I. Dänemark und Europa
Der dänische Sommer des Jahres 1992 wird in die europäische Geschichte eingehen: Das Referendum vom 2. Juni, bei dem eine (knappe) Mehrheit der Dänen gegen die Maastrichter Verträge stimmte, und der (verdiente) Sieg der untrainierten dänischen „Urlaubsmannschaft“ über den Weltmeister Deutschland bei der-Fußball-Europa-meisterschaft in Göteborg haben dem nationalen Selbstbewußtsein gutgetan. Sie haben aber andererseits den europäischen Nachbarn, insbesondere ihren Politikern, gezeigt, daß europäische Politik mit allen europäischen Staaten, Gesellschaften und Strömungen zu rechnen hat -wenn sie die europäische Dimension ernst meint.
Daß Dänemark so unversehens und unverhofft auf die Titelseiten der internationalen Presse kam, daß eine kleine Nation, die ihre politische Bedeutung nicht sonderlich groß einschätzt, die „große“ Politik (und die Sportverbände) in eine Krise stürzte und die europäische Rationalität so verblüffend in Frage stellen konnte, sagt dabei mehr über die Ignoranz der anderen aus als über das Verhalten der Dänen selber. Die dänische Gesellschaft war schon immer von einem Anti-Europa-Virus befallen, die Zustimmung zu Europa, insbesondere zur Europäischen Union, war immer lau -außerhalb Skandinaviens hat dies nur kaum jemand zur Kenntnis genommen. Europäische Politik wird 35 Jahre nach Gründung der EWG immer noch als Fortsetzung der jeweiligen nationalen Politik betrieben, bei der etwa die gesellschaftlichen Vorbehalte der anderen weder in den europäischen Sonntagsreden noch in der realen Politik von Paris, Bonn oder London verkommen. Das dänische Beispiel sollte den europäischen Politikern eigentlich gezeigt haben, daß man europäische Politik nur im Konsens mit allen Nationen und allen Bürgern machen kann -die Politik sollte sich sonst andere Bürger suchen.
Das Votum gegen die Ratifizierung der Maastrichter Verträge war nicht Ausdruck antieuropäischer Aggressionen, sondern des Zweifels an der Logik der nationalen und der europäischen politischen Eliten und Institutionen; der europäische Logos scheint dem dänischen Wähler irgendwo abhanden gekommen zu sein, bzw. hat sich breiten Kreisen nicht gezeigt. Das Abstimmungsverhalten vom Juni wie auch der nationale Freudentaumel über den Fußballsieg ließen jene spezifischen Elemente der politischen Kultur Dänemarks deutlich werden, die mit den Begriffen Antiheroismus, nicht-aggressiver Nationalstolz und Humor zu beschreiben sind
Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, daß gerade Dänemark nach mehr als einem Jahrzehnt harter Austerity-Politik, die insbesondere nach der Regierungsübemahme durch die bürgerlichen Parteien seit 1982 durchgeführt wurde, inzwischen zu den wenigen EG-Staaten gehört, die in finanz-und wirtschaftspolitischer Hinsicht die Bedingungen für den Beitritt zur Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion tatsächlich auch erfüllen
II. Das EG-Referendum vom 2. Juni 1992
1. Die innenpolitische Lage vor dem Referendum Sowohl für die konservativ-liberale Minderheitsregierung und ihre aus den drei kleinen Parteien der Mitte bestehende parlamentarische Basis als auch für die sozialdemokratisch-sozialistische Opposition schien die politische Tagesordnung für 1992 festzustehen
Für die Regierung galt es, die weitgehend erfolgreiche Sanierung der Staatsfinanzen fortzusetzen, die positive Entwicklung der wirtschaftlichen Eckdaten zu stabilisieren, die gravierendste Hypothek der siebziger und achtziger Jahre -die Arbeitslosenquote lag 1992 bei 10, Prozent -durch beschäftigungs-und arbeitsmarktpolitische Reformen abzubauen und kurz vor den Parlamentsferien ein drittes Mal das Einverständnis der Wähler zu der von einer breiten parlamentarischen Mehrheit, von Wirtschaftsverbänden und den Gewerkschaften gestützten Europa-Politik einzuholen. Man wollte wiederholen, was 1972 und 1986 gelungen war
Interessanter und wesentlicher für die politische Beurteilung des dänischen Sommers 1992 und die zukünftige dänische Politik (insbesondere die Europapolitik) war die Politik, besser die Nicht-Politik der sozialdemokratischen Opposition. Für sie galt es -dies war der Ausgangspunkt -, den Herbst und das Votum einer vom Parlament eingesetzten Untersuchungskommission über die politische Verantwortung amtierender und ehemaliger Minister abzuwarten und gegebenenfalls die Regierung zu stürzen: 1987 waren gesetzwidrig Familienzusammenführungen tamilischer Flüchtlinge gestoppt worden.
Seit 1924 hatte keine Partei im dänischen Parlament die absolute Mehrheit errungen; ein Regierungswechsel kann daher nur mit Hilfe einer oder mehrerer der kleineren Parteien der Mitte erfolgen. Nun war es das Handicap der Sozialdemokraten zu Beginn der neunziger Jahre, daß sie einen befähigten, aber bei den übrigen Parteien nicht gelittenen Vorsitzenden hatten, der zudem auch in den eigenen Reihen nicht unumstritten war; er kam daher als Alternative zum konservativen Regierungschef nicht in Frage. Auf einem außerordentlichen Parteitag im April 1992 wurde der Oppositionsführer und Parteivorsitzende Sven Auken gestürzt, sein Nachfolger wurde Poul Nyrup Rasmussen -zu einem Zeitpunkt, als die proeuropäische Kampagne der Partei (im Gegensatz zu 1972 und 1986) anlaufen sollte. Statt alle Parteiaktivitäten auf den Umschwung zu lenken -1972 und 1986 hatte die Partei gegen den wirtschaftlichen und politischen Integrationsprozeß agitiert -, ruhten in diesen vier Wochen des erbitterten Machtkampfes die innenpolitische und europäische Auseinandersetzung im Lande.
