Soziale Gerechtigkeit und nationale Selbstbestimmung nehmen einen hohen Stellenwert in der politischen Kultur Norwegens ein. Über die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats besteht ein weitgehender Konsens zwischen den Parteien. In der Frage der Haltung gegenüber Europa und insbesondere zur EG zeigt sich das scheinbare Paradox, daß ein Land, das eines der offensten Wirtschaftssysteme der Welt hat, sich gleichzeitig auf der europäischen Bühne äußerst zurückhaltend verhält. Norwegen hat bis zum Zweiten Weltkrieg eine starke Tradition hinsichtlich der Neutralität, und seine nur kurze Geschichte nationaler Unabhängigkeit ist eine mögliche Erklärung für seine zögernde Haltung gegenüber der Entstehung einer supranationalen Macht in Europa. Norwegen ist das einzige Land, das die Aufforderung, Mitglied der EG zu werden, abgelehnt hat (1972). Selbst in der grundlegend veränderten europäischen und internationalen Situation der neunziger Jahre sind bei Meinungsumfragen die Gegner der EG-Mitgliedschaft den Befürwortern immer noch zahlenmäßig überlegen. Innenpolitisch wird die Arbeitslosigkeit in den neunziger Jahren als das größte Problem betrachtet, während außenpolitisch die Beziehung zur EG und die eventuelle Mitgliedschaft in ihr die Diskussion beherrschen.
I. Entwicklung des Parteiensystems
1. Der Weg in die politische Neuzeit
In der politischen Kultur Skandinaviens nehmen soziale Gleichheit und nationale Selbstbestimmung einen höheren Stellenwert ein als in der politischen Kultur vieler anderer westeuropäischer Nationalstaaten. Unter den skandinavischen Ländern spielen diese Werte wahrscheinlich in Norwegen die größte Rolle. Die weitverbreitete Übereinstimmung mit diesen Werten läßt sich historisch erklären, und sie ist auch eine der Ursachen dafür, daß das Gros der Norweger heutzutage der Idee der europäischen Integration von allen skandinavischen Völkern am skeptischsten gegenübersteht.
Norwegen ist das einzige Land, dem man die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft angeboten und das diese -aufgrund eines Referendums im Jahre 1972 -abgelehnt hat. Noch im Sommer 1992 waren in Norwegen vergleichsweise mehr Wahlberechtigte als in jedem anderen nordischen Land gegen die EG-Mitgliedschaft, und das zu einem Zeitpunkt, wo die Regierungen von Finnland, Schweden, Österreich, der Schweiz und der ehemals kommunistischen Länder in Mittel-und Osteuropa -größtenteils mit starker Unterstützung aus der Bevölkerung -froh wären, der EG beitreten zu können.
In Norwegen ist die Volksmeinung über einen EG-Beitritt gespalten; doch das Bemerkenswerteste im Vergleich zu anderen Ländern ist, daß die Mehrheit der Wähler gegen die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft ist zu einer Zeit, in der die internationale politische Situation weniger konfliktgeladen und grundlegend anders ist als 1972, als die EG kleiner und Europa durch den „Eisernen Vorhang“ geteilt war, und auch anders als 1945, als Norwegen nach einem Krieg und fünf Jahren deutscher Besatzung seine nationale Unabhängigkeit wiedererlangte.
Wie läßt sich diese norwegische Besonderheit im Sinne einer mangelnden Begeisterung für die wirtschaftliche und politische Integration Europas erklären? Das ist eine der Fragen, um die es in diesem Aufsatz gehen wird, in dem die Haupttrends in der politischen, wirtschaftlichen und sozialstaatlichen Entwicklung Norwegens nach dem Zweiten Weltkrieg in Umrissen dargestellt werden sollen.
In Skandinavien gibt es zwei Beispiele für eine erfolgreiche frühe Staatenbildung, nämlich Dänemark und Schweden. Schweden spaltete sich 1523 von der von den Dänen beherrschten Skandinavischen Union ab, während die übrigen drei nordischen Territorien längere Perioden der Abhängigkeit von einem der beiden Staaten erlebten: Island und Norwegen von Dänemark, Finnland von Schweden. Norwegen wurde 1536 für immer zu einer dänischen Provinz erklärt, doch in diesem Fall endete die Ewigkeit 1814. Diese grundlegende Veränderung des norwegischen politischen Systems wurde durch die Napoleonischen Kriege ausgelöst. 1814 verlor Dänemark Norwegen, das sich schon bald in einer Personalunion mit Schweden zusammenschließen mußte. Doch in den wenigen Monaten der Unabhängigkeit wurde eine verfassungsbildende Versammlung einberufen und eine radikaldemokratische Verfassung beschlossen. Das aus einer Kammer bestehende Parlament (Storting) wurde geschaffen und das liberalste Wahlrecht Europas eingeführt Einzigartig für diese Epoche in Europa, räumte die Verfassung der gesamten grundbesitzenden Bauernschaft politische Rechte ein, unabhängig von der Größe ihres Besitzes. Die Reform wurde von einer Beamten-elite ausgearbeitet, die von der britischen politischen Tradition beeinflußt war und sich sehr gut in amerikanischer Verfassungsgeschichte und in den Ideen der Französischen Revolution auskanqte. Da eine eigenständige Aristokratie fehlte, bildeten diese Beamten die staatstragende Elite.
