Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Der Jesuitenstaat von Paraguay | APuZ 37/1992 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 37/1992 Conquista und Mission Eroberung und Missionierung Lateinamerikas Der Jesuitenstaat von Paraguay Die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 Aus der Diaspora ins Exil: Der doppelte Ursprung der Sefarden. Zur Psychodynamik von Heimatlosigkeit und vergangenheitsorientierter Identitätsbildung

Der Jesuitenstaat von Paraguay

Günter Kahle

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach der Gründung der jesuitischen Ordensprovinz Paraguay im Jahre 1604 errichtete die Societas Jesu mit Billigung König Philipps III. in Guairä, dem damals noch spanischen Gebiet des heutigen brasilianischen Bundesstaates Paranä, ihre ersten Missionssiedlungen, die sogenannten Reduktionen. Durch die Überfälle der aus Säo Paulo kommenden Portugiesen, welche Zehntausende wehrloser Reduktionsindianer in die Sklaverei verschleppten, sahen sich die Jesuiten gezwungen, Guairä zu räumen, und gründeten im südlichen Paraguay sowie in der jetzigen argentinischen Provinz Misiones neue Reduktionen. Die Isolierung dieses Missionsgebietes, seine weitgehende Verwaltungsautonomie und das mit königlicher Erlaubnis aufgestellte indianische Heer, das weitere Angriffe der Paulistaner abwehrte, ließen ein staatsähnliches Gebilde entstehen, das jedoch zu keiner Zeit souverän war. Da das Wirtschaftssystem der Jesuiten mit den ökonomischen Interessen der spanischen Kolonisten konkurrierte und die Erziehung der Indianer den Vorstellungen der in Paraguay lebenden Spanier widersprach, kam es wiederholt zu schweren Konflikten, in denen aber die von den staatlichen Behörden unterstützten Jesuiten letztlich stets die Oberhand behielten. Als sich die Jesuiten jedoch gegen die im Vertrag von Madrid im Jahre 1750 vereinbarte Räumung einiger Missionssiedlungen wandten und die Reduktionsindianer zum bewaffneten Widerstand ermunterten, wurde diese Rebellion gegen die Krone von königlichen Truppen niedergeschlagen. Nach der Vertreibung der Jesuiten aus Hispanoamerika im Jahre 1767/68 verfielen die Reduktionen allmählich und wurden 1848 durch die paraguayische Staatsregierung endgültig aufgelöst.

I.

Seit dem 17. Jahrhundert sind über den sogenannten Jesuitenstaat von Paraguay in aller Welt zahlreiche Abhandlungen erschienen, in denen dieses Missionswerk unter den verschiedensten Gesichtspunkten behandelt wird Die sehr unterschiedlichen und widerspruchsvollen Darstellungen reichen von der kritiklosen Glorifizierung des „heiligen Experimentes“ über nüchterne wissenschaftliche Untersuchungen bis hin zu gehässigen Pamphleten, welche den Jesuitenstaat in Bausch und Bogen verurteilen, denn „man schreibet den Jesuiten die Bosheit aller Teufel zu, und man verweigeret ihnen den Verstand einer Gans“

Seit der Vertreibung der Jesuiten aus Spanien und dessen überseeischen Besitzungen im Jahre 1767/68 sind inzwischen 225 Jahre vergangen. Die Literatur über den Jesuitenstaat von Paraguay nahm im Verlauf der Zeit eher zu statt ab. Es erscheint bemerkenswert, daß auch die der Objektivität verpflichteten Historiker bei der Behandlung dieses Themas oft nicht frei von Voreingenommenheit und gelegentlich auch falsch verstandener „Rücksichtnahme“ sind, was zwangsläufig zu weiteren Kontroversen und damit zu neuen Publikationen führt. Auch die nachstehenden Ausführungen enthalten kein „endgültiges Urteil“, doch soll in ihnen der Versuch unternommen werden, einige Ursachen und Hintergründe des bis heute andauernden Streites um das Für und Wider des Jesuitenstaates von Paraguay darzustellen, um dadurch ein besse-res Verständnis der Problematik zu ermöglichen, die nicht nur dieses Unternehmen charakterisiert, sondern in ähnlicher Weise allen vergleichbaren „Experimenten“ dieser Art eigen ist.

II.

Die Entdeckung und Eroberung Amerikas standen unter staatlicher Leitung; der päpstliche Missionsauftrag an die „Katholischen Könige“ Ferdinand und Isabella wurde von ihnen und ihren Nachfolgern zugleich als „legitimer Rechtstitel für die Besitznahme der überseeischen Welt betrachtet“ und „bedingte eine bedeutsame Mitwirkung der Kirche an der Gestaltung des amerikanischen Lebens unter der europäischen Herrschaft“ Jedoch war die Heidenmission weder der Antrieb für die Entdekkungen noch für die nachfolgende Auswanderung in die Neue Welt gewesen, und die Spanier, die nach Amerika kamen, betrachteten die Indianer primär als Arbeitskräfte, deren Ausnutzung der eigenen Bereicherung dienen sollte. Konquistadoren und Kolonisten vertraten die Auffassung, daß eine militärische Unterwerfung der Eingeborenen die notwendige Voraussetzung für deren spätere Missionierung sei. Die geistlichen Orden, die bereits in Amerika missionierten, allen voran die Franziskaner und Dominikaner (später auch Augustiner und Mercedarier), stellten dieser These die Forderung entgegen, die Lehre Christi durch eine beständige und hingebende Predigt unter den noch freilebenden Ungläubigen zu verbreiten.

