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Die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 | APuZ 37/1992 | bpb.de

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APuZ 37/1992 Conquista und Mission Eroberung und Missionierung Lateinamerikas Der Jesuitenstaat von Paraguay Die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 Aus der Diaspora ins Exil: Der doppelte Ursprung der Sefarden. Zur Psychodynamik von Heimatlosigkeit und vergangenheitsorientierter Identitätsbildung

Die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492

Horst Pietschmann

/ 36 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Vorstellung ist weitverbreitet, daß über das Mittelalter hinweg Juden, Christen und Islam in relativ toleranter Form auf der Iberischen Halbinsel zusammenlebten, wie die großen Kulturdenkmäler aller drei Religionen zu signalisieren scheinen, und daß erst zu Beginn der Neuzeit religiöser Fanatismus dieser Koexistenz ein Ende bereitete. In dieser allgemeinen Form trifft dies jedoch nicht zu. Das tolerante Miteinander, wenn . es als solches existierte, war jeweils auf Gruppen der Eliten beschränkt, erfaßte aber nicht die breiteren Schichten der jeweiligen Bevölkerung. Wie überall in Europa, begannen sich auch in Spanien gegen Ende des 13. Jahrhunderts starke antisemitische Strömungen bemerkbar zu machen. Die herausragende Stellung der Juden in der Wirtschaft und in den modernen, mit der Geldwirtschaft verknüpften Wirtschaftsformen sicherte ihnen ungeachtet zunehmender Feindseligkeiten von seiten der Stadtbevölkerung und Teilen des Klerus noch über lange Zeit den Schutz des Königtums, als dessen patrimonialer Besitz sie ihr Rechtsstatus auswies. Mit dem Vordringen des Ständestaates verstärkte sich der Druck auf das Königtum, das sich zunehmend zu diskriminierender Gesetzgebung gegenüber den Juden genötigt sah. Als das Königtum, das die Juden vorwiegend aufgrund ihrer finanziellen Bedeutung für den Fiskus stets verteidigt hatte, seit Mitte des 14. Jahrhunderts in innere Auseinandersetzungen mit verschiedenen ständischen Gruppen verstrickt war, wurde das Judentum zu einer gegen das Königtum gerichteten Propaganda-waffe instrumentalisiert und geriet unter verstärkten Druck. Bereits ausgangs des 14. Jahrhunderts kam es zu landesweiten Pogromen, die zahlreiche Opfer forderten, eine neue Schicht von religiös unsicheren christlichen Konvertiten aus den Kreisen des Judentums entstehen ließen und das Judentum wirtschaftlich entscheidend schwächten. Die unsichere Schicht der Konvertiten bildete nun ein weiteres Druckmittel auf die Juden, da man diese für die religiöse Unzuverlässigkeit der Konvertiten verantwortlich machte. Die Juden werden nun zunehmend als unrein diskriminiert. Als die Katholischen Könige Ferdinand und Isabella sich auf die Seite einer neuen radikalen christlichen Emeuerungsbewegung stellten und sich mit der staatlich kontrollierten Inquisition ein gegen die Konvertiten gerichtetes Machtmittel schufen, wurden die Könige zunehmend von ihrer eigenen Schöpfung unter Druck gesetzt -die Stellung der Juden wurde unhaltbar. Die Vertreibung war letztendlich Ergebnis der konsequenten Politik der Herrscher zum Aufbau eines religiös homogenen modernen Staates mit imperialen Zielsetzungen.

1992 gedenkt Spanien der 500. Wiederkehr von vier wichtigen Ereignissen seiner Geschichte, die auf den ersten Bück scheinbar unverbunden nebeneinanderstehen. Sie stehen aber gleichwohl in Beziehung zueinander und sind auch von relativ großer Bedeutung für die europäische bzw. für die Weltgeschichte. In ihrer zeitlichen Abfolge handelt es sich um die Kapitulation von Granada (der Hauptstadt des letzten Maurenreiches auf spanischem Boden), der Vertreibung der Juden aus Spanien, der Veröffentlichung der von Nebrija verfaßten Grammatik des Kastilischen (der ersten Grammatik einer europäischen Volkssprache) und schließlich um die europäische Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus, einen genuesischen Seefahrer in kastilischen Diensten. Diese Unternehmung wurde nicht unerheblich von Conversos, zum Christentum übergetretenen Juden, begünstigt und teilweise mitfinanziert.

Eine von der Chronistik überlieferte Anekdote bezüglich der Grammatik Nebrijas läßt den Zusammenhang dieser Ereignisse zumindest erahnen. Als der neu ernannte Bischof von Granada, Hemando de Talavera, ebenfalls ein Converso, den Autor der Grammatik der Königin Isabella präsentierte, soll diese gefragt haben, wozu eine solche Grammatik von Nutzen sei. Darauf soll der Bischof anstelle des Autors geantwortet haben, sie sei dazu dienlich, daß die von den Königen unterworfenen Völker die Sprache ihrer Herren lernten. Diese Begründung legt zumindest die Vermutung nahe, daß imperialer Expansionsdrang und kulturelles Sendungsbewußtsein als die verbindenden Elemente dieser vier bedeutenden Ereignisse in Betracht zu ziehen sind. Mit dem königlichen Schatzmeister Luis de Santangel, der die Kolumbusreise entscheidend begünstigt zu haben scheint, und dem Bischof von Granada, Hemando de Talavera, nehmen zwei jüdische Konvertiten in zwei Schlüsselbereichen der Politik jener Epoche -dem Finanzwesen und der kirchlichen Organisation -eine prominente Rolle ein, die die Komplexität jüdischer Präsenz im Spanien jener Epoche erkennen läßt

Es erscheint daher sinnvoll, zunächst einen Blick auf die Geschichte des Judentums auf der Iberischen Halbinsel zu werfen

I. Geschichte des Judentums auf der Iberischen Halbinsel

Die ersten Juden scheinen schon kurz nach der Zerstörung des Tempels in Spanien eingewandert zu sein. Von den Mittelmeerküsten breiteten sich jüdische Gemeinden in ganz Spanien aus, und bereits im 4. Jahrhundert n. Chr. scheinen Juden so zahlreich auf der Halbinsel vertreten gewesen zu sein, daß sich das spanische Konzil von Elvira zwischen 303 und 309 besorgt über die Folgen des Zusammenlebens von Christen und Juden für die christliche Rechtgläubigkeit äußerte. Gleichwohl scheint das Zusammenleben von Christen und Juden, die vorwiegend Landwirtschaft betrieben zu haben scheinen, friedlich verlaufen zu sein. Dies änderte sich freilich, als 586 der Westgotenkönig Rekared vom Arrianismus zum Katholizismus übertrat und eine antijüdische Gesetzgebung einleitete, die unter seinem Nachfolger 613 in einem Dekret gipfelte, das die Juden zwang, sich zum Christentum zu bekehren. Dies hatte einen ersten Exodus nach Nordafrika zur Folge. Spätere Westgotenkönige ordneten sogar an, daß Juden und selbst Konvertiten der Sklaverei zu unterwerfen seien.

Die islamische Invasion Spaniens im Jahre 711 bedeutete daher für die Juden eine Befreiung. Unter maurischer Herrschaft lebten die Juden in ge* Kolonien und genossen einen rechtlichen Sonderstatus, der ihnen gegen eine Sondersteuer die Religionsausübung garantierte. Bedingt durch die guten Verbindungen zum Orient übernahmen die spanischen Juden nun den babylonischen Talmud, und es erfolgte eine starke jüdische Einwanderung aus Nordafrika. Inzwischen wurde auch die besondere Identität der spanischen Juden faßbar, für die Spanien den Namen Sefarad trug und die sich entsprechend als Sephardim bezeichneten. Dieser Name entstammte offenbar alttestamentlicher Bibelexegese und scheint bereits am Ende der römischen Herrschaft in Spanien aufgekommen zu sein. Im 10. Jahrhundert entfaltete sich im maurischen Spanien die jüdische Kultur zu großer Blüte. Als Ärzte, Diplomaten und Gelehrte gelangten Juden zu Ansehen und Einfluß sogar am Hofe der Kalifen.

In der Zwischenzeit waren auch in den von den Spaniern wiedereroberten Gebieten (Reconquista) jüdische Gemeinden entstanden; diese wurden im 12. Jahrhundert durch Einwanderung aus dem islamischen Spanien zahlenmäßig sehr gestärkt, nachdem unter der maurischen Almohaden-Dynastie die Toleranz gegenüber der jüdischen Minderheit ihr Ende gefunden hatte und sie vor die Alternative gestellt worden waren, zwischen der Bekehi zum Islam und dem Verlust ihrer Wohnstätten zu wählen. Diesmal boten nun die christlichen Reiche den Juden größere Sicherheit, nachdem 1066 König Ferdinand I. von Kastilien die diskriminierenden Gesetze aus der Westgotenzeit aufgehoben und die Anwesenheit von Juden als legitim erklärt hatte. Damit war das Recht verbunden, Synagogen und Schulen zu besitzen, das Hebräische als Kultursprache zu benutzen und ungehindert religiöse Zusammenkünfte abzuhalten. Freilich waren die Juden den christlichen Vasallen des Königs nicht gleichgestellt, da sie keine christlicherseits anerkannten Treueide schwören konnten. Sie galten als unmittelbarer Besitz der Krone bzw.des königlichen Fiskus, und sie besaßen nur die Rechte, die das Königtum ihnen ausdrücklich zuerkannte. Sie wurden mit Sondersteuern belegt, und der einem Juden zugefügte Schaden mußte mit hohen Bußen an den Fiskus gesühnt werden. Auch erwarben Juden im christlichen Spanien ungeachtet des Umstandes, über Generationen hinweg in Spanien geboren zu sein und gelebt zu haben, nicht das Recht, sich als Angehörige des Königreiches ausgeben zu dürfen.

