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Auf dem Weg zur stabilen gesamtdeutschen Demokratie? Soziologische Betrachtungen zum Prozeß der deutschen Einheit | APuZ 41/1992 | bpb.de

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APuZ 41/1992 Artikel 1 Die DDR einst -und jetzt? Die „Dritte Republik“: Wandel durch Integration? Lernhemmnisse und Lernprozesse in der „alten“ Bundesrepublik Die Autobiographie als Erfindung von Wahrheit. Beispiele literarischer Selbstdarstellung nach dem Ende der DDR Auf dem Weg zur stabilen gesamtdeutschen Demokratie? Soziologische Betrachtungen zum Prozeß der deutschen Einheit

Auf dem Weg zur stabilen gesamtdeutschen Demokratie? Soziologische Betrachtungen zum Prozeß der deutschen Einheit

Peter Ph. Möhler

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg von einer instabilen zu einer vergleichsweise stabilen demokratischen Gesellschaft. Die DDR machte in dieser Zeit eine andere, eine autoritäre und totalitäre Entwicklung durch. Die hier aufgeworfene Frage gilt den Chancen und Bedingungen einer nunmehr gesamtdeutschen stabilen Demokratie. Auf dem Weg dorthin müssen, das zeigen erste Untersuchungen, eine Reihe von Konflikten bearbeitet oder zumindest stabilisiert werden, um so geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Dazu gehört auch die Angleichung der Lebenslagen in den beiden Regionen Deutschlands. Die zwei zentralen gesellschaftlichen Probleme werden dabei die Synchronisation von Teilkulturen und die zeitliche Anordnung der Problemlösungen sein. Aus der Sicht des Jahres 1992 zeigen sich zwar massive Probleme, aber sie erscheinen lösbar oder zumindest stabilisierbar, vorausgesetzt, der Gesellschaft bleibt genügend Zeit dafür.

I. Vorbemerkungen

Die deutsche Einheit hat eine der Grundfragen der Soziologie wieder in den Vordergrund gerückt: Wie sind stabile Gesellschaften möglich und weiter, wie sind stabile demokratische Gesellschaften möglich? Die empirische vergleichende Sozialforschung entwickelte in Beantwortung dieser Fragen nach dem Zweiten Weltkrieg gewisse Standards, die erfüllt sein mußten, wenn eine Gesellschaft als stabile Demokratie bezeichnet werden sollte

Stark vereinfacht gesagt, sind danach für eine stabile Demokratie aktive, selbständig entscheidende, an der Politik interessierte Bürger ebenso wichtig wie Institutionen, die demokratisches Handeln ermöglichen.

Für empirische Vergleiche dienten die Vereinigten Staaten und Großbritannien als Referenzgesellschaften. Die Standards konnten überprüft werden, und es ließ sich zum Beispiel nachzeichnen, wie sich die Bundesrepublik Deutschland über dreißig Jahre hinweg von einer eher instabilen Demokratie zu einer recht stabilen demokratischen Gesellschaft entwickelte.

Für die DDR lagen praktisch keine Daten vor, die Aussagen über das Demokratieverständnis der Bürger erlaubten, offensichtlich war jedoch das Fehlen von Organisationen und Institutionen, die Bürgern demokratisches Handeln ermöglicht hätten. Andererseits gab es nur wenig Hinweise auf echte Instabilitäten der DDR als eine der Anker-gesellschaften des Ostblocks, die erst in sich zusammenbrach, als Polen, Ungarn und vor allem die Sowjetunion als Hegemonialmacht in die Krise gerieten.

Lange Zeit sah es deshalb so aus, als seien die DDR und die Bundesrepublik zwei stabile Gesell­ schäften, die ihre jeweils unterschiedliche Entwicklung innerhalb der Blockwelten des Ostens und Westens nahmen. Die deutsche Einheit am 3. Oktober 1990 bedeutete die Verbindung einer stabilen westlichen Demokratie mit einer Region von 16 Millionen Einwohnern, die im Augenblick des Übergangs immer noch den Eindruck erweckte, als handele es sich um eine zwar totalitäre, aber stabile Gesellschaft.

Daß die Vereinigung zweier gegensätzlicher Wirtschafts-und Gesellschaftssysteme nicht ohne Sprünge und Risse vonstatten gehen kann, dürfte selbstverständlich sein. Es stellt sich jedoch die Frage, ob und wo diese eine solche Größe annehmen, daß daraus Zerreißproben für die Gesellschaft werden, Rückfälle in autoritäre Zeiten und ein Abbau demokratischer Kultur folgen. Zwei Jahre sind selbstverständlich ein zu kurzer Zeitraum, um schon Abschließendes über den Prozeß des Zusammenschlusses beider deutscher Staaten sagen zu können. Es ist jedoch möglich, auf Rißstellen sowohl im Sozialgefüge als auch in der politischen Kultur zu deuten. Im folgenden werden sowohl Risse untersucht, über die wir alle Tage hören und lesen, wie z. B.den wachsenden Fremdenhaß, als auch solche, die etwas außerhalb des Interesses liegen, wie die Probleme eines ungleichen Arbeitsrechts in den neuen und alten Teilen Deutschlands.

Die Verbindung beider deutscher Staaten wirft neben der Frage nach einer stabilen demokratischen Gesellschaft das ganz praktische Problem der Zusammenfügung oder Synchronisation ungleicher sozialer Systeme auf. Dabei wird die Zeit zum doppelten Problem: Zum ersten können nicht einmal die wenigen, im folgenden zu nennenden Probleme sofort und gleichzeitig gelöst werden. Die Gesellschaft benötigt Zeit, um sie nacheinander bearbeiten zu können. Die Politik steht vor der schwierigen Aufgabe, Prioritäten setzen, d. h., die dringende Lösung bestimmter Probleme verschieben zu müssen, was zu politischen Konflikten führen kann. Zum andern zeigen sich die Unterschiede in den politischen Kulturen und anderen gesellschaftlichen Bereichen auch als zeitversetzte Phänomene. Zum Beispiel könnte man die eher staatsorientierte Haltung der Mehrheit der Bürger in den neuen Bundesländern mit der Situation in Westdeutschland um 1960 vergleichen. Heute ist die Mehrheit der Menschen in den alten Bundesländern für eine aktive Teilhabe der einzelnen Bürger an der Macht.