Im Jahre 1566 nahm die für Amerika zuständige spanische Behörde, der sogenannte Indienrat, auch die Societas Jesu in die Liste der für die Mission in Amerika zugelassenen Orden auf. Zwei Jahre später trafen die ersten Jesuiten in Lima ein, der Hauptstadt des Vizekönigreiches Peru (zu dem auch die Provinz Paraguay gehörte), wo sie eine Ordensniederlassung mit einem Studienkolleg gründeten. In wenigen Jahren dehnte die Gesellschaft Jesu ihre Niederlassungen über ganz Süd-amerika aus und begann 1586 ihre Missionstätigkeit auch im La-Plata-Gebiet, wo Cordoba zum Sitz eines Jesuitenklosters wurde. Auf Einladung des Bischofs von Asunciön kamen 1588 die ersten Jesuiten nach Paraguay und wurden vom Gouverneur und der Einwohnerschaft festlich empfangen. Sie erhielten bald Zuzug weiterer Ordensbrüder und begannen nun auch in Paraguay ihre ersten Missionsversuche. Da die im 16. Jahrhundert verbreitete „Wandermission“ bei den Indianern nur zu unbedeutenden Ergebnissen führte, bevorzugten die staatlichen Behörden das von Franziskanern und Dominikanern mit Erfolg praktizierte System der Reduktionen, bei dem nomadisierende Indianer angesiedelt, christianisiert und entlegene Regionen damit gewöhnlich dauerhaft in Besitz genommen wurden. Nach der Gründung der jesuitischen Ordensprovinz Paraguay im Jahre 1604 beauftragte der Gouverneur mit ausdrücklicher Billigung König Philipps III. im Jahre 1609 den Ordensprovinzial, seine Missionare in die zu Paraguay gehörende Provinz Guairä (d. h. das Grenzgebiet zwischen den heutigen brasilianischen Bundesstaaten Paranä und Säo Paulo) zu entsenden, um dort dauerhafte Missionssiedlungen zu errichten. Entgegen der vorherrschenden Meinung ist der Jesuitenstaat also weder eine Erfindung der Jesuiten noch durch ihre Initiative entstanden.

Zwanzig Jahre später gab es in Guairä bereits 13 Reduktionen mit insgesamt über 100000 Indianern. Die Existenz dieses Missionsgebietes wurde jedoch bald ernsthaft durch die Paulistaner Sklavenfangexpeditionen bedroht. Die im Raum von Säo Paulo ansässigen Portugiesen hatten sich weitgehend mit Tupündianern vermischt und eine neue Mestizenbevölkerung gebildet, die von den Spaniern wegen ihrer Wildheit und Grausamkeit „mamelucos“ genannt wurde. Auf ihren weit ausgedehnten Streifzügen, den sogenannten „bandeiras“, durchzogen sie riesige Räume und verschleppten zahlreiche Indianer, die sie als Zwangsarbeiter auf ihre Plantagen brachten oder als Sklaven nach Nordbrasilien verkauften. Nachdem nun die Jesuiten ihr Missionswerk in Guairä begonnen hatten, richteten die Führer dieser Raubzüge, die „bandeirantes“, ihre Aufmerksamkeit auf diese Region und fielen seit den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts in rascher Folge in die Missionssiedlungen von Guairä ein.

Die Gesellschaft Jesu hatte unter den in ihren Reduktionen lebenden Guaramindianem bereits beachtliche Erfolge hinsichtlich der Missions-und Erziehungsarbeit verzeichnen können, was sich jetzt als Verhängnis erwies. Denn die Eingeborenen waren von den Patres vor allem als Landwirte und Handwerker ausgebildet worden und erzielten daher beim Verkauf als Sklaven wesentlich höhere Preise. Durch die große Entfernung, welche die Missionen von Asunciön trennte, war es den spanischen Behörden und Kolonisten fast nie möglich, den bedrängten Reduktionen rechtzeitig zu Hilfe zu kommen. Die Überfälle der Paulistaner gingen daher unvermindert weiter und erreichten von 1628 bis 1631 ihre schrecklichen Höhepunkte. In diesen Jahren erschienen die Bandeirantes in Begleitung großer Tupiheere und verwandelten die blühenden Siedlungen von Guairä in eine Trümmerstätte. Die Verteidigung der Jesuiten und der spärlichen Asuncener Hilfstruppen brach unter diesem Ansturm zusammen. Dörfer und Kirchen wurden zerstört, die Felder verwüstet und die Viehherden weggetrieben. Unübersehbare Karawanen von gefangenen Missionsindianern wurden nach Säo Paulo geführt, und die Paulistaner machten allein in den Jahren von 1628 bis 1630 über 60000 Reduktionsindianer zu ihren Gefangenen. Die Jesuiten haben diesen Schlag nicht verwunden und räumten 1632 die Reduktionen, um sich mit den ihnen noch verbliebenen Schützlingen im Süden neuen Siedlungsraum zu suchen. Guairä blieb verlassen hinter ihnen zurück, und die spanische Krone verlor diese Provinz an die nachdrängenden Portugiesen.

III.

Das Zentrum des neuen jesuitischen Missions-und Siedlungsgebietes lag zwischen dem Rio Paranä und dem Rio Uruguay in der heutigen argentinischen Provinz Misiones, deren Name bis in die Gegenwart an das Werk der Gesellschaft Jesu erinnert. In wenigen Jahrzehnten weiteten sich die Reduktionen auf das südliche und südöstliche Paraguay sowie auf den Norden des jetzigen Uruguay aus. Die dazugehörigen Pflanzungen und Viehweiden umfaßten auch große Teile des heutigen brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul und reichten fast bis Porto Alegre. Erst auf der Basis dieser gewaltigen räumlichen Ausdehnung entwikkelte sich dann allmählich jenes merkwürdige Gebilde, das bald als „Jesuitenstaat von Paraguay“ weltweite Berühmtheit und vielfache Bewunderung erlangte. Zugleich begann damit aber auch jene umstrittene Phase der „jesuitischen Theokratie“, in deren Verlauf zwischen dem „Gottesstaat“ und dem weltlichen Paraguay aus beiderseitigem Mißtrauen und permanent wachsenden Rivalitäten eine nicht mehr beizulegende Feindschaft erwuchs, die den Ablauf der politischen Ereignisse im La-Plata-Gebiet bald nachhaltig und unheilvoll beeinflussen sollte.