Daß Norwegen so früh bereits demokratische, repräsentative Institutionen entwickeln konnte, geschah teilweise aufgrund der unsicheren internationalen Situation, teilweise, weil es keinen Adel besaß, und teilweise, weil eine kleine Beamtenelite demokratische Institutionen als Schutz gegen Schweden ansah. 1884 erkannte Norwegen als erstes skandinavisches Land das Prinzip des Parla-mentarismus an und führte 1898 als erstes das allgemeine Wahlrecht für Männer ein. Wahrscheinlich förderte die starke Stellung, die die Bauern bereits in der vorindustriellen Epoche hatten, die friedliche Entwicklung zu einer parlamentarischen Demokratie in Norwegen (und in Schweden). Ebenso wichtig war die Tatsache, daß die Übertragung von Land in bäuerlichen Besitz im 18. und 19. Jahrhundert durch staatliche Intervention geschah. „Die Individualisierung der Landwirtschaft“ trug dazu bei, daß sich vor der Industrialisierung und der Abwanderung in die Städte eine positive Beziehung zwischen der Landbevölkerung und dem Staat entwickeln konnte. Die vorindustrielle gesellschaftliche Struktur war verhältnismäßig egalitär, was vermutlich die frühe Entwicklung von politischer Gleichberechtigung und eines Systems demokratischer Repräsentation unterstützte.
Norwegen trat aus der Union mit Schweden aus und erhielt 1905 seine volle staatliche Souveränität. Die Union mit Schweden hat die demokratische Entwicklung im Innern nicht negativ beeinflußt. Nur in der Außenpolitik und der Repräsentation im Ausland mußte Norwegen sich der schwedischen Herrschaft beugen. Dennoch ist in der aktuellen Diskussion über Norwegens Beziehung zu der geplanten „Europäischen Union“ innerhalb der Europäischen Gemeinschaft der Begriff „Union“ immer noch negativ belastet.
2. Die Entwicklung des Parteiensystems
Die Demokratisierung führte zur Bildung von Parteien. Der Aufstieg der unabhängigen Bauern-schicht bildete zu Anfang dieses Jahrhunderts einen der Eckpfeiler der skandinavischen Dreiklassengesellschaft Bauernparteien haben sich fast ausschließlich in Skandinavien entwickelt und damit die konservative Rechte gespalten sowie den ökonomischen Konflikt zwischen den rechten und den linken Kräften vielschichtiger gemacht.
Massenparteien entstanden während der letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, und bereits in den frühen zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts waren die Parteiensysteme von Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden so bemerkenswert ähnlich, daß man häufig von einem skandinavischen Parteiensystem spricht, das im wesentlichen aus fünf Parteien besteht: einer konservativen, einer liberalen, einer Bauern-(seit Mitte der fünfziger Jahre Zentrumspartei), einer sozialdemokratischen und einer kommunistischen Partei Nach Auffassung des bekannten norwegischen Sozialwissenschaftlers und Politologen Stein Rokkan läßt sich die Entstehung eines Parteiensystems zurückführen auf eine Reihe von wirtschaftlichen, sozialen, geographischen und kulturellen Konflikten. Bereits in den zwanziger Jahren hatten sich die Parteien um die Hauptkonfliktlinien der Industriegesellschaft herum gebildet, und in einem Aufsatz aus den sechziger Jahren behaupteten Rokkan und Lipset, daß die Parteisysteme damals erstarrt seien Diese These implizierte, daß die alten Parteien nicht verschwinden würden, wenn neue Konflikte oder Probleme auftauchten, sondern diese in sich aufnehmen würden. Dadurch würde die Entwicklung neuer Parteien behindert, und die alten Parteien überlebten, auch wenn die Konflikte, durch die sie entstanden waren, aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen an Bedeutung verloren hätten.
Aufgrund der Ereignisse der letzten zwei Jahrzehnte muß Rokkans und Lipsets Auffassung vom norwegischen (bzw. skandinavischen) Parteiensystem jedoch revidiert bzw. modifiziert werden. Die wichtigsten Veränderungen (vgl. Tabelle 1) waren der rapide Niedergang der kommunistischen Partei, an deren Stelle eine sozialistische Partei links von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei entstanden ist und sich seit ihrer Gründung 1961 konsolidiert hat. Die liberale Partei scheint sich ebenfalls im Niedergang zu befinden, da sie es bei den Storting-Wahlen von 1985 und 1989 nicht geschafft hat, einen Sitz im Parlament zu erringen. Christliche, bürgerliche Parteien sind in allen skandinavischen Ländern entstanden, in Norwegen ist diese Partei (gemessen an ihrer Regierungsbeteiligung) seit 1965 recht erfolgreich gewesen.
Ein neuer Konflikt, der in den beiden letzten Jahrzehnten zur Entstehung einer neuen politischen Partei geführt hat, betrifft den Umfang des öffentlichen Dienstes und die Höhe der Besteuerung. Die Fortschrittspartei, 1977 umbenannte Nachfolgerin der 1973 gegründeten Anders-Lange-Partei, wendet sich in ihrem Parteiprogramm gegen Steuern und Bürokratie und hat ihre größten Er-folge bei der letzten Wahl (1989) errungen (22 von 165 Abgeordneten).
Das Umweltproblem, das in vielen europäischen Ländern, einschließlich Finnland und Schweden, zur Gründung von grünen Parteien geführt hat, spielt in Norwegen keine Rolle, vielleicht weil Norwegen immer noch ziemlich „grün“ ist und weil die alten Parteien diese neue Herausforderung in ihre Programme einbezogen haben.
3. Regierungen und Parteien seit 1945
Seit den späten zwanziger Jahren ist die beherrschende politische Kraft in der norwegischen Politik die sozialdemokratische Arbeiterpartei. Während der vergangenen 57 Jahre ist die Arbeiterpartei 43 Jahre lang an der Regierung gewesen, seit sie 1935 zum ersten Mal an die Macht kam (abgesehen von einem Zwischenspiel von vier Wochen 1928). Außer in den Jahren 1940-1945, als die Arbeiterpartei eine nationale Koalitionsregierung anführte, hat die Partei immer allein regiert, entweder als Mehrheits-oder als Minderheitspartei im Storting.
