfeprogramm („Aids to Families with Dependent Children“) ständig wachsen dasselbe gilt angesichts der relativ hohen Arbeitslosenquote für die auf Bund-Staaten-Kooperation beruhende Arbeitslosenversicherung in ihren verschiedenen Ausformungen. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Während 1960 die öffentlichen Sozialausgaben noch etwa zehn Prozent des US-Bruttosozialprodukts ausmachten, belaufen sie sich heute beinahe auf das doppelte; und in den Haushalten schlagen derzeit die öffentlichen Sozialausgaben mit fast 50 Prozent auf Bundesebene und mit ca. 65 Prozent im Bereich der Einzelstaaten und Lokalverwaltungen zu Buche.

Wer die Schuld trägt für die Diskrepanz zwischen Aufwand und Ertrag ist zwischen den großen Parteien ebenso strittig wie die Problemlösungsmodelle differieren, die sich allerdings (aus Überzeugungs-oder machtopportunistischen Gründen) an „Middle Class“ -Perspektiven orientieren. Diese weisen „Faimess“ -Aspekten eine ebenso wichtige Rolle zu wie spezifisch eingefärbten „Compassion“ -Bekenntnissen. In Kalifornien führen nach demoskopischen Befunden 31 Prozent aller (überwiegend weißen Mittelschichten-) Wähler die Haushaltsmisere des Landes auf den Egoismus der Reichen zurück, „who are not paying their fair share of taxes“, 31 Prozent auf solche Wohlfahrtsempfänger „getting benefits they don’t deserve“ und 31 Prozent gleichermaßen auf beide Gruppen. Und wo sie Sozialhilfeleistungen an die Armen durchaus befürworten, wollen sie diese als temporäre Notmaßnahme und nicht als längerfristige Einnahmequelle gewährt wissen

Was die Wähler keineswegs tolerieren wollen, sind höhere Steuern zur Milderung der Budgetkrise, die in den letzten zwei Jahren eine Reihe von Einzelstaaten gezwungen hat, ihre Wohlfahrtsprogramme erheblich zu beschneiden. Wo immer in den letzten Jahren Gouverneure die Steuerlasten erhöhten, um staatliche Daseinsvorsorge weitergewähren oder gar ausweiten zu können, sind sie in massive Turbulenzen geraten. Neben Lowell P. Weicker jr. in Connecticut mag James F. Florio, demokratischer Regierungschef von New Jersey, als Beispiel dienen, der unter großen Schwierigkeiten 1990 noch Steuererhöhungen zum Ausgleich des Haushaltsdefizits und für bildungspolitische Initiativen durchsetzen konnte, im vergangenen Jahr aber die Quittung von den Wählern bekam, die beide Häuser der New-Jersey-Legislative mit starken republikanischen Mehrheiten bestückten und damit Florio für den Rest seiner Amtszeit zur „Lame Duck“ (einflußloser Amtsinhaber) degradierten; und in Kalifornien muß Gouverneur Pete Wilson sorgfältig lavieren, um mit den „Fairness“ -, „Compassion“ -und „Don’t Bill Me“ -Gefühlen der Wählermehrheit nicht zu kollidieren Die Republikaner um George Bush wollen das etablierte System mit dem Schwerpunkt auf privater Vorsorge beibehalten, wenngleich in modifizierter Form. Durch die Ausgabe von Berechtigungsscheinen für medizinische Leistungen an Einkommensschwache, steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten von Krankheitskosten für Familien mit mittlerem Einkommen und die finanzielle Auf-stockung des „Medicaid“ -Programms für Bedürftige sollen nach Bush wirksame Fürsorgemöglichkeiten geschaffen, verschwenderische Gesundheitsausgaben jedoch vermieden werden. Bill Clinton, der „New Politics Democrat“, wie ihn der Publizist William Schneider nennt, distanziert sich nach Kräften von der alten „Tax and Spende-Politik seiner Partei auch dort, wo diese ohne große Bedenken die Einführung einer staatlichen Pflicht-versicherung fordert, um den maroden Zustand des Gesundheitswesens zu überwinden. Wenn er von einem allgemeinen Versicherungsschutz spricht, will er primär die Arbeitgeber zur Kasse bitten, sie aber andererseits durch Investitionshilfen und Steuererleichterungen (etwa bei Kapitalgewinnen) bei Laune halten; und die „soziale Frage“ möchte er durch temporär gewährte „Hilfe zur Selbsthilfe“ entschärfen, wobei er als Gouverneur von Arkansas mit staatlich verordneten, obligatorischen Trainings-und Bildungsprogrammen für Sozialhilfeempfänger verbreitete Zustimmung in der Öffentlichkeit gefunden hat.

