Das Jahr 1492 markiert symbolisch die zwei ineinander greifenden Prozesse der beginnenden staatlichen Einigung Spaniens, die durch den erfolgreichen Abschluß der Reconquista vorangebracht wurde, und der beginnenden überseeischen Expansion, die mit dem Unternehmen einer Indienfahrt auf dem westlichen Seeweg ihren Anfang nahm. Begleitet wurden beide Prozesse zum einen von der kastilischen Sprache, deren Regelwerk Antonio de Nebrija im selben Jahr 1492 mit dem ausdrücklichen Hinweis verfaßte, daß die Sprache „Begleiterin des Imperiums“ sei, und zum anderen von der christlichen Religion, deren missionarischen Impuls die iberischen Völker und mit ihnen die Katholischen Könige, Ferdinand von Aragön und Isabella von Kastilien, als Ideal übernommen hatten.
In der Entdeckung, Eroberung und Kolonisierung der „Neuen Welt“ lief die ambivalente Verbindung von Schwert und Kreuz, die sich in der jahrhundertelangen Rückeroberung der iberischen Halbinsel herausgebildet hatte, mit der nicht weniger ambivalenten Verbindung von ökonomischen und religiösen Triebkräften zusammen, wie sie das Kolumbusunternehmen aufwies. Dessen doppelten Zweck gibt der königliche Schutzbrief vom 17. April 1492 an, in dem es heißt, Kolumbus solle mit seinen drei Karavellen nach Indien fahren „um des Dienstes an Gott und der Verbreitung des rechten Glaubens willen sowie auch zu unserem Nutzen und Vorteil“
Die Verquickung der Missionierung mit der politischen Unterwerfung und ökonomischen Ausbeutung sollte zur größten Hypothek der Ausbreitung des Christentums in Lateinamerika werden aber auch theologische, ethische und juridische Kontroversen hervorrufen in deren Verlauf die Menschen-und Völkerrechte formuliert sowie neue Missionsmethoden entwickelt und theoretisch fundiert wurden.
I. Mission in der frühen Neuzeit
Der „Missionsfrühling“ (Josef Glazik) zu Beginn der Neuzeit stand in seiner ersten Phase (1500-1650) nicht nur im Windschatten der Expansion der iberischen Mächte, sondern auch unter dem Vorzeichen des Patronats der spanischen und portugiesischen Könige über die Kirche. Das Rom der Renaissancepäpste war an Mission kaum interessiert, verfügte überdies nicht über die nötigen Ressourcen und organisatorischen Mittel und mußte sich zunächst den durch die Reformation bedingten europäischen Problemen zuwenden. Träger der Patronatsmission waren vor allem die relativ eigenständigen und international organisierten Orden wie Franziskaner und Dominikaner, die schon im Hochmittelalter Missionserfahrungen bei den Tataren und Chinesen sammeln konnten, oder die Gesellschaft Jesu, die schon sehr bald nach ihrer Gründung (1540) Missionare nach Asien, Afrika und Amerika entsandte. In dieser Epoche des Wandels von einer europäischen Christenheit (orbis christianus) zur universalen Weltkirche reichte die Missionstätigkeit von Mexiko bis Japan; dort führten Franziskaner „Religionsgespräche“ mit aztekischen Priestern (1524 in Tenochtitlän) oder Jesuiten mit buddhistischen Bonzen (1551 in Yamaguchi), während die europäischen „Religionsgespräche“ dieser Zeit um konfessionelle Streitfragen rivalisierender Reformatoren kreisten (1529 in Marburg).
