I. Asymmetrie und Dominanz
„Wandel durch Annäherung“ lautete einst die These, die eine neue deutsche Ostpolitik einleitete. Die Entkrampfung der politischen Beziehungen durch Gewährleistung eines friedlichen Nebeneinanders der beiden deutschen Staaten sollte nationale Entfremdung verhindern.
Der rasche Einigungsprozeß des Jahres 1990, der mit dem Beitritt der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz faktisch eine Übernahme des auseinander-fallenden Staates durch die „alte“ Bundesrepublik darstellte, nötigte zunächst einmal die Neubürger im „Beitrittsgebiet“ zu einer radikalen Heraus-lösung aus den alten Verhältnissen und zu außerordentlichen Einpassungsprozessen sowohl politisch-institutioneller und wirtschaftlicher als auch mentaler Art. Demgegenüber behielt man im Westen -scheinbar unbehelligt -die alten Verhaltensmuster bei. Erst allmählich wird deutlich, daß die zu erbringenden Integrationsleistungen im Innern wie die Umorientierungen im internationalen Beziehungsfeld auch die „alte“ Bundesrepublik betreffen und auf ihrer Seite erhebliche kollektive Lernprozesse zur Folge haben müssen: Wandel durch Integration also.
Sehr schnell haben die Debatten um die deutsche Stellung im Golfkrieg oder die zu Asylanten und Flüchtlingen aus Osteuropa und den Balkanstaaten auch den eher politikfernen Bürgern deutlich gemacht, daß es mit dem behäbigen Zustand der alten Bundesrepublik Deutschland im Schatten festgezurrter Großmachtbeziehungen vorbei ist: Unruhe im Parteiensystem, Streiks und Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern etwa um die Neuregelung der Finanzen deuten darauf hin, daß die Erweiterung des politischen Systems eine Veränderung der Beziehungen innerhalb dieses Systems zur Folge haben wird. Die anhaltende wirtschaftliche Schwäche der neuen Bundesländer erzwingt nicht nur neuartige wirtschaftspolitische Strategien mit verstärkter staatlicher Eingriffs-macht,sondern fordert auch Debatten über die Neubestimmung der im Grundgesetz postulierten Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse heraus: Was besagt politische Gleichheit bei erheblicher regionaler Ungleichheit?
Wichtiger noch erscheint die Anerkennung der Neubürger im politisch-kulturellen Bereich. Evaluierungen und Abwicklungen, die Betonung der Stasi-Herrschaft im alten System und die für Westdeutsche undurchschaubaren Lebensformen und Arrangements mit den herrschenden Zuständen in den vergangenen vierzig Jahren erschweren die Begegnung von gleich zu gleich auf beiden Seiten Insofern befindet sich das Land in einer Phase der Desorientierung; alte Politikkonzepte greifen nicht mehr, für Neuentwicklungen fehlen noch zureichende Begriffe.
Lassen wir die Problematik der neuen Rolle in den internationalen Beziehungen beiseite und befassen wir uns mit den übrigen Fragen: -Welche Rückwirkungen wird die Veränderung der Systembeziehungen auf das politische Bewußtsein der Bürger haben (das betrifft vor allem die Integrationsprozesse von Ost und West)? -Wie wird das Problem der Inhomogenität zwischen neuen und alten Bundesländern gelöst? -Wie steht es mit der kulturellen Integration?
Anhand einiger Beispiele soll im folgenden auf diese Fragen eingegangen werden. * S.
II. Erwartungen und Befürchtungen
Zentrale Themen der „alten“ Republik vor der Vereinigung wären zunächst die europäische Integration und die durch sie erwarteten Freisetzungsprozesse sowohl im ökonomischen als auch im kulturellen Bereich. Ängste vor einer „Zweidrittelgesellschaft“ und Hoffnungen auf die Chancen von Individualisierungsprozessen vermischten sich. Rot-grüne Bündnisse wurden als Möglichkeit diskutiert, „weiche“ Themen -ökologische Probleme oder die von Heiner Geißler propagierte „multi-kulturelle Gesellschaft“ -in Wahlkampfprogramme eingebunden. In diesen politischen Szenarien spielten weder die Entwicklungen in der UdSSR und Ostmitteleuropa noch die in der DDR eine Rolle.
Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes zählte eher zu den „dignified parts of the Constitution“, denen unmittelbar aktuelle Bedeutung nicht beigemesssen auf die in den entscheidenden Momenten aber zurückgegriffen wurde. Der Appell an das Nationalbewußtsein konnte auf vorhandenem Nationalgefühl aufbauen, das am 9. November 1989 schockartig aktiviert worden war. Im übrigen wurden die Bürger der Bundesrepublik -aus wahltaktischen Gründen -bewußt nicht gefordert, sondern bestenfalls als zustimmende Statisten politischer Großereignisse angesprochen.
Die Debatte der Intellektuellen über das Ob und Wie eines neuen deutschen Nationalstaats verlief merkwürdig zögerlich: „Die Geschichte raste, und die Intellektuellen traten auf der Stelle; als die Nacht des Mauerdurchbruchs zum Tage wurde, war die Avantgarde der deutschen Intellektuellen zur Nachhut geworden“ -so Wolfgang Lepenies Die alte Bundesrepublik fand plötzlich erstaunlich beredte Verteidiger ihrer Freiheiten, die man sowohl durch die gefürchtete neue nationale Groß mannssucht als auch durch Kontaminierung mit dem „überwundenen“ Staatsverständnis der DDR in Gefahr glaubte Die damals verfaßten Texte, wichtig als Stellungnahmen im Prozeß nationaler Selbstverständigung, erweisen sich heute als nur begrenzt ausreichend für die Entwicklung neuer Identitätsvorstellungen.
Zu den optimistischen Bewerten! der Möglichkeiten des neuen Deutschland zählte der Frankfurter Soziologe Karl Otto Hondrich. Nur Deutschland habe die Chance, sich durch Fusion um mehr als ein Viertel zu vergrößern, schrieb er kurz vor der Vereinigung. Die Herausforderung, das entstehende Wohlstandsgefälle plötzlich auszugleichen, stelle sich nur in diesem Staat. „Und nur hier, in der faktischen, aber auch symbolischen Verschmelzung der Teile von zwei bislang verfeindeten Blöcken, ergibt sich die Chance einer einzigartigen Mittel-und Mittlerrolle. Die dynamisierenden Energien der deutschen Fusion werden die Besonderheiten des dominierenden Teils auf das Ganze übertragen und noch bekräftigen: Produktivitätsdenken und Produktivitätspakt (von Gewerkschaften und Arbeitgebern, I. H.) werden durch die in der DDR zu erzielenden ungewöhnlichen Produktivitätszuwächse gefestigt werden. Die Tendenz zu einer Gesellschaft der Besten wird durch den vorübergehenden Qualifikationsrückstand der DDR kaum angehalten werden; im Gegenteil: Leistungswille und Nachholbedarf (...) werden zusätzliche Impulse geben. (...) Die Verwandlung der repressiven in eine Konfliktgesellschaft, auf die die Bundesrepublik bereits zurückblicken kann, erhält einen kräftigen Schub. Nicht nur, daß die Bürger der DDR (...) die Konfliktkultur des Westens ohne Anstrengung übernehmen. Sie reichern sie mit zusätzlichen Sensibilitäten aus erlebter und abgeschüttelter Unterdrückung (...) an.“
Hondrich begriff die Einheit als Herausforderung an die Problemverarbeitungskapazität der Republik. Ausgehend von der Sogwirkung jenes „Modells Deutschland“, das sich in den letzten vierzig Jahren in der alten Bundesrepublik entwickelt hatte, koppelte er sie mit den zu dieser Zeit üblichen Hoffnungen auf raschen wirtschaftlichen Aufschwung und bezog die positiven Aspekte der DDR-Gesellschaft, wie sie sich ihm damals darstellten, als Antriebskräfte der Veränderung in seine Analyse ein Die Frage nach dem „Erbe“ der DDR schien ihm insofern ein wichtiger Beitrag zu einem künftigen Deutschland.