Nicht einmal das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 31. März, eine 1987 zwischen Regierung und Opposition einvernehmlich beschlossene Arbeitsmarktabgabe zur Entlastung des Exports verstoße gegen den Artikel 33, 6 der EG-Mehrwertsteuer-Direktive, löste eine ernsthafte politische Kontroverse aus: Es ging immerhin um runde 36 Mrd. Kronen, die der dänische Fiskus in fünf Jahren -trotz Warnungen der EG-Kommission -eingenommen hatte. Bereits in einem früheren Fall -der EuGH hatte den dänischen Staat wegen wettbewerbswidriger Klauseln („Buy-Danish“) bei der Auftragsvergabe für den Brückenbau über den Großen Belt verurteilt -konnte nicht ganz geklärt werden, inwieweit die gerichtlichen Auseinandersetzungen auf unklare Empfehlungen der Ministerialbürokratie oder auf eine bewußte Risikobereitschaft der politisch Verantwortlichen bei der Interpretation geltender EG-Bestimmungen zurückzuführen waren. Die Bedeutung solcher Fälle kann und soll nicht überbewertet werden, denn sie ist im einzelnen nicht belegbar. Aber die Möglichkeit, daß sie zur Verunsicherung der Wähler sowohl in bezug auf die Professionalität der Entscheidungsträger als auch auf das Ausmaß der Kompetenzen der Brüsseler Institutionen gegenüber den Verfassungsorganen der einzelnen Mitgliedstaaten geführt haben, läßt sich nicht von der Hand weisen.
Im unmittelbaren Vorfeld des Referendums mögen noch andere Unwägbarkeiten und Ungeschicklichkeiten eine Rolle gespielt haben -zum Beispiel widersprüchliche Äußerungen über die Folgen der Ablehnung der Maastrichter Verträge für den Arbeitsmarkt, Gerüchte über institutioneile Reformen der EG-Organe, nach denen etwa der Vorsitz im Ministerrat künftig nur noch den großen Mitgliedstaaten zugestanden werden sollte, und Hinweise von Verfassungsrechtlem auf Unstimmigkeiten in der offiziellen Auslegung der verfassungsrechtlichen Konsequenzen einer Ratifizierung der Verträge 5. All dies trug zu jener Verunsicherung der Wähler bei, die sich in dem knappen Abstimmungsergebnis widerspiegelt: 50, 7 Prozent Nein-Stimmen und 47, 3 Prozent Ja-Stimmen bei einer Beteiligung von 82, 3 Prozent.
Das dänische Nein zu den Maastrichter Verträgen war keineswegs das Ergebnis mangelnden Wissens oder gar mangelnder Information bei den Wählern: Rund eine halbe Million Exemplare des Vertragstextes wurde von den Postämtern und Bibliotheken des Landes verteilt; Presse und elektronische Medien informierten so ausführlich, wie selten; Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften stellten „Info-Pakete“ für interessierte Bürger zusammen; an alle Haushalte wurde eine von den Parteien des Parlaments zusammengestellte Bro-schüre verschickt, in der die Argumente für und wider dargelegt wurden.
2. Die Gründe für das Wählervotum
Die Gründe für die Ablehnung der Maastrichter Verträge lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Kampagne für die Annahme der Verträge beschränkte sich auf Sachthemen, die die Wähler offensichtlich nicht davon überzeugen konnten, daß der Beitritt zur Wirtschafts-und Währungsunion bzw. zur Politischen Union einen Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte rechtfertige. Insbesondere die Konservative Volkspartei des Ministerpräsidenten führte die bereits eingereichten Beitrittsgesuche Schwedens und Finnlands als Argument für eine künftige gemeinsame nordische „Achse“ in der Gemeinschaft an; auch die sozialdemokratische Partei argumentierte mit dem gemeinsamen nordischen wohlfahrtsstaatlichen Modell, durch das die Arbeitnehmerinteressen innerhalb der EG (Sozial-Charta, Umweltschutz-bestimmungen, soziale Minimumstandards) besonderes Gewicht bekämen
Offensichtlich war Stein des Anstoßes für den Wähler der Begriff der „Politischen Union“, über deren Sinn und Notwendigkeit sich die Befürworter nur sehr allgemein und wenig überzeugend äußerten. Der Widerstand gegen eine engere politische Integration ist nicht neu; Meinungsumfragen haben kontinuierlich eine Mehrheit dagegen nachgewiesen, noch 75 Prozent waren es im Frühjahr 1991 oder gar 80 Prozent kurz vor dem Referendum des Jahres 1986 Zwei Forschungsgruppen sind unabhängig voneinander bei der. Frage nach den Gründen für die Ablehnung der Politischen Union zu ähnlichen Ergebnissen gekommen: Rund 36 Prozent der Nein-Stimmen wurden mit der Furcht vor dem Verlust an nationaler Souveränität begründet, weitere zehn Prozent empfanden die Informationen zu den Verträgen als schlecht oder verwirrend, die restlichen rund 54 Prozent der Nein-Stimmen verteilten sich auf nicht weniger als 15 spezifische Gründe. Hervorzuheben wäre bei dieser Gruppe der Nein-Sager, daß nur ein Prozent explizit die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung als Ablehnungsgrund nannte; erstaunlich niedrig war im Vergleich zu 1972 mit nur zwei Prozent der Anteil derer, die als Begründung Furcht vor einer deutschen Dominanz angaben -hier herrschte eine of-fensichtliche Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung.