Eine Frage der praktischen Politik ist sicher, an welchem der beiden Systeme die Synchronisation auszurichten sein wird. Bei den politischen Einstellungen der Bürger mag die Dominanz noch eindeutig bei den alten Bundesländern liegen, wie das aber zum Beispiel bei der Frage des Autoritätsanspruches (Autoritarismus) innerhalb der Verwaltungen sein wird, ist heute noch offen. Im folgenden werden eine Reihe von möglichen Problemkonstellationen unter den Gesichtspunkten einer stabilen Demokratie und der Frage der Zeit, die für die Stabilisierung bzw. Lösung von Konflikten nötig sein wird, untersucht. Zwischen die soziologischen Betrachtungen werden Episoden alltäglichen Lebens aus dem Jahr 1989 eingeblendet, damit der Bezug zur real existierenden Wirklichkeit nicht allzusehr hinter den theoretischen Überlegungen verloren geht.

Erste Episode An einem diesigen Tag im Herbst 1989 bin ich -zum letzten Mal von West nach Ost -auf dem Weg zu einer internationalen Konferenz in -nennen wir es Aue nahe der tschechischen Grenze. In dieser Woche wollen Soziologen aus beiden Teilen Europas über Methodenprobleme sprechen. In eben dieser Woche werden Züge mit Flüchtlingen aus der Prager Botschaft über Dresden in die Bundesrepublik Deutschland fahren. Aue, ein kleiner, abgeschiedener Ferienort im Erzgebirge, wird beherrscht vom Tagungsheim der Akademie der Wissenschaften. Großzügig und modern ist es, aber man schläft in Doppelzimmern, und das Radio steht auf Bayern III.

II. Zur Struktur-Qualitäts-Differenz zwischen alten und neuen Bundesländern

Hautnah sind jedem die vier Wände, die Wohnung, deswegen beginnen die ost-westlichen Betrachtungen mit diesem Thema, aber auch, weil sich hier wohl auf längere Zeit zwei unterschiedliche Lebenswelten gegenüberstehen werden.

Im Westen herrscht Wohnungsnot durch exorbitant hohe Mieten und Nobelsanierungen bei gleichzeitig niedrigen Renditen im normalen Wohnungsbau, die diesen nicht als gute Geldanlage erscheinen lassen. Im Osten gibt es eine große Anzahl nicht mehr bewohnbarer Wohnungen, einen ganze Stadt-und Landbezirke umfassenden maroden Baubestand. Eine der wenigen offiziellen Statistiken zur Wohnungssituation in Ost und West verschleiert den dramatischen qualitativen Unterschied eher, als daß sie ihn erhellt: Für 1987 sind sowohl für die DDR als auch für die Bundesrepublik 4 Einwohner pro Wohneinheit errechnet worden 2. Anders sieht die Statistik aus, wenn man die Qualität der Wohnungen berücksichtigt. So wurden 1987 noch für 30 Prozent der Wohnungen in der DDR Außentoiletten angegeben, während Vergleichszahlen für die Bundesrepublik bei etwa fünf Prozent liegen. Die Autoren des Datenreport 1992 bemerken dazu: „Im Vergleich zu den alten Bundesländern besteht im Gebiet der ehemaligen DDR in der Ausstattung der Wohnungen ein Rückstand von zwei Jahrzehnten. Dabei gibt es starke regionale Unterschiede. So ist z. B. im Land Sachsen der Anteil schlecht ausgestatteter Wohnungen überdurchschnittlich hoch, während in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern die Wohnungen relativ am besten ausgestattet sind.“

Die sichtbaren Unterschiede zwischen den neuen und alten Bundesländern liegen hier also nicht in der Struktur, ausgedrückt durch die Zahl der Bewohner pro Wohnung, sondern in der Qualität. Die Differenz zwischen scheinbarer Strukturähnlichkeit und enormen Qualitätsunterschieden spiegelt sich in allen Bereichen der neuen Bundesrepublik.

Exkurs: Sozialstruktur und politische Kultur Das Phänomen der Struktur-Qualitäts-Differenz macht sozialstrukturelle Betrachtungen nicht einfach. Insbesondere kann der früher fast immer gültige Schluß von der Sozialstruktur auf die Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung beim direkten Ost-West-Vergleich nicht gezogen werden. Normalerweise stellt man Einstellungsunterschiede fest und ermittelt dann nach gängigen Theorien den Einfluß von Strukturmerkmalen wie z. B. Geschlecht, Alter, Bildung, berufliche Stellung etc. auf die verschiedenen Einstellungsmuster. Dabei werden Einflüsse der Politik auf Form und Inhalt der Bildung, auf Zugang zu Berufen nicht berücksichtigt, weil sie in der Regel nur sehr langfristig wirksam werden. Beim Ost-West-Vergleich sieht man dagegen auf den ersten Blick massive Unterschiede. Der naheliegenden Erklärung, wonach Einstellungsunterschiede auf die offensichtlichen Unterschiede in Wohnqualität, Einkommen, Bildung und Erwerbstätigkeit zurückzuführen sind, sperren sich aber die Daten und auch die tiefere Einsicht: Manches sieht ähnlich aus und ist doch unterschiedlich, anderes zeigt sich unterschiedlich und ist doch ähnlich

Am Beispiel des Vergleichs alter und neuer Bundesländer wird sehr deutlich, wie prägend der Einfluß der Politik auf die politische Kultur, die Wirtschaft und auf die Sozialstruktur ist. Vergleichende soziologische Betrachtungen können an dieser Stelle nur auf Basis der Gegenüberstellung von Struktur und politischer Kultur sowie von individueller Sichtweise und allgemeiner Betrachtung angestellt werden.