Aus der Perspektive eines ostdeutschen Intellektuellen hat der Schriftsteller Heiner Müller ein schwächeres Deutschland vorhergesagt: „Die Schlange hat nach vier Jahrzehnten hypnotischer Behandlung das Kaninchen verschluckt, aber es scheint sich herauszustellen, daß das Kaninchen ein Igel war, und bekanntlich haben Igel die Fähigkeit zu einem langen Winterschlaf.“ Wird der neue Staat, verkörpert in der Schlange des Kapitalismus, am integrierten Realsozialismus zugrunde gehen? Haben die Deutschen sich übernommen?
Das wird heute auch von westlicher Seite oft behauptet, allerdings weniger wegen der schwer verdaulichen sozialistischen Widerborstigkeit, sondern vielmehr aus der Befürchtung heraus, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik werde kaum ausreichen, den Gesamtstaat abzusichem. Die mit der Vereinigung gewachsenen internationalen Verpflichtungen verkleinern die Spielräume der Entwicklung Der Niederschlag solcher Ängste ist in jener allgemeinen Politikverdrossenheit der Bürger zu finden, die die Wahl-und Parteienforschung des letzten Jahres zunehmend beunruhigten. Die „Partei“ der Nichtwähler wächst bedrohlich, den Republikanern werden konkrete Wahlchancen zugesprochen, und von den Ostdeutschen zeigen 27 Prozent, von den Westdeutschen sogar 41 Prozent der Befragten Verständnis „für rechtsradikale Tendenzen wegen des Ausländerproblems“ Die Hälfte aller Westdeutschen befürchtet eine Reduzierung des eigenen Wohlstands durch die Milliarden, die in den Osten fließen, vier Fünftel schätzen die eigene Belastung durch die Kosten der Einheit als „groß“ ein. Nationale Opfergesinnung hält sich in Grenzen; der Appell des Bundespräsidenten, eine Politik des großen Lastenausgleichs als Ausdruck der Vereinigungssolidarität zu betreiben, ist in der Öffentlichkeit auf wenig Widerhall gestoßen
In der Bundesrepublik ist inzwischen ein Zustand der Stagnation eingetreten: „Alte“ Interessenlagen haben wieder Vorrang; zumindest die Sicherung des Erreichten ist angesagt. Die Chance der Vereinigung ist zur Belastung geworden.
Diese Anzeichen beträchtlicher Orientierungsunsicherheiten in den alten Bundesländern wurden vermutlich gerade durch die Illusion verstärkt, der Gang der Ereignisse habe das „Modell Bundesrepublik“ historisch in einer solchen Weise legitimiert, daß zu Veränderungen kein Anlaß bestehe. Die in jedem Falle bestehende Asymmetrie zur alten DDR verfestigt entsprechende Haltungen. Politisch, ökonomisch, politisch-kulturell und der Zahl nach ergibt sich gegenüber den neuen Bundesländern ein als selbstverständlich angesehenes Übergewicht. Diese Dominanz, bei der die Verhältnisse in der alten Bundesrepublik zum alleinigen Maßstab erhoben werden, erschwert die Orientierung in der „Dritten Republik“, zumal sich feste Regeln erst teilweise eingespielt haben. Lemzwänge sind nicht so offensichtlich, Lemvorgänge auf bestimmte Segmente der Gesellschaft begrenzt. Zwar fehlt es nicht an öffentlichen Ermahnungen, wohl aber, mit Ausnahme des Hinweises auf notwendige finanzielle Opfer, an Mechanismen, die eine zwingende Änderung von Einstellungen und Verhaltensweisen notwendig und einsehbar machen.
III. Veränderungen im politischen System?
Was hat sich für die Bürger der alten Länder in der Wahrnehmung des politischen Systems geändert?
Gewiß, der Bundestag hat sich vergrößert, nicht nur durch Zuwächse bei den alten Parteien. Zwei neue Parteien -im Falle des Bündnis 90 eher eine Bürgergruppierung -sind in das Parlament eingezogen, aber sie haben die parlamentarischen Verhältnisse nur marginal verschoben. Einen neuen Politikstil, der von manchen ihrer Vertreter wegen ihres unprätentiösen Auftretens erhofft wurde, haben sie nicht durchsetzen können. Die PDS stieß sogar eher auf parlamentarische Mißachtung. Einen stellvertretenden Parlamentspräsidenten aus Ostdeutschland gibt es nicht, wohl aber eine Ministerin und stellvertretende Parteivorsitzende sowie zwei Minister in der Regierung; dazu mehrere parlamentarische Staatssekretäre. Das innerdeutsche Ministerium ist verschwunden; an seine Stelle trat kein Ministerium oder ein spezieller Bundesbeauftragter für den Aufbau im Osten. Der politische Betrieb erweckt den Anschein, als seien die Probleme des neuen Deutschland im Rahmen des Üblichen zu bewältigen.
Hätte die Debatte um eine neue Verfassung das ändern können? Sie war von vielen ihrer Verfechter vorwiegend aus symbolischen, aus Gründen der öffentlichen Verständigung auf die Wertordnung einer künftigen gemeinsamen Republik, gefordert worden. Aber diese Haltung fand nur bei einer Minderheit Widerhall. Der schnelle Beitritt der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz erwies sich als der gangbarere Weg, wenn auch die demokratische Legitimation der Einheit im Akt der Grundsteinlegung „des gesamten deutschen Volkes“ damit zu kurz kam. Es gab viele Plädoyers, diesen Prozeß nachzuholen. Im Einigungsvertrag ist eine entsprechende Verfassungsdiskussion -allerdings thematisch begrenzt -nach Artikel 146 vorgesehen. Dabei handelt es sich um eine Konzession an die SPD -nicht an die Bürger der ehemaligen DDR, schon gar nicht an den Verfassungsentwurf des „Runden Tisches“. Eine Neuformierung der Republik über eine Verfassungsdebatte (also über den Versuch, als Forderung der Verfassung festzuschreiben, was sich in der Praxis nicht hatte durchsetzen lassen) wurde im Augenblick höchster Anerkennung des Grundgesetzes für indiskutabel erklärt.