In bezug auf Parlament, Regierung und Wähler-verhalten war die politisch stabilste Periode in Norwegen die Zeit von 1945 bis 1960. Es war die Zeit des „Einparteienstaats“: Die Arbeiterpartei besaß eine Mehrheit im Parlament und verfügte über stabile Regierungen. Ihren Höhepunkt erreichte die Arbeiterpartei in den Jahren 1957-1961, als sie ihr höchstes Wahlergebnis erzielte, nämlich 48, 3 Prozent bei der Wahl von 1957.
Im Hinblick auf das Wählerverhalten müssen für die sechziger Jahre zwei wichtige Ereignisse hervorgehoben werden: die Gründung (1961) der Sozialistischen Volkspartei (seit 1975 „Sozialistische Linkspartei“) und die Bildung einer bürgerlichen Vierparteien-Regierungskoalition (Sommer 1963 und 1965-1971). Seit 1971 waren Minderheitsregierungen in Norwegen die Regel. Nur in der Zeit von 1983 bis 1985 konnte sich eine Mehrheitsregierung (aus drei bürgerlichen Parteien) bilden. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die verschiedenen norwegischen Regierungen seit 1945. Der führende norwegische Wahlforscher, Henry Valen, hat die sechziger Jahre als ein Jahrzehnt des Optimismus und des Radikalismus bezeichnet Es war eine Zeit wirtschaftlicher Expansion, steigenden Lebensstandards, wachsender Forderungen und Erwartungen sowie radikaler Studentenproteste. Die siebziger Jahre waren von beginnender Stagnation und drohender Arbeitslosigkeit gekennzeichnet, doch Norwegen war (dank des Nordseeöls) nur am Rande von den Ölkrisen der Jahre 1973 und 1979-1980 betroffen, die den anderen westeuropäischen Ländern zusetzten.
Das Referendum über die EG-Mitgliedschaft 1972 war der härteste politische Kampf, der seit Kriegsende in Norwegen ausgefochten worden ist; er führte zur Spaltung der alten liberalen Partei (Venstre) und zu erbitterten Streitigkeiten in den meisten anderen Parteien. Besonders die Arbeiterpartei wurde durch die EG-Frage stark in Mitleidenschaft gezogen und zahlte ihren Preis bei der Wahl 1973. Ihr Stimmenanteil sank von 46, 5 Prozent (1969) auf 35, 3 Prozent (1973). Aus ihrer Position als Minderheitsregierung konnte sie sich soweit erholen, daß sie 1977 42, 3 Prozent der Stimmen erzielte.
Die achtziger Jahre waren das Jahrzehnt der „konservativen Wende“ Die Konservative Partei (Hpyre) erhöhte ihren Stimmenanteil von 24, 8 Prozent (1977) auf 31, 7 Prozent (1981) und konnte ihre Wählerschaft 1985 mit 30, 4 Prozent fast halten. Die rechtsgerichtete Fortschrittspartei erhielt in diesem Zeitraum jeweils 1, 9, 4, 5 und 3, 7 Prozent, konnte aber 1989 ihren Stimmenanteil auf 13, 0 Prozent erhöhen, im wesentlichen auf Kosten der Konservativen, die nur 22, 2 Prozent erzielten. Doch in den achtziger Jahren erhielten die beiden Rechtsparteien zusammen ungefähr 35 Prozent der Stimmen, während die Konservativen -vor der Gründung der Fortschrittspartei -in der Zeit von Kriegsende bis in die siebziger Jahre nie mehr als 21 Prozent der Stimmen erreichten. Die Arbeiterpartei erhielt 1989 34, 3 Prozent der Stimmen und bildete im Herbst 1990 eine Minderheitsregierung, nachdem eine bürgerliche Minderheits-Koalitionsregierung aus Konservativen, Christlicher Volkspartei und Zentrumspartei an der Frage der Beziehung zur Europäischen Gemeinschaft (entweder durch ein Abkommen zwischen EFTA und EG oder durch Mitgliedschaft in der EG) zerbrochen war. Zur Zeit der Abfassung dieses Artikels (Juli 1992) spielt das EG-Problem eine wichtige Rolle bei Meinungsumfragen. So erhielt die zwar gespaltene, aber dennoch pro-EG eingestellte Arbeiterpartei weniger als 30 Prozent, während die geschlossen anti-EG orientierten Parteien, die Zentrumspartei und die Sozialistische Linkspartei, nach 1945 noch nie so stark waren. Bei Meinungsumfragen entschieden sich jeweils 13 bis 15 Prozent der Befragten für sie.
II. Gesellschaftlicher Wandel
Abbildung 2
Tabelle 2: Regierungen und Regierungsformen in Norwegen seit dem 25. Juni 1945 (in Klammem die jeweilige Regierungszeit in Monaten) 1)
Tabelle 2: Regierungen und Regierungsformen in Norwegen seit dem 25. Juni 1945 (in Klammem die jeweilige Regierungszeit in Monaten) 1)
1. Sozioökonomische Veränderungen in der Nachkriegszeit
Die sozialen Veränderungen, die in den letzen 40 bis 45 Jahren stattgefunden haben, sind nicht auf Norwegen beschränkt, wenngleich Mischung und Zeitpunkt einzelner Elemente politische Wirkungen erzeugt haben mögen, die spezifisch norwegisch sind. Das Zusammenspiel von gesellschaftlichen Kräften („kapitalistische Entwicklung“) und politischem Handeln hat -insbesondere seit den sechziger Jahren -zum stetigen und ziemlich raschen Abbau einer ausgeprägten Klassengesellschaft und den daraus resultierenden Vorlieben für bestimmte Parteien geführt. Norwegen hat seit 1950 jährlich ein reales wirtschaftliches Wachstum erlebt Mit wenigen Ausnahmen stieg das Bruttoinlandsprodukt jährlich um mehr als zwei Prozent. Das Wirtschaftswachstum war besonders hoch in der Zeit von 1966 bis 1978 mit einer jährlichen Zuwachsrate von 4, 1 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf verdoppelte sich in dieser kurzen Zeit und machte Norwegen zu einem der reichsten Länder der Welt. Das stetige und deutliche Wachstum während der gesamten siebziger Jahre ist eindeutig auf die zunehmende Bedeutung der Ölund Gasförderung für die norwegische Wirtschaft zurückzuführen.