In gewisser Weise sind die Argumente der Befürworter der Maastrichter Verträge aussagekräftiger, wenn nach der primären Skepsis vor der Politischen Union gefragt wird: Die größte Gruppe, d. h. 32 Prozent, nahm eine eher defensive Haltung ein, indem sie die Furcht vor den Konsequenzen eines Nein (nämlich der Isolierung Dänemarks) als Hauptgrund für ihre Zustimmung angaben. Weitere elf Prozent nannten rein formale („logische Entwicklung“) oder pragmatische Gründe („Wirtschaft“). Ganze acht Prozent hielten die Union für „etwas Gutes“. Der Rest verteilt sich auf zwölf weitere konkrete Punkte. Wie wenig Zugkraft beispielsweise das zukünftige gemeinsame nordische Element in der EG besaß, zeigt sich daran, daß nur ein Prozent der Befürworter dieses Argument nannte. Es kann gemutmaßt werden, daß auch im übrigen Europa der Normalwähler für Europa ähnlich defensiv argumentieren dürfte wie der dänische; auf der anderen Seite liefert die europäische Wirklichkeit den Gegnern der Integration genügend Munition gegen die Gemeinschaft.
3. Neue und alte europapolitische Konfliktdimensionen
Generell hat die früher belegbare Beurteilung der EG-Frage aufgrund der eigenen Einstufung auf der Links-Rechts-Skala an Bedeutung verloren, die Wählerwanderung (Änderung des Wählerverhaltens) hat sich innerhalb des bürgerlichen Lagers abgespielt. Während zum Beispiel 1972 84 Prozent der konservativen Wähler den EG-Beitritt befürworteten und 1986 sogar 93 Prozent für die Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte waren, gab nur ein vergleichsweise geringer Anteil von 85 Prozent seine Zustimmung zu den Maastrichter Verträgen Die Wähler der liberalen Partei Venstre, die traditionell die Interessen der Landwirtschaft vertritt, stimmten zu 91 Prozent für den EG-Beitritt, zu 94 Prozent für die Einheitliche Akte und zu 88 Prozent für Maastricht. Sehr viel stärker waren die Bewegungen innerhalb der Parteien der Mitte: Die vergleichbaren Zahlen für die kleine Christliche Volkspartei, deren Wähler hauptsächlich in ländlichen Gebieten angesiedelt sind, belegen dies (1972: 75 Prozent Ja-Stimmen, 1986: 93 Prozent, 1992: 36 Prozent) Es kann davon ausgegangen werden, daß der Anstieg der Nein-Stimmen, der insbesondere in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war, auf Unzufriedenheit mit der konkreten EG-Agrar-und Fischereipolitik zurückzuführen ist.
Für die dänischen Sozialdemokraten war der 2. Juni eine Art innerpolitisches Waterloo: Geschlossen hatte die Parteiführung die Annahme der Verträge empfohlen, doch 60 Prozent ihrer Wähler lehnten die Verträge ab. Diese haushohe Niederlage wurde innenpolitisch als entscheidender Autoritätsverlust gegenüber den Wählern ausgelegt. Bei Betrachtung der historischen Zusammenhänge ergibt sich allerdings ein etwas anderes Bild: Über die Frage des EG-Beitritts 1972 war die Partei (und Teile der Gewerkschaftsbewegung) tief zerstritten. 1986 empfahl die Parteiführung ihren Wählern die Ablehnung der Einheitlichen Akte; diese Strategie spiegelt sich in den Ergebnissen ihres Wählerklientels: 1972 lag der Anteil der Ja-Stimmen bei 54 Prozent und 1986 bei 24 Prozent. Das Ergebnis von 1992 verdeutlicht, daß das Umschwenken der Parteiführung in der EG-Frage am Ende der achtziger Jahre sich noch nicht auf die Wähler ausgewirkt hat. Inwieweit das gesamte Erscheinungsbild der Partei nach der in der Parteigeschichte einmaligen Form des Führungswechsels eher Skepsis gegenüber den Argumenten der Führung zur Folge gehabt hat, läßt sich nicht nachweisen. Eine innenpolitische Konsequenz hat die Abstimmung allerdings auch aus der Sicht sozialdemokratischer Kommentatoren: Das „sozialdemokratische“ Abstimmungsergebnis hat die bürgerliche Regierung gestärkt; das Interesse an einem Regierungswechsel dürfte vorläufig gering sein
Die „Sieger“ beim Referendum von 1992, d. h. die Parteien und Bürgerinitiativen, die die Kampagnen gegen die Verträge getragen haben, sind in ihrer Struktur heterogen. Sie reichen von der rechtspopulistischen, ausländerfeindlichen Fortschrittspartei über parteipolitisch unabhängige Adhoc-Initiativen („Europa 92“) und die alte, eher linksorientierte „Volksbewegung gegen die EG“ -sie ist mit vier Sitzen im Europäischen Parlament vertreten -bis hin zur linken Sozialistischen Fortschrittspartei. Sieht man von der gezielt nationalistischen Kampagne der Fortschrittspartei gegen „Sozialtourismus“ aus anderen EG-Staaten ab, so läßt sich die Argumentation der Vertragsgegner insofern auf einen gemeinsamen Nenner bringen, als es ihnen gelungen ist, eine Ablehnung der Verträge mit der Befürwortung zur Beibehaltung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung -sozusa-gen als die „sichere Lösung“ -zu identifizieren. Hinzu kam die Annahme der Mehrheit der Wähler -die durch Meinungsumfragen erhärtet wird -, daß die Verträge neu verhandelt werden könnten. Äußerungen des Ministerpräsidenten über eine mögliche „spätere neue Chance“ taten ein übriges