Auch die Bildungspolitik spielt 1992 eine gewichtige Rolle im Wahlkampf. Wo George Bush seinen Anspruch von 1988, als „Education President“ wirken zu wollen, in diesem Jahr durch eher marginale Reformvorschläge mühsam aufzupolieren sucht, trägt das bildungspolitische Profil seines Herausforderers schärfere Züge, teils aufgrund seiner Schulpolitik in Arkansas, teils wegen seiner programmatischen Ankündigung, das „humane Kapital“ der USA fördern und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes revitalisieren zu wollen, durch eine am deutschen Modell orientierte Lehrlings-ausbildung etwa oder durch die Verpflichtung der Betriebe zur Weiterbildung der Arbeitnehmer.

Bleiben zu guter Letzt die „Social Issues“, vorrangig das Problem der Verbrechensbekämpfung und der Abtreibung. Bei den Kongreßwahlen 1990 und den Gouverneurswahlen der letzten Jahre haben „Crime“ und „Abortion“ die Wählerentscheidung nachhaltig beeinflußt. Wo George Bush und die große Mehrheit der Republikaner einen harten Kurs steuern, etwa die Ausweitung der Todesstrafe anpeilen und Schwangerschaftsabbruch gar mit einem Verfassungsbann belegen wollen, befürwortet Bill Clinton, gewarnt durch das Schicksal seines Vorläufers Michael Dukakis vor vier Jahren, dem Bushs Wahlkampfteam die Kappe des verbrechenspolitisch Indolenten aufsetzen konnte, gleichermaßen die Todesstrafe für klar definierte Delikte (und läßt sie in Arkansas auch anwenden); andererseits nimmt er in der Abtreibungskontroverse eine liberale Haltung ein und schwimmt demzufolge im „Social Issues“ -Bereich durchaus im „Mainstream“ Amerikas.

V. Bill Clinton und George Bush

Über George Bushs politische Biographie muß an dieser Stelle nichts vermerkt werden; sein familiärer und Bildungshintergrund sind ebenso bekannt wie seine Karrieremuster im privatwirtschaftlichen und im öffentlichen Bereich. Seine ersten Amts-jahre wurden von ungewöhnlich hohen Popularitätsraten begleitet, die nach dem Golfkrieg Rekordhöhen erreichten und mit dazu beitrugen, die erste Garnitur demokratischer Politiker von einer Kandidatur gegen den nationalen Heros abzuhalten. Als Außenpolitiker engagiert und erfolgreich, hat er ganz offensichtlich den Binnen-problemen der USA zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und ist nicht selten am Problem des „Divided Government“ aufgelaufen Die gespannten Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative haben sich u. a. im häufigen Einsatz des präsidentiellen Vetos gegenüber Kongreßbeschlüssen niedergeschlagen; seit den Tagen Gerald Fords ist kein Präsident mehr so häufig auf Konfrontationskurs gegangen wie George Bush Als die Wirkung des Sieges über Saddam Hussein nachließ und die amerikanische Nation wieder zum Bewußtsein ihrer innenpolitischen Problemfelder gelangte, ist Bushs Popularitätsrate ebenso drastisch abgesackt wie die Bewertung seiner Amtsführung. Schon um die Jahreswende 1991/92 sprachen sich nur noch 35 Prozent der Wähler für eine Wiederwahl des Republikaners aus (im Juni 1991: 52 Prozent), suchten 46 Prozent „nach einem andern“, erklärten sich 40 Prozent als „Anti-Bush“ -(Juni: 24 Prozent) und nur noch 20 Prozent als verläßliehe „Pro-Bush“ -Anhänger (Juni: 42 Prozent) im laufenden Wahljahr hat sich an diesen demoskopischen Befunden nichts wesentliches mehr geändert. „Portemonnaie-Themen“ (Steuern, Lebenskosten, Arbeitsplätze) und „Lebensstil-Fragen“ (Drogen, Kriminalität, Abtreibung etc.) sind inzwischen so weit in den Vordergrund des nationalen Interesses gerückt, daß damit die Chancen für den demokratischen Herausforderer nicht unbeträchtlich zugenommen haben.

