Seinen Lebenslauf hat jedermann schon einmal verfaßt. Das Schriftstück wird vor allem verlangt, wenn sich jemand -wie es so schön heißt -beruflich verändern will oder muß. Berater empfehlen, die äußeren Daten des Lebens sachlich aufzulisten. Es gibt Muster dafür. Die Personalabteilungen fordern in der Regel einen handgeschriebenen Originaltext; nicht nur der Verfasser soll sich darstellen dürfen -die Begutachter wollen sich auch selbst -graphologisch -einen Eindruck verschaffen. Der Lebenslauf als Bestandteil des Bewerbungsvorgangs wählt manche Fakten aus, hebt einige hervor, läßt andere absichtsvoll weg. Er ist nüchtern im Stil, aber bei aller Zurückhaltung doch auch anpreiserisch und werbewirksam im Unterton.
Geht es einem Autor anders, der sich auf dem Markt der Bücher bewirbt -um einen Platz in den Regalen der Buchhandlungen und in den Herzen der Leser? Gewiß, er hält sich an andere Muster als der Kandidat, der sich auf das Arbeitsangebot eines Unternehmens meldet, aber es bleiben doch . Muster, auch wenn er sie eigenständig und eigenmächtig variiert. Der Bücherschreiber darf sich seitenlang manche Last von der Seele schieben.
Nüchternheit kann sich da schnell im Geschwätz-gestrüpp verlieren. Lästiges und Peinliches wird gern hinter weitschweifigem Wortschwall verborgen, vor den anderen und vor sich selbst. Wer ausschmückt, dokumentiert nicht nur, daß seine Phantasie blüht. Verschweigetechnik bedarf nicht des Kleinformats, auch das großflächige Panorama hat seine Dunkelzonen.
Die Autobiographie, ob nun von schreibenden Laien, Halbprofis oder gewitzten Schreibkünstlern verfaßt, muß auf ihre Motivationen und Intentionen hin untersucht werden, die offen genannten und die verborgenen. Versuche, die locker, episodisch strukturierten Memoiren von der formstrengen Autobiographie definitorisch zu unterscheiden, scheitern an den Mischformen, die die Mehrheit der Gattungsexemplare ausmachen. Wer nur die künstlerisch anspruchsvollen Spitzenwerke in den Blick nähme, ließe wichtige öffentlichkeitswirksame Zeitzeugnisse am Wege liegen.
I. Selbstdarstellung als Selbsttäuschung
Vor allem in Phasen des gesellschaftlichen Um-bruchs empfinden viele das Bedürfnis, über sich selbst und über die unvorhergesehene neue Lage Klarheit zu gewinnen. Das läßt sich gegenwärtig im Bereich der einstigen DDR gut beobachten. Es ist die Zeit der Rechtfertigungen und Anklagen, der Absagen und Selbstvergewisserungen, der Treuebekundungen und der Umorientierungen.
Auf der einen Seite hat das Verschwinden des alten Systems manche in ein trotziges oder hilfloses Schweigen getrieben, auf der anderen Seite scheint die Aussagefreudigkeit derer gestiegen zu sein, die beim Fall der innerlich qusgehöhlten Ordnung nicht auf den Mund gefallen sind. Die Zumutungen, die von außen kommen, werden dabei oft als so brutal empfunden und sie kommen so unerwartet, daß die innere Ruhe fehlt, die wohl für die Erarbeitung einer klassischen Autobiographie notwendig wäre. So hat es wenig Sinn, gerade jetzt auf Meisterwerke der Besinnung und Selbstanalyse zu hoffen. Die Autobiographien aus der ehemaligen DDR sind gleichwohl ernst zu nehmen und kritisch zu sichten. Sie stellen die Schaumkrone auf einer Flutwelle hektisch vorgetragener Enthüllungen und Argumentationen dar.
Die Rede vom gestohlenen Leben geht gleichnishaft in vielen Befragungen um: Über 40 Jahre lang seien der kleine Mann und die kleine Frau vom SED-System betrogen worden. Die Einsicht, vielleicht zu den betrogenen Betrügern zu gehören, ginge vielen viel zu weit. Irritation und Wut über verständnislose Einmischer aus dem Westen beleben immer aufs neue den Vorwurf, den Ost-Bürgern solle die Erinnerung ausgetrieben werden, obwohl doch nur sie allein wissen könnten, wie es wirklich gewesen sei. Manchmal gibt es sogar Klagen darüber, daß von ihnen erwartet werde, sie sollten ihr Leben oder sogar ihre Biographie „umschreiben“. Aber schon wer gelebtes Leben und Biographie einfach gleichsetzt, verwischt notwendige Unterscheidungen.
Die Biographie, genauer gesagt die Autobiographie, die selbstverfaßte Lebensdarstellung, ist eine schriftliche Fixierung der eigenen Existenz, eine Version, die abhängig bleibt von Tag und Stunde, Monat und Jahr, also dem Raum zwischen den Zeitpunkten, an dem sie begonnen und beendet, abverlangt und abgeliefert wird. Das gelebte, das abgelebte Leben läßt sich nicht mehr korrigieren, wohl aber dessen Deutung und Bewertung. Solange das individuelle Dasein andauert, realisiert es sich in einem Erfahrungsstrom der subjektiven und objektiven Veränderungen. Die für gültig erklärte, auf geduldigem Papier festgehaltene Selbst-beschreibung ist daher -trotz der erstrebten und in Grenzen erreichbaren Glaubwürdigkeit -immer zugleich auch Selbsttäuschung.
Dem Treuekomplex -„einmal derselbe, immer derselbe“ -zu verfallen, dürfte ebenso fatal sein wie die verbreitete Furcht, sich dem Vorwurf des Opportunismus auszusetzen. Zu verschiedenen Zeiten beschreibt jeder sein Leben auf je andere Weise. Ein vorsichtiger Autor tut daher gut daran, nur eine „Zwischenbilanz“ vorzulegen. Damit muß nicht nur gemeint sein, daß noch ein zweiter oder dritter Band aussteht. Vielmehr wird auch ein Freiraum bewahrt für neue, andersartige Sichten. „Das Wiedersehen“ heißt eine der berühmtesten Geschichten über den von Bertolt Brecht erfundenen Herrn Keuner: „Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: , Sie haben sich gar nicht verändert. * , Oh! ‘ sagte Herr K. und erbleichte.“ Die Dynamik der Veränderung wird hier als positiv begriffen, als Zeichen des Lebendigen, als das Gegenteil von Starrsinn oder Dogmatismus. Aber sie wirkt auch rückwärtsgewandt und verändert die Sicht auf das Gewesene. Was kulturhistorisch für lange und generationsspezifisch für mittlere Zeiträume akzeptiert wird, erscheint vielen nicht so einsichtig, wenn kurze, scheinbar überschaubare Spannen besichtigt werden. Denn jeder zimmert sich gern einen Boden der Tatsachen, auf dem er festen Fuß fassen kann, reicht es doch, daß die Zukunft ungewiß und unvorhersehbar ist.