Heute besteht kein breites öffentliches Bedürfnis nach gründlicher Auseinandersetzung mehr. Inzwischen konzentriert sich die Verfassungskommission auf wichtige Detailfragen -wie etwa die Neufassung des Artikels 23; ein ernsthaftes, die Nation im Streit verbindendes Thema werden selbst die Neufassung des Asylrechts und die Neu-festlegung von Staatszielbestimmungen derzeit kaum noch abgeben. Zwar steht außer Zweifel, daß sich die gelebte Verfassung durch das Hinzutreten der fünf neuen Länder (die inzwischen eigene Verfassungen verabschiedeten) erheblich verändern wird und schon verändert hat -nicht nur im Bereich der Bund-Länder-Beziehungen. Aber diese Prozesse laufen noch nicht lange genug, um sich im Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit schon niederschlagen zu können
Eigentlich gab es nur ein Ereignis von symbolischer Bedeutung, das die gesamte Nation spürbar betraf: die Hauptstadtfrage und die Bestimmung Berlins zum Regierungssitz. Obgleich in früheren Bekundungen die Hauptstadtfunktion Berlins immer herausgestellt worden und die Aufrechterhaltung der Sonderstellung dieser Stadt ein wesentliches Moment bundesdeutscher (wie überhaupt westlicher) Politik gewesen war, ergaben sich hier unvermittelt scharfe Konfliktlinien quer durch die bundesdeutschen Parteien und Regionen. Sie mußten vielen ehemaligen DDR-Bürgern unverständlich erscheinen: Die sich konträr gegenüberstehenden Argumente reichten von Westorientierung contra Polen-Nähe über Föderalismus versus Zentralismus, „preußische“ und „Reichs“ -Traditionen contra westlich-süddeutsch-katholisch orientiertes Republikverständnis bis zu purem Lokalpatriotismus (samt der Unverrückbarkeit gewohnter Verhältnisse) gegenüber dem Aufbruch in eine heruntergewirtschaftete Stadt, deren politische Symbolik eher verschreckte als anzog. Die Kosten der Einheit erschienen plötzlich als Umzugs-und als mentales Problem: Kaum sonst wurden die Schwierigkeiten, sich mit der neuen Republik zu arrangieren, so deutlich wie bei der Auseinandersetzung um die Hauptstadt Längst hat sie ein zweites Kapitel, das der zögerlichen Umsetzung der Bundestagsbeschlüsse für Berlin, bei gleichzeitiger reichlicher Entschädigung Bonns.
Die deutlichsten Verschiebungen im politischen System der Bundesrepublik sind im Bereich der Länder zu verzeichnen. Nach außen sichtbar wurden sie zum ersten Mal, als mit Alfred Gomolka ein ostdeutscher Ministerpräsident Bundesratspräsident wurde. Das eingespielte und kompliziert austarierte System des bundesdeutschen Föderalismus wurde durch das Hinzukommen der fünf neuen Länder empfindlich gestört. Wenn sich auch die „alten“ Länder durch Änderung der Stimmen-verhältnisse noch rechtzeitig gegenüber einer Sperrminorität der „neuen“ abgesichert und die Frage der Neuregelung des Finanzausgleichs bis zum Jahr 1995 herausgeschoben hatten, so stellte sich doch bald heraus, daß Abstimmungen (etwa im Bereich der Bildungs-und Kulturpolitik) nicht mehr nach eingespieltem Muster verliefen. Ein wesentliches Erfordernis föderalistischer Organisation, die Homogenität, war gleichfalls außer Kraft gesetzt. Die finanzielle Abhängigkeit der „Neuen“ von der Bundesregierung, durch die Taktik des alten Bundesrats eher verstärkt, förderte zentralistische Tendenzen. Auch parteipolitische „Profilierungen“ sind daher nur begrenzt möglich, wie das Ausscheren des brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe aus der Front der SPD-Länder zeigte, die gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer votiert hatten. Auch sonst kam es zu einer Reihe pragmatischer Regelungen. Der offensichtliche Unsinn, zu dem die Etablierung von Landeszentralbanken in jedem neuen Bundesland geführt hätte, zwang zu einer länderübergreifenden Neuorganisation in diesem Bereich. Ebenso wurde bei der Organisation der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verfahren, bei der nur in einem einzigen Fall -der Einbeziehung Mecklenburg-Vorpommerns in den NDR -eine ehemalige Systemgrenzen übergreifende Fusion gelang.
Zurückhaltend verhielten sich die alten Länder auch bei der Neuverteilung der Sitze der großen Bundesinstitutionen. Die Zugeständnisse, die den neuen Ländern angesichts der von ihnen erhobenen Forderungen tatsächlich gemacht wurden, waren begrenzt. Zwar zeigte sich Berlin bereit, das Bundesverwaltungsgericht abzugeben, aber im übrigen konzedierte man den neuen Ländern -außer dem Bundesarbeitsgericht und dem Umweltbundesamt -meist nur Teilbehörden. Es wurde deutlich, daß die symbolische Funktion der Politik -nämlich Zeichen der Zugehörigkeit zu setzen, was regionalpolitisch das Nachziehen eines entsprechenden Dienstleistungsapparats in strukturell benachteiligte Gebiete zur Folge haben würde -wohl erkannt worden war, daß sie jedoch mit entsprechenden Interessen in den alten Bundesländern (insbesondere auch Bonns) kollidierte
Die neuen Länder gelten als zu klein, um funktionsfähig zu sein. Aber bis auf die mögliche Zusammenlegung von Berlin und Brandenburg wird sich ihre Gesamtzahl kaum noch verringern; eine erhebliche Komplizierung der Aushandlungsprozesse und damit der entsprechende Vorrang der Länderbürokratien ist abzusehen. Es muß sich erst noch zeigen, inwieweit die „alten“ Länder bereit sind, von dominanten Positionen durch eingespielte Verhandlungsnetzwerke abzurücken; vermutlich werden die inzwischen zu den neuen Ländern aufgebauten Verwaltungskontakte hilfreich sein. Die Neuregelung des Finanzausgleichs droht schon jetzt zur Zerreißprobe für die bisherigen Länderbeziehungen zu werden. Ohnehin haben sich politische Gewichtungen verschoben. Jedenfalls hat sich die Bedeutung Bayerns im Bundesrat verringert.