Die ersten Anfänge der neuen Reduktionen schienen jedoch nichts weniger als gesichert zu sein, denn die Pakistaner verlegten ihre Angriffe nun vom verlassenen Guairä nach den im Aufbau befindlichen Missionssiedlungen im Süden. Zu ihrer Überraschung stießen die Bandeirantes nun aber auf einen unerwartet heftigen und erfolgreichen Widerstand der militärisch hervorragend geschulten und gut bewaffneten Indianer und Jesuiten. Was war inzwischen geschehen? -Da die hispanoamerikanischen Behörden und Kolonisten nicht in der Lage gewesen waren, die Reduktionen in Guairä in ihrem Abwehrkampf wirksam zu unterstützen, war der Jesuitenorden bei der spanischen Krone vorstellig geworden und hatte nach langem Bemühen von Philipp IV. die Erlaubnis erlangt, die Reduktionsindianer mit Feuerwaffen auszurüsten, was eine absolute Ausnahmegenehmigung war und ein Novum in der spanischen Indianerpolitik darstellte Daraufhin begannen die Jesuiten unverzüglich, die Verteidigung ihrer Missionsgebiete selbst zu organisieren. Unter den Laienbrüdern des Ordens befanden sich genug Veteranen der europäischen Kriege, um die Guaranfes militärisch auszubilden und aus den Reduktionsindianern ein schlagkräftiges Heer aufzustellen. Tatsächlich gelang es diesen Truppen, alle weiteren Angriffe der Pakistaner abzuwehren und ihnen darüber hinaus in den Jahren 1639, 1641 und 1652 so schwere Niederlagen zu bereiten, daß sie ihre Raubzüge gegen die Jesuitenreduktionen einstellten, deren ruhige und kontinuierliche Entwicklung dadurch wesentlich erleichtert wurde.

Der nun entstehende Jesuitenstaat von Paraguay war zwar das weitaus bedeutendste und darum auch bekannteste, aber nicht das einzige geschlossene Missionsgebiet der Jesuiten in Amerika, die auch in anderen hispanoamerikanischen Provinzen (vor allem im heutigen Bolivien, Ecuador und Mexiko sowie in Kalifornien) ähnliche Siedlungen zur Bekehrung der Indianer errichtet hatten. Alle diese Reduktionen entstanden freilich nicht „durch freie Aneignung unkultivierten Siedlungsgebietes durch die Jesuiten“ sondern die Gouverneure der jeweiligen Provinzen teilten den Jesuiten ein bestimmtes Gelände zu, und die staatlichen Behörden leisteten zugleich die erste materielle Hilfe beim Aufbau der Missionssiedlungen. „Wohl erhielten die Reduktionen eine weitgehende Verwaltungsautonomie und erstrebten ein isoliertes Sonderdasein, indem den spanischen Kolonisten das Betreten des Missionsgebietes verboten wurde und die Indianer der Reduktionen ... nicht zu Zwangsarbeiten für die Spanier herangezogen werden durften. Aber trotz solcher Freiheiten und Sonderrechte blieben die Jesuitenreduktionen den staatlichen Provinzialgouvemeuren unterstellt. ... Sie bildeten keinen Staat im Staate; sie waren weder souverän nach außen, noch übten sie nach innen hoheitliche Befehls-und Zwangsgewalt aus, so daß Bezeichnungen wie , Missionsstaat und Jesuiten-staat von Paraguay irreführend sind und nur von einer Entwicklung der Reduktionen zu staatsähnlichen Gebilden gesprochen werden kann.“ Die erwähnten Begriffe „Missionsstaat“ und „Jesuiten-staat von Paraguay“ müssen daher stets unter dem Aspekt der vorstehenden Einschränkungen verstanden werden.

Gemäß den spanischen Gesetzen waren alle diese Missionsstaaten in der gleichen Weise organisiert, und die Verwaltung der Reduktionen richtete sich nach denselben Verordnungen der Krone, die auch für „weltliche“ Indianergemeinden in Hispanoamerika galten, welche bereits Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts das Recht auf eine weitgehende Selbstverwaltung erhalten hatten. Die indianischen Kaziken (Häuptlinge) und ihre erstgeborenen Söhne behielten gewisse Vorrechte, waren vom Tribut befreit und wurden bevorzugt in die nach dem Vorbild spanischer Städte zusammengesetzten Stadträte gewählt. In den Missionsstaaten war diese indianische Selbstverwaltung jedoch im wesentlichen fiktiv, da die eigentliche Leitung eines Reduktionsdorfes stets in den Händen eines oder mehrerer Jesuiten lag, „weilen diese Indier“, wie der deutsche Pater Anton Sepp 1697 schrieb, „lauter Kinder seyn, über die maßen einfältig, eines sehr kurtzen Verstandes“ Tatsächlich übten die Patres eine patriarchalische Herrschaft aus und regelten das Leben der Reduktionsindianer bis in die kleinsten und privatesten Angelegenheiten; „mitternachts mußte eine Glocke sie sogar an ihre ehelichen Pflichten erinnern“ bemerkte spöttisch vor über 160 Jahren Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Berliner Vorlesungen über „die Philosophie der Geschichte“.

Abgesehen von gelegentlichen offiziellen Visitationen durch Provinzgouverneure oder Bischöfe war es den Spaniern verboten, die Reduktionen zu betreten. In ihrer gleichzeitigen Eigenschaft als Kronbeamte waren die Patres daher auch für die Justiz zuständig, obwohl ihnen de jure keine richterlichen Gewalten übertragen worden waren. Zivilrechtliche Streitigkeiten wurden von ihnen meist im Zusammenwirken mit den Kaziken entschieden, doch kam es häufig vor, daß die Indianer trotz der strengen Aufsicht ihre vorgeschriebenen Arbeiten nicht oder nicht sorgfältig genug durchführten, Saatgut wieder ausgruben und verzehrten oder zum Pflügen bestimmte Ochsen heimlich schlachteten usw. In solchen und ähnlichen Fällen wurden sie von dem für sie zuständigen Pater mit bis zu 25 Stockschlägen bestraft. Schwerere Vergehen wurden mit Haftstrafen geahndet, die im Dorfgefängnis verbüßt wurden, und „todeswürdige Verbrechen“ wurden anfangs mit lebenslänglichem, seit 1716 mit der Höchststrafe von zehn Jahren Gefängnis bestraft. Besonders gefährliche Verbrecher, zu denen nach Auffassung der Jesuiten vor allem Hexer und Zauberer zählten, wurden aus den Reduktionen verwiesen. Die Todesstrafe wurde niemals verhängt.