Goethes Hinweis, ein Bericht über dasselbe Ereignis falle abends anders aus als morgens, zerstört solche Illusionen. Ein Brief des Achtzigjährigen erklärt, warum er im Untertitel seiner autobiographischen Schrift „Aus meinem Leben“ Wahrheit und Dichtung zusammengefügt hat. Die vermeintlich erwiesenen Fakten werden nicht etwa durch hinzugefügte Erfindungen ergänzt, wie der oberflächliche Beobachter meinen könnte. Das Wahre, dessen der Autor sich bewußt wird, kann vielmehr nur mit Hilfe der Einbildungskraft, der Fähigkeit, sich das Vergangene heute zu denken, dargestellt werden
Als praktische Schwierigkeit trat dieses Problem bei den lebensgeschichtlichen Interviews auf, die der Historiker Lutz Niethammer und sein Team 1987 in der DDR aufnahmen. Auch hier galt, daß das jeweilige Jetzt die Vergangenheit verzerrt, von der die Rede sein sollte: „Lebensgeschichten sind ja immer ein Text, der in einem bestimmten Moment aus einer Auswahl von Erlebtem, das in eine gesamte Sinnkonstruktion verwebt wird, entsteht, und diese Sinnkonstruktion wie auch die Sprache gehören viel mehr dem Moment seiner Entstehung und seiner prägenden Kultur an als jener Vergangenheit, von der die Fragmente der Erinnerten handeln.“ Der Befrager muß diesen Sachverhalt bedenken und vorsichtig gegensteuern. .
Es wäre also müßig, darüber zu lamentieren, daß die Primärerfahrungen durch ihre Resultate oder durch die Zwecksetzungen entstellt werden, da die oft sehnlich gewünschte Unmittelbarkeit nicht wiedergewonnen werden kann. Die freundliche Rede, ein Autor habe im Stand einer „zweiten Unschuld“
geschrieben, verdunkelt den Sachverhalt. Die rückschauende Wiedergabe des eigenen Lebens ist über weite Strecken nicht dessen Rekonstruktion, sondern dessen Konstruktion, trotz allen authentischen Materials wie Briefe und Tagebücher.
Diesem handwerklich-technischen und zugleich erkenntnistheoretischen Problem entgehen auch die eher schlichten Darstellungen nicht, die einen speziellen künstlerischen Anspruch gar nicht erst erheben. Die Beispiele, auf die ich mich zunächst berufen möchte, sind immerhin eigenverantwortlich hergestellte Produkte. Die Erlebnisträger heuerten keine Ghostwriter an, die aus besprochenen Kassetten -„nach Diktat verreist“ -Lesestoff zu produzieren hatten. Ihre Berufsbilder haben mehr oder weniger entfernt mit dem Schreiben zu tun. Der erste war zunächst Schriftsetzer und später Verleger und Filmdramaturg, der zweite lange Journalist, bevor er ins Politbüro der SED aufstieg. Das dritte Beispiel lieferte eine Schauspielerin und Regisseurin, die interpretierend mit dem Dichterwort umging.
II. Walter Janka: Die unverlierbare Überzeugung
Das Vorwort, das Walter Janka im Herbst 1990 zu seiner Autobiographie „Spuren eines Lebens“ schrieb, beginnt so: „Der Bericht über mein Leben wurde vor fünfzehn Jahren geschrieben. An eine Veröffentlichung war nicht gedacht. Denn zur Destabilisierung der DDR wollte ich nicht beitragen. Meine Absicht war die Veränderung der Verhältnisse: Die DDR habe ich trotz meiner Kritik an diesem Staat und den Erfahrungen, die ich mit ihm gemacht habe, als Alternative zur kapitalistischen Bundesrepublik für unverzichtbar gehalten. Ein DDR-Verlag hätte für ein solches Buch ohnehin keine Druckgenehmigung bekommen. Und wären meine Erinnerungen nur im Westen erschienen, hätte man mich als Dissidenten bezeichnet. Aber genau das wollte ich nicht sein. Zu keiner Zeit.“
Der Mitte der siebziger Jahre aufgeschriebene Bericht wurde jedoch sehr wohl für Leser abgefaßt. Beim Schreiben hatte der Autor sie immer vor seinem „geistigen Auge“. Zwar wird im Vorwort auch das Motiv der Rechtfertigung vor sich selbst genannt, aber eine tagebuchartige Selbstprüfung ohne den Anspruch auf öffentliche Wahrnehmung hätte ein ganz anderes stilistisches Vorgehen verlangt. Die Veröffentlichung war nicht möglich, zum Zeitpunkt der Entstehung nicht und auch noch Jahre danach nicht, im Osten der Verbote wegen, im Westen wegen der vom Autor befürchteten politischen Vereinnahmung. Die Publikation mußte in die Zukunft hinein verschoben werden.
Janka dachte daran, das Manuskript -bei unveränderten politischen Verhältnissen -in einem Archiv zwischenzulagern: Die bekannten äußeren Umstände erlaubten oder erzwangen eine frühere Veröffentlichung, als ursprünglich gedacht werden konnte. Ausschnitte wurden schon einige Monate vor der Wende in westdeutschen Sendern und in einem Taschenbuch der röroro-Aktuell Reihe verbreitet.
Die Grundkonzeption basierte auf der Einsicht, das Manuskript werde zu Lebzeiten des Autors nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Jankas Autobiographie ist ein Nachruf von eigener Hand. In gewisser Hinsicht trifft das auf jede literarische Beschreibung zu, die jemand von seinem Leben retrospektiv entwirft. Es bedarf des Abstands, um einen Sinnzusammenhang herzustellen. Man muß in die Jahre gekommen sein, um der subjektiven Deutung der einzelnen Vorgänge Glaubhaftigkeit zu verleihen. Zufällen und Unbestimmtheiten wird Sinn unterlegt. Definitive Entscheidungen können gerechtfertigt werden, weil sie „natürlich“ erscheinen, passend zu Erziehung, Milieu, Weltanschauung oder verinnerlichten Gewohnheiten. Die Episoden werden auf einer Kette aufgereiht, um die Logik dieses einen Lebens plausibel zu machen. Aber die Kette kann auch einschnüren. Wo unerklärliche Brüche angezeigt werden müßten, wird lieber gekittet, oft unbewußt und im guten Glauben an sich selbst.
Der autobiographische Darstellungszwang nötigt dazu, die abgelaufene Lebenszeit trotz aller Abirrungen und Umwege im Detail in einem höheren Sinne als geradlinig darzustellen. Indem der Schreibende sich daran festhält, wer er geworden ist, entstehen Projektionen: Schon in früheren Lebensstadien war man, was man erst wurde. So erhält den Anschein von Notwendigkeit, was in alten Zeiten naiv und doch zutreffend „Schicksal“ genannt wurde.