Entscheidende Veränderungen spielen sich im regionalpolitischen Bereich ab, haben sich doch die innere Konsistenz und relative Homogenität der alten Republik, die zu ihren Vorteilen gehörten, außerordentlich verringert. Bislang strukturell benachteiligte Regionen verlieren dabei ihre früheren Fördermöglichkeiten. Teilweise (im Falle der ehemaligen „Zonenrandgebiete“) konnten diese jedoch durch die neue Mittellage vorteilhaft ausgeglichen werden Zu den Gewinnern dieser Entwicklung zählt eine Stadt wie Hamburg, nicht zuletzt auf Kosten Rostocks.
Die „Armutsgrenze“ verschiebt sich nach Osten, in die dünnbesiedelten agrarischen Gebiete. Auch hier muß das Erbe der DDR übernommen werden: ihre geographisch ungünstige Lage, derzufolge ein wirtschaftlich schwach entwickeltes Land wie Polen nun zum wichtigen Nachbarn wird. Die Grenze nach Osten, bislang durch die DDR abgepuffert, ist heute keine „Systemgrenze“ mehr, wohl aber eine Wohlstandsgrenze: Einfallstor für Asylanten und Schwarzarbeiter. Hatte Westorientierung bislang selbstverständlich bedeutet, sich am fortgeschrittensten Standard westlicher Industriegesellschaften zu messen, so muß das Gefälle zwischen Ost und West jetzt innerhalb der Republik ausgeglichen und das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie neu definiert werden. Neue strukturpolitische Konzepte werden notwendig. Insoweit sie die Landwirtschaft betreffen, wirken sie auf die Diskussion im Westen zurück.
Schließlich ergeben sich besondere Schwierigkeiten in Berlin, das als allmählich wieder zusammenwachsende Stadt alle Nachteile des raschen Vereinigungsprozesses auf einmal auszugleichen hat: den Aufbau einer einheitlichen Verwaltung, die Bewältigung der Deindustrialisierung im Osten, die Polarisierung des städtischen Arbeits-und des Wohnungsmarktes (verschärft durch die zu erwartenden erheblichen Zuwanderungen), das Aussikkern der Wohnung-und Arbeitsuchenden ins Umland, wodurch ein rascher Ausbau der Verkehrssysteme erforderlich wird. Die Herausforderung durch die Metropolensituation wird hier durchaus auch als Belastung empfunden
IV. Improvisation und Integration
Die Vereinigung war nicht das Ergebnis eines lange vorab geplanten Prozesses, sondern Ergebnis eines die Gunst der Stunde nutzenden „improvisierten“ Handelns Die rasche Wirtschafts-und Währungsunion und der Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz ermöglichten nicht nur außenpolitisch glatte Lösungen, sondern erwiesen sich auch als innenpolitisch äußerst effektiv. In den entscheidenden Phasen handelte die Exekutive, wobei die bundesrepublikanische Verwaltung in den Verhandlungen mit der DDR klar dominierte.
Wolfgang Schäubles Bericht über die Entstehung des Einigungsvertrages zeigt die Prämissen deutlich auf: „Meine stehende Rede war: Liebe Leute, es handelt sich um einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, nicht um die umgekehrte Veranstaltung. Wir haben ein gutes Grundgesetz, das sich bewährt hat. Wir tun alles für euch. Ihr seid herzlich willkommen. Wir wollen nicht kaltschnäuzig über eure Wünsche und Interessen hinweggehen. Aber hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt. Wir fangen nicht ganz von vom bei gleichberechtigten Ausgangspositionen an. Es gibt das Grundgesetz, und es gibt die Bundesrepublik Deutschland. Laßt uns von der Voraussetzung ausgehen, daß ihr vierzig Jahre lang von beiden ausge schlossen wart. Jetzt habt ihr einen Anspruch auf Teilnahme, und wir nehmen darauf Rücksicht.“ Dieses Verhalten gegenüber der DDR hatte aber auch innenpolitische Konsequenzen. Mögliche Grundsatzdebatten, wie sie in der Bundesrepublik vor allem im Frühjahr 1990 -etwa beim Aufruf zu einer Verfassungsdiskussion -noch eine erhebliche Rolle gespielt hatten, wurden umgangen und die hierorts gewohnten Entscheidungsmechanismen -die Mitsprache von Ländern, Parteien, Verbänden samt ihrer Kommentierung in den Medien -zeitweilig außer Kraft gesetzt. Es wurden Fakten geschaffen, zu denen sich die Akteure bestenfalls noch korrigierend, nicht aber grundsätzlich eingreifend verhalten konnten. Alle künftigen, auch durch sie zu erbringenden Integrationsleistungen mußten und müssen sich nun auf dem Boden der einmal geschaffenen Tatsachen von der Bundesrepublik aus vollziehen, ihre Notwendigkeit war damit gewissermaßen schon in das System einprogrammiert worden. Das erwies sich zunächst als außerordentlich produktiv: Parteien, Verbände, Verwaltungen waren jeweils auf ihre Weise gehalten, den Vereinigungsprozeß aktiv nachzuvollziehen und von sich aus tätig zu werden. Üblicherweise wurde dies, wenn praktische Probleme anstanden, durch die Entwicklung neuer Umsetzungsstrategien bewältigt. Langfristige Konzeptionen waren eher die Ausnahme. Welche unterschiedlichen Probleme und Interessenlagen sich dabei ergeben konnten, soll im folgenden am Beispiel von Verwaltung, Militär, Gewerkschaften und Parteien aufgezeigt werden. Innerhalb der bestehenden Netzwerke wurden in Ad-hoc-Verfähren Taktiken des Umgangs mit den (noch) vorhandenen Institutionen, Parteien, Bürger-bewegungen und Massenorganisationen der DDR entwickelt. Spätestens seit der Vorwahlzeit hatte eine rege Reise-, Beratungs-und Unterstützungstätigkeit von West nach Ost eingesetzt. Die Motive waren dabei recht unterschiedlich -sie reichten von der bloßen Hilfsabsicht und der Begeisterung für die „deutschen demokratischen Revolutionäre“ bis zum nationalen Pflichtbewußtsein und dem Ausbau von Bastionen für die jeweils vertretenen Gremien und Startpositionen für eigene Karrieren; die Lösungen waren pragmatisch, richteten sich nach Kenntnisstand und Engagement der Beteiligten. Dem folgten in einer zweiten Phase die ersten Zusammenschlüsse von Parteien und Gewerkschaften, soweit nicht neue Organisationen aufgebaut wurden, und die Unterstützung bei der „Professionalisierung“ einer neuen Politikerschicht. Gleichzeitig kam es, nach dem Einigungsvertrag, zu einer weitgehenden Umpolung der neuen Länder auf die Verwaltungsregeln der alten Bundesrepublik, sowie zur Übertragung westlichen Kommunalverfassungsrechts und zu „Abwicklungen“ in den Bereichen von innerer Verwaltung, Justiz, Militär, Schulen, Wissenschaft und Diplomatie. Sie waren teilweise politisch, teilweise aber auch durch die westdeutschen Effizienz-Standards bedingt Umorganisiert wurde des weiteren das Gesundheitssystem und das System der sozialen Sicherung, wobei weniger Maßstäbe der „Modernisierung“ als des im Westen herrschenden Besitzstanddenkens angelegt wurden
Diese Aufgaben konnten nur durch aktive Hilfe gelöst werden, und es zählt zweifellos zu den Leistungen des deutschen Föderalismus, daß die gefundenen Lösungen -die Adoption eines Partner-landes im Osten -erheblich zur Binnenintegration beitrugen. Bislang einheitliche „Kaderverwaltungen“ mußten auf Verwaltungen westlichen Zu-schnitts umgestellt und personell übersetzte Strukturen abgebaut werden. Hinzu kam noch die Frage der politischen Integrität insbesondere im Öffentlichen Dienst. Damit traten Westdeutsche nochmals ausschließlich als Anleitende, als Lehrende und (Be) Urteilende auf -bewußte Vertreter der Standards „ihrer“ Gesellschaftsordnung, zu der die Ostdeutschen möglichst schnell und reibungslos aufschließen sollten.