Bushs ursprüngliche Wahlkampfstrategie, die Außenpolitik der USA und damit seine eigene Expertise und internationale Reputation auf diesem Felde ins Zentrum der Präsidentschaftskampagne zu rücken, ist mehr oder weniger gescheitert. Von Außenpolitik wollen die Amerikaner derzeit wenig hören; und der Herausforderer aus Arkansas bemüht sich nach Kräften, den allgemeinen Trend zur Konzentration auf wirtschafts-und gesellschaftspolitische Fragen aus wohlverstandenem Eigeninteresse zu forcieren. Außer allgemein gehaltenen Bekenntnissen zum Projekt einer nordamerikanischen Freihandelszone (es dürfen dadurch aber keine Arbeitsplätze in den USA verloren gehen!) und der Bedeutung der amerikanisch-israelischen Beziehungen (die Clinton reibungsloser gestalten will als Bush) ist über die außenpolitischen Visionen des Gouverneurs wenig bekannt geworden; daß er handelsprotektionistische Maßnahmen ablehnt, läßt für die Zukunft der amerikanisch-europäischen Beziehungen hoffen und trägt wohl den Stempel seines wirtschaftspolitischen Beraters, des global denkenden Ökonomen und Harvard-Professors Robert Reich.

Es fehlt im Wahlkampf 1992 die Auseinandersetzung um Amerikas künftige Rolle in der Weltpolitik. Soll die einzig verbliebene Supermacht als „benevolenter Welthegemon“ (Theo Sommer) wirken, das Entstehen eines Machtvakuums ebenso zu verhindern suchen wie den Aufstieg anderer, regionaler oder gar globaler Führungsmächte, wie es manchen Planern im Pentagon vorschwebt? Oder soll Amerika, Vormacht in einem Bündnis prinzipiell Gleichberechtigter, als gestaltender Faktor einer „Neuen Weltordnung“ auftreten, die auf internationaler Zusammenarbeit beruht und kollektive Sicherheit auch unter dem Dach der Vereinten Nationen sucht, wie dies den Realisten um George Bush vorschwebt? Oder soll es einmal mehr dem „America first“ -Prinzip huldigen, auswärtige Verpflichtungen reduzieren, als autarker Eigenbrötler sich aus der Weltpolitik ausklinken, wie dies Neo-Isolationisten vom Schlage eines Pat Buchanan verlangen?