4. Konsequenzen des Abstimmungsergebnisses
Mit der erwähnten Ausnahme unterschied sich die Kampagne der EG-Gegner insofern grundlegend von denen der Jahre 1972 und 1986, als 1992 die Frage der Mitgliedschaft nicht zur Debatte stand, sondern es wurde die Rolle Dänemarks innerhalb der Europäischen Gemeinschaft debattiert. Diese Position entspricht auch Umfrageergebnissen, nach denen sich 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung für einen Verbleib in der EG ausgesprochen haben Das dänische Nein zu den Maastrichter Verträgen ist nicht Ergebnis neonationalistischer Aufwallungen. Es ist vielmehr eine Absage an zweckrationale Nutzen-Analysen auf Kosten nationaler Selbstbestimmung. Aufgrund einer (im internationalen Vergleich) extremen Homogenität in sprachlicher, ethnischer und religiöser Hinsicht, die historisch gesehen mit dem Verlust an territorialer Ausdehnung innerhalb Nordeuropas ursächlich zusammenhängt, erscheint offenbar der Mehrheit der Wähler die formale Einbindung in supra-nationale Entscheidungsstrukturen als die unattraktivere Lösung. Das weitere Ratifizierungsverfahren in den übrigen Mitgliedstaaten und damit einhergehende Verhandlungen mit den EG-Partnem über den zukünftigen Status Dänemarks in der EG werden darüber entscheiden, ob diese Position überdacht werden muß. In bezug auf den künftigen Status Dänemarks in Europa bieten sich nach Ansicht dänischer Beobachter vier Möglichkeiten an: 1. Der Austritt Dänemarks aus der EG bzw. die Herabstufung auf das Einflußniveau der Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR), der u. a. Schweden, Norwegen und Finnland umfaßt. Es würde sich insofern um eine Herabstufung handeln, als die EWR-Staaten an zentralen Entscheidungsprozessen und Wirtschaftsbereichen (Landwirtschaft, Fischerei) des Europäischen Binnenmarktes nicht teilhaben werden. 2. Ein neues Referendum über die Maastrichter Verträge, das zu einer endgültigen Zustimmung oder zur Ablehnung der EG-Mitgliedschaft führen muß; diese Variante setzt nach dem -wenn auch knappen -positiven Ausgang des Referendums in Frankreich vom 20. September 1992 noch die Ratifizierung der Verträge durch Großbritannien (beide Häuser des Parlamentes) voraus; es geht ferner von der Annahme aus, daß alle übrigen elf Mitgliedstaaten binnen Jahresfrist den zwölften Mitgliedstaat vor vollendete Tatsachen stellen werden. 3. Eine zeitlich begrenzte, sogenannte Optingout-Klausel, die -Großbritannien hat ähnliche Bestimmungen durchgesetzt -einen dänischen Verzicht auf die Teilnahme an der außen-und verteidigungspolitischen sowie an der Wirtschaftsund Währungsunion bis zum Abschluß der Beitrittsverhandlungen mit Finnland, Schweden und Österreich ermöglichte. Damit wäre eine neue Ausgangssituation für ein neuerliches dänisches Referendum etwa 1995 geschaffen. 4. Schließlich das Modell des Europa in zwei Geschwindigkeiten, d. h. eine Fortführung der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit auf der Basis der Römischen Verträge bzw. eine Aufteilung der Mitgliedstaaten in zwei oder mehrere Gruppen, die in unterschiedlicher Intensität an der Zusammenarbeit beteiligt wären
Zwar gilt vorläufig die dritte als die realistischste Möglichkeit; vor der Fertigstellung eines soge-nannten „Weißbuches“ über die juristischen und politischen Folgen der Wählerentscheidung vom 2. Juni sind Annahmen hinsichtlich einer Lösung der vom dänischen Wähler provozierten europäischen Krise allerdings ins Reich der Spekulation verwiesen.
III. Wirtschaft und Soziales
Ruft man sich die wirtschaftliche und soziale Situation Dänemarks in den achtziger Jahren in Erinnerung so bestand wenig Anlaß zu Optimismus. Insofern ist die eigentliche „dänische“ Sensation der frühen neunziger Jahre die relative Genesung der Ökonomie. Noch Ende der siebziger Jahre prophezeite der dänische Finanzminister dem hoch-verschuldeten, inflationsgeplagten und krisenge-schüttelten Dänemark eine Zukunft, die unweigerlich in den wirtschaftlichen Abgrund führte; zur gleichen Zeit verglich eine norwegische Tageszeitung die wirtschaftliche Lage des südlichen Nachbarn mit einer Fahrt in die Hölle, aber „in der ersten Klasse“. Seit Anfang der neunziger Jahre erfreut sich der hochindustrialisierte und -technisierte Wohlfahrtsstaat Dänemark eines guten Rufes als Investitionsstandort. Der Regierungswechsel 1982, mit dem eine sozialdemokratische durch eine bürgerliche Minderheitsregierung abgelöst wurde, schuf die politischen Voraussetzungen für ein besseres Investitionsklima; die internationalen Konjunkturen erwiesen sich -insbesondere nach den osteuropäischen Umwälzungen -als zusätzlicher Motor für den wirtschaftlichen Aufschwung.