Walter Janka hält sein Manuskript anderthalb Jahrzehnte zurück, aus Furcht vor den Folgen. Dabei war er zeitlebens ein mutiger Mann, couragiert, widerspruchsbereit, risikofreudig. Es gab nicht viele, die während der Ulbricht-Zeit in einem politischen Prozeß so unbeugsam blieben wie er. Er, der in jungen Jahren zum Kommunisten geworden war, fürchtete, das Fundament seines Glaubens zu verlieren. Dissident wollte er nicht genannt werden dürfen. Wer schon den Vorwurf scheut, ein Abweichler zu sein, muß die kräftigere Ausgrenzung erst recht für unerträglich halten: Mit dem Makel, ein „Renegat“ zu sein, hätte er nicht leben mögen. Insofern hat er sich selbst ge-fesselt. Gefangen in einem Treuekomplex, begrenzte Janka aus Angst vor dem Verrat seine Einsichtsfähigkeit. „Ich habe Marx aufmerksam gelesen. Und ich glaube, ihn richtig verstanden zu haben. Selbstverständlich halte ich ihn für den Größten.“ Auch dieses Bekenntnis rückt Janka auf einen exponierten Platz Der Rückgriff auf den Altmeister verrät eine autoritäre Fixierung, denn die Behauptung, für ihn sei Marx „selbstverständlich“ der Größte, kann allenfalls Gleichgesinnte beeindrucken. Das gefährdete Ich bedarf der Stabilisierung. Ein Kern unverlierbarer Überzeugungen wird daher bewahrt, zumal in der eigenen Lebenspraxis Druck und Terror, ausgeübt von „Genossen“, zum quälenden Abschied von manchem Prinzip zwangen: „Wenn ich meine Gedanken rekonstruiere, mit den Erkenntnissen der späteren Jahre vervollständige, muß ich zugeben, daß mir das Mühen um ein neues Selbstverständnis nicht leichtgefallen ist. ... In schwachen Stunden beschimpfte ich mich selbst. Empfand Scham, weil ich über Jahrzehnte den falschen Auslegungen von Theorie und Praxis gefolgt war, mich nicht ins Privatleben zurückgezogen hatte, als das noch möglich war. Es hatte solche Gelegenheiten gegeben. In meiner Zelle erinnerte ich mich daran. Zeitweise trauerte ich den ungenutzten Gelegenheiten nach.“
Es bleibt bei vagen Andeutungen über den „argen Weg der Erkenntnis“ Selbstbeschimpfung, Scham und der Gedanke an den rechtzeitigen Rückzug in die Privatheit werden mit „schwachen Stunden“ in Verbindung gebracht. Es schwingt ein Unterton der überwundenen Verführung, der abgewiesenen Versuchung mit. Es fehlt die Bereitschaft, ins einzelne zu gehen, sich preis-zugeben, selbstquälerisch mit sich zu verfahren.
Komelia Hauser hat die Beobachtung mitgeteilt, daß sich bei Janka kein einziger Konjunktiv finde. Das muß man sicher nicht wörtlich nehmen. Ein auf Sprachanalyse getrimmter Computer fände wohl auch Beispiele für diesen Modus. Aber der Autorin ist zuzustimmen, wenn sie das Fehlen der Möglichkeitsform metaphorisch dafür einsetzt, daß es bei Janka keine Zeichen gebe, „die die Arbeit des Erinnems und die Subjektivität des Erinnerten auch nur andeuten“ Das gelte für jeden Lebensabschnitt: Kindheit, Konzentrationslager, Prager Exil, Bürgerkrieg in Spanien, mexikanisches Exil und DDR-Zeit. „Jankas Ich-Konstruktion schwankt zwischen Autonomie und Verantwortungvfür andere. Seine Haltung läßt ihn soziale Bindungen, so sie behindernd sind, nicht hinnehmen.“
Das Ich, das Janka von sich skizziert, zeigt nach Hausers Analyse ein Doppelgesicht: Nach außen werde es als Zeichen des Kommunismus vorgeführt, nach innen als erleidendes Subjekt. Die Kritikerin meint, Janka reduziere alle anderen Figuren zur bloßen Staffage für eigenes heldisches Tun. Kornelia Hauser, die der Frauen-Redaktion der Zeitschrift „Das Argument“ angehört, wird auch von einem feministischen Erkenntnisinteresse geleitet. Sensibel für die Art, wie er seine Beziehungen zu Frauen schildert, stellt sie fest: „Janka verschwindet, indem er sich in den Vordergrund rückt. Sein Ich bleibt leer von Auskünften. Andere blieben ihm »schicksalhaft* verbunden, was tat er? Selbst in Bereichen, wo Gefühle zentral werden, schweigt der Biograph über die seinen.“
Janka, eher ein Organisator, eine Kämpfernatur, fühlt sich auf unsicherem Gelände, wenn er innere Zerrissenheit zeigen, geheime Motivationen offenbaren müßte. Beim Organisieren seines Lebens-zusammenhangs -früher hätte man von „Sinn-stiftung“ gesprochen -drückt er dies als Indiskretionen an die Ränder. Das Moment der Rechtfertigung vor sich selbst tritt zurück hinter die Mitteilung an andere. Es war schon davon die Rede, daß bei der Abfassung des Textes eher mit der Nachwelt denn mit der Mitwelt gerechnet wurde. So kam es Janka auch darauf an, den Enkeln und Urenkeln die miterlebten historischen Tatsachen zu erklären, die spätere Generationen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen nur schwer zu verstehen vermögen. Freilich fehlt dem sympathischen Autor dabei die Anmaßung, die zuständige Geschichtswissenschaft ersetzen oder bevormunden zu wollen. Subjektive Erinnerung bietet er nur als Hilfe für historische Aufarbeitung an.
Der Mitteilungszweck erklärt den Verzicht auf die leidvoll-schuldhafte Konfession aber nur zum Teil. Die Tradition der Bekenntnisse im Sinne Jean Jacques Rousseaus konnte sich in Deutschland kaum durchsetzen. Auch der übermächtige Goethe hatte seine Autobiographie gleichsam gegen Rousseau geschrieben, letztlich nur wenig von sich enthüllt und lieber das geheime Seelenleben verschleiert, absichtsvoll und im Gegensatz zu den Freiheiten, die er sich in seinen großen Dichtwerken herausnahm: „Jeder, der eine Confession schreibt, ist in einem gefährlichen Falle, lamentabel zu werden, weil man nur das Morbose, das Sündige bekennt und niemals seine Tugenden beichten soll.“ In dieser Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1810 geht Goethe auf Distanz zum heikel gefährlichen Reiz der öffentlichen Zerknirschung. Wird sie nicht von einer ideologisch aufgeladenen Macht, dem Kollektiv, als „Selbstkritik“ verlangt, sondern freiwillig geleistet, mag der Stolz des Bekenntnisfreudigen gewiß leicht peinlich wirken. Denn es bleibt fraglich, ob der Beichtende, der hochfahrend seine Unzulänglichkeiten präsentiert, wirklich soviel von sich wissen kann, wie er uns Lesern glauben machen will.
In der DDR freilich, die jahrzehntelang die Psychoanalyse verteufelte, wurde intensive Beschäftigung mit dem eigenen Ich -ohne den Bezug auf die gesellschaftlich gegebenen Aufgaben -als „Nabelschau“ diffamiert. Unverschlüsselte, nicht-fiktive Bekenntnisbücher hatten da kaum Chancen. So blieb die Rousseausche Tradition dort erst recht abgebrochen. Noch 1989 gibt ein in der zweiten Auflage in Leipzig erschienenes „Wörterbuch der Literaturwissenschaft“ unter dem Stichwort „Innerlichkeit“ diese Definition: „Zustand der Abkehr von der sozialen Wirklichkeit, verbunden mit dem Versuch, in der Besinnung auf das (scheinbar autonome) Ich die menschlichen Werte unter Ausschluß aller als abträglich erachteten Umwelteinflüsse in der inneren Welt des geistigen und seelischen Lebens zu konsolidieren.“ Später ist in dem Lexikonartikel noch vom Abirren in die „fruchtlose Selbstbespiegelung“ die Rede. Das Attribut „fruchtlos“ verrät die Abweisung deijenigen autobiographischen Offenlegung, die nicht auf positive Resultate zielt, wie sie trotz aller Irrungen und Wirrungen erreicht werden sollen.