Die Schutzpolitik der christlichen Reiche der iberischen Halbinsel wurde zunächst durch die Kirche gestützt. In einer „Constitutio pro iudaeis“ hatte Papst Innozenz III. 1199 die Minimalrechte festgelegt, die den Juden einzuräumen seien: 1. die Juden seien in der Hoffnung, daß sie doch noch zum rechten christlichen Glauben fänden, in ihren Personen und ihrem Besitz zu schützen; 2. auf keinen Fall dürften sie zum christlichen Glauben gezwungen werden, da dazu die freie Willensentscheidung erforderlich sei; 3. die Juden dürften nicht mißhandelt und bei ihrer Religionsausübung gestört werden. Diese Bestimmungen lassen einerseits erkennen, daß offenbar Übergriffe gegen Juden vorkamen und zum anderen, daß die Schutzbereitschaft der christlichen Kirche abhing von der Erwartung, daß zumindest das Gros der Juden sich doch noch zum christlichen Glauben bekehren würde. Ein latenter Druck zur Konversion und Übergriffe auf Juden scheinen mithin zum Alltagjüdischen Lebens gehört zu haben. Schon das 4. Laterankonzil forderte 1215 die räumliche Trennung der Juden von der christlichen Bevölkerung und die Verpflichtung, daß Juden ein gelbes Abzeichen tragen sollten, damit Christen rechtzeitig vor der Gefahr des Umgangs mit Juden gewarnt würden. Die Könige von Kastilien und von Aragön protestierten in Rom gegen diese Bestimmungen und erreichten einen Aufschub für die Umsetzung dieser kirchlichen Gebote; doch schon um die Mitte des 13. Jahrhunderts, nach der großen Südexpansion im Zuge der Reconquista, verschärfte die kastilische Gesetzgebung die Bestimmungen gegenüber den Juden erheblich, indem sie unter Androhung strenger Strafen allzu enge persönliche Beziehungen zwischen Christen und Juden zu unterbinden suchte. Parallel dazu verstärkte sich die Tendenz, die Juden auf eigene Stadtviertel zu begrenzen, in Kastilien „aljamas“, in Aragön „calls“ genannt.

Die Zahl der jüdischen Gemeinden im christlichen Spanien war in der Zwischenzeit stark angewachsen. Nahezu alle königsunmittelbaren Städte besaßen mehr oder weniger bedeutende „juderias“, jüdische Kolonien. Insgesamt schätzt man die Gesamtzahl der Juden auf 100000-200000, die sich auf etwa 200 städtische Judenviertel konzentrierten. Die Aktivitäten der jüdischen Bevölkerung Spaniens waren vielfältig; sie reichten vom Ackerbau über eine Vielzahl von Handwerken, Arztberufen und anderen gelehrten Betätigungen bis hin zum Handel und den Geldgeschäften. Vor allem im Handels-und Finanzbereich, wo die Juden nicht durch das christliche Verbot des Zinsnehmens behindert waren, erlangten Juden hohe Stellungen an den Höfen des Hochadels und der christlichen Königreiche Spaniens. Aber auch Ärzte und jüdische Gelehrte genossen hohes Ansehen im Dienste der Könige. Der kastilische König Alfons X., der Weise, war im 13. Jahrhundert von zahlreichen gebildeten Juden umgeben, die dem König bei seinen wissenschaftlichen Studien unterstützten (gleiches galt für islamische Gelehrte).

Durch die enge Verbindung islamisch-jüdisch-christlicher Gelehrsamkeit auf der iberischen Halbinsel gelang im Verlauf des Hochmittelalters die europäische Wiederentdeckung eines großen Teils der nur im Orient bewahrten Überlieferung antiker Philosophie und Wissenschaft, die beispielsweise die Äristotelesrezeption im Europa des 12. und 13. Jahrhunderts und die von da ausgehenden Impulse für das abendländische Denken ermöglichte. Vor diesem Hintergrund hat man in neuerer Zeit von einer Epoche friedlichen und von Toleranz bestimmten Zusammenlebens der drei großen Religionen sprechen wollen, was in dieser Form freilich nie der Realität entsprach. Zwar arbeiteten an den Höfen sowohl der christlichen wie auch der islamischen iberischen Reiche Angehörige der drei Religionen zumindest zeitweise eng und vergleichsweise vorurteilslos zusammen, doch religiöses Eiferertum bestand zu allen Zeiten in den breiteren Volksschichten fort.

Selbst innerhalb der jüdischen Gemeinden begegnet man diesem Phänomen. Einer vergleichsweise säkularisierten jüdischen Elite, die eng mit dem christlichen Adel und den Höfen zusammenarbeitete, standen in den „aljamas“ oft jüdische Eiferer gegenüber, die ihre Glaubensgenossen als der religiösen Abweichung verdächtig bezichtigten, wie umgekehrt auf christlicher Seite die mit Juden und Mauren zusammenarbeitenden Angehörigen der Eliten als religiös unzuverlässig eingestuft wurden. Die christlichen Könige der Halbinsel erreichten daher oftmals durch enge Zusammenarbeit mit Angehörigen der jüdischen Elite freiwillige Bekehrungen zum Christentum, Konvertiten, die häufig adelige Stellungen erlangen konnten und mit dem kastilischen Adel verschmolzen. Ähnliche Entwicklungen ergaben sich in Aragön. Schon im 13. Jahrhundert findet sich daher eine wachsende Zahl von Konvertiten, die in jener Zeit noch kaum Diskriminierungen ausgesetzt waren. Während die Könige aber nach wie vor auf ihrer Schiftzpolitik gegenüber den Juden behanten, da sie die Juden als wichtiges Element für den königlichen Fiskus ansahen und Juden in vielen Bereichen höfischer Verwaltung unentbehrlich waren, nahm die antijüdische Stimmung in der breiten Bevölkerung des christlichen Spanien zu.

II. Die Anfänge des Antisemitismus

Der Grund für die Zunahme war vor allem auf die neue Religiosität zurückzuführen, wie sie die Bettelorden verfochten; vor allem Dominikaner und Franziskaner griffen in ihrem Missionseifer und in ihren Predigten immer wieder die Juden an. Parallel dazu wachte die neu eingeführte Inquisition verschärft über die religiöse Orthodoxie der Christen, insbesondere der jüdischen Konvertiten. An den neuen Universitäten Europas befaßten sich Theologen mit dem Talmud und anderen jüdischen Schriften und propagierten die Verurteilung jüdischer Glaubensinhalte, die sie als gegen christliche Überlieferungen gerichtet empfanden. Verbreitet (z. B. in Aragön) kam es zu öffentlichen Glaubens-disputen zwischen christlichen Theologen und jüdischen Rabbinern. Nicht selten waren dabei auf christlicher Seite Konvertiten die treibenden Kräfte, von denen ein Teil militanter war als die Altchristen, ein anderer Teil aber in Richtung zu den ehemaligen Glaubensgenossen tendierte.

Parallel dazu verschärften sich die Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinden, in denen eine nach Einfluß, Macht und Privilegien strebende Elite häufig eine im neuen Rationalismus begründete religiöse Indifferenz bzw. Anpassungspolitik an christliche Vorstellungen verfocht; andere Gruppen, oftmals gerade die sozial schwächeren Schichten des Judentums, hingegen neigten zu besonderem religiösen Eiferertum. Unter den Eliten des maurischen, christlichen und jüdischen Spanien fanden nämlich oft zeitgenössische philosophische Strömungen -z. B.der auf Averroes zurückgehende Rationalismus, der über den prominenten jüdischen Gelehrten Maimonides auch bei den Sepharditen und über christliche Philosophen und Theologen auch unter den gebildeten christlichen Schichten Eingang fand -ein ziemlich breites Echo und führten auf religiösem Gebiet oft zu einer stärkeren Betonung der verbindenden Elemente als der Gegensätze.