Die zweite Phase ist durch die Bemühungen geprägt, die Mission aus den kolonialstaatlichen Bindungen zu lösen und wieder mehr zu einem Unternehmen in kirchlicher Verantwortung zu machen. Das entscheidende Datum dieses Bestrebens ist die Gründung der römischen Kongregation De Propaganda fide (1622) durch Gregor XV., die unter ihrem ersten Sekretär Francesco Ingoli den Prozeß der Entkolonialisierung und Inkulturation der Kirche einleitete, auch wenn die absolutistischen Bedingungen des Patronats diesen Prozeß nicht voll zum Durchbruch kommen ließen. Diese Phase ist gekennzeichnet durch stärkeres Eingehen auf die Eigenarten der Völker, welches besonders in den Missionen Lateinamerikas (Antonio Ruiz de Montoya), Chinas (Matteo Ricci) und Indiens (Roberto de Nobili) zum Tragen kam. Diese Missionsepoche fand in der Krise des Ancien Regime, in der Zeit der europäischen Aufklärung und der Französischen Revolution ihr Ende; äußere Zeichen dieses Endes sind in Lateinamerika die Vertreibung der Jesuiten in der zweiten Hälfte des 18. und die Unabhängigkeitsbewegung in Spanisch-Amerika zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
II. Das königliche Patronat
Das spanische (patronato) und das portugiesische Patronat (padroado), eine Art Schutzherrschaft über die Kirche, bildete den politisch-organisatorischen Rahmen der Mission Durch mehrere päpstliche Bullen wurden die königlichen Patronatsrechte und -pflichten festgelegt: Die Bulle Inter cetera Alexanders VI. (1493) grenzte nicht nur die portugiesischen und spanischen Einflußsphären durch eine Demarkationslinie auf dem 38. Grad westlicher Länge voneinander ab, sondern erkannte Spanien auch das Missionsmonopol in seinem Gebiet zu, womit gleichzeitig anderen Mächten verboten war, in diese Gebiete einzudringen. Völkerrechtlich maßgeblich wurde freilich die ein Jahr später im Vertrag von Tordesillas (1494) zwischen Madrid und Lissabon ausgehandelte Linie, die nach Westen, auf den 46. Grad westlicher Länge, verschoben wurde und den portugiesischen Anspruch auf Brasilien begründete, dessen Küste 1500 eher zufällig entdeckt worden war.
Für die Finanzierung der Mission und den Aufbau der kirchlichen Organisation in der Neuen Welt ließ sich die spanische Krone 1501 das Recht auf Einziehung des Kirchenzehnten in Amerika übertragen, und durch die Bulle Universalis ecclesiae Papst Julius II. erlangte König Ferdinand 1508 schließlich das Universalpatronat über die neu entstehende Kirche Es umfaßte weitgehende Rechte, wie sie kein anderer europäischer Mon arch dieser Zeit besaß: unter anderem das Recht auf Ernennung von Bischöfen, auf Auswahl und Aussendung der Missionare, auf Einrichtung und Abgrenzung von Bistümern; selbst päpstliche Erlasse bedurften eines königlichen Placets. Seine Rechte und Pflichten übte der spanische König seit 1524 durch eine Zentralbehörde aus, den von Karl V. gegründeten Indienrat (Consejo de las In-dias) in Sevilla.
Der spanische König, nicht der Papst, leitete und finanzierte also die gesamte Missionstätigkeit in der Neuen Welt. Daher konnte die Religion leicht staatspolitisch instrumentalisiert werden, ohne daß man jedoch übersehen darf, daß die Könige das Patronat zweifelsohne auch in der Überzeugung ausübten, für die Verkündigung des Evangeliums verantwortlich zu sein. Die Bewertung des Patronats geht weit auseinander: Die einen sehen darin eine staatliche Instrumentalisierung der Kirche, die anderen eine Art „Laienhilfe“ bei der Mission. Bei aller Anerkennung der organisatorischen und finanziellen Leistungen der Krone für den Aufbau der hispano-amerikanischen Kirche war mit dem Patronat auch eine Transplantation der spanischen Kirche nach Amerika verbunden, was den Aufbau einer eigenständigen indianischen Kirche behinderte, zumal Indios und Mischlinge (Mestizen, Mulatten) faktisch keinen Zugang zu kirchlichen Ämtern erhielten und dieser ihnen auch durch Bestimmungen der Provinzialkonzilien von Mexiko und Lima untersagt wurde.
III. Mission im Kontext von Conquista und Encomienda
Das Patronat begünstigte und legitimierte zunächst ein Modell von Missionierung, das eng mit der militärischen Landnahme (conquista) und der ökonomischen Vorteilnahme (encomienda) verbunden war.
Conquista: Unter Berufung auf die päpstlichen Konzessionen und das Patronat eroberte Spanien in wenigen Jahrzehnten große Gebiete Amerikas. Den Zyklen der militärischen Eroberung (conquista) folgten die Zyklen der „geistlichen Eroberung“ (iconquista espiritual), wie die Mission von Ordensleuten wie Jerönimo de Mendieta oder Antonio Rmz de Montoya genannt wurde.