Dänemark hat insgesamt 7133 Industriebetriebe, in denen 19, 8 Prozent der Erwerbsbevölkerung beschäftigt sind. Da nur 81 Betriebe mehr als 500 Beschäftigte, jedoch 4239 Betriebe zwischen zehn und 50 Personen beschäftigen, fiele nach internationalem Maßstab das Gros unter die Rubrik „Kleinbetriebe“ Es gibt daher auch keine industriellen Ballungszentren, sondern die industrielle Siedlungsstruktur, wie sie sich in den sechziger Jahren entwickelte, rankt sich um die Bahnlinien und die alten Handelsstädte an den Küsten. Die dänische Industrie, die heute überwiegend in Jütland angesiedelt ist -inwieweit die künftige Brückenverbindung nach Schweden den bisherigen Zug westwärts umkehren kann, ist noch ungewiß -, exportiert 60 Prozent aller Erzeugnisse, davon 55 Prozent in die EG (1991), 19, 7Prozent in die nordischen Staaten, 4, 6 Prozent in die USA und 20, 5 Prozent in andere Staaten. Der mit Abstand größte Handelspartner Dänemarks ist seit 1977 die Bundesrepublik Deutschland (davor nahm Großbritannien diesen Platz ein); vom deutschen Einigungsprozeß hat die dänische Industrie in starkem Maße profitiert, so stieg der Gesamtexport von 1989 auf 1990 um 7, 4 Mrd. Kronen oder 21 Prozent
Der Importbedarf des Agrarsektors ist vergleichsweise gering, der der Industrie sehr hoch (das Land hat keine eigenen Rohstoffe, importiert daher so gut wie alle Produkte für die industrielle Verarbeitung); Dänemark ist deshalb sehr stark von den internationalen Konjunkturen abhängig. Dem Import kommt so eine große Bedeutung für die Zahlungsbilanz des Landes zu. Dreh-und An gelpunkt der öffentlichen politischen Debatten ist weniger die übergeordnete Frage nach den wirtschaftlichen Gesamtstrukturen als die nach den monatlich veröffentlichten Daten der Zahlungsbilanz. Nach 27 Jahren des chronischen Defizits wurden seit Ende 1990 erstmals wieder schwarze Zahlen geschrieben (1989: — 10, 2 Mrd. Kronen, 1990: + 9, 7 Mrd., 1991: + 8, 4 Mrd., 1992: + 9, 5Mrd.) Dementsprechend fiel die Netto-Auslandsverschuldung von 37, 1 Prozent (1989) auf 34, 4 Prozent (1990)
Derzeit befindet sich die dänische Wirtschaft in einem durch Forschung und Produktinnovation bestimmten Prozeß des Strukturwandels, bei dem die großen Betriebe den Vorreiter machen, die kleinen und mittleren (die Zuliefererindustrie) folgen, bei der Produktivitätssteigerung mit den großen allerdings noch nicht mithalten können. Die Ertragslage des überwiegenden Teils der Industrie-betriebe wird demzufolge von der Fähigkeit abhängen, mittelfristig eine Position als Zulieferer für ausländische Produzenten zu erlangen, z. B. im Rahmen des EG-Binnenmarktes
Der Wirtschaftliche Sachverständigenrat veröffentlichte im Mai 1992 sein Gutachten, in dem eine Wachstumsrate von knapp zwei Prozent für 1992, 2, 5 Prozent 1993 und knapp drei Prozent 1994 prognostiziert wird. Die Arbeitslosigkeit (Anfang 1992: 310000) wird danach bis 1994 auf 250000 sinken. Zudem empfiehlt der Rat arbeitsmarkt-politische Maßnahmen im Sinne einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, d. h. eine Reform der Arbeitsvermittlung, der Beratung und der Umschulung bzw.des Anlemens von Arbeitslosen. Im internationalen Vergleich wird ein relativ hoher Anteil des Bruttosozialproduktes für passive Maßnahmen (z. B. Arbeitslosengeld und Vorruhestandsregelungen) verwendet (= 0, 49 Prozent, Deutschland: 0, 24Prozent), verglichen mit den aktiven Maßnahmen (0, 13 Prozent; Deutschland: 0, 18 Prozent) Im Frühsommer wurde dementsprechend u. a. ein Gesetz zur Eindämmung der Jugendarbeitslosigkeit verabschiedet, eine Reform der Finanzierung der Arbeitslosengelder und der öffentlichen Arbeitsvermittlung sowie andere Maßnahmen initiiert oder durchgeführt Die Realisierung dieser Maßnahmen hängt allerdings weniger von den großen Interessenorganisationen ab, als vielmehr vom Ausgang koalitionsintemer Auseinandersetzungen über die künftige Rolle der öffentlichen Hand, aber auch von den taktischen Erwägungen der Opposition.
Gemessen am Bruttosozialprodukt ist der Steuer-druck in Dänemark mit 48, 2 Prozent (1990) einer der höchsten unter den OECD-Staaten Er ist sehr viel höher als z. B. in der Bundesrepublik, aber dafür sind die monatlichen Sozialbeiträge niedrig: 1, 2 Prozent des Bruttosozialprodukts gegenüber 14 Prozent in der Bundesrepublik. Die dänischen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen werden mithin über hohe Einkommenssteuersätze finanziert.