Das Wirtschaftssystem des Jesuitenstaates von Paraguay wurde in hohem Maße durch die Isolierung der Missionen beeinflußt, wodurch die Jesuiten gezwungen waren, für die Reduktionen eine möglichst weitgehende Autarkie anzustreben. Die Voraussetzungen dafür waren günstig, denn das Land am Rio Uruguay und am Rio Paranä war fruchtbar, brachte reiche Ernten und erlaubte zudem eine extensive Viehwirtschaft. Der größte Teil des Bodens war Gemeindeeigentum. In sehr beschränktem Maße gab es auch Privatbesitz von Einzelpersonen und Familien mit entsprechender Eigenerzeugung, doch war das Privatland nicht erblich und fiel beim Tode des Familienoberhauptes wieder an die Gemeinde zurück. Auch Häuser und Wohnungen waren Privatbesitz, aber ebenfalls nicht vererbbar. Es bestand eine allgemeine Arbeitspflicht, jeder Indianer mußte wöchentlich zwei bis drei Tage Feldarbeit leisten. Die Ernteerträge wurden möglichst gleichmäßig auf die Familien verteilt, wobei Witwen, Waisen und arbeitsunfähige Bewohner ebenso versorgt wurden wie die arbeitende Bevölkerung. Die Überschüsse wurden teils in Vorratshäusern gelagert, teils auf spanischen Handelsplätzen umgesetzt, wobei in der Regel gute Gewinne erzielt wurden. Obwohl die angeblichen Gold-und Silberbergwerke auf dem Territorium des Jesuitenstaates in den Bereich der Legenden gehören, waren die finanziellen Einnahmen der Reduktionen doch beträchtlich. Da alle Lohnzahlungen entfielen, weil die Arbeit der Indianer kostenlos war, konnten vermutlich bei jährlichen Ausgaben von etwa 20000 Silberpesos bis 750000 Silberpesos erwirtschaftet werden, was der für damalige Zeiten bedeutenden Summe von über 600000 Reichstalern entspricht.

Erhebliche Schwierigkeiten bereitete es den Jesuiten, die ursprünglich nur sporadisch ackerbautreibenden und vorwiegend als Fischer, Jäger und Sammler nomadisierenden Guarames an eine seßhafte Lebensweise und geregelte Arbeit zu gewöhnen. Vorratswirtschaft war ihnen so fremd wie jedes Gewinnstreben, und es bedurfte großer Geduld und Überredungskunst, um ihnen europäische Lebensformen zu vermitteln. Im allgemeinen erwiesen sich die Patres als geschickte und erfolgreiche Pädagogen, die es verstanden, auf dem natürlichen menschlichen Spieltrieb aufzubauen und ihn -wenigstens bedingt -zu einer Arbeitsethik im europäischen Sinne und zur Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft zu entwickeln. So schwierig es für die Jesuiten war, den Indianern die Notwendigkeit der zweifellos harten und mühseligen Feldarbeit klar zu machen, so leicht fiel es ihnen, sie für alle handwerklichen Betätigungen zu begeistern, wobei ihnen der ausgeprägte Nachahmungstrieb und die manuelle Geschicklichkeit der Eingeborenen entgegenkam. „Die Guarani seynd in aller Handarbeit gar lemsam, denn was sie einmal gesehen, das werden sie meisterlich nachahmen“ schrieb ein Jesuit im 18. Jahrhundert. Die Indianer leisteten auch im Kunstgewerbe Außerordentliches, wofür die reich geschmückten und verzierten Kirchen der Missionen eindrucksvolle Beispiele boten.

Im Zusammenhang mit dem täglichen Religionsunterricht lehrten die Patres sowohl Kindern als auch Erwachsenen Lesen, Schreiben und Rechnen, doch deutet alles darauf hin, daß die Unterrichtserfolge nur sehr bescheiden waren. Vor allem das Erlernen der spanischen Sprache stieß nach Aussagen der Patres auf großen Widerstand, was die Jesuiten freilich wenig beeindruckte. Denn nach ihrer Meinung konnte der christliche Glaube ohnehin nur überzeugend in der Sprache der Eingeborenen vermittelt werden. Dieser Auffassung ist es wohl auch zu verdanken, daß die Guaramsprache von den Jesuiten wissenschaftlich erforscht und in den reduktionseigenen Druckereien eine Anzahl Bücher wie Katechismen, Grammatiken und Wörterbücher in Guarani hergestellt wurde. Dadurch wurde das Guarani von den Jesuiten (obwohl aufbauend auf wichtigen vorbereitenden Studien und Forschungen der Franziskaner) zur Schriftsprache erhoben, und die Bevölkerung der späteren Republik Paraguay ist in ihrer Mehrheit bis heute zweisprachig geblieben

IV.