Von Clinton jedenfalls ist dazu bislang wenig zu hören. Doch wo es ihm an außenpolitischer Expertise fehlt, geht ihm gewiß nicht politische Erfahrung in einem allgemeineren Sinne ab. Vor einem hochkarätigen Bildungshintergrund -Studium an der Georgetown University in Washington, Rhodes-Stipendiat in Oxford und Jura-Studium an der Yale University -hat sich nach kurzer Anwalts-und Dozententätigkeit eine politische Bilderbuchkarriere in Arkansas entfaltet. 1977 zum Justizminister und zwei Jahre später, mit 32 Jahren, zum jüngsten Gouverneur seines Landes gewählt, wurde er zwar 1981 von den Wählern wieder aus dem Amt gejagt -Kenner der politischen Landesszenerie schreiben diesen Denkzettel der Unerfahrenheit und Arroganz des Youngsters zu-, aber schon zwei Jahre später konnte ein offenkundig geläuterter Clinton erneut auf dem Sessel des Gouverneurs Platz nehmen, den er seither nicht mehr räumen mußte.

Dabei nahm er früh das Weiße Haus ins Visier und suchte sich auf nationaler Ebene als Vorsitzender des „Democratic Leadership Council“, der „National Governors’ Association“ oder der „Education Commission of the States“ zu profilieren, nicht ohne Erfolg, bedenkt man die breite Unterstützung von demokratischen Amts-und Mandatsträgem auf der einzelstaatlichen wie nationalen Ebene für Clintons Präsidentschaftskandidatur. Seine Gouverneurskollegen haben ihm 1991 ein vorzügliches Zeugnis über seine politischen Leistungen im strukturschwachen Arkansas ausgestellt, wo er die Klein-und Mittelindustrie revitalisiert und tatkräftig die Verbesserung der schulischen Situation vorangetrieben hat. Seinem hochqualifizierten Wahlkampfteam ist es gelungen, Clinton in allen „Primary“ -Staaten organisatorisch und publizistisch präsent zu machen und Spendensummen einzutreiben, die dem „Southerner“ von Anfang an das Übergewicht über seine parteiinternen Konkurrenten eingetragen haben.

VI. Der offene Wahlausgang

„Can He Beat Bush?“ Hat Bill Clinton die persönliche, politische und organisatorische Kraft, einen amtierenden Präsidenten aus dem Weißen Haus zu drängen? Kann der Gouverneur eines armen, obskuren Staates erreichen, was seit 1964 nur einem einzigen Demokraten gelang, nämlich einen Repu­ blikaner in Präsidentschaftswahlen zu besiegen? Eine Newsweek-Umfrage vom März verwies auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen und sah Bush gegenüber Clinton bloß mit 48 zu 44 Prozent in Führung, der knappsten Differenz zu einem so frühen Zeitpunkt zwischen Titelverteidiger und Herausforderer seit Jimmy Carters kometenhaftem Aufstieg 1976 Seither sind die Zustimmungswerte für Bush kontinuierlich gesunken; erst durch den republikanischen Parteitag in Houston ist es dem Präsidenten gelungen, den zwischenzeitlich auf beinahe 20 Prozent angewachsenen Vorsprung von Clinton Ende August wenigstens zu halbieren Ein „Southemer“ wie Clinton mag im Verein mit seinem allseits respektierten „Running Mate“ (Vizepräsidentschaftskandidat) Al Gore vielleicht das republikanische Bollwerk aufbrechen, das die Südstaaten der USA seit geraumer Zeit verkörpern. Und da das demokratische „Ticket“ eine breite Gefolgschaft hinter sich versammeln kann -es genießt Sympathien nicht bloß im weißen „Middle America“, sondern auch unter den Schwarzen der USA -, stehen die Zeichen augenblicklich nicht schlecht für den Herausforderer.