Zweite Episode Am letzten Tag des internationalen Treffens in Aue -die Züge aus Prag fuhren in den Nächten zuvor durch Dresden -trug Professor W. aus Westdeutschland komplexe Modelle der Synergie vor. Er wählte als Beispiel Wanderungsbewegungen großer Bevölkerungsteile zwischen verschiedenen Regionen als Ergebnis ganz individueller Bewertungen der Vorzüge und Nachteile zweier Regionen. Klar und deutlich erläuterte er, selbstverständlich streng mathematisch, was sich nächtens auf den Bahngleisen der DDR zutrug. Die Stasi schrieb fleißig mit, das Publikum verstand, worum es ging.

III. Ost-West-Wanderung und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland

Schon vor 1990 gab es in der Bundesrepublik eine anhaltende Diskussion zum Thema „Einwanderungsland Bundesrepublik“. Kurz vor der deut-* S. sehen Vereinigung gipfelte die Diskussion in der Frage, ob die Bundesrepublik eine multikulturelle Gesellschaft oder zumindest auf dem Weg dahin sei. Die Antwort, die die Geschichte gegeben hat, lautet: Die Bundesrepublik ist derzeit mindestens eine bikulturelle Gesellschaft. Immerhin gibt es Schätzungen, nach denen etwa ein Drittel der Bevölkerung der alten Bundesländer außerhalb geboren wurde oder erst in der zweiten Generation in den Grenzen der alten Bundesrepublik lebt. Unabhängig von den politischen Definitionen, was ein Übersiedler, Aussiedler oder ein Einwanderer sein soll, ist die nunmehr fast fünfzig Jahre andauernde Einwanderungsbewegung in die alten Bundesländer ein Faktum.

Die DDR war immer ein Land, aus dem Menschen so gern und in solcher Größenordnung weggingen, daß ein erheblicher Teil der Staatsressourcen der Verhinderung oder zumindest der Eindämmung der Wegzugswelle (bis zu 30 000 Menschen verließen vor dem Bau der Mauer 1961 täglich das Land) gewidmet wurde. Insofern war die DDR ein klassisch autoritäres Auswanderungsland, klassisch autoritär auch hinsichtlich der Hinauswurfmentalität, wie wir sie aus der Geschichte des Absolutismus gut kennen.

Strukturell drückte sich das für die DDR in einem kontinuierlichen Bevölkerungsschwund aus (rund 3, 5 Millionen Menschen haben die DDR während der Dauer ihrer Existenz verlassen), einer Entvölkerung, die man auch an den Zahlen zur Bevölkerungsdichte gut ablesen kann: 1989 betrug die Spannweite in den alten Bundesländern bspw. 502 Personen pro Quadratkilometer in Nordrhein-Westfalen und 159 in Bayern. In den neuen Bundesländern belief sie sich auf 267 in Sachsen und 91 in Brandenburg. Welchen qualitativen Effekt der anhaltende Wegzug, begleitet von Ausbürgerungen, auf die gesellschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR hatte, kann nur vermutet werden. Aus der Sicht der Staats-und Parteiführung wollten die Unruhestifter, die Unzufriedenen und Uneinsichtigen gehen. Aus westlicher Sicht waren das nicht selten die Aktivsten, die Aufstrebenden. Ob Unruhestifter oder Aufstrebende, gemeinsam ist beiden Vorstellungen das Moment der Bewegung, der Dynamik. Es stellt sich die Frage, ob in den neuen Bundesländern heute genug unruhige, aktive Bürger zur Bewältigung der künftigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufgaben leben und ob in den alten Bundesländern noch ausreichend Platz für die nach wie vor Umzugswilligen ist. Aussagekräftige Daten dazu werden wohl erst in einigen Jahren vorliegen.Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man mit aller Vorsicht zwei Trends aufzeigen: Der eine deutet auf eine anhaltende große Ost-West-Wanderung innerhalb der Bundesrepublik, der andere auf eine wachsende Abneigung gegen Fremde.

1. Ost-West-Wanderung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland als Folge wirtschaftlichen und ökologischen Attraktivitätsgefälles

Indizien für den ersten Trend, die anhaltenden Wanderungen von Ost nach West, sind zum einen die wirtschaftliche und ökologische Situation Ostdeutschlands und zum anderen die individuelle Bewertung der beruflichen und sonstigen Entwicklungsmöglichkeiten (Möglichkeitshorizonte) in Ost und West. Die Indikatoren wirtschaftlichen Fortschritts deuten auf eine sehr disparate Entwicklung in den neuen Bundesländern hin. In einigen Regionen könnten sich z. B. durch Großinvestitionen Wohlstandsinseln bilden, die in hartem Kontrast zum jeweiligen Umland stehen werden. Insgesamt wird auf längere Zeit ein Wohlstandsgefälle zwischen alten und neuen Bundesländern bestehen bleiben, welches das Nord-Süd-Gefälle in den alten Bundesländern bei weitem übertrifft. Zugleich erscheint es notwendig, weite Teile der neuen Bundesländer ökologisch zu sanieren. Auch das wird längere Zeit in Anspruch nehmen. Unter Imagegesichtspunkten kann über eine Landschaft nichts Negativeres gesagt werden, als daß sie ein ökologischer Problemfall sei. Die Attraktivität der neuen Bundesländer als Wohnort oder potentielles Wanderungsziel wird durch diese beiden sich gegenseitig verstärkenden Faktoren nicht gefördert. Die wirtschaftliche und ökologische Attraktivität einer Region sind wesentliche Faktoren für individuelle Umzugsentscheidungen, insbesondere dann, wenn auch die Chancen für die Kinder mit-bedacht werden.