Die Gesamtzahl der Beschäftigten stieg während der siebziger Jahre enorm an -um mehr als 30 Prozent. Viele der neu geschaffenen Arbeitsplätze entstanden im Dienstleistungsbereich. Die Zahl der beschäftigten Frauen erhöhte sich in Norwegen viel stärker als in jedem anderen OECD-Land in den siebziger Jahren. Die Arbeitslosenquote blieb während der Nachkriegszeit bis 1982 unter 2 Prozent, stieg dann in den Jahren 1983-1984 auf 3, 5-4 Prozent an, fiel 1985 wieder auf 2, 5 Prozent zurück und ist dann seit den späten achtziger Jahren rapide angestiegen. Im ersten Halbjahr 1992 lag die Arbeitslosenquote bei ungefähr 8 Prozent (einschließlich der Teilnehmer an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen).
Die Nachkriegszeit ist durch ein noch nie dagewesenes wirtschaftliches Wachstum und steigenden Lebensstandard gekennzeichnet. Eine Gruppe, die einen Riesenschritt auf der Einkommensleiter gemacht hat, waren die Bauern, deren real verfügbares Einkommen sich im Jahre 1976/77 um durchschnittlich 50 Prozent erhöhte -dank einer großzügigen Parlamentsentscheidung, das Einkommen der Bauern dem der Industriearbeiter anzugleichen Hinsichtlich der Einkommensverteilung lassen die Zahlen aus den sechziger Jahren eine Tendenz zu größerer Einkommensgleichheit erkennen, wogegen Analysen der nachfolgenden Entwicklung zu dem Schluß kommen, daß es in den siebziger Jahren wenig Anzeichen für eine weitere Angleichung der Einkommen gab Trotzdem liegt die Einkommensverteilung in Norwegen im internationalen Vergleich auf einem ausgesprochen einheitlichen Niveau. Die sogenannte „konservative Wende“ in den achtziger Jahren ging, wie gezeigt werden konnte, weitgehend mit einem soziostrukturellen Wandel einher. Die Wahlentscheidung für die Konservative Partei ist eindeutig mit Indikatoren der Modernisierung verbunden (wie mehr Beschäftigung im Dienstleistungsbereich und relativ höherer Anteil von Leuten mit höherer Bildung), obwohl der größte Zuwachs aus Randbereichen kam, wodurch die Partei in den letzten 20 Jahren zu einer echten „Volkspartei“ geworden ist
Während der achtziger Jahre erlebte Norwegen eine unsicherere wirtschaftliche Entwicklung als in den vorausgegangenen Jahrzehnten, zum Teil aufgrund der Abhängigkeit von der Ölförderung bzw. vom Ölpreis. In den letzten Jahren war die wirtschaftliche Wachstumsrate (Bruttoinlandsprodukt) relativ niedrig: 0, 1 Prozent 1988, 1, 2 Prozent 1989 und 1, 8 Prozent 1990
2. Die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates
Die ersten Friedensjahre nach 1945 waren durch die gemeinsamen Bemühungen geprägt, das vom Krieg zerstörte Land wiederaufzubauen. Der Plan zum Wiederaufbau wurde im Gemeinschaftsprogramm aller politischen Parteien festgelegt. Das Programm betonte die nationale Einheit und Solidarität, ideologische Konflikte zwischen den Parteien wurden in den Hintergrund gestellt. Auf der Grundlage der breiten politischen Unterstützung dieses Programms entstand in Norwegen eine neue Wirtschaftspolitik. Deren Hauptziele waren Vollbeschäftigung, wirtschaftliches Wachstum und Umverteilung.
Alle Parteien stimmten mit diesen Zielen überein, wenn es auch viel Spielraum für unterschiedliche Auslegungen gab. Die Arbeiterpartei (zusammen mit der Gewerkschaftsbewegung) war die treibende Kraft hinter dem Gemeinschaftsprogramm. Bereits nach drei Jahren hatte das Sozialprodukt sein Vorkriegsniveau überschritten, das gleiche galt für den öffentlichen und privaten Konsum. Das unaufhaltsame Wachstum hielt (unerwarteter-weise) während der ganzen fünfziger Jahre an, und allmählich gewannen die Auseinandersetzungen zwischen den Parteien über wirtschaftspolitische Prinzipien an Bedeutung. Dennoch einigten sich die Parteien häufig in der Mitte. Die Arbeiterpartei war reformistisch und zeigte wenig Neigung für die Verstaatlichung der Industrie und nur ein geringes Interesse an der Eigentumsfrage, während die bürgerlichen Parteien regulierende Eingriffe seitens der Regierung als notwendiges politisches Instrument akzeptierten, in den fünfziger Jahren jedoch stärker für den freien Wettbewerb eintraten. Alle Parteien waren sich einig in dem Ziel, den materiellen Lebensstandard zu verbessern.