Die Eroberung begann in der karibischen Inselwelt mit dem Zentrum „La Espanola“ und griff von dort auf die Küsten des Festlands über (Florida, Panamä, Yucatän). In dieser ersten Periode wurden auch, von Kardinal Jimönez de Cisneros gefördert, die beiden ersten Gruppen von Missionaren aus dem Franziskaner-(1500) und Dominikanerorden (1510) entsandt, die sich in Santo Domingo niederließen. Es folgte die Eroberung des hochorganisierten Aztekenreichs durch Hemän Cortds (1519-21), hach deren Abschluß bald die erste planmäßige Missionierung begann, bei der die von millenaristischen Hoffnungen geprägten Franziskaner eine entscheidende Rolle spielten Auf Mexiko folgte die Eroberung Mittelamerikas, und ab 1531 drang Pizarro in das mächtige Inkareich ein, das durch die Rivalität der Inkaprätendenten Atahualpa (Cuzco) und Huascar (Quito) geschwächt war. Es folgten die Eroberung Neu-Granadas (Kolumbien), Chiles, des südlichen Nordamerika und schließlich des La-Plata-Raums, jeweils gefolgt von den Missionsbemühungen der begleitenden oder nachrückenden Ordensleute. Diese Abfolge von Eroberung und Mission galt, bis die Krone 1573 bewaffnete Conquista-Untemehmen verbot und nurmehr friedliche Vorstöße der Missionare in unbekannte Gebiete erlaubt waren, wenn auch bisweilen unter militärischem Schutz.
Sicher waren die religiös hochmotivierten und in der Regel gut ausgebildeten Ordensleute die entscheidenden Träger der Evangelisierung. Doch verstanden sich auch die Konquistadoren als Missionare, ohne einen Widerspruch zwischen ihrer militärischen und religiösen „Mission“ zu sehen. Im Gegenteil, sie betrachteten im Sinn der tabula rasa die Eroberung des Landes und die Zerstörung vor allem der Tempel und Kultbilder als notwendige Voraussetzung für die Verbreitung des christlichen Glaubens. Die Quellen geben darüber Auskunft, welch großen Wert die Eroberer darauf legten, als erste Bringer des Christentums angesehen zu werden. Bemal Diaz del Castillo, einer der Soldaten des zweijährigen Eroberungszugs gegen Mexiko, bemerkt in seiner Chronik, die Eroberer seien hinausgezogen, „um Gott und seiner Majestät zu dienen, um denen in der Finsternis das Licht zu bringen, und auch um Reichtümer zu erwerben, die alle Menschen gemeinhin erstreben“ Damit nennt er in einem Satz vier Motive, zwei religiöse (ritterlicher Dienst für Gott und missiona-rischer Dienst für die „Ungläubigen“) sowie zwei profane (Vasallendienst für den König und Erwerb persönlichen Reichtums).
Symbol der Verquickung von Conquista und Mission ist eine Requerimiento genannte Proklamation, die seit 1513 vor der Eröffnung von Feindseligkeiten verlesen werden mußte und die freiwillige Unterstellung unter den König sowie die Zulassung der Mission forderte, im Weigerungsfall mit Krieg, Unterwerfung und Versklavung drohte Diese Proklamation sollte den Eroberungszügen eine Rechtsgrundlage geben, war aber faktisch eine Kriegserklärung und führte in aller Regel zur militärischen Unterwerfung, nach der die religiöse „Mission“ begann, d. h. die Zerstörung der Tempel und Kultbilder, die Errichtung des Kreuzes, Erläuterung des christlichen Glaubens und die Aufforderung, inkriminierte Verhaltensweisen wie Menschenopfer und Kannibalismus aufzugeben. Geistliche wirkten dabei mit, nicht ohne bisweilen den „heiligen“ Zerstörungseifer der Konquistadoren zu bremsen, wie im Fall des Cortäs, dessen Feldkaplan nach dem Bericht von Bemal Diaz intervenierte: „Es ist nicht recht, die Indios mit Gewalt zu Christen zu machen.“
Encomienda: Eine weitere frühe Methode der Missionierung war eng mit der „Encomienda“ verknüpft, jener kolonialen Institution, die bei der Besiedlung der Antilleninseln eingeführt wurde und darin bestand, verdienten Konquistadoren und Kolonisten oder auch Beamten der Krone eine bestimmte Anzahl von Indios mit dem Recht zuzuteilen oder „anzuvertrauen“ (encomendar), ihnen Tribute oder Arbeitsleistungen abzuverlangen, und der Pflicht, für den Schutz, den Lebensunterhalt und die Christianisierung der ihnen „anvertrauten“ Indios Sorge zu tragen. Die Encomienda verband mithin die Nutznießung erzwungener Arbeit mit der Missionierung der zur Arbeit Gezwungenen; eine unheilige Allianz, wie die Praxis beweisen sollte, denn in der Regel bedienten sich die spanischen Encomenderos der Indios wie „der Tiere des Feldes“, nutzten also die billige Arbeitskraft, ohne die eingegangenen Verpflichtungen wie Unterhalt und Unterweisung einzulösen. So entwickelte sich die Encomienda zu einem System von Ausbeutung und Unterdrückung, das die Christianisierung nicht nur behinderte, sondern auch in krassem Widerspruch zu ihr stand.