Zu den ökonomisch-ökologischen Faktoren gesellt sich als weiterer der Möglichkeitshorizont von Bürgern in Ost-und Westdeutschland hinzu. Fragte man im Sommer 1991 in allen Bundesländern, ob ein Umzug in eines der neuen Bundesländer bzw. eines der alten Bundesländer vorstellbar sei, antwortete ein Viertel der Bürger West mit „Ja“; in den neuen Bundesländern konnte sich sogar ein Drittel der Befragten vorstellen, in eines der alten Länder zu ziehen Bei aller Vorsicht, die bei der Interpretation solcher spekulativer Antworten angezeigt ist, erscheint es doch nicht überzogen, dies als ein Indiz für die subjektiven Möglichkeitshorizonte der Befragten zu werten. Selbst die rein theoretische Überlegung, ob man eventuell da oder dort leben wolle, wird in den alten Bundesländern viel weniger angestellt als in den neuen.

Die starke Westorientierung der Bürger in den alten Bundesländern und die Konzentration der Ostdeutschen auf Westdeutschland als Wanderungsziel wird durch die Frage nach einem möglichen Umzug in ein anderes Land der Europäischen Gemeinschaft deutlich: Das kann sich ein Drittel der Bürger in den alten Bundesländern, aber nur ein gutes Zehntel der Bürger in den neuen Bundesländern vorstellen.

Die Aussage, es gäbe einen anhaltenden Trend zu Ost-West-Wanderungen, wird also genährt aus dem Faktum eines wirtschaftlichen und ökologischen Attraktivitätsgefälles zwischen Ost und West und der festsitzenden Blickrichtung aller Bürger Deutschlands in Richtung Westen.

2. Zur Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern

Als eine der negativsten Eigenschaften der Bürger in den neuen Bundesländern gilt hierzulande inzwischen deren angebliche Fremdenfeindlichkeit oder Xenophobie. Der Beweis wird mittels Mikrophon und Kamera angetreten, vor der die Menschen sich ungeniert fremdenfeindlich äußern.

Gegen eine besondere Xenophobie der Ostdeutschen scheinen Ergebnisse aus einer Umfrage zu sprechen, in der nach Zuzugsbeschränkungen von Aussiedlern oder Asylanten gefragt wurde: Es konnte kein nennenswerter Unterschied zwischen den Bürgern der alten und neuen Bundesländer ermittelt werden. Fremdenfeindlichkeit zu erfragen, so die sozialwissenschaftliche Erfahrung, ist allerdings eines der schwierigsten Unterfangen, fallen doch besonders hier sprachliche Äußerungen und tatsächliches soziales Verhalten auseinander. Aussagen zu solchen Fragen sind zudem immer von sozialer Kontrolle geleitet; je nachdem, wer in wel-ehern Kontext wen fragt, erhält man höchst unterschiedliche Antworten, die dann mit beobachtbarem Verhalten der Befragten oft wenig zu tun haben. Zu fragen ist in diesem Fall, von welchen Normen und Werten das Verhalten Ausländern und Fremden gegenüber im allgemeinen geleitet wird. Hier gibt es tatsächlich einen wesentlichen Unterschied zwischen der Tradition der alten und der der neuen Bundesländer. Während im Westen Xenophobie insbesondere gegenüber dem Judentum als sozial unerwünscht galt, war dies in der DDR offensichtlich kein Thema von praktischer politischer Relevanz. Anders gesagt, in den alten Bundesländern gab und gibt es eine Erziehung gegen Antisemitismus im besonderen und Fremdenfeindlichkeit im allgemeinen. Unabhängig davon, wie viele Menschen tatsächlich insgeheim antisemitisch denken -dies öffentlich zu äußern, ist nicht opportun; es führt in der Regel zur Ausgrenzung, einer der schärfsten gesellschaftlichen Sanktionen.

In der DDR waren Antisemitismus und Xenophobie -weil kaum praktisch lebbar -keine politisch brisanten Themen, und somit waren entsprechende Äußerungen auch nicht mit der Strafe der gesellschaftlichen Ächtung belegt. Vietnamesen wurden z. B. „Fidschis“ genannt -das war allgemeiner Sprachgebrauch. Sich öffentlich fremden-feindlich zu äußern ist demnach für ehemalige DDR-Bürger keine besondere Sache. Weil sie so leicht über das im Westen tabuierte Thema sprachen, mag der Eindruck entstanden sein, die Bürger der neuen Bundesländer seien sehr fremden-feindlich.

Nun kann man aber heute in beiden Teilen Deutschlands eine Zunahme an fremdenfeindlichen Handlungen erleben, wobei der Schwerpunkt -man denke nur an Hoyerswerda, Eberswalde, Rostock -offenbar tatsächlich in den neuen Bundesländern liegt. Zwei miteinander verwobene Ursachen scheinen sich hier verhängnisvoll zu ergänzen und zu verstärken: Die eine ist die erwähnte Unbefangenheit im sprachlichen Umgang in den neuen Bundesländern. Wenn nun Thüringer oder Sachsen wegen fremdenfeindlicher Äußerungen nicht ausgegrenzt werden, warum sollen es ihnen dann die Hessen und Bayern nicht nachtun? In der Folge kann es zu einem Aufweichen der Tabuisierung in den alten Bundesländern kommen und damit zu einer Synchronisation des sozialen Systems nach dem Standard der neuen Bundesländer.