Auf solche stets nur temporäre und auf bestimmte Gruppen der Eliten beschränkte, begrenzte Annäherungen ist vermutlich die fälschlicherweise oft überbetonte Verallgemeinerung der These vomfriedlichen und harmonischen Zusammenleben der drei abendländischen Hauptreligionen zurückzuführen. Geistige Grundströmungen manifestierten sich in den Jahrhunderten des Mittelalters eben oft gleicherweise in verschiedenen Gruppen und Schichten der Angehörigen der drei Religionen auf der iberischen Halbinsel. Tendenziell waren jedoch die jeweiligen Unter-und Mittelschichten religiös meist viel intransigenter eingestellt als viele Angehörigen der jeweiligen Eliten dies waren. Trotz der Verschärfung der intoleranten religiösen Grund-stimmung im Verlauf des 13. Jahrhunderts bestanden zwischen Juden und Christen auf der Halbinsel oft enge persönliche Kontakte fort. Die prominenten Vertreter der jüdischen Gemeinschaften wurden von Christen oft mit der dem Adel vorbehaltenen Titulierung eines „Don“ (zuzüglich des jeweiligen Vornamens) angesprochen. Vor allem in Kastilien spielten Juden eine wichtige Rolle in der Verwaltung der Staats-, Adels-und selbst Kirchenfinanzen; hingegen waren in Aragön gegen Ende des 13. Jahrhunderts die sephardischen Juden -infolge kirchlichen Drucks und aufgrund eines spektakulären Finanzprozesses um einen prominenten jüdischen Financier -größtenteils bereits aus der zentralen Finanzverwaltung ausgeschlossen.

Die Situation verschlechterte sich zu jener Zeit allgemein für die europäischen Juden aufgrund des verschärften kirchlichen Druckes. Es kam zu ersten Ausweisungen von geschlossenen jüdischen Gruppen, etwa 1289 aus dem englisch besetzten Frankreich, 1290 aus England selbst, das als erstes europäisches Land seine gesamte jüdische Bevölkerung vertrieb und erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts wieder Juden zuließ. 1306 verwies Philipp IV. von Frankreich die Juden seines Landes und auch im Deutschen Reich kam es zu Vertreibungen durch einzelne Landesherren oder Städte. Südfrankreich und das christliche Spanien wurden so zu den Hauptzufluchtsgebieten des europäischen Judentums, die Teile der andernorts vertriebenen Gruppen aufnahmen und die Zahl der jüdischen Bevölkerung ansteigen ließen -was freilich auch hier die Agitation gegen diese zahlenmäßig starke religiöse Minderheit anwachsen ließ.

III. Das Judentum zwischen städtisch-kirchlicher Militanz und königlichem Schutz

Zahlreich waren die Vorwürfe aus den Reihen der christlichen Bevölkerung. Nicht nur, daß man dazu neigte, alle auftretenden Mißgeschicke den Juden anzulasten, man beschuldigte sie auch allenthalben des Wuchers und der überhöhten Zinsnahme. Die Einführung neuer finanzwirtschaftlicher Techniken -etwa das Aufkommen der abgezinsten Schuldverschreibung, bei der auf einen mit 100 Prozent angesetzten Schuldbetrag beispielsweise nur 70 Prozent ausbezahlt, aber 100 Prozent getilgt werden mußten -hatte heftige Anklagen gegen jüdische Finanzpraktiken zur Folge. Dazu kam der Vorwurf der Unreinheit, die Beschuldigung der rituellen Verunglimpfung des Christentums (etwa durch die Schändung von Hostien) bis hin zu dem Vorwurf des rituellen Kindermords oder der Anklage, die marginalisierten Leprakranken dazu anzustiften, durch Baden in Brunnen und Gewässern das Trinkwasser zu vergiften, um auf diese Weise die Verbreitung von Krankheiten unter der christlichen Bevölkerung zu fördern.

Diese und ähnliche Beschuldigungen werden in unterschiedlich gewichteter Form und Intensität immer wieder vorgebracht und kennzeichnen den Fanatismus derer, die sie erhoben, mehr als daß sie sich auf irgendwelche eindeutig faßbaren Vergehen von einzelnen Angehörigen oder ganzen Gruppen der jüdischen Bevölkerung zurückführen ließen.

Die antijüdische Militanz im übrigen Europa griff zu Beginn des 14. Jahrhunderts erstmals auf Spanien über. Zu Beginn des Frühjahr 1320 griff eine Truppe sog. „pastoreaux“ in Nordspanien ein. Diese Gruppe hatte in Südfrankreich ein religiös „Erweckter“ um sich geschart; sie setzte sich, dem Namen entsprechend, vermutlich überwiegend aus ärmerer Landbevölkerung und Schäfern zusammen. Obwohl ihr Ziel die Befreiung Granadas von den Mauren war, überfiel der Haufen auf seinem Zug die Aljamas, plünderte, zwang die Juden zur Bekehrung bzw. tötete diejenigen, die sich weigerten. Über Navarra fielen die „pastoreaux“ oder „pastoreilos“ in Aragön ein, wo sie rasch von Truppen besiegt wurden, die König Jakob II. ihnen entgegensandte. Als Repressalie für die begangenen Untaten wurde eine größere Zahl von ihnen hingerichtet. Der Vorfall läßt die zunehmende Verschärfung antijüdischer Stimmungen erkennen, hatten doch die Autoritäten Navarras zunächst keine Hand gerührt, um die bedrängten Juden vor dem zügellosen Haufen zu verteidigen. Kurz vorher (1309) war es in dem damals noch unabhängigen Königreich Mallorca ebenfalls zu einer Zuspitzung der Situation gekommen, als zwangs-bekehrte Juden aus Frankreich wieder zu ihrem alten Glauben zurückkehren wollten und von der Inquisition verfolgt wurden. Da man im einzelnendie Betroffenen nicht unterscheiden konnte, richteten sich die Repressalien gegen die gesamte jüdische Minderheit, die sich nur durch die Zahlung einer sehr hohen Geldsumme von der Bedrückung befreien konnte.

Damit wurde eine neue Problematik sichtbar: Unter Gewaltandrohung zum Christentum übergetretene Juden wurden als Christen behandelt, da sie ja der Form nach die Taufe empfangen hatten. Auch das Argument, gewissermaßen unter Todesangst die Taufe empfangen zu haben und damit also gewaltsam zum Christentum „bekehrt“ worden zu sein, wurde nicht anerkannt; ihre Rückkehr zum alten Glauben wurde vielmehr von kirchlichen Autoritäten als Apostasie gewertet und mit Nachdruck verfolgt. Waren bis dahin die Konversionen zum Christentum überwiegend freiwillig erfolgt -nicht zuletzt hatten mehrere prominente Rabbiner diesen Schritt vollzogen -, so stellte sich aufgrund der Entwicklung in der Folgezeit zunehmend das Problem der zwangskonvertierten Juden, die im Grunde bei ihrem alten Glauben zu verbleiben wünschten, daran aber gehindert wurden. In der Folgezeit begannen die Konvertiten zu einem Problem zu werden, da es entsprechend christlichen Vorwürfen tatsächlich Konvertiten gab, die unter dem Mantel des Christentums jüdische Glaubenselemente bewahrten und nur dem Anschein nach als Christen lebten. Die Verschärfung des christlichen Druckes auf die jüdischen Gemeinden -der nunmehr in einem wichtigen Bereich von der bis dahin geltenden kirchlichen Verhaltensnorm gegenüber Juden abwich, indem er mit der Anerkennung zwangsbekehrter Juden als Christen zumindest teilweise von dem Prinzip abwich, daß die Bekehrung zum Christentum freiwillig erfolgen müsse -führte zu einem neuen und später immer dringlicher werdenden Problem, nämlich dem der nur oberflächlich und scheinbar christianisierten Konvertiten.

Bis zu einem gewissen Grade hatte die Zunahme antijüdischer Stimmungen aber auch soziale Gründe. Mit der Entfaltung des Städtewesens auf der iberischen Halbinsel war eine christliche Schicht von Händlern, Financiers und Gewerbetreibenden entstanden, die in den Juden zunehmend eine unliebsame Konkurrenz sahen; hierbei spielte eine Rolle, daß zumindest die jüdische Elite oftmals über weiterreichende Geschäftsverbindungen über Glaubensgenossen verfügte als christliche Unternehmer, und daß darüber hinaus wirtschaftliche Krisenphänomene die Rivalität zwischen beiden Gruppen verschärfte und zur Zuspitzung der Situation führte. Die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts war eine solche Krisenepoche, die durch zahlreiche Mißernten, teilweise bedingt durch eine vorübergehende Klimaverschlechterung, und die nachfolgende Pestepidemie der Jahre 1346-1350 ausgelöst wurde.