III. Der Anschein von Objektivität beim Sichern der Lebensspuren
Bei dem ausgestoßenen „Partei-und Staatsfeind“ Janka steht am Ende sein Stolz auf die Selbstbehauptung inmitten aller Lebenskrisen, deren in-nere Folgen aber ausgeblendet oder nur nebenbei klischeehaft benannt werden. Als Titel seiner Autobiographie wurde „Spuren eines Lebens“ gewählt. Das klingt bescheiden, drückt aber doch das Selbstbewußtsein eines Mannes aus, der von sich glaubt, Spuren in der Welt hinterlassen zu haben. Diese Überzeugung braucht, wer sich daran macht, Objekt der literarischen Darstellung zu werden.
Theodor W. Adorno hat, angeregt von Emst Blochs berühmtem Buch „Spuren“, darauf verwiesen, daß das Wort vom bloßen Registrieren der Tatsachen eine Fährte zur Reflexion legt: „Ein geknickter Zweig, ein Abdruck drunten im Boden spricht zu dem knabenhaft kundigen Auge, das sich nicht bei dem bescheidet, was jeder sieht, sondern spekuliert.“ Hier wird auf Indianergeschichten angespielt, auf das Lesen der Bücher von Karl May, das in vielen Autobiographien als frühe Lektüreerfahrung vorkommt. Wäre der Titel noch frei gewesen, hätte Erich Loest seine Autobiographie gern „Spurensicherung“ genannt. Das verweist auf den Alltag des Kriminalisten, der durch logische Verknüpfung, aber auch durch wissenschaftliche und technische Mikrountersuchung Zusammenhänge herstellt und daraus Schlußfolgerungen zieht. Am Faktor Zeit hängt oft die Erfolgsquote. Wer zu spät kommt, kann nichts mehr oder nur wenig sichern: die Spuren sind verwischt und verweht Das ohnehin trügerische Gedächtnis setzt aus; Zeitzeugen, die als Kontrollinstanz mitgedacht werden, leben nicht mehr. Es gehört zu den schwierigsten Entscheidungen des Autobiographen, zu welchem Zeitpunkt er sein Werk für abgeschlossen erklärt und dem Publikum übergibt.
Das in den kriminalistischen Bereich gehörende Wort von der Spurensicherung suggeriert bei der metaphorischen Verwendung fälschlich objektive Verfahren und Methoden. Loests 1981 erschienene Lebensbeschreibung trug schließlich den Titel „Durch die Erde ein Riß“, nach einer Zeile aus einem Stalingedicht Johannes R. Bechers. Der Autor erzählte von sich in der dritten Person und verkürzte sich dabei auf den Anfangsbuchstaben L. Einen gewichtigen Zeitabschnitt bilden die Jahre, die er im Zuchthaus Bautzen verbringen mußte. Die Reduktion des Namens paßt zur Situation des Häftlings, der zur Nummer oder eben zum Buchstaben schrumpfen sollte. Aber die Entschei-düng, nicht in der Ich-Form von sich zu reden, sucht auch den Schein der Objektivität zu verstärken. Der Blick wird von außen auf sich selbst gerichtet. So entsteht Distanz -was verschwiegen werden soll, kann leichter zurückgehalten werden, weil die Lücken nicht so deutlich auffallen: Psychoanalytische Tiefenschärfe kann solcher Sieht-weise nicht abverlangt werden.
Auch Stefan Heym hat sich in seiner Autobiographie hinter den Initialen S. H. verborgen. Er trat auf wie ein retrospektiver Reporter in eigener Sache, gestützt auf handfeste Fakten oder deren Surrogate, wie sie das Gedächtnis nun einmal zu speichern bereit und fähig war. „Sein Leben, von ihm selbst erzählt“ hieß einst die deutsche Ausgabe der Selbstbiographie des amerikanischen Staatsmanns und Erfinders Benjamin Franklin. Solch ein Titel erhebt einen Konkurrenzanspruch gegenüber der von fremder Hand verfaßten Biographie. „Sein Leben, von ihm selbst erzählt“ soll eine höhere Art der Exaktheit verbürgen als der knappe Titel „Mein Leben“. Zugleich wird beim Publikum die Illusion genährt, niemand könne die Umstände besser kennen als der Akteur selbst. Der Mann erzählt selbst, nicht irgendein historisierender Rechercheur. Stefan Heym entschloß sich zu Lebzeiten, seinen „Nachruf“ als Buch zu schreiben und herauszugeben, und er nannte es auch so: „Nach-ruf“. Angeregt hatte ihn dazu der Besuch des Nachrufspezialisten der „New York Times“, der -wie bei diesem Blatt üblich -vor der prophylaktischen Abfassung seines Textes bei dem Autor zum Interview erschienen war.
IV. Günter Schabowski: Die Ohnmacht des roten Bonzen
Autobiographien können die Gratulationsartikel zu runden Geburtstagen und auch die echten Nachrufe, die andere dereinst verfassen werden, beeinflussen. Ist der Ruf erst ruiniert, fällt es auch dem Prominenten schwer, noch seine Korrektur anzubringen. Unter den Teilhabern der Macht im obersten Parteizirkel, im SED-Politbüro, hat nur Günter Schabowski sich geistig so beweglich gezeigt, daß er den Versuch einer Neuorientierung wagte
Im Klappentext seiner 1991 erschienenen Erinnerungen „Der Absturz“ heißt es: „Dieses Buch ist die unsentimentale Bilanz eines Mannes, der um das Schuldenkonto der von ihm verantworteten Politik weiß.“ Den Bilanzbegriff aus der Betriebswirtschaftslehre metaphorisch zu verwenden kann gefährlich sein. Es liegt zu nahe, vom Konto zu reden, und schon geschieht ein „Buchungsfehler“: statt vom Schuldkonto ist vom Schuldenkonto die Rede.