Zweitens haben rechtsradikale Gruppierungen einen erheblichen Zulauf erhalten, der sich in verstärkten Aktionen dieser Gruppen ausdrückt. Da Fremdenfeindlichkeit und Aggressivität zum festen Bestandteil rechtsradikaler Lebenswerte gehören, scheinen Häufigkeit und Militanz solcher Aktionen zwangsläufig mit der Zahl der Rechtsradikalen wachsen zu müssen. Wenn dies ein sozial unerwünschter Trend sein sollte, was man nur hoffen kann, dann reichen Polizeiaktionen alleine nicht aus, ihn zu stoppen, ebensowenig wie Erziehungsmaßnahmen und gesellschaftliche Ächtung alleine zum Erfolg führen würden. Wahrscheinlicher ist, daß beides, die gesellschaftliche Ächtung der Ideen -die Ablehnung der rechtsradikalen Ideologie -und die Bekämpfung der militanten Aktionen durch die Staatsgewalt wirksam sein könnten. Zugleich sollten die Wurzeln des Radikalismus offengelegt und, wenn möglich, direkt bekämpft werden.

Dritte Episode Dresden, Montagvormittag, 9. Oktober 1989: In der Fernsehabteilung eines Kaufhauses laufen zehn Großbildschirme. Man kann verschiedene Programme sehen und hören. Die Rede, die Erich Honecker zum 40. Jahrestag der DDR gehalten hat, kann man nur sehen -der Ton ist aus.

IV. Arbeitsplatzsicherheit und individuelle Planbarkeit des Lebens

Eine der möglichen Quellen radikaler Bewegungen sind objektive und subjektive Faktoren der gesellschaftlichen Verelendung. Insbesondere die subjektiven Faktoren wie allgemeine Zufriedenheit oder Gerechtigkeitsempfinden -ob man seinen „gerechten Anteil“ erhält -laufen oft quer zu objektiven Faktoren. Es sind in der Regel nicht die wirklich Armen, die sich an den Rand gedrängt fühlen. Sehr oft sind es Angehörige von Zwischen-schichten, bei denen ein Gefühl relativer Unzufriedenheit entsteht. Insbesondere die Angst, man könne sozial absteigen, kann soziale Unzufriedenheit zur Folge haben. Ist dies der Fall, dann haben Informationen wie die folgenden wenig Einfluß auf positiveres Denken: Die Kaufkraft in den neuen Bundesländern ist gestiegen; die Konjunktur in den alten Bundesländern läuft gut, die Steuereinnahmen des Bundes sind wesentlich höher als vorausberechnet (etwa 18 Prozent), die Deutsche Mark ist so stark wie nie zuvor und so weiter. Solche Faktoren, die gesellschaftlichen Wohlstand anzeigen, werden in Situationen der Unsicherheitdurch andere, die auf Verelendung weisen, weitgehend aufgehoben. Dazu gehören Expertenmeinungen etwa über ein starkes Nachlassen der Konjunktur oder Nachrichten darüber, daß die Postbank und Mercedes-Benz Zehntausende von Arbeitsplätzen einsparen wollen. Die Folge ist eine gewisse Arbeitsplatzunsicherheit in den alten Bundesländern, die aber die individuellen Lebensziele nur in wenigen Bereichen tangieren wird.

In den neuen Bundesländern besteht diese Unsicherheit seit nunmehr drei Jahren, und sie bestimmt das Leben auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Während sozialer Abstieg durch Verlust des Arbeitsplatzes in den alten Ländern weit am Horizont sichtbar wird, aber er ist sichtbar, stellt er in den neuen Bundesländern eine real existierende Gefahr für sehr viele dar. Die unklaren, sich widersprechenden, oft nicht länger als von Tag zu Tag oder Monat zu Monat greifenden Maßnahmen zur Sicherung von Arbeitsplätzen verstärken das Gefühl der Unsicherheit und Verlassenheit. Vielfach wissen die Menschen nicht, wie es beruflich mit ihnen weitergehen wird, ob und wie sie morgen oder übermorgen ihre Existenz sichern können. Daraus erwächst ein Verlangen nach subjektiver Sicherheit, nach eindeutigen Wegmarken. Dieses Bedürfnis stellt einen idealen Nährboden für rechtsradikale Ideologien dar: Extremistische Gruppierungen preisen sich an, die gewünschte Sicherheit und Geborgenheit bieten zu können.

Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Herstellung der Planbarkeit der persönlichen Zukunft durch Stabilisierung von individuellen Zielhorizonten ebenso wichtig wie die Bereitstellung von Arbeitsplätzen. Eine auf kurzfristige Effekte ausgerichtete, häufig die Zielrichtung und Arbeitsgrundlage ändernde Beschäftigungspolitik arbeitet hingegen radikalen Bewegungen in die Hand.

V. Zweierlei Arbeitsrecht in Deutschland

Individuelle Sicherheit und Geborgenheit sind also nicht unbedingt mit Arbeitsplatzsicherheit gleichzusetzen, sondern bedeuten auch Planbarkeit der privaten Lebenssphäre. Damit im Zusammenhang stehen rechtliche Verfahrensweisen, die den Ablauf von Betriebsschließungen als Folge zum Beispiel von Rationalisierungsmaßnahmen regeln. Arbeitsplatzunsicherheit schloß in den alten Bundesländern individuelle Lebensplanung deshalb nicht aus. Ein umfangreiches arbeits-und sozial-rechtliches Instrumentarium schuf zumindest die notwendige Zeit, um Lebenspläne im Notfall korrigieren zu können. Es mag zynisch klingen, aber es ist doch wohl ein qualitativer Unterschied, ob man sich Jahre im voraus seine Abfindung ausrechnen kann, ob man weiß, daß im Ernstfall Sonderfonds zur Verfügung stehen und daß es einen Sozialplan geben wird, oder ob man nicht weiß, wie lange das große ABM-Programm noch laufen wird, nicht weiß, was danach kommt, usw.