Fast alle Ausnahmeregelungen des Einigungsvertrages sind (aus gutem Grund) zeitlich begrenzt, das setzte unter besonderen Zugzwang. Komplizierte rechtliche Materien wie etwa das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung erforderten schon bald rechtliche Korrekturen (wobei etwa dem ersten Vermögensrechtsänderungsgesetz schon bald eine umfangreiche zweite Nachbesserung folgte).
Angesichts der herrschenden personellen Engpässe konnten auch diese Probleme nur mit Hilfe westlicher Experten gelöst werden.
Karl Otto Hondrich hat von der „Dominanzfalle“ gesprochen, in der sich die „Besserwessis“ in dieser Situation zwangsläufig befänden Nun wird allerdings die westliche Dominanz durch die politisch forcierten Angleichungsprozesse, die übrigens von der DDR selbst in den Einigungsverhandlungen gefordert wurden zumindest tendenziell verstärkt, und sie erschwert den distanzierten Blick auf die eigene Herkunftsgesellschaft und zuweilen auch auf die besonderen Gegebenheiten der neuen Länder. So erfordern etwa Beamtenrecht oder Sozialversicherungsrecht stets von neuem Bewertungen und Einordnungen, die sich an westdeutschen Maßstäben orientieren. Die andersartigen Ausbildungsgänge in der DDR werden damit notgedrungen in ein ihnen fremdes Schema gepreßt. Diese Zumutungen werden von vielen Bürgern der neuen Bundesländer als brutal empfunden, ihre Auswirkungen den „Besserwessis“ zugerechnet, denen daher öfter mit großer Reserviertheit begegnet wird.
Die phantasielose Übertragung westlicher Modelle wird im nachhinein oft gerügt. Angesichts des gesellschaftlichen Entwicklungsstandes der ehemaligen DDR -von Kurt Biedenkopf wurde ihr Komplexitätsgrad zur Zeit der Wende mit dem der Bundesrepublik Anfang der sechziger Jahre verglichen -erschienen sie überkomplex und überreguliert; ihre Durchsetzung wirkte zunächst nicht stimulierend, sondern angesichts der ökonomischen Situation eher demoralisierend. Maßstäbe für „vereinfachte“ Regelungen, mehrfach vorgeschlagen, hätten aber in dieser kurzen Zeit nicht entwickelt und miteinander abgestimmt werden können. Doch auch da, wo Phantasie möglich gewesen wäre -z. B. in der Medienpolitik -, wurden „eingefahrene“ Lösungen angestrebt, die Chancen zu einem Neuanfang nicht genutzt 25. Mit dem so oft kritisierten Personaltransfer von West nach Ost ist -als Nebeneffekt dieser „Entwicklungshilfe“ -eine beträchtliche Verklammerung von Ost-und West-Verwaltungen entstanden. Vor allem sind nunmehr auch im Westen Kenntnisse über die neuen Bundesländer abrufbar. Derzeit sind etwa 25 Prozent aller Beamten in der höheren Verwaltung Sachsens Leihbeamte, erwünscht wären zu dem jetzigen Ist-Bestand von 1400 Leihbeamten weitere 400 Etwa 1000 Beamte, wechselnd nach Bedarf, entsendet das Land Bayern im Schnitt nach Sachsen und Thüringen, abgesehen von den Kommunalbeamten etwa 2000 Beamte des Bundes arbeiten jeweils kurzzeitig in den neuen Ländern Meist gilt ihr Einsatz als zu knapp befristet und daher zu stark an der Lösung anfallender praktischer Aufgaben orientiert, um langfristige Änderungen in Gang zu setzen. Doch Erfahrungen werden weitergegeben, neue Modelle der Kenntnisvermittlung versucht, wie etwa die Zusammenarbeit nach dem „Tandem-prinzip“ (mit Austausch zwischen Ost und West oder bestimmten Ansprechpartnern im Partner-land) Allerdings bleibt dieses Wissen auf den Bereich spezieller Fachkenntnisse beschränkt: Vergleichbares gilt für den Troß der inzwischen gewaltig angewachsenen „Beratungsindustrie“ etwa von Treuhandmitarbeitern, Verbänden und Unternehmen. Sie alle kehren zurück in die alte Bundesrepublik, die andere Probleme hat. Das erworbene Wissen ermöglicht Distanz zu den Vorgängen hier, aber es läßt sich nicht direkt umsetzen. Die politische Gleichheit konnte die Ungleichheit beider Gesellschaften nicht überbrücken.
Schwieriger waren die Probleme bei der Integration der Nationalen Volksarmee (NVA), wenngleich sie beinahe lautlos bewältigt wurden. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte dabei, daß man sich noch bis vor kurzem als Gegner gegenübergestanden hatte Waren auch NVA-Soldaten nicht als Feinde bezeichnet worden, so galten sie doch seit jeher als politisch indoktrinierte Vertreter einer politischen Ordnung, der man sich als Angehöriger einer demokratischen Armee überlegen fühlte. Die Bundeswehr war gehalten, laut Einigungsvertrag Teile der NVA zu übernehmen, allerdings schieden alle höheren Ränge praktisch aus. Eine „Reservearmee“ von sogenannten „Weiterverwendern“ wurde zunächst beibehalten, ein weiterer Teil der Armee unter Zuweisung eines vorläufigen (durchweg niedrigeren) Dienstgrades als „Soldaten auf Zeit“ für vorerst zwei Jahre (und zunächst 60 Prozent des westlichen Gehalts) berufen. Wichtige Offiziers-und Unteroffiziersfunktionen übernahmen Westsoldaten, denen sich damit erhebliche Aufstiegs-und Zulage-Chancen boten. Praktisch entstand damit so etwas wie eine Zwei-Klassen-Armee mit entsprechenden Problemen Protest von seiten westlicher Soldaten gab es vor allem dann, wenn die Unterordnung unter frühere NVA-Angehörige zur Debatte stand oder wenn befürchtet wurde, die eigenen Beförderungschancen könnten durch das Hinzukommen der NVA bei gleichzeitiger Verkleinerung des Militär-potentials zu Benachteiligungen führen. Die großen Unterschiede hinsichtlich des Einkommens und der Beförderungserwartungen zwischen Ost und West mußten (wie das auch in den entsprechenden Verwaltungen galt) durch sachliches Miteinanderauskommen ausgeglichen werden, oft unter Ausklammerung weitergehender politischer Debatten.