Diese Entwicklung verschärfte auch die finanziellen Schwierigkeiten des Königtums, das zunehmend finanziellen Druck auf die Aljamas ausübte, um höhere Abgaben zu erpressen, bzw. Reklamationen aus den Kreisen der städtischen Bevölkerung nachgab, die gegen „Wucherzinsen“ vonseiten jüdischer Geldverleiher protestierten und Schuldenreduzierung bzw. -nachlaß forderten. Die Wirtschaftskraft der jüdischen Bevölkerung wurde dadurch zunehmend geschwächt, was wiederum verschiedentlich ein Nachlassen königlicher Schutzbemühungen zur Folge hatte. Der Königs-schutz für die jüdische Bevölkerung wird spätestens im 14. Jahrhundert zu einer Frage rein finanzpolitischer Konvenienz für das Königtum, das in „seiner“ -im Wortsinne -jüdischen Bevölkerung vor allem anderen eine wirtschafts-und finanzpolitische Dimension königlicher Politik sah. In einer Zeit, in der das Königtum zur Befriedigung zusätzlicher Finanzbedürfnisse zunehmend von ständischen Bewilligungen abhängig war, bedeutete eine Bevölkerungsgruppe, die nicht nur wirtschaftlich aktiv war, sondern auch fast beliebig besteuert werden konnte, einen wichtigen politischen Faktor für das Königtum. Mit dem Schwinden der Wirtschaftskraft dieser Bevölkerungsgruppe war daher stets die Gefahr verbunden, daß der königliche Schutz gleichfalls mit geringerem Nachdruck gewährt wurde.

Zur Bedrohung der jüdischen Bevölkerung trug ebenso der sich durchsetzende Ständestaat bei, da die Vertreter der Städte (als Repräsentanten des steuerpflichtigen gemeinen Mannes) auf den Ständetagen oftmals antijüdische Forderungen zu einem Programmpunkt ihrer Verhandlungen mit dem Königtum machten. So hatte bereits das Parlament (Cortes) von Valladolid 1293 in Kastilien eine stark restriktive Gesetzgebung durchgesetzt, die es Juden verbot, Grundbesitz zu haben bzw. zu erwerben; ferner war es ihnen nicht erlaubt, bei Kreditgeschäften mehr als 33 Prozent Zins zu verlangen (die Höhe des Zinssatzes erklärte sich aus der allgemeinen Geldknappheit), und sie mußten alle Geldgeschäfte von christlichen Notaren beurkunden lassen und alle strittigen Kreditgeschäfte vor christlichen Gerichten anhängig machen. Außerdem wurde den Juden verboten, für Streitfälle untereinander besondere, jüdische Richter zu haben, und es wurde allen Schuldnern freigestellt, das ihnen genehme Gericht im Streitfälle anzurufen. Zugleich wurde die Gültigkeit jüdischer Ei­desleistungen eingeschränkt. Wie zuvor bereits in Aragön ging damit der Einfluß der Juden auf die Staatsgeschäfte zurück. Das Verbot, Grundbesitz zu erwerben, drängte die kastilischen Juden noch stärker in Richtung auf die wenigen Gewerbe, die ihnen erlaubt (bzw. nicht durch das Verbot, Mitglieder in zünftisch organisierten Gewerben zu sein, indirekt unzugänglich) waren, d. h. Geldgeschäfte, Handel und Medizin bzw. nicht durch Zunftordnungen geregelte Gewerbe.

Der Druck der amtskirchlichen Hierarchie gegen die Juden verstärkte sich ebenfalls. Aus den Religionsdebatten des 13. Jahrhunderts hatten christliche Theologen den Schluß gezogen, daß auch der Talmud die unmittelbar bevorstehende Ankunft Christi Vorhersage und daß in den heiligen Schriften der Juden angeblich konkrete Hinweise auf Jesus Christus als den Erlöser zu finden seien. Dies führte dazu, daß zumindest Teile der Amtskirche die Juden als Ketzer gegen die alttestamentarische Überlieferung, die beiden Religionen gemein sei, einstuften und man daher auf die Beendigung der Toleranz gegenüber dem Judentum drängte. Die kastilische Synode von Zamora im Jahre 1313 drängte daher auf die Beendigung der Toleranz gegenüber dem Judentum und die Anwendung der päpstlichen und konziliaren Anordnungen des 13. Jahrhunderts, die die iberischen Königreiche bis dahin nicht umgesetzt hatten. Das Synodaldekret forderte eine striktere Trennung zwischen Juden und Christen (vor allem in bezug auf die Aljamas und die christlichen Wohngebiete), das strikte Verbot, daß Christen in jüdischen Häusern Dienste verrichteten, das Verbot, daß Juden Ämter ausüben dürften, die ihnen in irgendeiner Form Machtbefugnisse gegenüber Christen zuerkannten. Schließlich wurde es als unzumutbar bezeichnet, daß Juden gegen Christen Zeugnis ablegen dürften oder sonst irgendwie rechtlich gegen Christen vorgingen.

Der Zeitpunkt für diesen Vorstoß war günstig gewählt, da Kastilien wegen Minderjährigkeit des Königs Alfons XI. von einer Regentschaft geführt wurde. Spätere Synoden bestätigten und verschärften diese Forderungen in der Folgezeit. Der Krone blieb somit kein anderer Ausweg, als Schritt für Schritt die Forderungen des christlichen Episkopats in die Praxis umzusetzen. Freilich stärkte das Königtum im Gegenzug dazu bis zu einem gewissen Grade die Rechtsstellung der Aljamas; ihnen wurde eine christlichen Gemeinden vergleichbare Verfassung zugestanden, die es den Juden ermöglichte, sich über Gemeinderepräsentanten -vergleichbar den christlichen StändeVertretern, wenn auch mit wesentlich schwächerer Autorität -gegenüber dem Königtum korporativ zu artikulieren. Insbesondere Alfons XI. von Kastilien unternahm nach Erlangung seiner Volljährigkeit Schritte, um die Stellung des Judentums wieder einigermaßen zu konsolidieren. Als er 1350 an der bereits erwähnten Pestepidemie -die vor allem in den engen Aljamas, wo man sich vor Ansteckung kaum schützen konnte, hohe Opfer forderte -starb, trat Kastilien in eine kritische Phase seiner Geschichte ein; diese führte schließlich zum Sturz der Dynastie und zum Aufstieg des Hauses Trastämara und mündete in den großen Pogrom des Jahres 1391 zum katastrophalen Rückschlag für das sepharditische Judentum. Bereits um die Jahrhundertmitte war es im Gefolge der Pestepidemien zu ersten gewaltsamen Übergriffen gegen Judenviertel in Katalonien und Valencia gekommen.

IV. Die ersten Pogrome

Der kastilische Bürgerkrieg zwischen Peter I. und der Adelsfraktion unter der Führung von Peters Halbbruder Heinrich von Trastämara, der 1369 mit dem Tod König Peters von der Hand seines Halbbruders und dessen Thronfolge endete, brachte eine neue Woge des Antisemitismus. König Peter wurde von seinen Gegnern nicht nur beschuldigt, ein Judenfreund zu sein und sich mit jüdischen Ratgebern zu umgeben -es wurde sogar das Gerücht verbreitet, er selbst sei Kind von Juden und der Königin (seiner Mutter), die in Wirklichkeit eine Tochter geboren habe, als Thronfolger ins Kindbett gelegt worden; diese durch nichts gerechtfertigte Propagandathese findet sich noch ein Jahrhundert später in der Chronistik der Trastämara.

Das sephardische Judentum wurde in die Kämpfe zwischen dem nach Konsolidierung der herrscherlichen Gewalt strebenden Königtum und der Adelsopposition hineingezogen. In dem Bürgerkrieg, in dem die antijüdische Propaganda eine so starke Rolle spielte, wurden zahlreiche Aljamas geplündert und Juden umgebracht bzw. durch hohe Subsidienzahlungen ausgepreßt; die Zentren des kastilischen Judentums, vor allem Toledo, gingen daher geschwächt aus dem Bürgerkrieg hervor. Der neue König, Heinrich von Trastämara, führte zwar die Schutzpolitik gegenüber den Juden fort, sah sich jedoch nicht nur weitreichenden Forderungen der Stände nach Einschränkung des Judentums gegenüber, sondern hatte auch Schwierigkeiten, die Militanz des Klerus gegenüber den Ju­den wieder zu dämpfen. Die aus dem Bürgerkrieg stammende antijüdische Propaganda begann sich zusehends zu verselbständigen. Diese Propaganda verstärkte einerseits den Trend zur Konversion zum Christentum, andererseits aber auch eine größere Hinwendung zu religiösem Pietismus, ja, Fundamentalismus, innerhalb des sephardischen Judentums. Dies förderte die Tendenz der Rabbiner, heimlich wieder zum Judentum zurückkehren wollende Konvertiten aufzunehmen. Sie wurden so in den Augen der Kirche zu Komplizen abtrünniger Christen und sahen sich dem Anspruch der Inquisition auf Juridisktion über die Juden ausgesetzt. Die massiv zunehmende Feindschaft der christlichen Gesellschaft gegen das Judentum führte zu Binnenwanderungen, indem Juden aus den großen städtischen Zentren in kleinere Orte auswichen, wo der soziale und religiöse Druck auf sie weniger stark war. Die Zahl der Aljamas nahm deshalb zu, ohne daß dies auf einen Anstieg der jüdischen Bevölkerung zurückzuführen war. Dies bedeutete eine weitere Schwächung des Judentums, da die großen Aljamas an Bevölkerung und damit an Einfluß verloren, ohne daß die neuen kleineren Zentren dies hätten ausgleichen können. In der antijüdischen Propaganda tauchen auf der Iberischen Halbinsel nun Forderungen auf, daß man dem Judentum rasch ein Ende setzen müsse, indem man die Bemühungen zur Bekehrung der Juden intensiviere und den Druck auf sie verstärke. Diese offizielle Lesart kirchlicher Verlautbarungen wurde von zahlreichen Klerikern dahingehend interpretiert, daß man auch vor gewaltsamer Bekehrung nicht mehr zurückschrecken dürfe; denn es müsse den Rabbinern bekannt sein, daß der Messias inzwischen gekommen sei und es daher auch aus dem jüdischen Glaubensverständnis heraus keinen Grund mehr gebe, Jesus Christus als den Messias zu verleugnen. Einer der Verfechter dieser radikalen Linie war der Sevillaner Erzdechant Fernando Martmez, der in zündenden Predigten die Gläubigen gegen die Juden aufhetzte und der nur mit Mühe von seinen kirchlichen Oberen in Schach gehalten werden konnte. Um den Kanonikus sammelte sich eine Gefolgschaft, die sich „matadores de judfos“ -Judentöter -nannten. Als sich 1390 eine günstige Gelegenheit bot, da der Stuhl des Erzbischofs vakant war und die Krone von einem unter Vormundschaft stehenden Minderjährigen getragen wurde, ließ Martinez seine Gefolgschaft losschlagen. Anfang Juni 1391 erfolgte der Überfall auf die Sevillaner Aljama Viele Juden -die Chronistik spricht von 4000, was aber angesichts der Bevölkerungszahl der Stadt etwas zu hoch gegriffen sein dürfte -fielen dem Überfall zum Opfer; der größere Teil nahm unter Zwang das Christentum an, verlor aber durch die Plünderungen einen großen Teil seines Besitzes.