Zu Beginn der sechziger Jahre entstanden durch Veränderungen in der ökonomischen Struktur neue Probleme wie die Entvölkerung von entlegenen Ortschaften und Wohnungsknappheit in anderen Gebieten. 1945 lebte ungefähr die Hälfte der Bevölkerung in Städten und dichtbesiedelten Gebieten; 1970 waren es (bei gestiegener Einwohnerzahl) bereits zwei Drittel. Sowohl Arbeiterpartei als auch bürgerliche Regierungen stimmten in den sechziger Jahren darin überein, daß Schritte unter-nommen werden müßten, um diesem Trend entgegenzuwirken. Die Sozialgesetzgebung dehnte sich in den fünfziger und noch mehr in den sechziger Jahren auf Bereiche aus, die in der Zeit zwischen den Kriegen kaum vorstellbar gewesen wären. Der Wohlfahrtsstaat konsolidierte sich. Ein allgemeiner Kinder-freibetrag wurde 1946 ohne längere Debatten und einstimmig vom Storting verabschiedet. Alle wichtigen Regelungen zur Einkommenssicherung wurden während der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre für die gesamte Bevölkerung eingeführt: Krankenversicherung 1956, Rentenversicherung 1957 (Bedürftigkeitsnachweis wurde abgeschafft), berufliche Unfallversicherung 1958, Arbeitslosenversicherung 1959. Ein Gesetz zur Invalidenrente wurde 1961 verabschiedet. Die wichtigste soziale Reform der letzten 30 Jahre trat 1966 in Kraft, als ein nationales Sozialversicherungssystem, das eine vom Einkommen abhängige Rente vorsieht, verabschiedet und alle übrigen Regelungen in dieses Gesetz integriert wurden. Wichtige Entwicklungen in den siebziger Jahren waren 1973 die Herabsetzung des Rentenalters auf 67 Jahre (immer noch mit am höchsten in Europa) und 1978 die Einführung einer hundertprozentigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Ausbau und Konsolidierung des Wohlfahrtsstaates sind mit bemerkenswerter politischer Übereinstimmung vonstatten gegangen. So wurde beispielsweise die wichtigste soziale Reform -das nationale Sozialversicherungssystem -durchgeführt, als die Konservativen mit drei anderen bürgerlichen Parteien an der Regierung waren. In den achtziger Jahren rückte die Rolle der Gemeindeverwaltungen im Bereich Sozialarbeit stärker in den Vordergrund. „Dezentralisierung“ ist bei allen Parteien zu einem beliebten Schlagwort geworden. Obwohl es in den achtziger Jahren bei einigen Sozialprogrammen Kürzungen gab, haben die meisten Programme jedoch großzügigere Mittel erhalten, und die öffentlichen Gesamtausgaben für den sozialen Bereich sind weiterhin gestiegen. Der Anteil der sozialen Kosten am Bruttoinlandsprodukt betrug 1950 ungefähr 10 Prozent, 1981 21, 8 Prozent und 1987 26, 4 Prozent Pro Kopf gerechnet sind die sozialen Ausgaben zwischen 1981 und 1987 um real 28 Prozent gestiegen. Trotz einer Menge gegenteiliger rhetorischer Beteuerungen von Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur in den achtziger Jahren sind die öffentlichen Ausgaben für soziale Zwecke weiter gestiegen. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaats (und der „Wohlfahrtskommune“ hat die Gesellschaftsstruktur in Norwegen nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend verändert. Man könnte diese Veränderung mit dem Übergang von einer Agrar-zu einer Industriegesellschaft vergleichen. 1950 hatte Norwegen ungefähr 170000 Rentner (aus Alters-oder Invaliditätsgründen), 1980 betrug diese Zahl 740000 und 1990 847 000 bzw. 20 Prozent der gesamten Bevölkerung.
Die Regierungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg war im allgemeinen pragmatisch und nicht an übergeordneten theoretischen Richtlinien orientiert. Die wirtschaftliche Entwicklung stärkte den Glauben an das Wirtschaftssystem. Historiker sprechen von der Nachkriegszeit als einer Periode der Entradikalisierung, im Vergleich zu der revolutionären Periode zwischen den Kriegen. Diese Auffassung hängt natürlich davon ab, wie man*,, radikal“ und „revolutionär“ definiert. Deshalb kann die Nachkriegszeit auch als eine Phase der Radikalisierung beschrieben werden: Parteien gingen neue Probleme auf undogmatische Weise an und entwickelten neue Einstellungen möglichen Lösungen gegenüber. Die Sozialgesetzgebung wurde auf Bereiche ausgedehnt, die in der „revolutionären“ Periode unvorstellbar gewesen wären.
Zweifellos ist die Arbeiterpartei seit Kriegsende die führende politische Kraft in Norwegen. Doch es läßt sich ebenfalls zeigen, daß ein Konsens in der Sozialpolitik -dem umfassendsten Bereich politischer Arbeit in unserer Zeit -ein herausragendes Kennzeichen norwegischer Nachkriegspolitik gewesen ist. Alle sozialen Reformen sind mit großen parlamentarischen Mehrheiten beschlossen worden, sowohl unter der Herrschaft der Arbeiterpartei als auch unter bürgerlichen Regierungskoalitionen. Bis in die späten achtziger Jahre war die Sozialpolitik kein Konfliktpunkt zwischen den Parteien. Selbst in den letzen Jahren waren die Unterschiede zwischen den Parteien eher ideologischer Art und haben sich nur geringfügig bei sozialpolitischen Entscheidungen bemerkbar gemacht. So unterstützten die Konservativen und die Fortschritts-partei eher private Initiativen und Institutionen.
Zeichen für einen teilweisen Zusammenbruch des breiten Konsenses in der norwegischen Politik hat es bereits Ende der sechziger Jahre gegeben. In der Debatte über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre wurden starke Konflikte zwischen den einzelnen politischen Blöcken sichtbar. Zum ersten Mal wurde die Wachstumspolitik in Frage gestellt, teilweise als Reaktion auf internationale Strömungen. Doch das Wachstum hielt an, dank der starken Position der weiteres Wachstum befürwortenden Parteien (Arbeiterpartei und Konservative) und dank einer neuen Einnahmequelle, nämlich Öl und Gas aus der Nordsee. Doch in den siebziger Jahren herrschte eine unsicherere politische Atmosphäre, was sich auch in der Gründung von zwei neuen Parteien ausdrückt: der Anders Lange’s parti, eine Anti-Steuern-und Anti-Bürokratie-Partei (1977 in Fremskrittspartiet -Fortschrittspartei umbenannt), und der Sosialistisk Venstreparti, eine linksgerichtete Partei. Letztere ging aus der breiten sozialistischen Allianz hervor, die während der Auseinandersetzung um die EG-Mitgliedschaft entstanden war und deren Kern die 1961 gegründete Sozialistische Volkspartei bildete. Seit dem Referendum von 1972 ist das Wählerverhalten unberechenbarer denn je.