Weniger um ideologische Gegnerschaft, wohl aber um die Vertretung unterschiedlicher Interessenlagen in Gesellschaften eines jeweils anderen wirtschaftlichen Zuschnitts ging es bei den Verbänden. Für das „Auffangen“ von Arbeitnehmern, die plötzlich aus alten Betriebs-und Wirtschaftsstrukturen gerissen wurden, war die Politik der Gewerkschaften besonders wichtig. An ihren Problemen lassen sich die Dilemmata des internen Programmausgleichs innerhalb einer gespaltenen Gesellschaft sehr gut verdeutlichen. Die Themen westdeutscher Gewerkschaftspolitik klafften schon vor der Vereinigung weit auseinander: Die Interessen der Arbeiter in der Produktion, die noch immer die Mehrzahl der Mitglieder darstellten, mußten vertreten, aber gleichzeitig mußte eine Politik entwickelt werden, die den individuellen Lebenslagen der Berufstätigen in einer sich stark ausdifferenzierenden Wirtschaft nach Möglichkeit gerecht werden sollte. Schließlich wollte man auch für die technische und ökologisch interessierte Intelligenz attraktiv werden. Mit dem Beitritt der DDR gewann jedoch auch die Interessenvertretung arbeitsloser oder von Arbeitslosigkeit bedrohter Mitglieder in den monostrukturierten Gebieten des Ostens an Bedeutung; Funktionäre mußten delegiert werden, wobei die unterschiedliche Interessenvertretung Ost und West zur Zerreißprobe wurde.
Der aus diesem Grunde im Frühjahr 1992 entwikkelten Devise des DGB „Teilen verbindet“ mochten viele Anhänger aus dem Westen nicht folgen. Im Rahmen dieser Initiative war die Notwendigkeit auch des Teilens von Arbeitsplätzen, d. h.der Verlagerung von Produktionsstätten von West nach Ost, als solidarischer Lastenausgleich thematisiert worden. Insbesondere die einfachen Mitglieder im Westen fühlen sich durch die „Kosten“ des Teilens stark belastet. Es entgehen ihnen nicht nur Einkommensmöglichkeiten, sondern z. B. verringern sich auch ihre Chancen auf bezahlbare Wohnungen oder Kindergartenplätze. Schon wegen der Konkurrenz, die ein Niedriglohngebiet innerhalb der eigenen Nation zur Folge hat, mußten die Gewerkschaften auf baldige Lohnangleichung zwischen Ost und West drängen, ein Verhalten, das ihnen vielerorts als einseitige Interessenpolitik angekreidet wird. Gleichzeitig nimmt ihnen die notwendige Vertretung „alter“ Gewerkscbaftspolitik im Osten wie im Westen die Möglichkeit, sich stärker für die „neuen“ Themen einzusetzen Die von den Gewerkschaften vertretene Politik der weiteren Arbeitszeitverkürzung hat neuerliche Rationalisierungszwänge zur Folge. Für den Osten Deutschlands bedeutet das jene Produktivitätspeitsche, der sich, wie Kurt Biedenkopf jüngst hervorhob, ein Teil der ostdeutschen Bevölkerung durch „Abschied von der Aufholjagd“ eher entziehen möchte. Der Streik der ÖTV im Westen schließlich verdeutlichte nochmals den Konflikt: Er besteht darin, daß der vertikale Interessenausgleich, den die Arbeitnehmer zu Recht fordern können, durch das horizontale „Teilen“ wieder aufgehoben wird, ohne daß diese Verhältnisse für sie wirklich einsehbar werden.
Von anderer Art sind die Ausgleichsprozesse in den Parteien Die Bonner Regierungsparteien CDU und FDP haben das Erbe der alten Blockparteien übernommen: Es sicherte ihnen in den neuen Ländern ein beträchtliches Mitgliederpotential und ein festes Organisationsgerüst, im Falle der FDP auch Parteivermögen, und erhebliche Wahlchancen. Der Ausgleich unterschiedlicher Interessen der ungleichen Nation wurde damit in die Parteiapparate verlegt und dort recht und schlecht vollzogen; oft ging dies nicht ohne „Nachhilfe“ in den neuen Ländern von seiten des zentralen Parteiapparats. So finden sich in der Ost-CDU sowohl ehemalige „Blockflöten“ als auch engagierte Gegner der SED: das Verhältnis zwischen ihnen und der übrigen Partei mußte neu bestimmt werden. Sicher wurden dabei Probleme wie die Vergangenheitsaufarbeitung im SED-Staat auf kleinstem gemeinsamen Nenner „bewältigt“ Immerhin hat zumindest die CDU sich mit diesem Problem ernsthaft auseinandergesetzt. Die FDP ist ihr darin bislang nicht gefolgt. Werner A. Perger spricht der CDU insofern die Fähigkeit einer echten Volkspartei auf dem politischen Terrain der ehemaligen DDR zu Neue, im Westen eher ungewohnte Werthaltungen von Mitgliedern, wie der in den neuen Bundesländern eher übliche Atheismus, müssen toleriert und integriert werden: Die Berufung auf christlich-abendländische Traditionen der CDU verliert damit an Selbstverständlichkeit.
Auch bei den anderen Parteien zeigt sich Bewegung, sei es, daß es gilt, wie im Falle der FDP, eine neugewonnene und eher nach links tendierende Mitgliederschaft nicht zu verprellen, oder, daß es gilt, wie bei der SPD, der Partei im Wählerspektrum der DDR überhaupt erst größere Resonanz zu schaffen, vor allem im traditionellen Wählermilieu der SPD, bei Facharbeitern und im öffentlichen Dienst. Beim Bündnis 90 und den Grünen erweist es sich als ein langer Weg, zu einem Konsens zwischen den Bürgerbewegungen des Ostens und der Partei der Grünen auf der Basis gemeinsamen „Querdenkens“ zu kommen. Der CSU hat ihre Verschwisterung mit der DSU keine wesentliche Erhöhung der Wahlchancen gebracht. Selbst in der PDS, will sie sich irgendwelche Überlebenschancen sichern, muß ein Ausgleich mit den Anhängern aus dem Westen gesucht werden.