Das Beispiel Sevillas machte rasch Schule und löste allenthalben vergleichbare Aktionen aus, die zwar nach Norden zu an Gewaltsamkeit abnahmen, aber insgesamt eine große Zahl an Menschenopfern forderten, enorme Vermögens-verluste zur Folge hatten und eine Welle von erzwungenen Konversionen auslösten. Auch auf das Königreich Aragön griff die Bewegung über und führte zur Zerstörung der Aljama von Valencia. Ebenso waren in Katalonien zahlreiche Opfer zu beklagen. Die Aljama von Barcelona wurde ebenfalls vernichtet. In einigen Gebieten vermochten rechtzeitige Schutzmaßnahmen der Autoritäten schlimme Übergriffe zu verhindern.

Die Bilanz des Jahres 1391 für das sephardische Judentum war tragisch: eine nicht eindeutig fixierbare, vermutlich sich auf einige tausend belaufende Zahl von Toten; eine Fülle von zwangsbekehrten Juden, die nun kirchlicher Jurisdiktion unterstanden; zahlreiche Aljamas vernichtet und nicht faßbare Vermögensverluste. Die Historiker jener Epoche stimmen darin überein, daß mit dem Pogrom von 1391 das Judentum seine herausragende wirtschaftliche und geistige Stellung in Spanien verloren hatte und sich von diesem Rückschlag nicht mehr erholte.

Hier zeichnet sich bereits die Grundkonstellation für den letzten Akt des Dramas ab, die nach weiteren 100 Jahren zur Vertreibung der Juden führen sollte: massiver kirchlicher Druck auf das Judentum selbst und seine Beschützer, das Königtum; das Judentum als Objekt von Propaganda in den inneren Auseinandersetzungen der christlichen Reiche der Halbinsel mit dem Ziel, politische Gruppeninteressen gegen das Königtum durchzusetzen; wirtschaftliche Schwächung des Judentums nicht zuletzt durch die gestiegene Zahl der Konvertiten, die Funktionen wahrzunehmen, die sie auch vorher schon innehatten; schließlich die Existenz einer zahlenmäßig sehr starken Gruppe von Konvertiten, die zwischen christlicher Militanz und jüdischer Religiosität hin-und hergerissen waren und deren Rechtgläubigkeit zunehmend von christlicher Seite mit Blick auf das weiterexistierende Judentum in Frage gestellt wurde. Es bleibt festzustellen , daß in dem Moment, in dem das Königtum dazu übergehen würde, vermittels der Ver­folgung der religiösen Homogenität seine Autorität gegenüber den verschiedenen Gruppen der ständisch gegliederten Bevölkerung durchzusetzen zu suchen, die Alternative „Zwangsbekehrung oder Vertreibung“ (wie sie Ferdinand und Isabella 1492 stellten) kaum zu vermeiden war. In jedem Fall läßt die Entwicklung seit dem 13. Jahrhundert eine zunehmende Verschärfung der antijüdischen Stimmung vor allem unter den breiteren Schichten der Stadtbevölkerung erkennen, die von Adel und Klerus in unterschiedlicher Form instrumentalisiert wurde. Gleichzeitig bedeutete die wirtschaftliche Schwächung des Judentums einen Verlust an Sicherheit, da die wirtschaftliche Vorrangstellung gerade in den neuen Techniken der Geldwirtschaft einen, wenn nicht den entscheidenden Garanten für den königlichen Schutz boten. Obwohl die Könige noch ausgangs des 14. und weiterhin im 15. Jahrhundert das Judentum schützten, finden sich in königlichen Urkunden doch immer häufiger Adjektive wie „perfide“ und „pervers“ im Zusammenhang mit auf die Juden bezogenen gesetzlichen Bestimmungen. An dieser Ausgangslage konnten besonnene christliche Stimmen -wie die des Heiligen Vinzenz Ferrer, eines katalanisch-valencianischen Dominikaners -wenig ändern. Ferrer hatte die Zwangsbekehrungen aus dem Jahre 1391 als null und nichtig erklärt und erkannte weiterhin nur das Mittel einer beharrlichen Überzeugungsarbeit als einzig möglichen Weg zur Christianisierung der Juden an.

V. Die Juden in der innerspanischen Auseinandersetzung

Kurz darauf wurde in Kastilien die antijüdische Gesetzgebung radikal verschärft. In den Gesetzen von Ayllön aus dem Jahre 1412 wurde die rigorose Ghettoisierung der Juden verordnet, Aljamas und christliche Wohnviertel sollten künftig streng getrennt sein, und den Juden wurde das Verlassen ihrer Viertel nur noch während des Tageslichtes gestattet. Ihr Rechtsstatus wurde definitiv als inferior, unfrei und elend („miserable“) charakterisiert, womit sie auf eine Stufe mit Bettlern, Vagabunden und sozial diskriminierten Berufsgruppen gestellt wurden. Sie mußten lange Haare und Bart tragen als sichtbarer Ausdruck von Unreinheit. Außerdem durften sie nur noch billige und dunkelfarbige Stoffe zur Kleidung benutzen und mußten definitiv das runde gelbfarbige Erkennungszeichen tragen.

Zahlreiche Berufe wurden ihnen zur Ausübung verboten, z. B. Steuerpacht und Finanzverwaltung, der Beruf des Arztes, des Chirurgen, Pharmazeuten, sämtliche Berufe im Textilgewerbe, der Schreinerei, der Metallver-und -bearbeitung (mit Ausnahme des Schmuckgewerbes), Schusterei, Drechselei, Fleischerei und sogar der Handel. Wären diese Gesetze rigoros angewandt worden, so wäre den Juden kaum noch ein Berufszweig offen gestanden, mit dem sie sich ihren Lebensunterhalt hätten verdienen können. Immerhin künden diese Gesetze von der Tendenz, die Bestätigungsmöglichkeiten der Juden radikal zu beschränken und sie sozial weitestgehend auszugrenzen. Die Bekehrungsbemühungen wurden freilich zunächst auf friedlichem Wege fortgesetzt, so daß es etwa in Aragön zu neuen Religionsgesprächen kommen konnte, die freilich davon ausgingen, daß es nur darauf ankomme, den Juden die Richtigkeit des christlichen Glaubens zu beweisen, indem man ihnen bewies, daß in ihrer eigenen schriftlichen Überlieferung die Hinweise auf Jesus Christus als den Erlöser enthalten seien.

Unter dem auf die Stärkung der königlichen Autorität bedachten König Johann II. von Kastilien und seinem Günstling Alvaro de Luna verbesserte sich die Lage der Juden wieder etwas, als einer von ihnen Einfluß auf Luna gewann; es gelang sogar, ein eigenes Rechtsstatut vom König genehmigt zu bekommen, das das Innenleben der Aljamas regelte. Wieder wurden die jüdischen Gemeinden in die inneren Machtkämpfe in Kastilien hineingezogen, als sich eine Adelskoalition gegen den starken Mann König Johanns II., Alvaro de Luna, formierte, die mit antijüdischen Parolen den Beistand der Städte zu gewinnen suchte. Antisemitismus war inzwischen ein Mittel, mit dem man die städtischen Eliten ebenso wie die breiteren Volksschichten mobilisieren konnte. Als Luna von der Adelsfronde gestürzt war, verschlechterte sich die Position der Juden erneut, gab es doch für sie zunehmend nur noch die Alternative, sich an einen starken König anzulehnen und dessen Autorität stützen zu helfen oder in die Fraktionskämpfe im Inneren des Königreiches hineingezogen und von den sich bekämpfenden Parteien nach Belieben instrumentalisiert oder gar verfolgt, zumindest aber finanziell geschröpft zu werden.