Das ist dem Verfasser nicht anzulasten, der das Produkt seines Nachdenkens und Aufschreibens kritisch relativiert. Er weiß sich mitten in einem Erkenntnisprozeß, liefert also nur eine Momentaufnahme seiner Einstellung, und er vermag auch nicht reinlich zu scheiden zwischen dem, was er als Machtträger sah, wußte und verdrängte, und den seit dem Zusammenbruch gewonnenen unabgeschlossenen, also vorläufigen neuen Wertungen: „Die relative kritische Distanz des Autors zu Politik und Praxis der SED ... ist nicht in allem seine heutige Haltung. Der Text spiegelt auch den Grad an Einsicht wider, der dem innerhalb der Verhältnisse Handelnden zu jener Zeit erreichbar war. ... Wer über sich schreibt, verschweigt -auch wenn das nicht sein Vorsatz ist. Das Gegenteil einer Klarsichtpackung hat ein amerikanischer Publizist Memoiren genannt. Der Autor kann diesem Vorwurf um so weniger entgehen, als Verstrickung in Schuld und Scheitern sein Stoff sind. Er nimmt für sich in Anspruch, daß jedermann in seiner Sicht begrenzt ist. Auch wo er meint, nur authentischer Chronist zu sein, trügt ihn seine Subjektivität.“
Die Bescheidenheitsfloskeln sind das heutige Korrelat zur Arroganz des einst Mächtigen. Der Gestürzte macht sich klein, obwohl niemand ihm Allwissenheit unterstellen oder Sichtbegrenzung absprechen will. Kornelia Hauser hat in ihrem schon zitierten Aufsatz „DDR-Wirklichkeit als Arbeit am Gedächtnis“ Schabowskis Erinnerungsbuch als das eines „zwangsgewendeten Machers“ mit einigem Recht sehr kritisch betrachtet. Es ist ihr gelungen, Täuschungsmanöver aufzudecken und unter Heranziehung verläßlicher Quellen auch offensichtliche Lügen zu finden.
Noch interessanter scheint es mir, daß sie hervorhebt, wie sehr sogar Schabowski, obwohl doch einst im Zentrum der Macht, einen Sündenbock braucht. Er heißt Erich Honecker. Gemeint sind nur Name und Funktion. Die Unterwerfung gilt dem sakrosanten Amt, nicht der beinahe unwichtigen Person: „Die Personifizierung des , Übels 4 im Generalsekretär entlastet ganz offenbar die Erinnerung. Der Schreiber Schabowski schreibt mehr als er wissen will.“ Kornelia Hauser zählt es zu den Taten oder Untaten der Mitglieder des Politbüros, daß sie es für richtig hielten, wenn ihre Telefone abgehört wurden. Es nützte ihnen, wenn sie so über sich verfügen ließen und wenn sie sich dadurch die Selbstkontrolle durch Fremdkontrolle erleichterten: „Das Politbüro opferte sich seinem eigenen Gewaltapparat. Aber für sich selbst: die Belohnungsform der Machtvollen, aber Entmündigten, war ihre mögliche Erwählung in höhere Ämter.“
Immerhin läßt sich Schabowski nicht wie so viele andere ins Selbstmitleid treiben, ja die Autobiographie scheint ihn wie eine Autotherapie aufzufangen. Die Zeithistoriker und das auf Sensationen erpichte breitere Publikum, ohne das der Verkaufserfolg ausbliebe, interessieren sich für Geschichten und Anekdoten aus dem inneren Zirkel. Da erzählt Schabowski, was jetzt paßt und ihm paßt, und mancher Zeitgenosse wird da sicher auch geschont. Für die glasklare Analyse der Herrschaftsstruktur dürfte der Insider zu befangen, noch zu befangen sein. Aber an manchen Stellen seines Buches sucht er in kurzen Sätzen sich der eigenen Person zu vergewissern, das Meßbare zu fixieren und sich nichts vorzumachen über die eigene Lage. Dann erweist es sich, daß die Autobiographie zum Haltegriff werden kann, an dem sich der von ganz oben herabgestürzte Verfasser zeitweilig festklammem kann: „Als ich diese Niederschrift begann, war ich 61 Jahre alt. Meine Körperlänge beträgt 184 Zentimeter. Mein Gewicht schwankt zwischen 86 und 88 Kilogramm. Nach Meinung des Arztes ist meine Gesundheit nicht die allerbeste. Ungeachtet medizinischer Unkenrufe wähne ich mich in guter Verfassung. Ein Diplom der Karl-Marx-Universität aus dem Jahre 1962 bescheinigt mir, daß ich Fertigkeiten erworben habe, die mich zu journalistischer Arbeit befähigen. Zur Zeit gehe ich keiner geregelten Arbeit nach.“
Am Ende des Abschnitts steht die knappe Feststellung, „ein roter Bonze“ gewesen zu sein. Freilich wird der reuige Sünder, der sich ins Rampenlicht stellt, immer den Vorwurf auf sich ziehen, er sehe sich allzugern in dieser Rolle, die ja auch genießerisch zelebriert werden kann. Die geheime Lust an der Selbstbeschimpfung kann weit tragen. Sie er leichtert es, auch über andere harsch zu urteilen. Warum sollte, wer rauh und roh mit sich selbst umgeht, andere schonen? Dabei kann das Zitieren der Meinungen anderer davor schützen, der Voreingenommenheit bezichtigt zu werden.
V. Vera Oelschlegel: Die theatralische Opportunistin
Im Abschnitt über Konrad Naumann, der vor seiner Entmachtung 1985 Ambitionen auf die Nachfolge Erich Honeckers hatte, erwähnt Schabowski Vera Oelschlegel die damalige Frau des SED-Spitzenfunktionärs: „Er hatte inzwischen eine Schauspielerin geheiratet, die bald anspruchsvoll in der Kulturszene wirkte.... »Wenn der Generalsekretär wird 4, sagte mir ein Schriftsteller, »dann haben wir eine deutsche Jian Ging 4. Er spielte damit auf die Rolle von Maos Frau in der chinesischen Kulturrevolution an.“
Sie hat ein anderes Bild von sich als diejenigen, denen der Vergleich mit der geltungsbedürftigen, karrieresüchtigen und ideologisch gefährlichen Frau Mao Tse-tungs einfiel. Sie konstruiert in ihrem Erinnerungsbuch den Sinnzusammenhang ihres Lebens aus der späten Perspektive der Frau, die durch die Scheidung und den Fall des Spitzen-mannes an Einfluß verlor, aber um den Erhalt ihrer Position um so entschiedener kämpfte.
So beschreibt sie also Monat für Monat das Jahr 1989, in dem die Kulturbürokratie stark verunsichert reagierte, so daß die Theaterleiterin ihrer Spielplangestaltung wegen unter Druck geriet. Indem sie sich derart als Opfer stilisiert, sucht sie ihr in Rückblenden nachgetragenes Leben in den wolkigen Dunstkreis des Widerstehens zu ziehen. Da diese Rechnung aber nicht aufgehen kann, garniert die Autorin ihr Lebensbild mit theatralisch übersteigerten Klischees der unverbindlichen Selbstkasteiung. Dabei reduziert sie die Verantwortung für sich selbst dadurch, daß sie sich als Produkt der Erziehung und Manipulation sieht: „Ich zähle meine Pleiten. Ich bin der Chronist meiner Niederlagen. Mein erstes Leben ist eine einzige Katastrophe. Die blödesten Momente rollen beschämend vor mir ab wie eine Fernsehserie. Meine Vita ist ein Zerrbild und Spiegel dieser Zeit. Ich bin ein Produkt der Erziehung meiner Mütter und der Manipulation meiner Lehrer und Männer. Ich komme aus dem Bürgertum und habe Karriere in einem Arbeiter-und Bauemstaat gemacht. Ich versuche, die Teile in meinem Konterfei-Puzzle zusammenzusetzen. Bin ich eine Sonderanfertigung, bin ich ein Klischee? Bin ich eine Femme fatale oder eine tüchtige Kuh?“
Einer Darstellerin, die sich verwandeln können muß, mag es leichter als anderen fallen, die Aufspaltung in übernommene oder nur von außen auf-geprägte Rollen an sich zu beobachten: „Wer war ich denn? Frau, Mutter, Geliebte, Schauspielerin und Regisseurin, Mitglied und Teilnehmerin, Kollegin und Genossin, Intendantin und Ausweisinhaberin, Mitwirkende und Kontrahentin, Mitarbeiterin, Angestellte und künstlerische Intelligenz.“ Sogar in dieser trivialen Aufreihung zeigt sich das Auseinanderbrechen all der zugeschriebenen und akzeptierten Rollen, wie es in moderner Dichtung vielfach beschrieben und imaginiert wurde. Eine Autobiographie montiert die heterogenen Teile zu einem Ganzen, das Identität verbürgen soll. Erst in der Abbildung entsteht das vorzeigbare Ego. Im Spiegel der Autobiographie wiederholt sich die mit Hilfe des realen Spiegels einst vollzogene früh-kindliche Selbstbildung des Ichs. Manches bei der späten Bestandsaufnahme Gefundene wird als Fremdartiges vom „eigentlichen Wesen“ abgehoben und in bequemer, manchmal auch larmoyanter Manier Zurichtung durch Sozialisation genannt und so von sich weggeschoben. Im Widerstand gegen die latente Schizophrenie präsentiert sich das sieghafte Bewußtsein, das in der Autobiographie zu einem Selbst findet. Zur Lebensillusion gehört, sich zur Identität zu überreden.