IV. Prophetischer Protest und Gesetzgebung
An den bedrückenden Realitäten der Conquista und der Encomienda, die im Verein mit eingeschleppten Infektionskrankheiten und dem Kultur-schock zu einer enormen demographischen Dezimierung der einheimischen Bevölkerung führten, entzündete sich der prophetische Protest von Ordensleuten, beginnend mit der berühmten Adventspredigt, die der Dominikaner Antonio de Montesinos 1511 in Santo Domingo hielt und die als „der erste Schrei nach Gerechtigkeit in Amerika“ gilt. „Sind dies denn keine Menschen? (Astos no son hombres?)“, so donnerte er anklagend. „Sagt, mit welchem Recht und mit welcher Gerechtigkeit haltet ihr die Indianer in so grausamer und schrecklicher Knechtschaft? ... Wie bedrückt und gequält haltet ihr sie, ohne ihnen zu essen zu geben und ohne für sie bei Krankheit zu sorgen, so daß sie durch das Übermaß an Arbeit, die ihr ihnen aufbürdet, sterben, oder besser gesagt: die ihr tötet, um jeden Tag Gold zu gewinnen. ... Sind diese denn keine Menschen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie wie euch selbst zu lieben? Versteht ihr das nicht?“
Das Grundprinzip dieser Predigt besteht darin, das Recht (Naturrecht, positives Recht, Gesetz Christi) mit der Realität zu vergleichen und die sich daraus ergebenden Widersprüche zu benennen, die nicht nur die schlechte Behandlung der Indianer betreffen, sondern auch die Legitimität und Moralität des spanischen Vorgehens in der Neuen Welt in Frage stellen. Daher verwundert es nicht, daß der Fall auf Klage der Encomenderos bis vor den König gelangte, der die sich anbahnende Krise erkannte und die erste kolonialpolitische und -ethische Beratungskommission, die Junta von Burgos einberief, deren Ergebnisse zur Indianerschutzgesetzgebung der „Leyes de Burgos“ (1512/) 13 führen sollten. Diese regelten zum einen die sozialen Verpflichtungen wie Unterkunft und Unterhalt, Lohn und Freizeit, Kleidung und Essen, Bildung und Mutterschutz, und zum anderen die missionarischen Pflichten wie Einrichtung einer Kirche, Sorge um Gottesdienste und Sakramentenspendung, Bestellung geeigneter Personen, die „con mucho amor e dulgura“ (mit großer Liebe und Sanftmut) im Glauben unterweisen sollten. Dieses wohl selten eingehaltene Idealprogramm setzte auf die zivilisierende und missionierende Bedeutung des Zusammenlebens von Spaniern und Indios, doch ließ es die Encomienda unangetastet, so daß Arbeitszwang und Mission, obgleich inkompatibel und kontraproduktiv, miteinander verkoppelt blieben. Erst dem schärfsten Kritiker des Encomienda-Systems sollte es nach einem jahrelangen argumentativen Kampf gelingen, die Krone davon zu überzeugen, daß die Encomienda rechtlich abgeschafft werden müsse. Es war der Encomendero Bartolomd de las Casas, der sich unter Einfluß der Dominikanerkommunität unter Pedro de Cördoba durch eine kontextuelle Bibellektüre (Sir 34, 21-27) im Jahr 1514 bekehrte, den „systemischen“ Charakter des Problems erkannte und daher aus ethisch-spiritueller Inspiration heraus auf legislative Lösungen drängte. Dieses argumentative Drängen führte schließlich zu den „Nuevas Leyes“ (Neue Gesetze) von 1542, die für die Zukunft Neu-vergabe und Vererbung vonüberdies die Versklavung von Indianern untersagten. „Denn Uns“, so der König, „liegt selbstverständlich weit mehr die Erhaltung der Menschenleben am Herzen als der Gewinn.“