Früher oder später müssen also die Probleme der Ost-West-Integration im Rahmen der Parteien auf irgendeine Weise „kleingearbeitet“ werden. Das gilt um so mehr, als gerade die Artikulationsfunktion der Parteien in den letzten Monaten heftiger Kritik ausgesetzt war und sich das Auftauchen einer ostdeutschen Sammlungsbewegung, wie sie mit den Komitees für Gerechtigkeit intendiert wird, als reale Herausforderung erweist. So hat zwar jede Partei ostdeutsche Vertreter in ihrer Führungsspitze, in der FDP ist sogar der Generalsekretär ein Ostdeutscher, und es gibt auch eigene Gremien, die sich mit Fragen Ostdeutschlands befassen, aber deren Gewicht innerhalb der Gesamtpartei hat sich angesichts sonstiger anstehender Probleme und der nur in Maßen veränderbaren Machtpositionen ihrer Vertreter bislang als nicht ausreichend erwiesen
V. Integration und Desintegration
Fassen wir zusammen: Auf der Ebene des politischen Systems ist im symbolischen Bereich wenig, auf dem Wege des praktischen Politikmanagements viel geschehen, um die Funktionsfähigkeit der neuen Länder zu gewährleisten. Die Dominanz des Westens wurde dabei nie in Frage gestellt. Für Berater aus dem Westen ergaben sich neben zuweilen sehr harten beruflichen Anforderungen Möglichkeiten, neue Erfahrungen zu sammeln und eigenes Wissen zu verwerten, Ausbruchschancen aus der Alltagsroutine und natürlich eine erhebliche Erweiterung von Karrierechancen, die zuweilen in schlichte parteipolitische Vorteilsnahme ausartete Die eindeutige Unterlegenheit des sozialistischen Systems, wie sie sich im Zusammenbruch der DDR manifestiert hatte, brachte den Westdeutschen zwar Selbstbestätigung, war aber kaum mit irgendwelchen Lemeffekten verbunden. Möglicherweise verhinderte auch die Knappheit der Zeit die Entwicklung alternativer Modelle; jedenfalls ist die „Chance gesamtdeutscher Selbstprüfung“ angesichts der neuen Situation vertan worden.
Zu diffus auch erweisen sich die Probleme, als daß ihnen mit einfachen Lösungen beizukommen wäre. Weder einfache marktwirtschaftliche Strategien noch Modelle nachholender Modernisierung, noch die Vorstellung eines durch eine zweite „Ostkolonisation“ zu bewältigenden nationalen Wiederaufbaus werden den Verhaltensweisen einer Bevölkerung gerecht, deren Mentalität durch vierzig Jahre DDR geprägt ist. So nehmen die Ostdeutschen einerseits -in gewohnter Weise -gegenüber dem Staat bestimmte Erwartungshaltungen ein, andererseits haben sie es satt, weiterhin Verfügungsmasse politischer Entscheidungen zu sein -zumal in so manchen Fällen der Westen zu relativ rigorosen Haltungen neigt. Kritisch hat Wolf Lepenies darauf hingewiesen, daß es zu den Folgelasten der Vereinigung gehöre, den politischen Komplizen und den kulturellen Mitläufer mit zweierlei Maß zu messen - den Vertretern von Wissenschaft und Kunst also weniger langfristige Wandlungsfähigkeit zuzubilligen als Parteimitgliedern. Für die Mehrheit der Bevölkerung im Westen ergibt sich hingegen, soweit sie nicht durch unmittelbare Nachbarschaft zu den neuen Ländern in die Probleme einbezogen ist, kaum eine Änderung in der politischen Betroffenheit, abgesehen von (eingeschränkten) Mangelerfahrungen. Insofern sollte man die Haltung mürrischer Solidarität nicht geringschätzen, mit der bislang die Kosten der nationalen Einheit akzeptiert wurden. Denn zu diesen Kosten zählt ja auch die Belastung mit mehreren zusätzlichen Problemhaushalten, zentral mit dem der Vergangenheitsbewältigung der ehemaligen DDR. Dem Westbürger sind diese Zusammenhänge meist nur in der Form von Schauergeschichten zugänglich, zu deren Beurteilung er von den Betroffenen jedoch für inkompetent erklärt wird. Der Mangel an Beurteilungskriterien führt zu Ratlosigkeit gegenüber Lebenszusammenhängen, die sich von Außenstehenden kaum bewerten lassen. Was war diese Gesellschaft? War sie ein Zwangs-system, in dem man der Stasi dienen mußte; war sie eine Gesellschaft „deutscher demokratischer Revolutionäre“? Der rasche Ansehensverlust von ursprünglich als „Bewegern der Revolution“ angesehenen Politikern, Schriftstellern, neuerdings auch Männern der Kirche im Prozeß der Stasi-Auseinandersetzung hat ein generalisiertes Mißtrauen wieder anwachsen lassen, das als antikommunistischer Vorbehalt gegenüber der Gesellschaft der DDR stets vorhanden war. Alte Klischees der Selbst-und Fremdwahrnehmung bestimmen damit weiterhin das Bild der Neubürger
Jede Begegnung mit einem ehemaligen DDR-Bürger stellt den „Westler“ vor die Frage, welche Art von Identitätserfahrung in der alten Gesellschaft man bei ihm voraussetzen soll, auf welche man ihn ansprechen kann: auf die politische, auf die soziale als „Schicksalsgemeinschaft“, auf die kulturelle, geprägt durch bestimmte Subkulturen? Die alten Nischen, wo finden sie sich noch in der Situation allgemeiner Auflösung der alten Strukturen dieser Gesellschaft? Der Bürger der alten Bundesrepublik orientiert sich an Lebensstilen, an einer Vielzahl von Gruppen, für ihn sind Unterschiede in den so homogen erscheinenden neuen Ländern schwer zu orten, die Menschen erscheinen ihm unzugänglich, und die „Lemblockaden“ der DDR-Bürger wirken insofern auf ihn zurück.
Die Vereinigung verlief -trotz besten Willens -nicht so glatt wie angenommen; zu groß waren die Unterschiede. Die Dynamik des Modells Bundesrepublik hat nicht -zumindest nicht innerhalb dieser kurzen Frist -zur mühelosen Integration der ehemaligen DDR geführt. Die von Karl Otto Hondrich aufgeführten Vorteile, die „zusätzlichen Sensibilitäten aus erlebter und abgeschüttelter Unterdrückung“, gerieten im Verlauf der Stasi-Debatte aus dem Blickfeld. Abgesehen von wirtschaftlichen Argumenten wird daher verstärkt auf sozialpsychologische Erklärungsmodelle zurückgegriffen, um unterschiedliche Reaktionsweisen in den neuen Bundesländern zu erklären Auf westlicher Seite herrschen dabei Ansichten vor, nach denen ehemalige DDR-Bürger „nachzuholen“ hätten; ihre derzeitigen Verhaltensweisen werden als veränderbar angesehen.