IV. Parteien, Parlament und Politik
1. Die Parteien und der Systemwandel Nach der These von Rokkan und Lipset spiegeln die modernen westeuropäischen Parteiensysteme im wesentlichen die gesellschaftlich prägenden Konfliktstrukturen der zwanziger Jahre wider. Die neuere dänische Parteienforschung hat indessen nachgewiesen, daß die bis in die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts dominierenden Konfliktstrukturen (Stadt vs. Land, Arbeitgeber vs. Arbeitnehmer, Selbsthilfe vs. Staatsinterventionismus) sich schon um die Jahrhundertwende herauskristallisiert hatten. Die lange währende innenpolitische Stabilität ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß sich im Zuge der Entwicklung vom Zweiparteiensystem (1879-1889) zum Vierparteiensystem (1900-1910) die durch den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Modemisierungsprozeß entstandenen Interessengegensätze nicht nur frühzeitig bei den Wählern, sondern auch auf der parlamentarischen Ebene institutionalisieren ließen Trotz der Wählerrevolte von 1973 (im Umfeld der EG-Auseinandersetzungen zogen statt fünf elf Parteien ins Parlament) gibt es demnach ein gewisses Maß an Beständigkeit tradierter Verhaltensmuster.
Folgt man z. B.der These des Parteienforschers Elklit, derzufolge die vier alten Parteien aufgrund ihrer eingeübten Interaktionsmuster als Subsystem innerhalb des gesamten heutigen Vielparteiensystems verstanden werden können, muß zum einen nach den soziostrukturellen Gründen für die abnehmende Attraktivität dieser Parteien (von insgesamt 97 Prozent der Wählerstimmen zwischen 1920 und 1930 auf ca. 68 Prozent zwischen 1980 und 1990) gefragt werden und zum anderen nach den Ursachen der nur schwach entwickelten Bindung der Wähler der neuen Parteien an die Partei-organisationen. Von daher stellt sich die Frage -dies ist für Dänemark deutlich abzulesen, gilt in ähnlicher Weise aber auch in anderen europäischen Ländern ob die modernen Parteien überhaupt noch in der Lage sind, Funktionen der politischen Sozialisation wahrzunehmen; waren 1948 rund 31 Prozent aller Wähler Mitglied einer Partei, so waren es im Jahre 1990 nur noch durchschnittlich ca.sechs Prozent In Dänemark scheint sich eine Entwicklung anzubahnen, im Zuge derer die traditionellen Massenparteien von den „Rahmen-parteien“ abgelöst werden, einem Parteientypus, der sich fast ausschließlich auf die parlamentarische Arbeit und die Organisierung politischer Wahlen konzentriert
Aufgrund des hohen Organisationsgrades in anderen, u. a. beruflichen Organisationen, scheiden Motive wie Passivität oder „Rückzug in die Privatsphäre“ als Erklärung für den sinkenden parteipolitischen Organisationsgrad aus. Vielmehr sehen sich die Parteien einem Wettbewerb durch die seit Anfang der siebziger Jahre entstandenen „Gras-wurzel-Bewegungen“ ausgesetzt, an deren Aktivitäten sich immerhin 57 Prozent der dänischen Bevölkerung irgendwann einmal beteiligt haben. Hervorgehoben werden muß auch, daß es sich hierbei nicht um ein politisches Randgruppenphänomen handelt, sondern um eine parteiübergreifende Problematik, die auf defizitäre Erscheinungen im Prozeß der politischen Willensbildung hindeutet -immerhin rechnen sich 30 Prozent der Aktivisten zum bürgerlichen Spektrum Diese neuen sozialen Bewegungen haben einen weitaus stärkeren Mobilisierungseffekt als die alten und neuen Parteien. Da sich die Themenbereiche Energieversorgung, Umweltschutz, Frauenpolitik und Aspekte der Sicherheitspolitik nur bedingt in das traditionelle Konfliktmuster einordnen lassen, gleichwohl aber seit etwa 25 Jahren zur Agenda der öffentlichen Debatte gehören, haben nicht die Parteien, sondern die Graswurzel-Organisationen die Meinungsführerschaft erobern können. Dies umfaßt auch die dänische Spezialität der „AntiEG-Bewegung“, die immerhin im Straßburger Europa-Parlament vertreten ist. In bezug auf das Parteiensystem hat diese Entwicklung letztlich dazu geführt, daß die Parteien ihre Funktion als „breite Sammlungsbewegungen“ verloren haben
Ein dänischer Politikwissenschaftler faßt die schwierige Lage der heutigen Parteien wie folgt zusammen; „Die Tendenz in Richtung Überalterung der Parteimitglieder ist eindeutig erkennbar. Zum Schluß sterben sie aus, und die Parteien haben ihren neuen Wählern nichts... zu bieten. Für jüngere Wähler ist es viel eher eine Selbstverständlichkeit, eine Unterschriftensammlung oder eine Demonstration zu initiieren, als mit dem Vorsitzenden eines Ortsvereins oder einem Mitglied des Folketings zu reden.“ 2. Das moderne Wählerverhalten Bis zum Ende der sechziger Jahre vertraten drei der vier alten Parteien klar definierbare soziale Gruppen: Als Partei der Arbeiter und Angestellten der unteren Gehaltsgruppen kam die Sozialdemokratie auf rund 39 Prozent der Stimmen. Die liberale Partei Venstre vertrat die Interessen der Bauern und der ländlichen Bevölkerung bzw. von rund 25 Prozent der Wähler. Die Konservative Volkspartei war die Partei der städtischen Mittel-schicht, der Beamten und Selbständigen mit einem durchschnittlichen Stimmenanteil (1910-1970) von 18 Prozent. Im Gegensatz dazu ist es in bezug auf die Radikalliberale Partei nicht möglich, die soziostrukturelle Basis so eindeutig festzulegen; ihre Klientel lag bei rund zehn Prozent der Wählerstimmen und setzte sich aus Kleinbauern und städtischer Mittelschicht zusammen. Die Nettowählerwanderungen bewegten sich zwischen 1945 und 1971 um die neun Prozent. Anfang der siebziger Jahre änderte sich dies radikal: Im Jahr 1973 war ihr Stimmenanteil auf 29 Prozent gestiegen, seit 1975 liegt er durchschnittlich bei 13 Prozent
Galten Wahlen in den fünfziger Jahren noch als eine Art „Volkszählung unter den Parteianhängem“ bzw. wurden Parteiführer wie Erik Eriksen und Poul Sdrensen noch als „Häuptlinge“ oder „Parteibesitzer“ bezeichnet, so hat sich dieses Bild seither grundlegend geändert Von Wahl zu Wahl waren sowohl alte als auch neue Parteien zunehmend großen Schwankungen ihrer Wählerzahlen unterworfen.