Diese Situation wiederholte sich weitgehend unter König Heinrich IV. In den Fraktionskämpfen, die sich dabei in Kastilien abspielten, waren freilich Heinrichs Halbschwester Isabella und ihr späterer Gemahl Ferdinand von Aragön bereits Parteien, die jeweils spezifische Interessen verfochten: Isabella strebte nach der umstrittenen Thronfolge,nachdem die Legitimität von Heinrichs IV. Tochter Johanna in Zweifel gezogen worden und ihr Bruder Alfons frühzeitig gestorben war; Ferdinand und sein Vater Johann II. von Aragön, aus einer Seitenlinie des Hauses Trastämara, sahen sich hingegen in Aragön städtischen und adeligen Frondebewegungen gegenüber, während sie zugleich bestrebt waren, die dynastischen Probleme der kastilischen Trastämaras für sich auszunutzen. Eine pikantes Detail am Rande war, daß Ferdinand, der jüngere Sohn Johanns II. von Aragön aus dessen Verbindung mit einer Tochter des adeligen kastilischen Magnaten Enriquez, des Admirals von Kastilien, über seine mütterliche Linie selbst aus einer Konvertitenfamilie stammte.

Der Blick auf die historische Entwicklung zeigt, daß sich seit dem großen Reconquista-Vorstoß in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts -zu dem jüdische Financiers erheblich beigetragen hatten -die Situation der Juden sich schubweise verschlechterte. Prinzipiell war schon ausgangs des 14. bzw. zu Beginn des 15. Jahrhunderts eine Situation gegeben, die eine Vertreibung bzw. Zwangsbekehrung der Juden als kurz bevorstehend hätte erwarten lassen. Ist es Zufall, daß die Verschlechterung der Situation der Juden nach den letzten großen Reconquista-Erfolgen im 13. Jahrhundert und die Vertreibung nach dem Ende der Reconquista, kurz nach dem Fall des letzten Maurenreiches im Jahre 1492, erfolgte? Hat die Vertreibung eher damit zu tun, daß sich ähnlich wie im 13. Jahrhundert auch im ausgehenden 15. Jahrhundert in Spanien wieder eine religiös-kirchliche Reformbewegung mit „fundamentalistischer“ Ausrichtung beobachten läßt, die in der breiten Schicht der Stadtbevölkerung zu einem neuen Schub des religiösen Fanatismus führte? Spielten politische Gründe im Kräftespiel zwischen Königtum, Adel und Städten die entscheidende Rolle für den Vertreibungsbeschluß? Oder sind, wie ebenfalls behauptet wurde, eher soziale Gründe dafür maßgebend gewesen? Gaben letztlich die Conversos als zahlenmäßig starke, religiös unsichere und sozial aufstrebende Gruppe den Ausschlag für die Vertreibung, wie ebenfalls behauptet wird? Letztlich wird man wohl fragen müssen, welche neuen Konstellationen sich während der Regierungszeit der Katholischen Könige beobachten lassen, die eventuell die Vertreibung erklären könnten

VI. Die neue Religionspolitik der Katholischen Könige

Blickt man zunächst auf die Politik der Könige gegenüber den Juden, so lassen sich kaum Änderungen gegenüber vorangehenden Regierungsepochen beobachten. Die Könige sicherten den Juden -wie schon zuvor -ihren Schutz zu, verschärften jedoch wieder einmal die einschränkende Gesetzgebung. Dies geschah jedoch nur in einer Form, die auf striktere Beachtung der früheren Diskriminierungsgesetzgebung abzielte. Wiederum auf Forderung der Städte (anläßlich der Cortes-Tagungen von Madrigal, 1476, und Toledo, 1480) wurden Anti-Wucher-Bestimmungen erlassen, die wie bisher schon die Form des abgezinsten Kredits einzuschränken versuchten. Die Städte ersuchten weiter darum, mit den Judenvierteln nach Gutdünken verfahren zu dürfen, was von den Königen jedoch abgelehnt wurde. In Toledo wurde, wie schon so oft, die strikte Trennung von Aljamas und christlichen Wohngebieten gefordert. Dieses Mal wurde aber festgelegt, daß diese Maßnahmen innerhalb von zwei Jahren in präzis festgelegter Form durchgeführt werden sollten. Weiterhin wurde auf dem Wege der staatlichen Schuldenreduzierung eine Reihe von Krediten, die Heinrich IV. bei jüdischen Geldgebern aufgenommen hatte, für null und nichtig erklärt; von dieser Maßnahme war in noch höherem Maße der Teil des Adels betroffen, der im gerade abgeschlossenen Erbfolgekrieg auf der gegnerischen Seite gestanden hatte. Ansonsten bedienten sich die Könige nach wie vor jüdischer Mitarbeiter im Bereich der Finanz-und Steuerverwaltung, und Königin Isabella nahm die Dienste jüdischer Ärzte in Anspruch

Neu war jedoch die Entschlossenheit, mit der die Könige die Wiederherstellung der inneren Ordnung betrieben, und zwar im zivilen wie im religiös-kirchlichen Bereich. Wurde im zivilen Bereich unter persönlichem Einsatz der herrscherlichen Autorität der Adel befriedet und mit dem Aufbau der Santa Hermandad eine Organisation zur Sicherung des Landfriedens eingerichtet -die zwar an mittelalterliche Vorbilder anknüpfte, aber von den Städten bezahlt und von der Krone kontrolliert wurde -, so erfolgte im religiös-kirchlichen Bereich ebenfalls die Wiederbelebung einer alten Organi-sation unter neuen Vorzeichen, nämlich der Inquisition. Die alte Inquisition war ein reines Kirchen-gericht gewesen, das im Verlauf des Spätmittelalters in Verfall geraten war. 1478 erreichten die Könige von Papst Sixtus IV. eine Bulle, die ihnen die Ernennung von Inquisitoren gestattete. In der Folgezeit wurde in ganz Spanien ein Netz von Inquisitionsgerichten aufgebaut, das einer zentralen Rats-behörde, dem „Consejo de la Suprema y General Inquisiciön“, mit einem Generalinquisitor an der Spitze unterstand. Generalinquisitor und Mitglieder des Rates wurden von der Krone ernannt.

Die Wiedererrichtung der Inquisition richtete sich in erster Linie gegen die der religiösen Abweichung verdächtigen Christen, vor allem die Conversos. Die Gerichte funktionierten auf der Basis von Denunziation und geheimer Prozesse; zwar konnten die Angeklagten nur nach einem Geständnis verurteilt werden, aber angesichts des Einsatzes der Folter zur Erlangung von Geständnissen war dies kaum mehr als eine Staffage. Nach der Regierungszeit Johanns II. und Heinrichs IV. war dies ein erneuter Versuch, ein Staatskirchentum aufzubauen -mit dem Unterschied allerdings, daß der Versuch dieses Mal erfolgreich sein sollte. Der Grund für all diese in ihrer alltäglichen Konsequenz drastischen Maßnahmen war, daß in den vorangegangen Bürgerkriegen die öffentliche Ordnung empfindlich gestört worden und die kirchliche Organistion in offenem Verfall begriffen war. Niedrige geistige und moralische Standards des Klerus, geringe Kirchendisziplin der Geistlichkeit und der Gläubigen waren, ungeachtet gleichzeitig zu beobachtender religiöser Intoleranz, an der Tagesordnung.