Die Missionierung der Indianer, welche stets das vordringlichste Anliegen des Ordens blieb, wurde zweifellos dadurch erheblich erleichtert, daß die Guarames in zahlreiche Stämme zersplittert waren, die sich nur durch ihre gemeinsame Sprache verbunden fühlten und kein großes, in sich geschlossenes Gemeinwesen mit beherrschenden Riten und Zeremonien besaßen, die von einer einflußreichen Priesterschaft verteidigt worden wären. Hinzu kam, daß die guaranitische Religion in wichtigen Bereichen gewisse Ähnlichkeiten mit der christlichen aufwies, was zum Verständnis der letzteren beitragen konnte. Der Gebrauch der Guaramsprache verführte die Jesuiten daher, bereits bestehende religiöse Vorstellungen und Begriffe der Indianer zu übernehmen und in die christliche Lehre einzufügen, was der Gesellschaft Jesu von ihren Kritikern den Vorwurf eines vorsätzlichen Synkretismus einbrachte. Tatsächlich waren die Jesuiten bemüht, die verschiedenen religiösen Auffassungen einander anzunähem und die vorhandenen Unterschiede auszugleichen, um durch gewisse Konzessionen an den bestehenden Glauben und unter teilweiser Einbeziehung der autochthonen Religion entsprechend günstige Ausgangspunkte und Grundlagen zur Verkündigung des Christentums zu finden. Dabei war es unvermeidlich, daß auch das christliche Gedankengut zum Teil im guaranitischen Sinne umgedeutet wurde, so daß sich mitunter eine nur noch schwer durchschaubare Vermengung heidnischer und christlicher Ideen ergab.

Auch aus der offensichtlichen Vorliebe der Indianer für die im Katholizismus ausgebildeten Legenden folgte eine oft willkürliche und zweckgebundene Interpretation einzelner Bibeltexte. So schufen die Jesuiten u. a. unter Berufung auf die Evangelien (Matthäus, 28, 18ff. und Marcus, 16, 15 und 20) in Paraguay eine spezielle Thomaslegende.

Nach ihr hatte der Apostel Thomas, das Evangelium verkündend, den amerikanischen Kontinent durchwandert und die Indianer auf ihre künftige Missionierung durch die Jesuiten vorbereitet Es ist in unserem Zusammenhang unwichtig, ob und inwieweit solche Umdeutungen dogmatisch zu rechtfertigen sind. Von Bedeutung war dagegen die Tatsache, daß die Societas Jesu in dieser Legende nicht nur ein notwendiges Hilfsmittel für ihre Missionsarbeit sah, sondern aus ihr auch einen Prioritätsanspruch über die anderen Orden in Amerika ableitete, was besonders mit Franziskanern und Dominikanern zu permanenten Auseinandersetzungen führte und in letzter Konsequenz auch die spätere Vertreibung der Jesuiten und die nachfolgende Aufhebung der Gesellschaft Jesu durch den Papst gefördert haben könnte.

Aber auch zum „weltlichen“ Paraguay gerieten die Jesuiten bald in einen schroffen Gegensatz. Nachdem sie ihre Reduktionen von Guairä in den Süden verlegt hatten und die Aufbauarbeit in den neuen Siedlungen schnell und erfolgreich vonstatten ging, gewann der Zusammenhalt dieser Niederlassungen an Festigkeit. Sie wurden de facto zunehmend unabhängiger von Asunciön und bestimmten bald selbst die Grenzen ihrer räumlichen Ausdehnung. Seitdem die Jesuiten auch über ein eigenes schlagkräftiges und mit Feuerwaffen ausgerüstetes Heer verfügten, auf dessen Ausbildung sie stets größte Sorgfalt verwendeten, traten sie sowohl den anderen Orden als auch den spanischen Behörden und Kolonisten gegenüber wesentlich selbstbewußter auf. Die nahezu hermetische Ab-schließung der Missionsgebiete trug in erhöhtem Maße dazu bei, das Mißtrauen der in Paraguay lebenden Spanier, Kreolen und Mestizen gegenüber diesem geheimnisvoll wirkenden, staatsähnlichen Gebilde wachzurufen. Das entstandene Mißtrauen schlug in offene Gegnerschaft um, als sich die Bewohner Paraguays in ihrer ökonomisch schwierigen Situation mit der rasch expandierenden Wirtschaft der Jesuiten konfrontiert sahen, die von Abgaben und Steuern kaum beeinflußt wurde. Diese Bevorzugung der Gesellschaft Jesu durch die königlichen Finanzbehörden erschien ihnen ungerecht, und die Aussicht, eine starke Konkurrenz befürchten zu müssen, bereitete ihnen ernste Sorgen.

Da es in Paraguay weder Gold noch Silber gab, hatte die Krone an diesem Land nur wenig Interesse gezeigt, und seit den ersten Jahren ihres Be-Stehens war die Provinz weitgehend auf sich selbst gestellt. Der einzige Reichtum, über den Paraguay verfügte, war sein Yerba-Mate, mit dessen Anbau es eine Monopolstellung besaß. Der aus dieser Pflanze gewonnene Tee wurde auch in den übrigen Provinzen des La Plata-Gebietes sowie in Peru und Chile getrunken. Als sich nun die Jesuiten ebenfalls dem Yerbageschäft zuwandten, war ihr Erscheinen auf diesem Markt ein unerwarteter und schwerer Schlag für das wirtschaftlich hart ringende Paraguay, aber die Beschwerden seiner Bewohner gegen die Gefährdung ihrer Monopolstellung fanden kein Gehör, und alle Proteste blieben erfolglos.

Am schwerwiegendsten empfanden die Paraguayer jedoch die Tatsache, daß die Jesuiten die Eingeborenen in einem betonten Gegensatz zu den Spaniern, Kreolen und Mestizen erzogen. In den Reduktionen unterstanden die Indianer der jesuitischen Befehlsgewalt, die so absolut und umfassend war, daß sie sich, wie schon erwähnt, bis in die intimsten Sphären des indianischen Lebens erstreckte. In Befolgung der Krongesetze tolerierten die Jesuiten zwar, daß ihre Schützlinge die unteren Verwaltungsfunktionen wahmahmen, aber sie verzichteten darauf, die Indianer zu selbständigem Denken und Handeln anzuleiten. Tatsächlich befanden sich die Reduktionsindianer in einer völligen Abhängigkeit von den Überlegungen und Entschlüssen der Jesuiten, und der geistige und soziale Abstand, der die Patres von ihren Schützlingen trennte, wurde bewußt aufrechterhalten. Die vollständige Isolierung der Indianer in den Reduktionen ließ sie auch schnell den Kontakt mit ihrer Umwelt verlieren. Als die Jesuiten 1768 aus Paraguay vertrieben wurden, waren daher auch die Reduktionsindianer für eine paraguayische Gemeinschaft weitgehend verloren, und ein großer Teil von ihnen zog sich wieder in unwegsame Regionen zurück.