Die drastischen Auf-und Abbewegungen aller Parteien bei den letzten Parlamentswahlen 1975-1990 sind Anzeichen für die in der Wahlforschung konstatierte Abschwächung althergebrachter und die Entstehung neuer, mehrdimensionaler Konfliktstrukturen Die generell abnehmende Bedeutung der Zugehörigkeit der Wähler zu einer bestimmten sozialen Schicht, die seit dem Ende der sechziger Jahre als Trend feststellbar ist, hängt ursächlich mit dem Strukturwandel Dänemarks von einer Agrar-in eine Industrie-und Dienstleistungsgesellschaft zusammen. Diese Entwicklung setzt sich kontinuierlich fort. Falsifiziert wurden durch das dänische Wählerverhalten die Ergebnisse der älteren, amerikanischen Wahlforschung: Der floating voter ist nicht der schlecht Ausgebildete, Desinteressierte -im Gegenteil, je höher die Schulausbildung, desto stärker der Trend zur kurzfristigen, vom jeweils aktuellen Wahlkampfthema bestimmten Entscheidung.
Die Fragmentarisierung des dänischen Parteiensystems, seit Anfang der siebziger Jahre manifest, ist weniger durch veränderte Grundeinstellungen der Wähler als durch den Wettbewerb miteinander verwandter Parteien um die Aktualisierung sekundärer ideologischer Dimensionen (Mißtrauen, öffentliche Verschwendung, individuelle Moral, Ausländerfeindlichkeit) verursacht worden. Diese Faktoren haben vor dem Hintergrund des Wandels der soziodemographischen Merkmale in der Wählerschaft an Relevanz gewonnen. 3. Parlament und Gesellschaft In dem Maße, in dem das Wählerverhalten zunehmend von der Fähigkeit der Parteien zur aktuellen Problemformulierung und Problemlösung bestimmt wird, verlieren Parteiprogramme als Leitfäden für die Wähler an Bedeutung. Zwar besitzen diejenigen Untersuchungsergebnisse nach wie vor Gültigkeit, nach denen sich die Wähler von ihrer Selbsteinschätzung her durchaus klar innerhalb eines klassischen Rechts-Links-Schemas plazieren, denn die unterschiedlichen Wertvorstellungen entsprechen den programmatischen Trennungslinien zwischen den Parteien. Die erwähnte abnehmende Bedeutung von class voting bewirkt aber, daß die Neigung, eine den eigenen Wertvorstellungen nahestehende Partei zu wählen, zunehmend von Ad-hoc-Entscheidungen zugunsten der Partei konterkariert wird, die der Liste der subjektiv empfundenen politischen Prioritäten am ehesten gerecht wird Es ist daher auch kein Zufall, daß Parteien dann ihre besten Wahlergebnisse erzielten, wenn sie mit populistischen Mitteln (bis hin zur Forderung nach besserem Wetter und der Wiedereinführung der Minimode!) den Versuch unternahmen, Distanz zu programmatischen Grundsätzen ihrer Partei zu gewinnen, und gleichzeitig -den common sense der Wähler einfordernd -für konkrete Maßnahmen warben. Es gibt in der Vergangenheit viele Belege dafür, daß die Parteien ihre größten Stimmengewinne erringen konnten durch eine Mischung aus „Entpolitisierung“ der eigenen Partei und dem Werben für konkrete politische Strategien.
Zur Erklärung für dieses Verhalten sowohl der Wähler als auch der Parteien muß auf einen zentralen Begriff der dänischen politischen Kultur verwiesen werden, den der „Mitte“. Bis 1973 bestand diese Mitte aus zwei kleinen Parteien (der Radikal-liberalen Partei und dem Gerechtigkeitsverband), zwischen 1973 und 1979 aus vier Parteien (hinzu kamen die Zentrums-Demokraten, eine populistische Abspaltung von der Sozialdemokratie, und die Christliche Volkspartei) und seit 1979 (nachdem der Gerechtigkeitsverband nicht mehr im Parlament vertreten ist) aus drei Parteien. Die partiell sozialliberale und partiell sozialkonservative programmatische Ausrichtung dieser Parteien ermöglichte eine Zusammenarbeit sowohl mit dem linken als auch mit dem rechten Teil des Parteien-spektrums.