Bis heute, zwei Jahre nach der Vereinigung, gelten in den neuen Bundesländern nicht dieselben arbeitsrechtlichen Regelungen und werden nicht dieselben Verfahren angewandt wie in den alten Ländern. Wollte man z. B. in den westlichen Bundesländern die Hälfte der Mitarbeiter eines Universitätsinstituts loswerden, müßten diese entlassen werden, wobei soziale Gesichtspunkte in hohem Maße zu berücksichtigen wären. In den neuen Bundesländern wird erst einmal das gesamte Personal freigesetzt; dann wird neu eingestellt. Sicherlich geschieht das aus guten politischen Gründen -jedoch, das Recht sollte unteilbar sein und für alle Deutschen gelten. Die für den Einigungsprozeß möglicherweise notwendige Durchsetzung des politischen Primats über das Recht hat ihren Preis: Anstatt eine Rahmenbedingungen schaffende Verwaltung aufzubauen, erfolgt eine Verstärkung autoritativer Staatsverwaltung.

VI. Säkularisierung

Die Ablösung von der Kirche als einer traditionellen gesellschaftlichen Kraft halten Theoretiker für ein zentrales Element moderner Gesellschaften. Zumindest unter diesem Aspekt sind die neuen Bundesländer moderner als die alten: 65 Prozent aller Befragten gaben an, konfessionslos zu sein (gegenüber 11 Prozent in den alten Bundesländern); 60 Prozent gehen danach nie in die Kirche (21 Prozent im Westen); 50Prozent glauben nicht an Gott (10 Prozent) und so weiter.

Aus empirischen Untersuchungen ist nicht ableitbar, wie tief diese Säkularisierung die Weltbilder entchristlicht und wir dann unabhängig von Konfessionen vor zwei grundsätzlich unterschiedlichen „Konfessionen“ neuer Art stünden: hier die christlich-mythisch geprägte mit starken rationalistischen Zügen (in Grenzen ist vieles machbar), dort die rationalistisch geprägte mit starkem szientistischen Mythos (alles ist machbar). Wenn dies so wäre, folgten daraus mit großer Sicherheit erhebliche Konflikte bei der Entscheidung über Ziele und Mittel der Politik. Damit könnte auch wieder die Frage nach der Kirchenzugehörigkeit an Relevanz gewinnen, die sie in den letzten 20 Jahren in den alten Bundesländern eindeutig verloren hat. Vielleicht heißt eines Tages der neue Proporz nicht mehr evangelisch-katholisch, sondern „mit“ und „ohne“ christlichen Glauben.

Vierte Episode Dresden am Abend des Oktober 1989: Aus der Ferne hört man lautes Rufen (Freiheit?), überall Spaziergänger, die ihr Ziel zu kennen scheinen, der Bahnhof ist von der Polizei abgeriegelt, mein bundesrepublikanischer Paß gewährt mir sofort Durchlaß: nichts wie fort von hier. Noch eine Stunde bis zum Nachtzug nach Frankfurt am Main, dichtes Gedränge auf dem einen Bahnsteig Richtung Westen: unbeschreibliche Szenen des Abschieds, der fast wie einer auf immer dünkt; noch knapp fünf Wochen bis zur Freiheit.

VII. Autoritarismus in den neuen Bundesländern

1. Staatsgläubigkeit und Politikermißtrauen

Die DDR war ein autoritärer Staat. Die Frage ist, wie autoritär wird Deutschland werden? Einfache Antworten darauf wären etwa: Der Einigungsprozeß wird einen möglichen Autoritarismus in den neuen Bundesländern sehr bald überwinden; oder: Im Laufe des Einigungsprozesses werden die alten Bundesländer etwas autoritärer und die neuen Bundesländer etwas weniger autoritär. Der Hintergedanke, den beide Antworten enthalten, ist derselbe: Die neuen Bundesländer und deren Bürger sind autoritär geprägt, autoritärer als die der alten Bundesländer; das gilt es zu überwinden oder anzugleichen.

Vielleicht sollte man einen Schritt zurücktreten und zuerst einige Daten betrachten und dann die Ausgangssituation neu überdenken: Fragte man die Menschen in beiden deutschen Regionen im Sommer 19917, was für sie in der Politik wichtiger sei, die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, die aktive Teilnahme der Bürger an politisehen Entscheidungen, die Meinungsfreiheit oder der Kampf gegen steigende Preise, dann ergab sich folgendes Bild: Ruhe und Ordnung war für 35 Prozent der Bürger im Westen und für 51 Prozent im Osten am wichtigsten; Teilnahme an politischen Entscheidungen hielten im Westen 33 Prozent und im Osten 31 Prozent für am wichtigsten; bei Meinungsfreiheit waren dies 24 Prozent im Westen und 8 Prozent im Osten, und schließlich war der Kampf gegen steigende Preise für jeweils 8 Prozent der Befragten in Ost oder West am wichtigsten. Die wesentlichen Unterschiede zwischen den Bürgern der alten und der neuen Bundesländer liegen also in der Bewertung der Wichtigkeit von Ruhe und Ordnung (35 zu 51 Prozent) und Erhaltung der Meinungsfreiheit (24 gegenüber 8 Prozent). Fragte man danach, ob der Staat dafür sorgen solle, daß man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Einkommen hat, dann stimmten dem 51 Prozent der Bürger in den alten Bundesländern und 80 Prozent in den neuen Bundesländern voll zu.

Solche Antwortverteilungen findet man immer dann, wenn es um die grundsätzliche Frage: Bürgereinfluß oder -Verantwortung gegenüber Staats-verantwortung geht. Die Bürger in den neuen Bundesländern halten den Staat, wer oder was immer das sein mag, eher zuständig für politische und andere Probleme als die in den alten Bundesländern. Dieses Ergebnis kontrastiert mit der Feststellung der großen Mehrheit (65 Prozent) in beiden deutschen Regionen, daß sich die meisten Politiker in Wirklichkeit gar nicht für die Probleme der einfachen Leute interessierten.