V.

Dagegen hatte sich im „weltlichen“ Paraguay während des ersten, der „conquista“ folgenden Jahrhunderts ein gesellschaftliches System entwickelt, das sich von dem der Jesuiten grundsätzlich unterschied und in dem es weniger darum ging, die Indianer zu erziehen, als sie zielgerichtet in die werdende Gesellschaft einzugliedem. Schon die ersten Konquistadoren hatten die Guarames weniger als Besiegte oder Unterworfene, sondern vielmehr als Verbündete betrachtet, und die aus den spanisch-indianischen Verbindungen hervorgegangenen Kinder und Enkel der Eroberer sahen in den Guarames bereits einen integrierenden Bestandteil des entstehenden paraguayischen Volkes. Die familiären Bindungen der Mestizen an ihre indianische Verwandtschaft sowie die gegenseitige Akkulturation und Anpassungsfähigkeit ließen kaum soziale Unruhen aufkommen, und es entstand allmählich ein Volkskörper, der auf der Grundlage einer gemeinsamen Sprache, gleicher Interessen und einer einheitlichen Entwicklung beruhte. Diese vereinheitlichende Entwicklung war es vor allem, die den Paraguayern durch die Jesuiten bedroht erschien, da sie ihnen die Guarannndianer entfremdeten, und dieser Drohung begegneten sie mit Krieg. Zwischen der jesuitischen Theokratie und dem weltlichen Paraguay konnte es keine Verschmelzung geben. Sie konnten auch nicht friedlich nebeneinander leben. Die Gegensätze waren zu groß. „Ohne die Aufhebung der Missionsstaaten ist Paraguay als selbständiger Staat überhaupt undenkbar“ stellte 1929 der Schweizer Konsul A. N. Schuster zutreffend fest.

Ihren ersten Führer gegen den wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einfluß der Jesuiten fanden die Kolonisten in dem Franziskaner Bernardino de Cärdenas, der 1641 zum Bischof von Paraguay ernannt worden war. Zwar gelang es den Jesuiten drei Jahre darauf, die Absetzung und Ausweisung von Cärdenas durchzusetzen, aber 1649 wurde er vom Asuncener Stadtrat und den Bürgern zurückgeholt und zum Gouverneur gewählt. Im gleichen Jahr wurden die Jesuiten aus Asunciön ausgewiesen, was der Stadtrat mit der „Verteidigung der territorialen und ökonomischen Interessen der Provinz“ begründete. Mit Billigung des Vizekönigs in Lima, an den sich die Jesuiten um Hilfe gewandt hatten, wurde die Rebellion durch ein aus Reduktionsindianem bestehendes Heer niedergeschlagen. 1650 konnten die Jesuiten nach Asunciön zurückkehren. Cärdenas verlor alle kirchlichen Würden und wurde der Provinz verwiesen. Erst mehrere Jahre später prüfte der Vatikan seinen Fall und sprach ihn von jeder Schuld frei.

Die Auseinandersetzungen zwischen Paraguayern und Jesuiten dauerten auch nach dem mißglückten Aufstand des Bischofs Cärdenas fort. Lange Zeit hindurch kam es zwar zu keinem weiteren militäri-sehen Konflikt, aber die ständigen Streitigkeiten spalteten die Provinz in zwei feindliche Lager, von denen jedes das Übergewicht über das andere zu erlangen suchte. Doch richtete sich der Widerstand der Paraguayer nur gegen den Jesuitenorden als politische und wirtschaftliche Macht und hatte mit Glaubensfragen nichts zu tun. Ungeachtet aller Gegensätze neigten weder Spanier noch Kreolen und Mestizen zur Häresie, sondern blieben treue Katholiken, was vor allem dadurch deutlich wird, daß sich viele Priester an ihre Spitze stellten, besonders Franziskaner und Dominikaner, wenn es darum ging, der Opposition gegen die Jesuiten Nachdruck zu verleihen Im Laufe der Zeit wurde die Feindschaft jedoch immer erbitterter und fand schließlich von 1721 bis 1735 ihren Höhepunkt in der sogenannten Comunerorevolution.

Der äußere Anlaß war eine Gefährdung des traditionellen paraguayischen Sozial-und Wirtschaftssystems. Mit Genehmigung der Krone hatten es die Jesuiten erreicht, daß Tausende von Indianern ihre Dienstleistungen für die Spanier, zu denen sie bisher verpflichtet waren, aufgaben und in die Reduktionen überwechselten. Die Paraguayer versuchten, die Verluste wettzumachen, indem sie sich Menschennachschub aus dem Chacogebiet holten und diese „wilden“ Indianer zur Arbeit zwangen. Damit setzten sie sich seitens der Jesuiten und des mit ihnen sympathisierenden Gouverneurs des -berechtigten -Vorwurfes der Versklavung von Indianern aus, die ausdrücklich verboten war. Daraufhin enthoben die Kolonisten -unberechtigt -den Gouverneur seines Amtes und nahmen die Regierungsgeschäfte selbst in die Hand. Ein vom Vizekönig beauftragter Untersuchungsrichter stellte sich in Asunciön auf die Seite der rebellierenden Bevölkerung. Die Jesuiten wurden erneut aus der Stadt vertrieben und die paraguayischen Milizen mobilisiert, die dem Heer der Reduktionsindianer 1724 eine schwere Niederlage bereiteten. Trotz weiterer Rückschläge breitete sich die Erhebung aus, und die Führer des Aufstandes wandten sich schließlich auch gegen die Krongewalt, als sie sich in Anlehnung an die Ideen der spanischen Spätscholastik offen zu den Prinzipien der Volkssouveränität bekannten. Nach jahrelangen Kämpfen wurde die Rebellion schließlich im Zusammenwirken mit Tausenden von Reduktionsindianern von den königlichen Truppen er-barmungslos niedergeschlagen. Die Führer des Aufstandes wurden verhaftet und zum Teil hingerichtet, Steuern und Abgaben drastisch erhöht, und die Provinz verlor alle ihre bis dahin geltenden Privilegien.