Der Protest führte auch zu einer langen, auf hohem Niveau geführten Debatte um die Rechtstitel der spanischen Präsenz in der Neuen Welt, in der Francisco de Vitoria auf hervorragende Weise mitwirkte. In seinen berühmten Vorlesungen „De Indis“ (37) 15 verwarf er den Kolonialismus, weil die Indianer von Natur aus frei und zu Vemunftgebrauch, Besitz und Regierung fähig seien. Durch seine Unterscheidung ungerechter und gerechter Titel -zu den letzteren zählt Vitoria das natürliche Recht auf Freizügigkeit des Reisens, der Kommunikation und des Handels, das Recht auf Glaubensverbreitung, auf Schutz Unschuldiger oder das Recht eines Volkes auf freie Wahl -schuf er die Grundlagen des Völkerrechts (ius inter gentes). Durch die von ihm begründete Rechtsschule von Salamanca sollten seine Auffassungen eine breite Wirkungsgeschichte in Europa und Amerika entfalten
Der Protest zeigte nicht nur auf der Ebene der staatlichen Gesetzgebung Wirkung, sondern bewegte auch den Papst zu lehramtlichen Äußerungen hinsichtlich des theologischen Status der Indianer. In der Bulle „Veritas ipsa“ (1537) beklagte Paul III. vehement, daß die Indios „wie Tiere zum Sklavendienst“ eingespannt würden, und betonte demgegenüber, daß sie wirkliche und zum Glauben fähige Menschen seien, die „ihrer Freiheit und ihres Besitzes nicht beraubt werden dürfen; vielmehr sollen sie ungehindert und legitim das Recht auf Besitz und Freiheit ausüben und sich dessen erfreuen können. Auch ist es nicht erlaubt, sie in den Sklavenstand zu versetzen. Alles, was diesen Bestimmungen zuwiderläuft, sei null und nichtig.“
V. Die Rolle des Bartolomä de las Casas
Die Rolle, die Las Casas (1484-1566) nach seiner Bekehrung und nach seinem Eintritt in den Predigerorden (1522) sowie später als residierender und resignierter Bischof von Chiapas (Mexiko) spielte, ist äußerst vielfältig aber doch so auf den anderen Menschen konzentriert, daß Todorov zu Recht sagen kann, daß niemand es so wie er verstanden habe, „mit solcher Hingabe eine ungeheure Energie und ein halbes Jahrhundert seines Lebens darauf zu verwenden, das Schicksal der anderen zu verbessern“
Getrieben von der „Kompassion“ mit den indianischen Menschen, sorgte er sich auf der einen Seite um die Bekehrung der Spanier, die er mit den Mitteln der Argumentation, der Polemik, des Einflusses auf die Gesetzgebung oder der strikten Bußpraxis voranzutreiben suchte, ohne damit immer erfolgreich zu sein. Der Verteidigung des indianischen Menschen gegen die europäischen Praktiken entsprachen auf der anderen Seite die vielfältigen Versuche, praktisch alternative Missionsmethoden zu entwickeln und sie auch theoretisch zu untermauern.
Das erste praktische Projekt einer friedlichen Mission (conquista de paz) in dem von den Spaniern noch nicht besiedelten Küstengebiet des heutigen Venezuela verband Kolonisierung und Missionierung durch ein Zusammenleben von Indios und spanischen Bauern. Doch scheiterte dieses Projekt von Cumanä an den Sklavenjägern, den Aufständen der Indianer und den Strafexepeditionen. Diese Erfahrung führte zu einem neuen Prinzip der „getrennten Entwicklung“, d. h.der völligen Abschirmung der Missionssiedlungen und -gebiete vom spanisch beherrschten Umfeld. Nach diesem Prinzip organisierte Las Casas ein großes Missionsprojekt in Guatemala, wohin er 1537 auf Einladung des dort zuständigen Bischofs Francisco de Marroqufn ging und sich ein weites Gebiet zuweisen ließ, das vertraglich vor dem Eindringen spanischer Kolonisten geschützt war. Programmatisch nannte er dieses friedliche und auf getrennter Entwicklung basierende Projekt „Vera Paz“ (Wahrer Friede). Um weitere Missionare zu werben, unternahm Las Casas eine Reise nach Europa, kehrte aber wegen der dortigen Debatten erst nach vier Jahren zurück, inzwischen zum Bischof einer Diözese ernannt, die auch sein altes Missionsgebiet umfaßte.