Von Interesse, wenngleich wenig beachtet, ist, daß die Inquisition ihre Tätigkeit in Andalusien (Sevilla) aufnahm. Andalusien war die Region, die im Erbfolgekrieg abseits von den beiden Parteiungen gestanden hatte, in der mächtige Adelsclans miteinander in heftigen Auseiandersetzungen um die Kontrolle der Städte lagen, und wo diese sich gegenüber der Königsgewalt ziemlich autonom gebärdeten. Zugleich war Andalusien eine strategisch wichtige Region, bildete es doch die Grenze zu dem letzten Maurenreich Granada. Den Adel Andalusiens hatten die Könige durch ihre persönliche Präsenz befriedet und dabei die Tradition des persönlichen Königsgerichts wiederbelebt, was darauf hindeutet, daß Andalusien in den Augen der Herrscher die Problemregion par excellence darstellte. Im Herbst 1480 nahm das Inquisitionstribunal in Sevilla seine Arbeit auf; als erstes beugten sich ihm nach einem Bericht des Chronisten Pulgar 15 000 Conversos, die vermittels einer Buße mit der Kirche ausgesöhnt wurden, da sie sich den propagierten Gnadenedikten unterworfen hatten. 1481 begann die erste Prozeßwelle, in deren Verlauf nach zeitgenössischen Berichten ca. 500 Personen in einem „Autodafe“ verbrannt worden sein sollen.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, daß die Inquisition mit aller Schärfe gegen religiöse Abweichungen vergehen würde, was im ganzen Lande zu Angst und Schrecken und zur Emigration zahlreicher Conversos führte. Gleichzeitig mußte damit offenkundig werden, daß die Könige in ihrer Religionspolitik mit allem Nachdruck vorzugehen gewillt waren. Innerhalb des christlichen Glaubens tolerierte man zwar eine große Bandbreite theologischer Strömungen, aber alles, was der Abweichung in Richtung Judentum verdächtig war, wurde gnadenlos verfolgt. Die Könige setzten mithin stark auf die radikale Strömung innerkirchlicher Erneuerungsbestrebungen, wie u. a. auch ihre Begünstigung des Aufstiegs des aus einfachen Verhältnissen stammenden Kardinals Cisneros erkennen läßt. Dieser trieb schon früh mit Unterstützung der Könige die innerkirchlichen Reformbestrebungen, etwa in den Bettelorden, voran oder begünstigte sie zumindest.

VII. Die Inquisition und die Vertreibung

Die neue Inquisition wandte sich schon bald und sehr polemisch gegen das Judentum, für das sie zwar nicht zuständig war, dessen Existenz sie aber als Bedrohung der Rechtgläubigkeit gerade der Conversos ansah. Unter dem Vorwand, daß die von den Cortes von Toledo verfügten Segregationsbestimmungen in Andalusien nicht in dem vorhergesehenen Zeitraum durchgeführt worden seien, verfügte die Inquisition bereits 1482 die Ausweisung aller Juden in den Bistümern Cordoba, Sevilla und Cädiz. Rechtlich begründete sie diese Maßnahme mit Bezug auf frühere Papstbullen, die die Ghettoisierung der Juden rigoros vor-schrieben. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, daß das Fortbestehen der jüdischen Aljamas die religiöse Orthodoxie gefährde. Die Krone beugte sich überraschenderweise diesem Vorgehen und verfügte lediglich, daß den andalusischen Juden eine Frist von 6 Monaten eingeräumt werden solle, um sich in anderen Teilen des Herrschaftsgebietes der Könige niederzulassen. Den Vertriebenen wurde zwar ihr Besitz und ihre persönlicheUnversehrtheit garantiert, doch bedeutete dies de facto erhebliche finanzielle Einbußen für die Betroffenen. Inwieweit diese Maßnahme weitere Bekehrungen zum Christentum zur Folge hatte, ist nicht belegt. Die vertriebenen Juden siedelten sich in benachbarten Zonen Extremaduras und Neukastiliens an.

Spätestens von diesem Zeitpunkt an war die völlige Vertreibung der Juden nicht mehr auszuschließen, auch wenn Zeitpunkt und Umstände des Dekrets 1492 selbst für die Betroffenen überraschend kamen. Die Zeichen mehrten sich gleichwohl schon Mitte der achtziger Jahre. Nachdem der Inquisitor von Aragön durch ein Attentat von Conversos ermordet worden war, wurde die Auflösung der Aljama von Zaragoza und der von Albarracm verfügt: Die Sepharditen wurden wieder zu Prügelknaben für die Vergehen anderer. Während des von 1482 bis 1492 dauernden Krieges gegen Granada war eine radikale Maßnahme gegen die spanischen Juden nicht zu erwarten, zumal eine Reihe von ihnen nach wie vor wichtige Funktionen bei Hofe ausübte. Dennoch erscheint zumindest aus der Rückschau klar, daß im Gegensatz zu ihren Vorgängern die Katholischen Könige entschlossen waren, das Kirchen-und Glaubensproblem in ihrem Sinne zu lösen, und daß daher die Gefahr für das Judentum so groß wie kaum je zuvor war.

Die Betroffenen, an die prekäre und unsichere Existenz in Spanien gewöhnt, mochten allerdings nicht an die Bedeutung dieser Vorzeichen glauben, zumal ihre Geschäfte und Rechtsstreitigkeiten von den Kronbehörden mit selten gekannter Korrektheit und im Sinne der geltenden Gesetze von den zentralen Kronbehörden und den Monarchen selbst behandelt wurden. Sie übersahen darüber verständlicherweise, daß unter den neuen Herrschern die Religions-und Kirchenfrage zu einem zentralen Punkt der Staatsraison geworden war: Der Glaube sollte die religiös, ethnisch und verfassungsrechtlich so verschieden strukturierten Völker der nur durch Heirat (im Falle Kastiliens und Aragöns) bzw. Personalunion (im Falle beider Königreiche) vereinigten Gebiete zu einem Ganzen schmieden.

Gleichwohl scheinen schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Teile des Judentums an eine Zukunft in Spanien nicht mehr geglaubt zu haben. Es gibt Anzeichen, daß sich ein kontinuierlicher Auswanderungsprozeß in Richtung Orient und Nordafrika vollzog, da die Zahl der steuerpflichtigen Juden zurückging, ohne daß Anzeichen für eine massive Konversionsbewegung festzustellen sind. Freilich stand aufgrund der Beschränkungen der Bewegungsfreiheit und der Kosten diese Möglichkeit nur wohlhabenden Juden offen. Diese Bewegung scheint sich mit dem rigorosen Vorgehen der Inquisition verstärkt zu haben, als auch viele Conversos aus Spanien flohen.

Unmittelbar vor der Ausweisung fand 1490/91 ein spektakulärer Prozeß in Toledo statt, in dem Juden der Hexerei, religiöser Sakrilege und vor allem des Ritualmordes beschuldigt wurden. Es handelte sich um den berühmten Fall des „nino de la guardia de Toledo“, in dem ein gefangener Konvertit einem sich als Rabbiner ausgebenden Untersuchungsrichter gestanden haben soll, am Karfreitag des Jahres 1479 in Toledo an der Opferung eines christlichen Kindes teilgenommen zu haben. Der Beschuldigte widerrief das Geständnis seiner Teilnahme und sagte öffentlich aus, daß er über das Ereignis lediglich von einem zuverlässigen Zeugen gehört habe. Die umfangreichen Prozeßakten erwecken den Eindruck, daß nichts bewiesen werden konnte; die Bedeutung des Falles wird jedoch darin deutlich, daß sich schon bald in Spanien der Kult des „Santo Nino de la Guardia“ ausbreitete. Es muß freilich dahingestellt bleiben, ob dieser spektakuläre Prozeß gewissermaßen der Tropfen war, der das Faß zum Überlaufen brachte.

Am 20. März 1492 präsentiert der Generalinquisitor Fray Tomäs de Torquemada den Königen den Text des Ausweisungsdekretes, das von ihnen am 31. März unterzeichnet und in Granada sowie anschließend in allen Städten beider Kronen verkündet wurde *Mit der Begründung, daß der Umgang mit Juden „schlechte Christen“ zu jüdischen religiösen Praktiken verleite, wurde angeordnet, daß alle Juden vier Monate Zeit hätten, um nach Verkauf ihrer Besitzungen das Land zu verlassen. Sie könnten ihre Liegenschaften entweder veräußern oder mit ihrer Veräußerung andere beauftragen; sie dürften ihre bewegliche Habe mit sich führen, jedoch mit Ausnahme von Edelmetall und Geld, deren Ausfuhr aus dem Königreich generell verboten sei. Über die Adelsfamilie der Mendoza versuchten die Juden, eine Rücknahme des Dekrets zu erreichen, doch vergeblich. Obwohl das Dekret die Möglichkeit der Bekehrung nicht erwähnte, war doch allseits bekannt, daß eine Bekehrung zum Christentum das Vertreibungsedikt außer Kraft setzen würde. Von den vier rabbinischen Oberhäuptern der Sepharditen der Halbinsel machten drei mit ihren Familien von der Möglichkeit Gebrauch undtraten zum Christentum über, allen voran der Oberrabbiner Abraham Seneor, als dessen Taufpaten die Könige sich selbst zur Verfügung stellten. Als Don Femän Pärez Coronel besetzte Seneor anschließend eine Stelle im Stadtrat von Segovia und im königlichen Rat. Darüber hinaus erlangte er die Position eines Schatzmeisters des Thronfolgers Johann.

Wie hoch die Zahl der Bekehrungen war, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, doch scheinen sie nicht unerheblich gewesen zu sein. Generell gilt, daß die Zahlenangaben über die vertriebenen Juden und die zurückbleibenden Conversos stark voneinander abweichen. Ging man früher von 100000-200000 vertriebenen Sepharditen aus, so kommen jüngere Forschungen zu dem Ergebnis von ca. 40000-50000, die über die Levanteküste, die Guadalquivirmündung und die kantabrische Küste nach Nordafrika, in den Orient, nach Portugal und in den Nordseeraum emigrierten Viele der Emigranten kamen übrigens bald wieder nach Spanien zurück und ließen sich im Nachhinein noch taufen.