Nach der Niederschlagung der Comunerorevolution war der Triumph der Jesuiten vollkommen. Ihre Politik erschien gerechtfertigt und ihre Machtstellung in Paraguay gesichert. Doch scheint ihnen gerade dieses Bewußtsein ihrer Stärke den Blick für die Realität getrübt und sie verführt zu haben, nun selbst gegen die Krone zu rebellieren, womit sie ihre Vertreibung aus Amerika und das Ende des Jesuitenstaates einleiteten. Die Ursache dieser Auflehnung war die zwischen Spanien und Portugal im Vertrag von Madrid am 13. Januar 1750 getroffene Vereinbarung, die Grenzen der amerikanischen Besitzungen beider Staaten neu und endgültig festzulegen. Dabei wurde Spanien im Süden des Kontinents das zwischen beiden Regierungen umstrittene und seit siebzig Jahren von den Portugiesen besetzte Nordufer des Rio de la Plata zugesprochen. Zu Gunsten Portugals verzichtete Spanien dafür auf weite Territorien östlich des Rio Uruguay.

Bei der Durchführung der Vertragsbestimmungen kam es jedoch seitens der jesuitischen Reduktionsindianer zu Schwierigkeiten, da sich die Guarames weigerten, die östlich des Rio Uruguay befindlichen sieben Missionen zu verlassen, um in spanisches Hoheitsgebiet umgesiedelt zu werden. Sie leisteten der Aufforderung zur Räumung ihrer Dörfer erbitterten Widerstand, der während der Jahre 1753-1756 im sogenannten „Siebendörferkrieg“ in schweren und verlustreichen Kämpfen von den vereinigten spanisch-portugiesischen Truppen schließlich gebrochen wurde. Ob die Jesuitenpatres diese Rebellion aktiv gefördert und sogar geleitet, nur wohlwollend geduldet oder abgelehnt und zu verhindern gesucht haben, war lange Zeit hindurch umstritten. Erst die neueste Forschung hat zweifelsfrei nachgewiesen, „daß die Rebellion von einem Teil der in den Reduktionen wirkenden Patres vorbereitet und ausgeführt wurde. Diese Patres besorgten Pulver, verteilten Waffen, leiteten den Bau von Kanonen an, ... übten die Indianer im Waffenhandwerk,... erteilten Befehle und lenkten den Kampf der indianischen Truppen aus dem Hintergrund.“ *Die damals wie heute „von jesuitischer Seite verbreiteteBehauptung, die Indianer hätten sich aus eigenem Antrieb erhoben,... muß als bewußte Irreführung gelten“

In Lissabon und Madrid war man jedoch schon damals davon überzeugt, daß die Jesuiten die Anstifter und Führer dieses Aufstandes waren, und diese Meinung trug erheblich dazu bei, daß der portugiesische Premierminister Pombal 1759 ihre Ausweisung aus Portugal und dessen überseeischen Besitzungen durchsetzen konnte. 1767/68 wurden die Jesuiten auch aus Spanien und Hispanoamerika (im August 1768 aus Paraguay) vertrieben. Zu dieser Zeit umfaßte der Jesuitenstaat von Paraguay 31 Reduktionen mit etwa 93000 Indianern, die von 78 Patres und Laienbrüdern betreut wurden. Dreißig Jahre später hatte sich die Hälfte der Indianer dieser Reduktionen, deren geistliche Leitung den Franziskanern übertragen worden war, wieder in die Wälder zurückgezogen. Ihr endgültiges Ende fanden die nur noch von etwas über 6000 Indianern bewohnten Reduktionen in Paraguay durch eine Verordnung des Staatspräsidenten Carlos Antonio Löpez vom 7. Oktober 1848, in der alle Sonderrechte der Reduktionsindianer aufgehoben und sie den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen wurden.

Bereits einleitend wurde erwähnt, daß der Jesuitenstaat von Paraguay in Vergangenheit und Gegenwart ein nahezu unverändertes Interesse gefunden hat und in zahlreichen Publikationen unter den verschiedensten Aspekten behandelt worden ist. Von besonderer Faszination war dabei offensichtlich die „Idee“, welche diesem Staat zugrunde lag, der, wie gezeigt wurde, jedoch zu keiner Zeit ein wirklicher Staat im juristischen Sinne gewesen ist. Die vermuteten Vorbilder dieser angeblichen jesuitischen Staatsidee reichen in der Phantasie ihrer Bewunderer und Kritiker von Platons „Staat“ über das sozialistisch anmutende Imperium der Inka und die „Utopia“ des Thomas Morus bis zur „Civitas Solis“ des Thomas Campanella. Vor allem die eigentümliche Sozialstruktur und die agrarkollektivistische Wirtschaftsordnung der Reduktionen gaben Anlaß zu den gewagtesten Spekulationen und Vergleichen.

VI.