Hinsichtlich der Frage nach dem Autoritarismus sind diese Unterschiede bemerkenswert: Während die Bürger aus Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin (Ost) Staatsgläubigkeit mit Politikermißtrauen im Sinne von „Die Obrigkeit wird und muß es richten, aber denen da oben trauen wir nicht“ verbinden, sind die Antworten der Bürger aus Hessen, Bayern, Baden-Württemberg usw. nach dem Motto „Denen da oben trauen wir nicht und deshalb wollen wir selber sehen und entscheiden, was gemacht wird“ zu interpretieren. In diesem Sinne kann man von einem bestehenden Autoritarismus in den neuen Bundesländern sprechen.

2. Autoritarismus der Verwaltung

Es gibt aber noch eine zweite, durch Umfragen schwerlich einzufangende Form des Autoritarismus, den Autoritarismus der Verwaltung gegen-über den Verwalteten. Wesentlicher Teil der bürgerlich-demokratischen Kultur ist der zivile Umgang der Verwaltung mit den einzelnen Bürgern und der auf Verhandlungskompromisse abzielende Umgang zwischen Verwaltungen. Nach der deutschen Vereinigung ging in den alten Bundesländern zumindest von letzterem etwas verloren.

De facto herrschte von Oktober 1990 bis Anfang 1992 auch in der alten Bundesrepublik eine Art Verwaltungsnotstand. Mit dem Argument größter Eilbedürftigkeit wurden Entscheidungen ohne die sonst üblichen Verhandlungen der beteiligten Administrationen „durchgepeischt“. Gleichzeitig wurde überall Personal für den Verwaltungsaufbau in den neuen Bundesländern abgezogen. Das Ergebnis war eine Notverwaltung sowohl der alten als auch der neuen Bundesländer. Nur durch den hohen Einsatz der einzelnen Beamten und guten Willen gelang es, größere Einbrüche oder gar ein Chaos zu vermeiden, was sicher eine gute Übung in kooperativem Handeln war. Bedenklich stimmt jedoch die durchgängige Erfahrung, daß auch törichte Entscheidungen ohne Widerspruch im Namen der deutschen Einheit durchgefochten werden konnten.

Sucht man nach Rissen in der demokratischen Ordnung, dann zeigt sich hier ein wichtiger: Eine Verwaltung, die erfahren hat, wie einfach -verglichen mit eher mühsamem Verhandeln -das Befehlen ist, mag nicht immer der Versuchung trotzen, auf diese Erfahrung zurückzugreifen, vor allem dann, wenn sie auf Bürger trifft, die eher Staats-verordnung denn Individualverantwortung wünschen.

Zwischenakt Sommer 1990, die Taxis finden langsam den Weg vom Flughafen Tegel nach Berlin Stadtmitte. Die Akademie der Wissenschaften befindet sich im Prozeß der Auflösung. Die Deutsche Einheit ist offiziell immer noch zum Nulltarif zu haben. Ob Berlin Regierungssitz werden wird?

VIII. Teilhabe an der Macht im Staat

Eine stabile Demokratie benötigt aktiv am politischen Leben teilnehmende Bürger und Institutionen, die den Bürgern die Mitwirkung erlauben. Im Rückblick mag man gerne nur die letzten Jahre betrachten, in denen die Bundesrepublik sich zu einer stabilen Demokratie entwickelte. Dies war lange Zeit nicht der Fall. Noch Anfang der sechziger Jahre galt die Bundesrepublik als höchst instabil, und die späten sechziger Jahre waren durch heftige Elitenauseinandersetzungen -genannt „Studentenrevolution“ -gekennzeichnet. Daß heute 60 Prozent aller in den alten Bundesländern Befragten freie Meinungsäußerung oder Partizipation als wichtigstes politisches Ziel bezeichnen, ist das Ergebnis eines langwierigen kulturellen, politischen und ökonomischen Prozesses

Erst nachdem ab Mitte der sechziger Jahre in zunehmendem Umfang auch Bürger über genügend politische und ökonomische Ressourcen verfügen konnten, eröffnete sich die Möglichkeit einer stabilen Demokratie. In diesem Prozeß wurden vormals zentrale Konfliktlinien, die sich aus Konfession, Region und Schichtung ergaben, durch problemorientierte Konflikte zurückgedrängt. Während die Diskussion um die Legitimität des politischen Systems und vor allem um die Frage der Parteiverdrossenheit in vollem Gang war, gingen die Bürger wie zuvor zur Wahl, wählten wie immer eine der drei großen Parteien und etablierten sich Bürgerinitiativen als neues Partizipationsinstrument.

All dies kostete die Gesellschaft und die einzelnen Bürger Kraft. Die Frage ist, ob die Bürger der neuen Bundesländer und auch die noch jungen politischen Institutionen schon die Fähigkeit zu aktiver Bürgerbeteiligung besitzen -eine wesentliche Voraussetzung für eine stabile demokratische Gesellschaft. Das muß sicherlich bezweifelt werden; zu viele andere, scheinbar wichtigere Probleme sind zu lösen. Damit zeichnet sich mittelfristig eine weitere, für die politische Kultur Deutschlands zentrale Konfliktlinie ab: Die Bürger des Westens werden Zeit, Kraft und Mittel für politische Beteiligung und damit Teilhabe an der Macht in wesentlich größerem Maße haben als die der neuen Bundesländer. Dies wird zu einer Verfestigung des bestehenden Machtungleichgewichtes führen. Es sei die Prognose gewagt, daß die nach 1990 in den neuen Bundesländern Geborenen spätestens um das Jahr 2008 ihren gerechten Anteil an der Macht in Deutschland, falls dies dann politisch noch von Interesse sein sollte, einfordern werden.