Vera Oelschlegels geschickte Mixtur aus Naivität und raffiniertem Kalkül enthüllt verräterisch, was die Autorin verbergen wollte. Schauspielereitelkeit verführt sie dazu, Fotos aus ihren Glanzzeiten hinzuzufügen. Fröhlich lachend zeigt sie sich mit Honecker, Schalck-Golodkowski oder Kurt Hager. Sie kann die Teile ihres Lebenspuzzles nicht so zusammenfügen, daß Ansehnliches dabei herauskäme. Da hilft es auch nicht, in übersteigerter und überdrehter Lautstärke Fragen an sich selbst zu stellen und dann die Antwort zu verweigern: „War es Eitelkeit, die mich zwang, auf jedem Gruppenfoto zu sein? Möglichst Mitte, erste Reihe? War es blauäugig, naiv, oberflächlich? War ich feige, war ich ’ne Memme? Ich habe keine Antwort.“
Aufgeplustert vom Selbstmitleid, wächst die Persönlichkeit. Zweimal hintereinander bemüht sie hochstaplerisch die Grenzen der aufs Alphabet reduzierten Sprache, die vor ihrem Leid und ihrer Seelenqual versage: „Nur sechsundzwanzig Buchstaben für mein Leben, acht Satzzeichen für mein Gefühl.“
Vera Oelschlegel hat ihr Buch „Wenn das meine Mutter wüßt.. genannt, in zitathaftem Anklang an eine Stelle im Kap. XIV von Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“, wo der Dichter sich auf Grimms Märchen von der Gänsemagd bezieht. Die Mutter, erst Soldatenfrau, dann „Kriegerwitwe“, bediente sich bei der Erziehung der kleinen Vera in Wort und Bild der Wendung „Wenn das dein Vater wüßte.“ Ihre politische Heimat beschreibt Vera Oelschlegel mit Hilfe der Eltemmetapher: „Mein Vater der Staat, meine Mutter die Partei, ich wollte ein Zuhause haben. Ich wollte angekommen sein.“
VI. Hermann Kant: Die Hektik des Dauerredners
Oft will sich, wer eine Autobiographie schreibt, nicht nur vor einer diffusen Öffentlichkeit, sondern auch vor einer nahen familiären Instanz rechtfertigen. Privates und Politisches verschlingen sich. Hermann Kant fühlt sich durch die Aussage seiner Mutter herausgefordert, er sei von den vier Kindern das regierbarste gewesen. Ihr Urteil mag er nur für die Kindheit und die frühe Jugend gelten lassen, da war er brav und neigte nicht zur Rebellion. Aber wie verhielt er sich später, in Amt und Würden?
In Seinem 1991 erschienenen Erinnerungsbuch „Abspann“ will er auch beweisen, daß der erwachsene Kant anders war, als die Mutter ihn in Erinnerung hat. Trotz seiner Parteitreue, die er viel stärker verinnerlichte, als das Wort Loyalität ausdrükken kann, will er protestiert und aufbegehrt, den eigenen Kopf durchgesetzt haben: „Ich berichte nicht von einem Leben, das ich hätte führen sollen, führen müssen, sondern von einem, das ich führte. Alles soll nach Möglichkeit nur so auf dieses Papier, wie ich es wahrgenommen habe. Gedächtnistäuschung, Ideologie und Erzählerübermut werden ohnehin das Ihre tun. Doch halte ich für gesichert, daß manches Ereignis einfach nicht den Eindruck hinterließ, den es bei richtiger, gar historisch richtiger Betrachtungsweise hätte machen müssen.“
Der Rückzug auf die subjektiv begrenzte Sichtweise hindert Kant nicht, vor dem Publikum stolz mit der eigenen Besserwisserei zu kokettieren. Die ungewollte Selbstenthüllung macht er sich nicht zum Problem. Er selbst soll sein Halt sein: „Ich taste mich zurück zu mir und berühre mich so, daß die Zweifel schwinden.“ Es gibt ihn wirklich, den Hermann Kant, wie beruhigend für ihn! Er berichte von dem Leben, das er führte, sagt der Schreiber, als sei dieses Leben ihm ungehindert zugänglich und fixierbar, als genüge es, den Film in die Vorführmaschine des Bewußtseins einzulegen und ihn dann abzuspulen. „Abspann“ hat er sein Buch genannt. Das klingt resignativ und soll auch Trauer und Zorn über das Ende des Gesellschaftssystems mitschwingen lassen, an dem er hing und hängt. Im Text bietet er noch einen zweiten Titel an. Das Buch könnte „Abspann“ oder „Namen spielen eine Rolle“ heißen. Der Abspann, der am Ende des Films die Mitwirkenden nennt, wird hier in seiner Sachbedeutung genommen. Kant benutzt diesen Ausweg, um nicht ins Labyrinth des eigenen verfehlten Lebens hineinzugeraten. So sonnt er sich im Glanz der Prominenten aus aller Welt und schmückt sich mit vielen Namen. Klatsch und Tratsch finden ihren Platz, durchaus reißerisch (mit einem Personenregister fürs rasche Nachschlagen), wenn auch nicht ganz so exhibitionistisch wie bei der Schauspielerin Oelschlegel, mit der der Schriftsteller einmal verheiratet war und die er nun -auch ihres Buches wegen -mit schweigender Verachtung straft.