III. Außenpolitische Orientierung und die EG-Frage
Es ist paradox, daß Norwegen, das eines der offensten Wirtschaftssysteme der Welt hat und seit den Tagen des Völkerbundes und der Gründung der Vereinten Nationen leidenschaftlich für den Internationalismus eintritt, sich auf der europäischen Bühne äußerst zurückhaltend verhält.
Norwegen und die übrigen skandinavischen Länder haben während der letzten 200 Jahre im allgemeinen versucht, sich aus den Großmachtkonflikten in Europa herauszuhalten. Vor dem letzten Weltkrieg war der Neutralitätsgedanke sehr stark, doch der Krieg erzwang eine Veränderung, weil sich zeigte, daß die Neutralität wenig Schutz bot. Schweden blieb während des Krieges neutral und entschied sich auch danach für die Neutralität, während Dänemark, Island und Norwegen 1949 Mitglieder der NATO wurden und Finnland gezwungen war, einem Freundschaftspakt mit der Sowjetunion beizutreten.
Die NATO-Mitgliedschaft war auf dem linken Flügel der Arbeiterpartei und bei der damals relativ starken kommunistischen Partei umstritten. Die Gründung der Sozialistischen Volkspartei 1961 war ein Ergebnis der Entfremdung der intellektuellen Linken innerhalb der Arbeiterpartei gegenüber der außenpolitischen Linie der Regierung. Die Sozialistische Volkspartei trat für einen „dritten Weg“ unabhängig von den beiden Verteidigungsblöcken in Europa ein. Doch insgesamt fand die NATO-Mitgliedschaft bei allen Bevölkerungsschichten allgemein Zustimmung; diese nahm im Laufe der Zeit immer mehr zu Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme im Osten und des Warschauer Pakts scheint die NATO allmählich eine mehr politische Rolle zu spielen, und die Frage der NATO-Mitgliedschaft ist kein strittiger Punkt mehr. Im Gegenteil, die Zustimmung zur NATO ist inzwischen so verbreitet, daß der Vorstand der Sozialistischen Linkspartei (der früheren Sozialistischen Volkspartei) im Frühjahr 1992 erklärte, daß die Partei sich nicht für den Austritt Norwegens aus dem Bündnis einsetze (obwohl dieser Austritt im Parteiprogramm von 1987 festgeschrieben ist).
Der Versuch Schwedens, ein skandinavisches Verteidigungsbündnis zu schaffen, scheiterte kurz vor der Gründung der NATO. Vielleicht ist es zum Teil aufdieses Scheitern einer nordischen Zusammenarbeit zurückzuführen, daß man sich in anderen Bereichen verstärkt um eine solche Zusammenarbeit bemühte. Der Nordische Rat -bestehend aus Parlamentsabgeordneten und Ministem -wurde 1952 ins Leben gerufen. Das ist ein Beispiel für inter-, nicht supranationale Zusammenarbeit. Bereits 1954 einigte man sich auf einen gemeinsamen nordischen Arbeitsmarkt, 1955 wurde ein nordisches Abkommen zum Sozialrecht verabschiedet und 1957 eine gemeinsame Paßzone errichtet. Die nordische Zusammenarbeit hat sich mit der Zeit auf viele politische Bereiche ausgedehnt, aber ein gemeinsamer Binnenmarkt ist nie geschaffen worden, obwohl ernsthafte Versuche in diese Richtung unternommen worden sind. Als Indikator für Norwegens Abneigung gegenüber neuen Formen internationaler Integration muß daran erinnert werden, daß es, während das dänische und das schwedische Parlament die Schaffung des Nordischen Rates 1952 einstimmig unterstützten, im norwegischen Parlament eine relativ starke Opposition (39 Abgeordnete dagegen, 76 dafür) gab, die jedoch nach dessen Gründung verschwand.
Doch während die Opposition gegen die NATO (allmählich) und gegen den Nordischen Rat (schnell) nachließ, hat die Opposition gegen eine wirtschaftliche und politische Integration in die Europäische (Wirtschafts-) Gemeinschaft kontinuierlich angehalten. Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen hat sich bei Meinungsumfragen immer ergeben, daß die Mehrheit der Befragten gegen die Mitgliedschaft Norwegens in der EG ist. Norwegen zeichnet sich dadurch aus, daß es das bisher einzige Land ist, das -nämlich 1972 -ein Beitrittsangebot abgelehnt hat. Die negative Einstellung gegenüber der Mitgliedschaft ist unerschütterlich, abgesehen von ein paar Meinungsumfragen in den Jahren 1990 und 1991, bei denen die Zahl der Befürworter die der Gegner überstieg. Doch nachdem Dänemark im Juni 1992 in einem Referendum gegen den Maastrichter Vertrag gestimmt hatte, ergab die jüngste Umfrage Anfang Juli 1992, daß 36 Prozent der Befragten gegen die Mitgliedschaft sind, 29 Prozent dafür und 34 Prozent haben keine Meinung Das Erscheinungsbild ist erstaunlich stabil geblieben, trotz der grundlegenden politischen Veränderungen in Europa seit 1972.
Norwegen und die übrigen skandinavischen Länder wurden nicht aufgefordert, sich an den frühen Versuchen einer westeuropäischen Integration zu beteiligen (woraus 1954 die Westeuropäische Union entstand) oder an den Verhandlungen, die zur Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl führten, der Vorgängerin der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Norwegens Selbstverständnis als peripherer Anrainerstaat des europäischen Festlands entspricht der kontinentaleuropäischen Vorstellung von Norwegen. In den fünfziger Jahren wurde das Atlantische Bündnis als wichtigstes Element der norwegischen Außenpolitik angesehen, und im großen und ganzen wollte Norwegen sich nicht stärker an das Festland binden, als Großbritannien dazu bereit war Als Großbritannien es 1957 ablehnte, der EWG beizutreten, war die EG-Mitgliedschaft auch für Norwegen indiskutabel geworden. Als Großbritannien kurz daraufdie Initiative zur Schaffung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) ergriff, trat Norwegen dieser sofort bei.