Aber es bleiben doch Zweifel genug, die über persönliche Glaubwürdigkeitsprobleme Clintons weit hinausreichen und aus politisch-strukturellen Dilemmata der Demokraten erwachsen. Noch immer deuten genügend Anzeichen auf ein konservatives „Realignment“ in den USA, von dem bislang vorwiegend die Republikaner profitiert haben Es muß an dieser Stelle genügen, einige dieser Anzeichen zu benennen. Weiße Wähler des Südens und der Rocky-Mountains-Staaten, aber auch weiße ethnische Wählergruppen und Jungwähler generell haben ihr Wahlverhalten grundlegend geändert und sich seit längerem den Republikanern zugewandt. Daß der Süden, den nicht einmal der amtierende Präsident Jimmy Carter aus Georgia 1980 gegen Ronald Reagan halten konnte, sich 1992 von den Republikanern abwendet, ist noch lange nicht ausgemacht: Bei den einschlägigen Vorwahlen jedenfalls haben sich zum erstenmal mehr weiße Südstaatler an den republikanischen als an den demokratischen „Primaries“ beteiligt, sind weniger Schwarze als 1988, als der Jesse-Jackson-Faktor wirkte, an die Wahlurnen gegangen. Ob nicht die Demokraten besser beraten wären, statt auf die „Southern Strategy“ eher auf eine „California Strategy“ zu setzen, d. h. sich auf die liberalen und industrialisierten Staaten der Westküste, des Mittleren Westens und des Nordostens zu konzentrieren? Dort konnten sie mit Dukakis 1988 die Stimmendifferenz zu den Republikanern gering halten oder gar den Sieg davontragen; freilich würde der „Southemer“ Clinton bei einer solchen Orientierung nicht an die Spitze des Partei-„Tickets“ passen.

Auch birgt das noch immer unscharfe Profil der Demokratischen Partei Risiken für ihren Kandidaten in sich. Zwar können die Demokraten gegen George Bush mit Clinton einen Politiker vorweisen, der als Vorsitzender des „Democratic Leadership Council“ sein konservativ-„neoliberales“ Selbstverständnis dokumentiert hat; und überdies haben sie es 1992 geschafft, durch parteiinterne Satzungsänderungen den Nominierungs-und Diskussionsprozeß auf ihrem New Yorker Nationalkonvent in geordneten Bahnen zu halten Aber noch immer ist das Image der Partei in der Öffentlichkeit negativ besetzt: Sie gilt als Sammlungsbewegung von Minderheiten, ist durch den Konflikt zwischen „New Politics“ -und „Old Politics-Democrats“, zwischen ihrem Süd-und Nordstaatenflügel in ihrer parlamentarischen Handlungsfähigkeit tangiert; und die Femsehdebatten zwischen den ursprünglich sechs demokratischen Bewerbern um die Präsidentschaft, die um die Jahreswende 1991/92 stattfanden, belegten einmal mehr die ideologisch-programmatische Diffusion der Partei.

Auch läßt die ökonomische Malaise des Landes nicht automatisch die Wahlchancen der Demokraten steigen. Denn demoskopische Befunde belegen für das vergangene Jahr, daß mehr Amerikaner den von Demokraten kontrollierten Kongreß für ihre sozialen und wirtschaftlichen Probleme verantwortlich machten als die Bush-Administration; obgleich sich diesbezüglich die Bewertungen 1992 gewandelt haben, kann von einem unbesehenen „Oppositionsbonus“ nicht die Rede sein Der Kongreß befindet sich in einem anhaltenden Meinungstief, das freilich beide darin vertretenen Parteien betrifft. Hoffnungen können die Kongreßdemokraten allerdings aus dem Umstand schöpfen, daß die überwiegende Mehrheit der Amerikaner immer noch ihren jeweiligen Repräsentanten positiver bewertet als alle anderen Abgeordneten