Der Literat weiß viel über Autobiographien, und er teilt seine Kenntnisse in allerlei Einsprengseln auch mit. Er ist eben vom Fach: „Das Leben, wie es ist, taugt noch nicht zum Buch; es will bearbeitet sein. Der Lebensbericht kann literarische Arbeit durchaus vertragen, doch vor allem muß er triftige Auskunft geben. Wer sich ans autobiographische Sagen macht, hat nicht bedeutend zu sein, aber was er sagt, sollte etwas bedeuten. Steht das nicht schon bei unser aller Vor-Schreiber, dem Verfasser von . Dichtung und Wahrheit ? Wahrscheinlich, aber auf Naheliegendes kommt man zur Not auch allein.“
Es steht bei Goethe, richtig erinnert, aber wer will, darf das Fahrrad immer aufs neue erfinden. Kant hat sein Leben sehr hektisch bearbeitet. Als er damit anfing, gab es seinen Staat noch, und der dem System Wohlgesinnte wirkte in Ehren und zu dessen Ehren. Dann rutschte das morsche Gebilde weg, und Kant kam mit ihm ins Schleudern. Nun fiel er seinem alten Text ins Wort, und zwischen Rechtfertigung und Trotz pendelte das Baugerüst hin und her, scharfen Winden ausgesetzt. Die Konstruktion des Lebens geriet schief und baufällig, da der Architekt unter ungewolltem Druck arbeiten mußte. So fehlt dem aggressiven Kant aus subjektiven und objektiven Gründen die sanfte ironische Gelassenheit, die Günter de Bruyn seinem autobiographischen Buch mitzugeben vermochte, das weder ein eiliges Produkt der „Wende“ ist, noch des Umbruchs wegen umgeschrieben wurde.
VII. Günter de Bruyn: Zurück zu welchen Quellen?
Abgesehen von dem Schlußkapitel, das unmittelbar in die Gegenwart führt, behandelt der Autor Kindheit, Jugend und frühes Erwachsensein in der sowjetischen Besatzungszone. „Zwischenbilanz“ heißt sein Abschlag auf künftige Zahlungen. Von den fragwürdigen Assoziationen zum Kontobuch war schon die Rede. Eine Zwischenbilanz enthält freilich auch ein Versprechen: Fortsetzung folgt! Ausschließen kann der Leserjedoch jeden Verdacht, der Autor sei womöglich noch unsicher in der Bewertung der neuesten politischen Ereignisse im Lande. De Bruyn kann -wie wenige Berufskollegen aus seiner Generation, die in der DDR blieben -Klartext reden, weil er ohne Eifer, aber in stiller Beharrlichkeit auf einem mittleren Weg blieb, der als Startrampe für die utopischen Höhenflüge eines „wahren Sozialismus“ völlig ungeeignet war. So unrealistisch eine bürgerliche Gesellschaftsentwicklung einschließlich der Vereinigung beider Deutschländer auch gewesen sein mochte, de Bruyn hielt sie nie für ein nationales Übel.
Die „Zwischenbilanz“ schließt mit einem Kapitel, das der Schriftsteller „Rückblick auf Künftiges“ nennt. Es stellt eine Art Übergang zu dem Folgeband dar, den er seinen Lesern versprochen hat. Dort wird er die Frage zu beantworten haben, warum er sich die Mühsal ersparen konnte, Kommunist zu werden. Jetzt schon benennt er als wesentliche Ursache die Erfahrung mit dem Dritten Reich: „Fahnen und Marschkolonnen, jubelnde Massen und stereotype Parolen, die Perfidie, Zwang als Freiwilligkeit auszugeben, und die erneute Vergottung eines weisen, allmächtigen Führers erzeugten gleiche psychische Reaktionen, die bei mir als Widerwillen auftraten, vermischt mit Angst.“
De Bruyns Essays zeigen, daß diese Position durchaus vereinbar ist mit selbstkritischen Bewertungen der eigenen Feigheit und Kompromißbereitschaft. Aber schwierig wird die Beschreibung der Konflikte schon deswegen werden, weil das freundliche Naturell des Verfassers der kräftigen Polemik gegen lebende Zeitgenossen, vor allem gegen lebende Zeit-Genossen, manchmal im Wege steht. Er weiß, daß es für ihn nicht leicht werden wird, authentisch zu bleiben, je näher er an die Gegenwart oder an die gerade erst gewesene Vergangenheit herankommen will.
So verhält sich klug, wer erst einmal Teillieferungen anbietet; Verantwortung haben und Versagen liegen eng beieinander, in jedermanns Leben. So fällt es leichter, von Zeiten zu reden, in denen man heranwuchs und „heranreifte“, wie das beliebte schönfärberische Wort heißt. Später wird einer nur an den Ergebnissen gemessen, an seinen Früchten soll er erkannt werden: „Überhaupt ist die bedeutendste Epoche eines Individuums die der Entwicklung, welche sich in meinem Fall mit den ausführlichen Bänden von Wahrheit und Dichtung abschließt. Später beginnt der Konflikt mit der Welt, und dieser hat nur insofern Interesse, als etwas dabei herauskommt.“ Wieder einmal Einsichten Goethes, der auch den Geheimniskrämern die Argumente zuspielt, die konfliktreiche Zeiten lieber aussparen möchten, wie es der Staatsmann von Weimar vormachte: „Ich würde Vielen weh, vielleicht nur Wenigen wohl, mir selbst niemals Genüge tun, wozu das? Bin ich doch froh, mein Leben hinter mir zu haben; was ich geworden und geleistet, mag die Welt wissen; wie es im Einzelnen zugegangen, bleibe mein eigenstes Geheimnis.“
Hermann Kants Romane und Erzählungen waren fast durchweg autobiographischer Natur -„Die Aula“, „Der Aufenthalt“ oder „Die Summe“ sind charakteristische Beispiele. In seiner Autobiographie wollte er nachtragen, was er im epischen Werk noch nicht untergebracht hatte. Günter de Bruyns wichtigste Prosabücher, „Märkische Forschungen“ und „Neue Herrlichkeit“, hingegen haben keine so auffällige autobiographische Grundlage. Für diesen Autor besteht eine klare Trennungslinie zwischen Fiktion und Autobiographie. „Mit achtzig gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen; die Zwischenbilanz, die ich mit sechzig beginne, soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion. Nachdem ich in Romanen und Erzählungen lange um mein Leben her-umgeschrieben habe, versuche ich jetzt, es direkt darzustellen, unverschönt, unüberhöht, unmaskiert. Der berufsmäßige Lügner übt, die Wahrheit zu sagen. Er verspricht, was er sagt, ehrlich zu sagen; alles zu sagen, verspricht er nicht.“
Das ist ironisch zu nehmen, Thomas Mann und Theodor Fontane lassen grüßen. Der Topos vom belletristischen Erfinder als dem berufsmäßigen Lügner muß dazu herhalten, der Autobiographie eine höhere Wahrheit zu verschaffen. Wer sagt, er habe bisher um sein Leben herumgeschrieben, sei ihm also ausgewichen, spielt mit der abwegigen Idee, die Autobiographie sei nicht ein Nebenwerk, sondern der Gipfel, die Krönung eines Autorenlebens. Der Schreibimpuls freilich wird durch die arbeitstechnische Hypothese befördert und angetrieben. Der Autor setzt sich unter Druck, er will bewußt nicht ins Dazuerfinden ausweichen. Er sträubt sich gegen den autobiographischen Roman, wie ihn Christa Wolf mit „Kindheitsmuster“ oder Erwin Strittmatter mit den weitausholenden Trilogien „Der Wundertäter“ und „Der Laden“ vorlegten. Indem man sich andere Namen gab, Nelly Jordan oder Stanislaus Büdner, erwarb man sich Fabulierfreiheit. De Bruyns Entscheidung zwingt hingegen zu Strenge, zu diszipliniertem Erzählen. Der Autor will eine andere Art Buch schreiben als bisher. Daß er dennoch erfinden muß, wo die Erinnerung versagt oder der Zusammenhang des gelebten Lebens ergänzende Hinzu-fügung verlangt, ist unvermeidlich, weil es die wahre, die „dokumentarische“ Autobiographie nicht wirklich, sondern nur als utopischen Entwurf geben kann.