Auf der theoretischen Ebene reflektierte er schon in den frühen zwanziger Jahren über die angemessene Methode der Mission; das Ergebnis dieses Nachdenkens war die nur fragmentarisch erhaltene Missionstheorie „Über die einzige Weise der Berufung aller Völker zur wahren Religion“ (De unico vocationis modo omnium gentium ad veram religionem),deren zentrale These folgendermaßen lautet: „Eine einzige und gleiche Weise, die Menschen die wahre Religion zu lehren, wurde von der göttlichen Vorsehung für die ganze Welt und für* alle Zeiten festgesetzt, nämlich die Überzeugung der Vernunft durch Gründe und die sanfte Anlokkung und Ermunterung des Willens. Diese Weise muß allen Menschen der Welt gemeinsam sein, ohne jeden Unterschied der Religion, der Irrtümer oder der Sittenverderbnis.“ Diese These weist zum einen jegliche Missionspraxis zurück, die eine vorherige gewaltsame Unterwerfung zur Voraussetzung der Mission macht und dieses Vorgehen mit der angeblichen Inferiorität der Indianer oder mit ihrem Mangel an Vernunft und sittlichem Willen begründet. Zum anderen geht sie im Sinn einer thomanisch geprägten Anthropologie davon aus, daß der Mensch -und dies gilt mithin auch für die Indianer -ein Vemunftund Freiheitswesen ist, dem sich Gott als Wahrheit (im Geist) und als Liebe (im Sohn) so mitteilt, daß sich der Mensch dieser Offenbarung „konnatural“, aufgrund seiner Rationalität und Freiheit, öffnen kann. Daraus folgt für Las Casas unausweichlich, daß die Annahme der göttlichen Wahrheit und Liebe niemals durch Zwang oder Gewalt erreicht werden könne, sondern prinzipiell nur durch überzeugende Gründe, die das Erkenntnisvermögen ansprechen, und durch sanfte Attraktion, die das Freiheitsvermögen bewegt.
Diese Grundeinsicht durchzieht seinen ganzen Traktat und prägt auch jene fünf wesentlichen Bedingungen, die Las Casas als unabdingbar für jede authentische missionarische Tätigkeit ansieht: Die zwei negativen Bedingungen sind die Abweisung des Machtstrebens und der Gewinnsucht, die zwei positiven fordern Güte und Wohlwollen sowie die christliche Liebe, während die fünfte Bedingung, auf die Las Casas das größte Gewicht legt, das „exemplarische Leben“ ist, d. h. das Zusammenstimmen von Glauben und Leben; „denn wer den Glauben lehrt, muß sich selbst als Beispiel seiner Worte darstellen, und zwar derart, daß er mehr durch seine Werke als durch seine Worte unterweist“
Etwa ein Jahrzehnt später verfaßte er seine monumentale „Apologdtica historia“, eine Art vergleichende Völkerkunde mit der er, gestützt auf Aristoteles’ „Politik“, den Nachweis des hohen politischen und kulturellen Rangs der indianischen Gemeinwesen erbringen wollte, der wiederum auf der Vernunft-und Freiheitsbegabung beruht, eben jenen Vermögen, die den Menschen als solchen auszeichnen, seine Fähigkeit zum Empfang der Offenbarung Gottes begründen sowie den anthropologischen Maßstab abgeben, nach welchem die Indianer zu respektieren, zu behandeln und zu missionieren sind. Obgleich das Werk dieser „apologetischen“ Absicht folgt und daher idea lisierende Züge aufweist, beschreibt und analysiert es doch auf der Basis empirischer und historischer Daten sehr präzise die indianischen Kulturen und vergleicht sie mit den antiken. Dieser Vergleich stützt durch sein relativierendes Vorgehen einerseits das theologische Axiom von der Gleichheit der Völker, die zur einen Menschheit gehören, und andererseits das Axiom vom Fortschritt der Völker, das deren jeweilige Andersheit prozeßhaft (Entwicklung) erklärt, aber nicht zum Kriterium eines minderen Status (z. B. Sklaven von Natur aus) macht, der, wie bei Las Casas’ Gegner, dem Humanisten Juan Gin 6s de Sepülveda, leicht zur Legitimation eines gewaltsamen Vorgehens herangezogen werden konnte.