Ein allzu matter Wirtschaftsaufschwung im laufenden Jahr wird Clintons Chancen vergrößern. Er kann in diesem Zusammenhang auch das Thema „Friedensdividende“ unbedenklicher instrumenta­ lisieren als Bush, der schon aus innenpolitischen Gründen -Rücksichtnahme auf seine konservative Klientel, Rüstungsindustrie und Arbeitsplatzproblem -davor warnen muß, Kürzungen von mehr als 50 Mrd. US-Dollar in fünf Jahren am Verteidigungsetat vorzunehmen. Die „Anti-Washington“ -Stimmung im Lande mag Clinton Vorteile im Wettkampf zweier Generationen verschaffen. Immerhin gehört der 45jährige Gouverneur anders als der 67jährige Bush zu jenen Amerikanern, die mit dem Mißtrauen gegen das „System“ und die politische Klasse in Washington groß geworden sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Geschichte der Präsidentschaftswahlen vgl. Arthur M. Schlesinger, Jr. /Fred L. Israel/William P. Hansen (Hrsg.), History of American Presidential. Elections. 1789-1968, 4 Vols., New York 1971; Robert J. Dinkin, Campaigning in America. A History of Election Practices, Westport 1989; aktuelle Verfahrensweisen und Probleme im Umkreis von Präsidentschaftswahlen sind nachgezeichnet im Congressional Quarterly. Guide to U. S. -Elections, Washington, D. C., 19852; James Reichley (Hrsg.), Elections American Style, Washington, D. C. 1988; Martin P. Watten-berg, The Rise of Candidate -Centered Politics. Presidential Elections of the 1980s, Cambridge, Mass. 1990; Michael L. Goldstein, Guide to the 1992 Presidential Election, Washington, D. C., 1991.

  2. Vorschläge zur Reform des politischen Systems der USA im allgemeinen, der Wahlprozeduren im besonderen, sind dargestellt bei Donald L. Robinson, Reforming American Government. The Bicentennial Papers of the Committee on the Constitutional System, Boulder, Col. 1985; James L. Sundquist, Constitutional Reform and Effective Government, Washington, D. C., 1986; The Jefferson Foundation (Hrsg.), Rediscovering the Constitution, Washington, D. C., 1987; Bruce Buchanan, Electing a President. The Markle Commission Research on Campaign '88, Austin, Tx. 1991.

  3. Zu diesen Sachverhalten jüngst Benjamin Ginsberg/Martin Shefter, Politics by other Means. The Declining Importance of Elections in America, New York 1990; Jerry Hagstrom, Political Consulting. A Guide for Reporters and Citizens. Special Report by the Freedom Forum. Media Studies Center, Columbia University, New York 1992.

  4. Vgl. Hartmut Wasser, Zum Phänomen der Mediokrität im Weißen Haus. Warum „große Männer“ nur selten zu Präsidenten der USA gewählt werden, in: Franz Greß/Hans Vorländer (Hrsg.), Liberale Demokratie in Europa und den USA. Festschrift für Kurt L. Shell, Frankfurt/M. 1990, S. 122.

  5. Eine umfassende Analyse der Wählerunlust in den USA findet sich bei Frances F. Piven/Richard A. Cloward, Why Americans Don’t Vote, New York 1988.

  6. Zum aktuellen Stand der „ethics“ -Diskussion im Kongreß Patrick Horst, Die Ethikuntersuchungen im 101. Kongreß der USA und ihre Folgen für eine Reform des Wahlkampffinanzierungssystems, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (Z Pari), (1991) 4, S. 639.

  7. Felix Ermacora (Hrsg.), Der Föderalist, Nr. 76, Wien 1951, S. 422; zum Problem des „political trust“ grundlegend Seymour M. Lipset/WiUiam Schneider, The Confidence Gap. Business, Labor, and Government in the Public Mind, New York-London 1983; Karlyn H. Keene/Everett C. Ladd, Government as Villain. Has the Era Ended?, in: Government Executive, January 1988, S. 11.

  8. Vgl. William Schneider, Supply and Demand, in: National

  9. Diese Ansicht äußerten 67 Prozent der Befragten, in: U. S. News & World Report vom 26. August/2. September 1991, 8. 96.

  10. Eine abgewogene Beurteilung der aktuellen Befindlichkeit der Amerikaner findet sich bei Robert J. Samuelson, How the American Dream Unraveled, in: Newsweek vom 2. März 1992, S. 34.