De Bruyn räumt ein, daß man Wirklichkeit durch Erzählen nur schattenhaft wiederbelebe, wenn die Fähigkeit fehle, sie um Mögliches, das wie Wirkliches wirkt, zu ergänzen: „Tatsachenberichte einfallslos aneinandergereiht, ergeben nur blasse Geschichten, erst die Erfindung verleiht ihnen Kontur.“ Beim Umgang mit frühen Quellen, den Familienfotos oder den Erzählungen, in denen das Kind Günter die Hauptperson ist, überkommt den Schreiber der naheliegende Verdacht, vieles was er über seine Uranfänge wisse, habe er nur von den Erwachsenen übernommen. Auch das hat Goethe unwiderlegbar vorformuliert: „Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühesten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige, was wir von anderen gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigener anschauender Erfahrung besitzen.“
VIII. Heiner Müller: Von wem ist die Rede?
Auch der Dramatiker Heiner Müller verläßt sich in den beiden ersten Sätzen seiner kürzlich erschienenen Lebensbeschreibung auf die Zeugenaussage ihm nahestehender Personen. Seine Mutter dürfte die Gewährsfrau für die lapidare biologisch-medizinische Beschreibung des Anfangs gewesen sein: „Ich war eine schwere Geburt. Sie hat lange gedauert, von früh bis neun Uhr abends. 9. Januar 1929. «
Das erste Wort im Buch heißt „Ich“, obwohl es nach Müllers Meinung und nach dem vorangestellten Motto wohl das Fragwürdigste ist, das es überhaupt gibt: „Soll ich von mir reden Ich wer/von wem ist die Rede wenn/von mir die Rede geht Ich wer ist das.“ Vielleicht ginge zu weit, wer Müller den Satz unterstellen wollte: „Übereinstimmungen mit mir selbst wären rein zufällig“, aber der Nachweis unzähliger Ungereimtheiten könnte den Autor jedenfalls am allerwenigsten überraschen. Denn er hat sich eine Art Generalpardon ausgestellt, obwohl er gern den Eindruck erweckt, hart und illusionslos mit sich umzugehen: „Bis zu mei nem Tod muß ich mit meinen Widersprüchen leben, mir selbst so fremd wie möglich.“
Das steht in dem Nachwort (vom April 1992), dem -sieht man von den Dokumenten im Anhang ab -einzigen Textstück des Buches, das wirklich geschrieben wurde. Mehreren Literaten-Autoren und Lektoren beiderlei Geschlechts, die beim Gespräch Müllers Gegenüber abgaben und später als Kürzer und Bearbeiter wirkten, dankt Müller, ehe er zu einem Schlußsatz anhebt, der zu kritischer Interpretation herausfordert: „Sie haben mehr als tausend Seiten Gespräch, das über weite Strecken auch Geschwätz war, auf einen Text reduziert, den ich überarbeiten, wenn auch in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu Literatur machen konnte.“ Aber wenn das, was wir lesen, gar keine Literatur wurde, wie kann es dann überhaupt eine Autobiographie sein? Der Verlag hat dieses Wort auch nur auf den Schutzumschlag gemogelt, einmal in den Klappentext und ein anderes Mal in unanständig großen Buchstaben auf die Rückseite mit dem Bild des Autors. Im Buch selbst findet sich hingegen nur der Titel „Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen“. Bewußt vermeidet Müller das besitzanzeigende Fürwort. Nicht „mein Leben“ steht im Mittelpunkt, sondern das der anderen, der Zeitgenossen.
Daß zu wenig Zeit blieb zur Umwandlung des Rohstoffs in gestaltete Literatur, kann nur als ein äußerer, also nicht seriöser Grund geltend gemacht werden. Einen größeren Aufwand an Energie wollte Müller nicht auf ein solches Projekt verschwenden. Das liegt an seiner prinzipiellen. Trennung von Leben und Werk, für das eigene Erfahrung ohne Eigenwert bleibt, wenn sie nicht ins Material eingeschmolzen und so unkenntlich gemacht werden kann. Das Buch dokumentiert auf mehr als dreihundert Seiten die Weigerung, eine „Selbstbeschreibung“ zu liefern. Das Nachwort gibt dafür subjektive und objektive Erklärungen, wobei die objektiven so viel oder so wenig überzeugen wie die schon seit Jahrzehnten mit Geburtsanzeigen konkurrierenden Leichenreden zum „Tod des Romans“: „Mein Interesse an meiner Person reicht zum Schreiben einer Autobiographie nicht aus. Mein Interesse an mir ist am heftigsten, wenn ich über andre rede. Ich brauche meine Zeit, um über andres zu schreiben als über meine Person. Deshalb der vorliegende disparate Text, der problematisch bleibt. Die Kunst des Erzählens ist verlorengegangen, auch mir seit dem Verschwinden des Er-Zählers in den Medien, der Erzählung in der Schrift.“ Müllers Erinnerungsarbeit brachte gesprochene Memoiren zutage, wobei die Befrager als menschliche Katalysatoren aus dem versteinerten Gedächtnis manche Brocken loslösen halfen. Müller blieb jedoch immer der Herr des Gesprächs. Die „grenzüberschreitende Verführung“, die bei der „oral history“ zur Interviewtechnik gehört, hat bei einem sprachversierten Prominenten kaum Chancen. Müller bestätigt mit seiner jüngsten Publikation, daß die Sinnkonstruktion seines Lebens sich aus einer Mixtur anarchistischer, kommunistischer, existentialistischer und geschichtsfatalistischer Momente speist, denen jedoch durchweg Skepsis und Selbstzweifel, aber auch eine gewisse Schüchternheit, beigemischt sind. Radikale Positionen vertritt er ohne jeden Fanatismus. In Demutsformeln von der Art, er nehme sein Leben nicht so wichtig, steckt freilich dieselbe Koketterie, die dem Leser schon aus seinem Buchtitel „Gesammelte Irrtümer“ vertraut ist. Jetzt hat er das Scheitern der Autobiographie zum Bestandteil des Projekts und seiner Realisierung erklärt. Damit trieb er die Ein sicht auf die Spitze, daß Lebensdarstellung, die wenigen „unumstößlichen Fakten“ abgerechnet, Erfindung von Wahrheit ist.
Am Ideal gemessen muß jede Autobiographie mißlingen. Denn selbst das auserwählte Genie kennt weder sich selbst noch die Zeit und die Welt außer uns und um uns herum, und vieles Von dem, was es zu wissen meint, erscheint ihm nicht mitteilbar. Ein letztes Mal sei Goethe, der gleichwohl eine meisterhafte und sehr schweigsame Autobiographie hinterließ, als Zeuge dafür benannt: „Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt-und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen wie den Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet.. ,“