Ungeachtet der königlichen Schutzbestimmungen für die Auswandemden verloren diese doch erhebliche Teile ihres Vermögens an Spekulanten, die sich die Notlage der Vertriebenen zunutze machten. Die nahezu generalstabsmäßig geplante Operation der Vertreibung war nach Ablauf der vier Monaten weitgehend abgeschlossen. Etwa zehn Tage nachdem die Flotte des Kolumbus Palos verließ, verließen die letzten Juden Spanien, nachdem noch eine kürzere Fristverlängerung bewilligt worden war in Anbetracht der zeitlichen Verzögerung bei der Verkündigung des Dekrets im Königreich.

Die Vertreibung brachte für die Betroffenen einen tragischen Einschnitt in ihrem und ihrer Familien Leben, denn es war eine Art Exodus und nicht nur eine simple Auswanderung. Das Schicksal der Betroffenen rührte selbst die Zeitgenossen, wenn man dem im Grunde antijüdisch gesonnenen Chronisten und Zeitzeugen Andres Bernaldez Glauben schenken will, der schreibt: „Sie zogen aus dem Land ihrer Geburt, Junge und Erwachsene, alte Männer und Kinder, zu Fuß, auf Eseln oder anderen Tieren reitend und in Wagen... Sie zogen über die Straßen und Felder mit großer Mühsal und Mißgeschick, manche zusammenbrechend, einige wieder aufstehend, einige sterbend, andere (Frauen) ka-men nieder, andere wurden krank, so daß es keinen Christen gab, der nicht Mitleid mit ihnen fühlte... die Rabbis ermutigten sie und ließen die Frauen und Kinder singen, Trommeln und Tamburine schlagen, um das Volk aufzurichten. Und so zogen sie fort aus Kastilien.“ Berücksichtigt man noch die innerfamiliären Spannungen zwischen zur Konversion tendierenden oder diese vollziehenden und zum Festhalten an ihrem Glauben entschlossenen Menschen, so kann man ermessen, welche Tragik diesen Exodus begleitete.

Das religiöse Problem auf der Iberischen Halbinsel war damit aber noch nicht entschärft. Wenige Jahre später wurde den Granadiner Mauren dieselbe Alternative wie den Juden gestellt: Auswanderung oder Bekehrung zum Christentum. Die religiöse Homogenität des sich imperial entfaltenden Spanien wurde offenbar als Vorbedingung für das Ausgreifen nach neuen politischen Ufern angesehen. Die noch vor der Jahrhundertwende einsetzende Eroberung des Königreichs Neapel und die Expansion in Amerika waren die schon früh sichtbaren Folgen dieser Politik. Berücksichtigt man, daß schon wenige Jahrzehnte später am Hofe des in Spanien erzogenen Habsburger Kaisers Ferdinand Spanisch gesprochen wurde, so wird der Bezug von Nebrijas Grammatik des Spanischen zu den Ereignissen von 1492 deutlich.

Einerseits läßt sich nicht bestreiten, daß die Vertreibung der Juden aus primär religiösen Gründen erfolgte; andererseits aber verdeutlichen die im 16. Jahrhundert zu beobachtenden Diskriminierungsmechanismen gegenüber den Konvertiten -wie sie sich in den sogenannten Statuten der Bluts-reinheit („estatutos de limpieza de sangre“ finden, die versuchten, Abkömmlingen von Juden den Zugang zu öffentlichen Ämtern und Ehrungen zu verwehren -deutlich werden, daß neben den religiös-politischen Gründen auch soziale Gründe eine Rolle gespielt haben müssen. Denn die Statuten sollten den Aufstieg einer sozial und wirtschaftlich erfolgreichen Bevölkerungsgruppe verhindern. Gleichzeitig lassen sie nunmehr eindeutig erkennen, daß in den antijüdischen Ausbrüchen der Vergangenheit die Wurzeln des modernen Rassismus zu suchen sind, der sich bald schon gegenüber außereuropäischen Völkern bemerkbar machte. So wie Spanien einerseits die globalen Europäisierungsprozesse der Neuzeit mit seiner überseeischen Expansion auslöste, so stand es auch am Beginn der Geschichte des europäischen Rassismus, wenngleich die Anlagen dazu allenthalben in Europa vorgegeben waren.

Spanien wurde von seiner Vergangenheit freilich bald eingeholt, waren die vertriebenen Sepharden doch nicht unerheblich am Aufstieg der Niederlande und seines Kolonialrechts beteiligt und spielten in der Entwicklung der karibischen Plantagen-wirtschaft eine wichtige Rolle, so daß sie mittelbar an Spaniens Niedergang mitarbeiteten Das Jahr 1992 bietet mithin Anlaß, generellen Entwicklungen der Neuzeit innerhalb wie außerhalb Europas zu gedenken, und die Komplexität dieser verschiedenen 500jährigen Gedenkanlässe sollte somit eher Anlaß zu Nachdenklichkeit als zur unkritischen Rückschau geben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu diesem Zusammenhang und zur Geschichte Spaniens im Zeitalter der Katholischen Könige vgl. Joseph Pdrez, Ferdinand et Isabelle Rois Catholiques d’Espagne, Paris 1988 (die deutsche Ausgabe weist leider einige sinnentstellende Übersetzungsfehler auf: Ferdinand und Isabella. Spanien zur Zeit der Katholischen Könige, München 1989); J. N. Hillgarth, The Spanish Kingdoms 1250-1516, 2 Bde., Oxford 1976-1978; Horst Pietschmann, Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas, Münster 1980; Luis Suärez Femändez, Los Trastämara y los Reyes Catölicos. -Angel Montenegro Duque, Historia de Espafia, Bd. VII, Madrid 1985. Die klassischen Deutungen dieser Vorgänge sind: Amärico Castro, La realidad histörica de Espaüa, Neuausgabe Mexico 1962; Claudio Sänchez-Albomoz, Espaüa, un enigma histörico, 2 Bde., Buenos Aires 1956. Ausführliche Hinweise auf die neuere Literatur finden sich in den eingangs genannten Werken.

  2. Die Literatur zur Geschichte des Judentums in Spanien ist unübersehbar. Verwiesen sei auf die seit den vierziger Jahren in Spanien erscheinende Zeitschrift „Sefarad“. Klassische Darstellungen sind J. Amador de los Rios, Historia social, polftica y religiosa de los judfos de Espaüa y Portugal, 3 Bde., Madrid 1875; Y. Baer, A History of the Jews in Christian Spain, 2 Bde., Philadelphia 1961; Luis Suärez Femändez, Los judfos espaüoles en la Edad Media, Madrid 1980; Maurice Kriegei, Les juifs ä la fin du Moyen Age dans l’Europe möditerranöenne, Paris 1979. Die nachfolgende Skizze stützt sich auf zwei neuere Übersichtswerke, die die ältere Literatur zusammenfassen: Josä Luis Lacave/Manuel Armengol/Francisco Ontafiön, Sefarad, Sefarad, La Espaüa Judfa, Madrid 1987; Luis Suärez Femändez, La expulsiön de los judfos de Espaüa, Madrid 1991.

  3. Vgl. Philippe Wolff, The 1391 Pogrom in Spain. Social Crisis or not, in: Past & Present, 50 (1971), S. 4ff.

  4. Die Literatur zur Vertreibung der Juden ist sehr umfangreich. Sie wird resümiert in dem bereits genannten Werk von L. Suärez Femändez (Anm. 2); eine neuere Darstellung in deutscher Sprache bietet Ludwig Vones, Die Vertreibung der spanischen Juden 1492: Politische, religiöse und soziale Hintergründe, in: Hans Hermann Henrix (Hrsg.), 1492-1992: 500 Jahre Vertreibung der Juden Spaniens, Aachen 1992, S. 13ff.

  5. Zu der Politik der Katholischen Könige gegenüber den Juden vgl. die Literatur in Anm. 1.

  6. Vgl. die deutsche Übersetzung des Dekretes, in: H. H. Henrix (Anm. 4), S. 121 ff.

  7. Vgl. dazu Henry Kamen, The Mediterranean and the Expulsion of Spanish Jews in 1492, in: Fast & Present, 119 (1988), S. 30ff.

  8. Vgl. J. N. Hillgarth (Anm. 1), Bd. 2, S. 451.

  9. Vgl. Albert Sicroff, Les controverses des Statuts de „puretö de sang“ en Espagne du XVe au XVIIe si& cles, Paris 1960.

  10. Vgl. Jonathan Israel, European Jewry in the Age of

Weitere Inhalte

Horst Pietschmann, Dr. phil., geb. 1940; Lehrstuhl für Lateinamerikanische Geschichte an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Die Einführung des Intendantensystems im Vizekönigreich Neuspanien, Köln-Wien 1972; Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas, Münster 1980 (span. Übersetzung: Mexiko 1988); (zus. mit W. Bemecker) Spanische Geschichte (Teil frühe Neuzeit), Stuttgart 1992 (i. E.).