  11. Im Zeichen verstärkter Tendenzen in Richtung auf parlamentarische Fraktionskohäsion, wie sie seit den achtziger Jahren im Kongreß zu beobachten sind, nimmt die Gefahr von „Deadlocks“ in der politischen Entscheidungsmaschinerie ohnehin zu. Zum Abstimmungsverhalten und parteipolitischen Positionen im 102. Kongreß vgl. Chuck Aiston, Bush’s High Public Standing Held Little Sway on Hill, in: Congressional Quarterly Weekly Report vom 28. Dezember 1991, S. 3751; Richard E. Cohen/William Schneider, Partisan Polarization, in: National Journal vom 18. Januar 1992, S. 132.

  12. Die Kernpunkte des Berichts sind aufgeführt im Handelsblatt vom 5. März 1992, S. 1.

  13. Vgl. Paul E. Peterson, The Urban Underclass and the Poverty Paradox, in: Political Science Quarterly, 106 (1991/92) 4, S. 617.

  14. Vgl. William Schneider, Making an Election Issue of Welfare, in: National Journal vom 4. Januar 1992, S. 54.

  15. Daß im Umkreis der „Welfare“ -(und der damit verbundenen „Social Issues“ -) Problematik populistische, mehr noch: unverhüllt extremistische Positionen chancenträchtig verfochten werden können, haben der anhaltende Achtungserfolg des republikanischen Gegenspielers von George Bush, Pat Buchanan, in der Vorwahlserie dieses Jahres, oder die Stimmengewinne des Ku-Klux-Klan-Barden David Duke bei den Gouvemeurswahlen von Louisiana im Herbst 1991 bewiesen.

  16. Zum Verhältnis Bush -101. Kongreß vgl. Congressional Quarterly Weekly Report vom 22. Dezember 1990, S. 4183; zu den Beziehungen zwischen Weißem Haus und dem 102. Kongreß vgl. Congressional Quarterly Weekly Report vom 28. Dezember 1991, S. 3751.

  17. Vgl. Janet Hook, President^ Mastery of Veto Perplexes Hill Democrats, in: Congressional Quarterly Weekly Report vom 27. Juli 1991, 8. 2041.

  18. Vgl. Ed Goeas/Celinda Lake, Battleground 1992, Washington, D. C. 1992.

  19. Vgl. Newsweek vom 30. März 1992, S. 20.

  20. Das Manuskript ist am 30. August 1992 abgeschlossen worden.

  21. Vgl. Peter Lösche, Zerfall und Wiederaufbau. Die amerikanischen Parteien in den achtziger Jahren, in: Hartmut Wasser (Hrsg.), Die Ära Reagan, Stuttgart 1988, S. 185.

  22. Zu den Satzungsänderungen vgl. Congressional Quarterly Weekly Report vom 7. September 1991, S. 2411.

  23. Eine Umfrage der Los Angeles Times vom November 1991 erbrachte, daß acht Prozent der Befragten die Bush-Administration, 22 Prozent den Kongreß als „Schuldigen“ ausmachten (vgl. National Journal vom 21. Dezember 1991, S. 3094). Im Januar 1992 kam eine Umfrage des Times Mirror Center for the People & The Press zum Befund, daß 20 Prozent Präsident Bush und 14 Prozent dem Kongreß die Verantwortung für die Malaise zuschoben (vgl. National Journal vom 1. Februar 1992, S. 296).

  24. Einschlägiges Zahlenmaterial in: The American Enterprise, 3 (1992) 3, S. 101-105.

Weitere Inhalte

Hartmut Wasser, Dr. phil., geb. 1937; seit 1970 Professor für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Weingarten; Lehrbeauftragter für Amerikanistik an der Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. u. Mitautor) Die Ära Reagan, Stuttgart 1988; (Hrsg. u. Bearb.) Thomas Jefferson: Betrachtungen über den Staat Virginia, Zürich 1989; (Hrsg. u. Mitautor) USA. Wirtschaft -Gesellschaft -Politik, Opladen 1991.