Norwegen schloß sich 1961 auch Großbritanniens Bewerbung um die EWG-Mitgliedschaft an, doch es kam nie zu einer entscheidenden innenpolitischen Auseinandersetzung über diese Frage, da de Gaulle gegen die britische Mitgliedschaft sein Veto einlegte und damit für Norwegen die Sache „impraktikabel“ machte. Die Frage tauchte erneut nach de Gaulles Rücktritt 1968 auf, und Norwegen bewarb sich zusammen mit Großbritannien sowie Irland und Dänemark um die Mitgliedschaft. Die erste Erweiterungsphase der EWG endete am 1. Januar 1973, als drei der vier Bewerberstaaten Mitglied wurden. Nach der längsten, lebhaftesten, emotionsgeladensten und hitzigsten politischen Auseinandersetzung, die das Land seit 1945 erlebt hatte, blieb Norwegen der EG fern. Niemals vor oder nach 1972 ist Norwegen stärker politisiert gewesen. Trotz einer massiven Kampagne der regierenden Arbeiterpartei und der größten Oppositionspartei -der Konservativen -, wichtiger Vertreter der Wirtschaft, der Gewerkschaftsführung und von 80 bis 90 Prozent aller Tageszeitungen scheiterte die Mitgliedschaft im Referendum vom 24. Z 25. September 1972 mit dem knappen Ergebnis von 53, 5 zu 46, 5 Prozent. Referenda sind in der norwegischen Verfassung eigentlich nicht vorgesehen, doch das Storting kann beschließen, ein beratendes Referendum durchzuführen, und dieses war das fünfte dieser Art (das erste fand 1905 statt).
Im Storting hatte es eine große Mehrheit für die Mitgliedschaft gegeben (eine Dreiviertelmehrheit aller Abgeordneten wäre notwendig gewesen), aber niemand stellte den „Rat“ der Wähler in Frage. Es wäre politischer Selbstmord gewesen, nach dem Referendum im Storting die EWG-Mitgliedschaft zu beantragen. Was ist 1972 passiert und warum ist die EG-Frage nach 20 Jahren immer noch ein „heißes Eisen“ in der norwegischen Politik?
Das „Nein zur EWG“ wird im wesentlichen erklärt als ein Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie, sowohl im geographischen als auch im soziokulturellen Sinne. Die Haltung gegenüber der Europäischen Gemeinschaft war regional sehr unterschiedlich. So gab es in Oslo, Bergen und ein paar anderen Städten und städtischen Gemeinden eine Mehrheit für die Mitgliedschaft, doch in allen anderen Gemeinden eine Mehrheit dagegen. In der nördlichen Provinz Nordland, wo die Fischerei der wichtigste Wirtschaftszweig ist, betrug der Anteil der Neinstimmen 72, 5 Prozent
In der Interessenkoalition gegen die Mitgliedschaft fanden sich viele merkwürdige „Bettgenossen“ zusammen. So waren die Linken gegen eine kapitalistische Ordnung, die eine sozialistische Entwick lung verhindern würde; viele machten sich Sorgen wegen der großen politischen und administrativen Entfernung von Brüssel; eine nicht unerhebliche Zahl von Menschen befürchtete die Auslöschung der nationalen Kultur und Identität; Bauern und Fischer sahen ihre wirtschaftlichen Interessen bedroht; und einige -besonders an der Südwest-Küste des Landes -fürchteten den Druck der (supranationalen) katholischen Kirche. Bei Kundgebungen lautete der wichtigste Slogan „Nein zum Ausverkauf Norwegens“; der zu erwartende Verlust nationaler Souveränität war vielleicht insgesamt der entscheidende Faktor für den Ausgang des Referendums. Eine Erklärung des Referendumsergebnisses ist, daß Norwegen nur eine relativ kurze Phase der Unabhängigkeit erlebt hat -seit 1905 und dann seit 1945. Doch der historisch bedingte Neutralitätsgedanke könnte ebenfalls eine Rolle gespielt haben.
Die EWG-Frage führte zur größten Umwälzung im norwegischen Parteiensystem (und in der Gesellschaft) seit den zwanziger Jahren. Die Liberale Partei spaltete sich und war anschließend so unbedeutend, daß sie seit der Wahl von 1985 nicht mehr im Parlament vertreten ist (der kürzlich erfolgte Zusammenschluß der beiden Teile hat der Partei insgesamt kaum mehr Stimmen eingebracht). Die Christliche Volkspartei und die Arbeiterpartei waren in der EWG-Frage ebenfalls gespalten. Die beiden größten Parteien, beides „Ja“ -Parteien, nämlich die Arbeiterpartei und die Konservativen, erlitten bei den Stortingwahlen 1973 dramatische Verluste, während das Sozialistische Wählerbündnis (Vorläufer der Sozialistischen Linkspartei) sehr erfolgreich abschnitt. Die von der Arbeiterpartei gebildete Regierung trat nach dem Referendum von 1972 zurück. Eine bürgerliche Koalitionsregierung mit einer kleinen parlamentarischen Basis aus Christlicher Volkspartei, Zentrumspartei und dem Rest der Liberalen Partei einigte sich mit der Europäischen Gemeinschaft auf ein Handelsabkommen. Dieses wird bis zu der mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Parlamentarischen Zustimmung im Herbst 1992 zu einem Abkommen zwischen der EG und den EFTA-Ländem über die Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zum 1. Januar 1993 Norwegens Verhältnis zur EG bestimmen.