Im Rahmen seiner Forschungen über die „Vorläufer des neueren Sozialismus“ stellte Karl Kautsky -um hier nur ein Beispiel anzuführen -„den jesuitischen Kommunismus in Vergleich ... zum bolschewistischen Kommunismus in Rußland“ Denn, so fährt Kautsky fort, „beide Arten Kommunismus haben insofern manche Züge gemeinsam, als beide Versuche darstellen, eine rückständige Bevölkerung unter der Leitung einer diktatorisch waltenden, überwiegend aus Intellektuellen bestehenden Gesellschaft... zu kommunistischer Produktion zu organisieren“, und „auch in ihrer Vorliebe, sich unkultivierter Völker für ihre Zwecke zu bedienen, stimmen Jesuiten und Bolschewiki überein“

Die Jesuiten haben einen kommunistischen Charakter ihrer amerikanischen Reduktionen stets geleugnet, einfach, weil sie die Gesellschaftsstruktur nicht ökonomisch, sondern rein geistig sahen. Im übrigen wird Kautskys über den Jesuitenstaat von Paraguay hinausgehende und verallgemeinernde These durch die variable Missionsmethode der Jesuiten widerlegt, die in verschiedenen amerikanischen Gebieten auch unterschiedlichen Prinzipien folgte, welche sich nach den jeweiligen kulturellen und sozialökonomischen Gegebenheiten der Eingeborenen richteten.

Die nicht zu bestreitenden Missionserfolge der Jesuiten beruhten daher auch zu einem großen Teil auf ihrer Fähigkeit, sich bei der Bekehrung der Indianer den Verhältnissen anzupassen und die vorhandenen Möglichkeiten richtig einzuschätzen. Wenn die Jesuiten dabei mitunter Wege gingen, die zu Konfrontationen und Konflikten mit kirchlichen oder weltlichen Autoritäten führten, mag eine derartige Haltung zwar oft momentane Vorteile gebracht haben, doch hat sie zugleich berechtigte Kritik herausgefordert und dem Orden in seiner Gesamtheit langfristig sehr geschadet. Doch darf schließlich nicht übersehen werden, daß selbst solche umstrittenen Handlungen nur die Erreichung des eigentlichen Zieles, der Indianermission, erleichtern sollten, die von den Patres in der Regel mit einer solchen Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft durchgeführt wurde, daß man ihrem Enthusiasmus letztlich Respekt und Bewunderung nicht versagen kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die wichtigste Bibliographie ist die von Robert Streit, Biblioteca Missionum, Bd. 2: Americanische Missionsliteratur 1493-1699, Aachen 1924, und Bd. 3: Americanische Missionsliteratur 1700-1909, Aachen 1927. Vgl. auch Efrafm Cardozo, Historiograffa Paraguaya, Bd. 1: Paraguay indfgena, espanol y jesuita, Mexico 1959.

  2. Diese Bezeichnung des Jesuitenstaates von Paraguay geht auf den österreichischen Dramatiker Fritz Hochwälder (1911-1986) zurück und auf sein 1941/42 verfaßtes Schauspiel „Das Heilige Experiment“, das 1943 in der Schweiz uraufgeführt wurde.

  3. Wahrhafte, Und Schon in mehreren Sprachen in Druck erschienene Urkunden Von dem Jahr 1751 bis auf das Jahr 1759 Sowohl Was die Affairen von Paraguay Als Die Verfolgungen der PP. Societät Jesu in Portugall anbetrifft, o. O., o. J., S. 11.

  4. Richard Konetzke, Süd-und Mittelamerika, Die Indianerkulturen Altamerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft, Frankfurt 1965, S. 220.

  5. Vgl. H. Günther Spang, Die staatsrechtlichen Verhältnisse der jesuitischen Reduktionen in Paraguay (Kölner Dissertation), 1952, S. 60. Zur gleichen Zeit bestätigte Papst Urban VIII. erneut eine Bulle Pauls III., nach der jeder, der Indianer raubt und versklavt, mit dem Kirchenbann bedroht wird. Vgl. Efraftn Cardozo, El Paraguay Colonial, Buenos Aires 1959, 8. 206.

  6. R. Konetzke (Anm. 4), S. 272.

  7. Ebd.

  8. Zit. nach: Maria Faßbinder, Der „Jesuitenstaat“ von Paraguay, Halle 1926, 8. 39.

  9. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Leipzig 1907, 8. 128.

  10. M. Faßbinder (Anm. 8), S. 101 f.

  11. Vgl. Günter Kahle, Das Guarani als paraguayische Volkssprache, in: Kölner Ethnologische Mitteilungen, 4. (1965), S. 105-117.

  12. Zur synkretistischen Problematik der jesuitischen Mission vgl. Günter Kahle, Grundlagen und Anfänge des paraguayischen Nationalbewußtseins (Kölner Dissertation), 1962, S. 133-139.

  13. Adolf N. Schuster, Paraguay. Land, Volk, Geschichte, Wirtschaftsleben und Kolonisation, Stuttgart 1929, S. 190.

  14. Juan Bautista Rivarola, La Ciudad de la Asunctiön y la Cödula Real del 12 de Setiembre de 1537, Asunciön 1952, S. 126.

  15. Die Vorbehalte der Dominikaner gegenüber den Jesuiten kamen u. a. auch in so polemischen Behauptungen zum Ausdruck wie z. B.: „Si cum jesuitis itis, numquam cum Jesu itis!“ Rudolf Großmann, Die katholische Kirche als Bildungsfaktor in der spanisch-amerikanischen Kolonialzeit, in: Iberica, 3 (1925) 4, S. 134.

  16. Felix Becker, Die politische Machtstellung der Jesuiten in Südamerika im 18. Jahrhundert. Zur Kontroverse um den „Jesuitenkönig“ Nikolaus I. von Paraguay, Köln-Wien 1980, S. 212.

  17. Ebd., S. 208.

  18. Karl Kautsky/Paul Lafargue, Vorläufer des neueren

  19. Ebd.

Weitere Inhalte

Günter Kahle, Dr. phil., geb. 1927; Studium der Mittleren und Neueren sowie Iberischen und Lateinamerikanischen Geschichte und Völkerkunde in Köln; seit 1967 Ordinarius für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte und Direktor der Iberischen und Lateinamerikanischen Abteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln. Zahlreiche Monographien und Aufsätze zur iberischen, lateinamerikanischen und allgemeinen Geschichte.