Anders -indem sie fragen, ob die rasche Angleichung an den Westen überhaupt ein vernünftiges Ziel darstellt -haben sich Kurt Biedenkopf und Meinhard Miegel dem Problem genähert: Überfordert sie nicht, bei dem gegebenen Abstand der beiden Volkswirtschaften, die Menschen, deren Mentalität so verschieden ist? „Es ist völlig unbekannt, wie eine Bevölkerung reagiert, die innerhalb von knapp einer Dekade eine wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen soll, für die der westliche Teil Deutschlands 30 bis 40 Jahre Zeit hatte. Sicher ist, daß eine derartige wirtschaftliche Anstrengung tiefgreifende Veränderungen aller Lebensbereiche erfordert und bewirkt. Eine Gesellschaft, die gezwungen ist, sich wirtschaftlich derartig dynamisch zu entwickeln, verliert in gewisser Weise ihre bisherige Identität.“ Biedenkopf spricht von der Verarmung des politischen und gesellschaftlichen Lebens, die durch eine solche einseitige Konzentration auf das ökonomische Ziel entstehen würde: Sie gefährdet zu einem erheblichen Teil auch die immateriellen Grundlagen, die die Fähigkeit der Gesellschaft sichern, das Erreichte zu bewahren -moralisch-kulturelle Regenerationsfähigkeit ihre also.
Entsprechend fordert er realistische Zielvorgaben für den wirtschaftlichen Aufschwung, die sich nicht nur an meßbaren Daten des Bruttosozialprodukts, sondern auch an Lebensqualität mit der Erhaltung tragfähiger sozialer Strukturen orientieren. Durchsetzbar wäre dies nur mit einer stärkeren Regionalisierung der wirtschaftlichen und sozialen Prozesse, praktisch also mit einer Abkoppelung von der zentralistischen Organisation der Sozial-systeme: „Wenn jedoch das umfassende Sozial-system zur Vereinheitlichung zwingt, dann ist es -angesichts seiner Bedeutung für die große Mehrheit aller Bürger -kaum möglich, im übrigen regional stark unterschiedliche Lebensziele und -entwürfe zu verwirklichen. Eine von Westdeutschland jedenfalls vorübergehend abweichende Zielvorgabe läßt sich deshalb nur verwirklichen, wenn alle wesentlichen gesellschaftlichen Strukturen regionalisiert werden.“
In Anbetracht der objektiven Aufnahmefähigkeit der ostdeutschen Volkswirtschaft und der subjektiven der Bevölkerung plädiert Biedenkopf für eine Verlängerung der jährlichen Transferleistungen an die neuen Länder, wenn auch bei Verringerung der Jahresraten. Sie müßten auf dem Wege eines Finanzausgleichs nach Regionen gefunden werden, der die Altbundesländer nicht überfordert. Im übrigen scheint ihm eine Akzeptanz regionaler Unterschiede notwendig, die es erlaubt, auch die Sondersituation der neuen Länder -die Situation des Aufbaus und Neubeginns -für eine phantasievolle Politik zu nutzen. Erleichtert werde diese durch das Fehlen festgeschriebener Besitzstände, die Reformen verhindern. So sollten etwa bestimmte Regeln der Rahmengesetzgebung des Bundes, für die weitaus komplexere (und reichere) Westgesellschaft geschaffen, außer Kraft gesetzt werden können, um unabhängigere Lösungen zu ermöglichen.
Die Antriebskräfte der Ostdeutschen könnten sich entfalten durch die Erkenntnis, „daß die alte Ordnung überwunden werden muß. Die Bereitschaft zu tiefgreifenden Veränderungen ist die Frucht der friedlichen Revolution gegen das Regime der Unmenschlichkeit und Unterdrückung.“ Diese Bereitschaft, einmal in Gang gesetzt, könnte in Zukunft auch Westdeutschland erfassen.
Hervorzuheben ist an diesen Aussagen in unserem Zusammenhang dreierlei: erstens die Abkoppelung von der wirtschaftlichen Aufholjagd und der Verzicht auf die umstrittene Formel der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ zugunsten einer „Gleichwertigkeit“; zweitens die Forderung nach eigenständigem Gestaltungsspielraum der Länder und drittens der Appell an jene Gesinnungen, die aus der spezifischen Situation des Umbruchs er-wuchsen.
Man mag diese Verknüpfungen als Formelkompromiß ansehen angesichts der sich derzeit abzeichnenden langsameren Entwicklung. Entscheidend aber ist wohl die Bereitschaft, sich mit der Mentalität der Bevölkerung im Osten nicht nur als einer zu ändernden, sondern als gegebener Realität auseinanderzusetzen, die mögliche politische Zielsetzungen nachhaltig beeinflußt. Das hat Konsequenzen auch für den Westen.
Jedenfalls führt die Neubestimmung des Begriffs der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse unter dem Aspekt der Gleichwertigkeit sowohl in die Tiefen und Untiefen der Föderalismusdiskussion als auch zu der Frage, inwieweit nicht generell -nach einer ersten Phase der Übertragung des Gesamtrahmens der Regelungen des Grundgesetzes -nun mehr Raum für einen Entwicklungsrhythmus und einen Entwicklungsgang der neuen Länder gelassen werden sollte, der auf ihre vierzigjährige Sondersituation, die ja auch moralisch-kulturell verarbeitet werden muß, mehr Rücksicht nimmt als bislang.
Es gibt viele Gründe, die gegen ein solches Verhalten sprechen. Eines der wichtigsten Argumente in bezug auf die Ökonomie hat Meinhard Miegel genannt: Wenn zwanzig Prozent der Bevölkerung Deutschlands sich weigern, mit vollem Einsatz in der Gruppe der Weltmeister mitzulaufen, wie die alte Bundesrepublik das bislang tat, „wird der Platz in der Spitzengruppe nicht zu halten sein, gleichgültig wie sich die Westdeutschen anstrengen. Dabei ist keinesfalls sicher, daß sich die Westdeutschen so anstrengen würden wie bisher. Es bedarf nicht viel, sie zu einer langsameren Gangart zu bringen.“ Auch könnte die langfristige Akzeptanz größerer sozialer Ungleichheit sicher eine wichtige Grundlage des „Erfolgsmodells Bundesrepublik“ zerstören. Andererseits würde ein solcher Mut zur Ungleichheit an alte deutsche Traditionen des auskömmlichen Nebeneinanders anknüpfen, das es bei Anerkennung der sozialen wie politisch-kulturellen Unterschiede beläßt. Länderidentitäten bieten Auffangmöglichkeiten für kulturelle Identifikation und für eine eigenständige Verarbeitung politischer Erfahrungen. Sie bieten eine institutionell abgesicherte Resistenz gegenüber allzu hastigen Angleichungsprozessen an die dominante Gesellschaft der alten Bundesrepublik. Sie ermöglichen Distanz, vom Westen aus gesehen, Respektierung der Sonderrolle in der Einheit. Dies könnte sich für die nächsten Jahre als das gedeihlichste Konzept zur Entwicklung Deutschlands erweisen.