Nach 1972 war die EG-Mitgliedschaft und die europäische Frage fünfzehn Jahre lang in der norwegischen Politik tabu. Abgesehen von einem Ausschußbericht innerhalb der Konservativen Partei im Jahre 1983 wagte sich keine Partei, kein Parlamentarier und keine Regierung an dieses Thema heran, bis die von der Arbeiterpartei gebildete Re gierung im Frühjahr 1987 dem Storting ein Weißbuch über Norwegens Beziehung zu Europa vorlegte, ohne jedoch die Frage der EG-Mitgliedschaft zu erwähnen. Die aus dem harten politischen Kampf vor dem Referendum gelernten Lektionen und der Beginn des Öl-Booms -zu einem Zeitpunkt, an dem das übrige Europa unter der Rezession litt -führten dazu, daß die siebziger Jahre „zu einer Art selbstbewußten Isolationismus in Norwegen“ wurden.
Das dramatische Sinken der Ölpreise auf dem Weltmarkt in den Jahren 1985-1986 und das EG-Abkommen über den Europäischen Binnenmarkt im Jahre 1986 ermöglichten es der Regierung und dem Parlament, Bilanz über die Beziehungen zum übrigen Europa zu ziehen. Doch noch immer überwog auf der politischen Bühne die Vorsicht gegenüber Europa und der EG-Mitgliedschaft. Einzig die Konservative Partei sprach sich vor der letzten Stortingwahl 1989 entschieden für eine Mitgliedschaft in der EG aus, alle übrigen Parteien hingegen weigerten sich, über dieses Thema auch nur zu diskutieren. Im Laufe des Wahlkampfs erklärte Premierministerin Gro Harlem Brundtland, daß in der Legislaturperiode 1989-1993 keine Entscheidung über die EG-Mitgliedschaft gefällt werden würde
Doch die Ereignisse zwingen die Regierung, sich nun doch mit dieser Frage zu beschäftigen, obwohl die Arbeiterpartei bisher noch zögert, sie anzugehen. Die bürgerliche Dreiparteien-Minderheitsregierung, die nach der Wahl von 1989 unter dem Konservativen Jan P. Syse als Premierminister gebildet wurde, löste sich nach einem Jahr auf -in erster Linie, weil die Zentrumspartei kalte Füße bekam hinsichtlich der Verhandlungen über ein Abkommen zwischen EG und EFTA über die Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraums und aufgrund erheblicher Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Koalition hinsichtlich der Frage, sich erneut um die EG-Mitgliedschaft zu bewerben. Die gegenwärtige, von der Arbeiterpartei geführte Minderheitsregierung wird aller Wahrscheinlichkeit nach Ende 1992 einen Antrag auf Mitgliedschaft Norwegens in der EG stellen, und zwar nach ihrem Parteitag im November, von dem eine positive Entscheidung in dieser Sache erwartet wird.
IV. Die gegenwärtige norwegische Politik
Die derzeitige politische Diskussion dreht sich in erster Linie um die hohe und weiter steigende Arbeitslosenquote sowie um die Frage der europäischen Integration. Wegen der EG-Frage ist die Bildung einer starken bürgerlichen Regierung in absehbarer Zukunft ausgeschlossen. Minderheitsregierungen sind während der letzten zwanzig Jahre die Regel, und die einzig realistische Alternative zur gegenwärtig regierenden Arbeiterpartei wäre eine bürgerliche Regierung mit einer noch kleineren parlamentarischen Basis. Die Popularität der Regierung -und von Politikern im allgemeinen -ist relativ gering, weil weder bürgerliche noch Arbeiterpartei-Regierungen es geschafft haben, den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu bremsen, die als das größte innenpolitische Problem angesehen wird. Da derzeit keine echte Regierungsalternative existiert, kann die Arbeiterpartei sogar eine Anzahl kleinerer Niederlagen im Parlament einstecken, ohne daß eine andere Partei oder Koalition an die Regierung drängt.
Bei der entscheidenden Frage, der Haltung gegenüber der europäischen Integration, sind die Konservativen die stärksten Befürworter einer EG-Mitgliedschaft. Auch die Fortschrittspartei ist dafür, und die Arbeiterpartei wird erwartungsgemäß im November 1992 eine positive Entscheidung treffen. Alle übrigen im Parlament vertretenen Parteien -Zentrumspartei, Christliche Volkspartei und Sozialistische Linkspartei -sind gegen die Mitgliedschaft; von diesen drei ist nur die Christliche Volkspartei offiziell für das EWR-Abkommen, wenngleich einige ihrer Abgeordneten im Parlament eventuell dagegen stimmen werden.
Die innenpolitisch brisantesten Themen sind die steigenden Kosten für den Wohlfahrtsstaat und die Arbeitslosigkeit. Es herrscht ein weitgehender politischer Konsens, was das Erkennen der Probleme angeht. Soweit über Lösungen diskutiert wird, besteht große überparteiliche Übereinstimmung (z. B. bei der Steuer-und der Rentenreform) -wenngleich die traditionellen Rechts-Links-Unterschiede hinsichtlich der Höhe der Besteuerung, des Anwachsens des öffentlichen Sektors und der Privatisierung weiterhin bestehen und für unterschiedliche Nuancen in den Politikkonzepten sorgen.
Stein Kuhnle, geb. 1947; Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bergen; 1987 Gastprofessor am Lehrstuhl für Soziologie, Universität Mannheim. Veröffentlichungen u. a.: Patterns of Social and Political Mobilization: A Historical Analysis of the Nordic Countries, London 1975; (zus. mit Liv Solheim) Velferdsstaten -vekst og omstilling, Oslo 19912; (Hrsg. zus. mit Per Seile) Government and Voluntary Organizations: A Relational Perspective, Aldershot 1992; zahlreiche Beiträge in Büchern und Fachzeitschriften.
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