Bezeichnenderweise haben große Parteien wie die Sozialdemokratie oder die Konservative Volkspartei in Krisenzeiten ihren jeweiligen eigenen Standort zu den Parteien der Mitte als Bezugspunkt genommen und sich entweder als „links von der Mitte“ oder „rechts von der Mitte“ bezeichnet. Dies geschah mit gutem Grund, denn seit der ersten sozialdemokratischen Minderheitsregierung Stauning 1924 sind die Parteien der Mitte der Schlüssel zur Regierungsmacht. Die seither existierende „Zusammenarbeit über die Mitte hinweg“ hatte zur Folge, daß ideologische und soziale Konflikte eingedämmt wurden, denn in den dreißiger Jahren blieben extreme linke und rechte Parteien Randerscheinungen; ebenso deutlich ist aber die Diskrepanz zwischen Programmatik und Politik der großen Parteien geblieben.
Der pragmatische Konsens -vor dem Hintergrund einer Tradition der Ideologie-Resistenz -ist zum tragenden Prinzip der dänischen Politik geworden, ohne daß in der parlamentarischen Praxis die inhaltlichen Unterschiede zwischen den Parteien zu übersehen wären.
V. Politischer Wandel und politisches Vertrauen
Die Bildung der ersten konservativ geführten Koalitionsregierung unter Poul Schlüter im September 1982 war eine politische Sensation. Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert trat die Konservative Volkspartei aus dem Schatten der übrigen bürgerlichen Parteien heraus. Bis dahin war sie lediglich als Juniorpartner an zwei Koalitionsregierungen (1950-1953 und 1968-1971) beteiligt gewesen.
Politische Kommentatoren hielten die Koalition 1982 für eine kurzfristige Erscheinung, die bestehen bliebe bis zur Regeneration der durch zahlreiche parlamentarische Kompromißlösungen verschlissenen größten Partei des Landes, der Sozialdemokratie; diese hatte von 1975 bis 1982 zeitweise unter elf Parlamentsparteien ihre Mehrheiten aushandeln müssen. Nach allgemeiner Einschätzung besaß die Sozialdemokratie das „Erstgeburtsrecht“ auf die Regierungsmacht -erstens, weil sie seit 1924 als größte Partei die meisten Regierungen gestellt hatte, und zweitens, weil sie die moderne wohlfahrtsstaatliche Politik nach skandinavischem Muster vorangetrieben hatte.
Im Dezember 1990 nahm eine fünfte Minderheitskoalition (weiterhin unter konservativer Führung) trotz erheblicher Stimmenverluste bei den vorangegangenen Wahlen ihre Amtsgeschäfte auf. Dies ließ die Interpretation zu, daß die Konservativen es in den vergangenen Jahren geschafft hatten, der Sozialdemokratie den Rang als „die eigentliche Regierungspartei“ streitig zu machen -bzw. positiv formuliert: Sie hatten die Regierungstauglichkeit der früher unter sich zerstrittenen bürgerlichen Parteien bewiesen.
Von einem grundlegenden Wandel des politischen Klimas im Sinne einer Abkehr von wohlfahrtsstaatlicher Politik kann keine Rede sein. Ebenso-wenig gilt das für die parlamentarisch-politischen Rahmenbedingungen, die nach wie vor durch das System der seit der Vorkriegszeit dominierenden Form der Minderheitsregierungen gekennzeichnet sind. Weder die Vierer-Koalitionen 1982-1988, noch die darauf folgenden Dreier-und Vierer-Koalitionen verfügten bzw. verfügen über eine parlamentarische Mehrheit; sie waren und sind darauf angewiesen, nach Verhandlungen mit ihrer aus den Parteien der Mitte und der Fortschrittspartei bestehenden parlamentarischen Basis oder mit den sozialdemokratisch-sozialistischen Oppositionsparteien Kompromißlösungen zu finden. Grundsätzlich bleibt Dänemark ein Beispiel für ein Vielparteiensystem, das über parteiübergreifende Absprachen und informelle Koalitionen durch ein Zweiblocksystem gekennzeichnet ist: einen sozialdemokratisch-sozialistischen und einen bürgerlichen Block. Das Stärkeverhältnis zwischen den Blöcken ändert sich von Wahl zu Wahl nur geringfügig, dafür aber erheblich innerhalb der Blöcke.
Die Frage, die sich angesichts eines jahrzentelangen Minderheitsparlamentarismus und der programmatischen und institutionellen Schwäche der politischen Parteien stellt, ist nicht, ob die parlamentarische Demokratie in Dänemark allen demokratietheoretischen Ansprüchen genügt, sondern inwieweit der exzessive Minderheitsparlamentarismus des letzten Jahrzehnts nicht Folgen für die Einstellungen der Wähler zu den Gewählten hat. Die Ergebnisse einer neuen Untersuchung zu diesem Thema sind eindeutig: „Es sind die gesellschaftlichen Probleme -und die Fähigkeit der Politiker, damit fertig zu werden -, die... entscheidend“ sind. Ausschlaggebend für das Vertrauen in bzw. das Mißtrauen gegen die politische Elite ist das Ausmaß an Fähigkeiten, die diese bei der Lösung klar definierter Probleme an den Tag legt. Es spricht deshalb einiges dafür, daß der momentane Zustand der dänischen Politik und parlamentarischen Demokratie nicht die günstigste Ausgangsposition für einen Dialog zwischen Wählern und Gewählten ist.