IX. Europa: über Deutschland hinaus

Parallel zum deutschen Einigungsprozeß laufen unter den Stichworten „Europäischer Binnenmarkt“ und „Maastricht“ große Anstrengungen, der europäischen Einheit näher zu kommen. Das politische System Deutschlands steht also vor einer doppelten Aufgabe: der zeitgleichen Synchronisation beider Teile Deutschlands und Eingliederung ganz Deutschlands in ein erweitertes Europa. Dazu wird mindestens die allgemeine politische Unterstützung benötigt. Es stellt sich die Frage, wie es mit der Europaorientierung der Deutschen aussieht. Hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen den neuen und alten Bundesbürgern.

Es wurde schon erwähnt, daß sich etwa ein Drittel der Altbundesbürger vorstellen könnte, in einem anderen Land der Europäischen Gemeinschaft zu leben; von den Neubürgem kann sich das nur ein Zehntel vorstellen. Auch die Antworten auf die Frage, wie verbunden man sich mit Deutschland oder der EG fühlt, zeigen eine vergleichbare Struktur: Jeweils mehr als zwei Drittel aller Befragten fühlen sich stark mit Deutschland verbunden (ähnliches findet man auch, wenn man nach der Verbundenheit mit der Gemeinde oder dem Bundesland fragt). Fragt man jedoch nach der EG, so sind dies in den alten Bundesländern 45 Prozent, in den neuen Bundesländern jedoch nur 30 Prozent. Daraus wird ersichtlich, wie fern die EG als neue europäische Heimat den Bürgern der neuen Bundesländer noch ist. Aus solcher emotionaler Distanz kann, muß aber nicht, auch politische Distanz erwachsen. Ob dies der Fall sein und ob dies den Prozeß der europäischen Einigung erschweren wird, bleibt abzuwarten.

In anderer Hinsicht hat die deutsche Einheit schon Einfluß auf die europäische Einigung gehabt: Allein schon die Größe Deutschlands läßt andere Nationen zögern, sich jetzt auf ein Vertragswerk einzulassen, das mit einem wesentlich kleineren und schwächeren Partner, nämlich der alten Bundesrepublik, geschlossen wurde.

X. Auf dem Weg zu einer stabilen Demokratie?

Die Ausgangsfrage war, wie eine stabile Demokratie möglich ist. Die Antwort der empirischen Sozialforschung liegt in der Suche nach aktiv sich am politischen Leben beteiligenden Bürgern und Institutionen, die den Bürgern eine solche Beteiligung ermöglichen. Die kleine Tour d’horizon führte eine Reihe von Rissen und Konfliktlinien im neuen deutschen Haus vor, die zwar virulent, die aber auch bereinigt werden können. Allerdings erfordert dies eine gewisse Toleranz gegenüber Unterschieden zwischen den Regionen in Deutschland und ein Beharren auf demokratischen Formen und Institutionen. Und es erfordert eine Menge Geduld, ausgedrückt in Jahren, die alle Bereiche der neuen deutschen Gesellschaft für die Synchronisation der jetzt noch höchst unterschiedlichen politischen, ökonomischen und sozialen Kulturen benötigen.

Ein Szenario, nach dem die neuen Bundesländer politisch und ökonomisch der Mezzogiorno Deutschlands werden könnten, ist zwar vorstellbar, aber bei gleichbleibenden Randbedingungen wenig wahrscheinlich. Insofern spricht prinzipiell nichts gegen eine auch in Zukunft stabile Demokratie im neuen Deutschland.

Nachwort

Juli 1992: Ein Kollege aus Aue, vormals an der Akademie der Wissenschaften, jetzt in Baden-Württemberg tätig, schickt Kartengrüße aus den USA. -Es kommt ein Anruf aus Leipzig: Am 28. September wird über die Wiederanstellung eines anderen Kollegen entschieden. -Nachricht aus Berlin: Man sagt, die ABM-Projekte sollen auslaufen...

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Daniel Bell, The coming of Post-Industrial Society, New York 1973; Gabriel Almond/Sidney Verba, The Civic Culture, Boston 1965.

  2. Vgl.den Abschnitt Wohnen in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit dem WZB und ZUMA, Datenreport 1992 -Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1992.

  3. Ebd., S. 143.

  4. Vgl. dagegen Erwin und Ute Scheuch, Wie deutsch sind die Deutschen?, Bergisch-Gladbach 1991, insbesondere S. 399 ff.

  5. Die Daten stammen aus der BASELINE 1991 Studie des ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften; Gemeinschaftsprojekt von ZUMA Mannheim und Zentralarchiv Köln). Die Studie wurde von der DFG gefördert; Antragsteller waren Peter Ph. Möhler unß Michael Braun, beide ZUMA Mannheim, Erwin K. Scheuch, Universität zu Köln, und Michael Häder, Akademie der Wissenschaften Berlin. Die Daten der Studie sind über das Zentral-archiv für empirische Sozialforschung in Köln zu beziehen. Es wurden jeweils etwa 1500 Bürger in beiden deutschen Regionen befragt. Wenn im folgenden keine anderen Referenzen angegeben werden, handelt es sich in jedem Fall um Ergebnisse dieser Studie. Eine Aufgliederung der Umzugs-bereitschaft nach Bildungsabschlüssen zeigt, daß in beiden Regionen Deutschlands die besser Gebildeten eher zum Umzug in die andere Region bereit sind.

  6. Vgl. ebd.

  7. Vgl. ebd.

  8. Vgl. Peter Ph. Möhler, Wertkonflikt oder Wertdiffusion?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1989) 1, 8. 95-122.

Weitere Inhalte

Peter Ph. Möhler, Privatdozent, Dr. phil., geb. 1945; Studium der Soziologie, Philosophie und Mediävistik in Frankfurt am Main und Gießen; Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim. Veröffentlichungen u. a.: Abitur 1917-1971, Reflektionen des Verhältnisses zwischen Individuum und kollektiver Macht in Abituraufsätzen, Frankfurt am Main 1978; Wertkonflikt oder Wertdiffusion? Vergleich von Inhaltsanalysen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus den Jahren 1948-1984 und Umfragedaten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1989) 1.