VI. Utopische Mission am „Ende der Welt“
Zur planmäßigen Evangelisation der Neuen Welt sandte die spanische Krone weder die feudal gebundenen Mönchsorden noch die in der Reconquista ausgelaugten geistlichen Ritterorden, sondern zunächst die beweglichen Bettelorden (Mendikanten) aus, die aufgrund ihrer inneren Reformen, ihrer guten Ausbildung und enthusiastischen Motivierung für die große Aufgabe besser geeignet schienen. Insbesondere sind hier die Franziskaner zu erwähnen, die von den rund 5000 Ordensleuten, die im 16. Jahrhundert als Missionare nach Amerika gingen, etwa die Hälfte ausmachten.
Im gerade niedergerungenen Mexiko begann die friedliche Mission mit der Ankunft der bewußt als Zwölfergruppe ausgesandten „doce frayles“, der franziskanischen „Zwölf Apostel Mexikos“, die 1524 unter Leitung des visionären und tatkräftigen Martin de Valencia standen und von der Hoffnung bewegt waren, in der Neuen Welt endlich das Ideal einer armen und apostolischen Urkirche verwirklichen zu können. Ihre chiliastischen Vorstellungen, wie sie ein Toribio de Benavente (Motolima) und sein Schüler Jerönimo de Mendieta in ihren Chroniken niederschrieben, waren geprägt von der Geschichtstheologie des Joachim von Fiore, dessen Werke Anfang des 16. Jahrhunderts im Druck erschienen und die Erwartung auf das „dritte Reich des Geistes“ schürten; auch die apokalyptische Vorstellung von der „Westwanderung“ (translatio) der politischen Herrschaft und der ursprünglichen Kirche sowie deren Erfüllung im „fünften Reich Jesu Christi“ empfanden die Missionare als drän-gende Aufforderung, am geographischen Ende der Welt und vor dem zeitlichen Ende der Welt das Missionswerk in letzter Stunde zu vollbringen. Dabei wurde die Sympathie, mit der die Franziskaner den Indios begegneten, von deren einfachem Lebensstil und fehlenden Gewinnstreben weiter angefacht. Aus der Verbindung dieser Erfahrung mit dem Ideal der Urkiche erwuchs das Bemühen um die Begründung einer „indianischen Kirche“.
Methodisch gingen sie so vor, daß sie in den Städten große Konvente gründeten, von denen die Missionsarbeit auf dem Land ausging. Dort wurden nach dem Prinzip der getrennten Entwicklung in reservierten Zonen Klöster als Zentren errichtet und Seelsorgebezirke für Indianer (doctrinas) abgegrenzt, die meist mehrere Indioansiedlungen umfaßten und später in reguläre Pfarreien umgewandelt wurden. In der Regel waren zwei Missionare (doctrineros) für einen Bezirk zuständig, die, sobald sie die Indianersprachen beherrschten, die Indios regelmäßig zur Glaubensunterweisung versammelten und zugleich zu einer „zivilisierten“ Lebensweise anzuhalten suchten Durch Kapellen an indianischen Kultorten sollte die alte Religion überformt werden, ohne daß damit indes der religiöse Synkretismus hätte verhindert werden können. Daher wurde beispielsweise die schon im 16. Jahrhundert beginnende und bis heute währende Verehrung der „Virgen de Guadalupe“ in Mexiko-Stadt -der Legende nach war sie 1531 am alten Kultort Tepeyac einer als „Tonantzin“ (unsereliebe Mutter) verehrten Gottheit einem Indio erschienen, den sie in seiner Sprache anredete als verkappter Götzendienst beargwöhnt
Im Streben nach einer „Synthese von durchaus positiv empfundenen Kulturelementen der Indios und der europäischen Kultur“ studierten die Franziskaner die autochthonen Sprachen und erstellten Grammatiken, Wörterbücher und Katechismen, die zum Teil an Ort und Stelle gedruckt wurden, hatte doch der erste Bischof von Mexiko, der Franziskaner Juan de Zumärraga (1476-1548), neben Kirchen, Hospitälern und Schulen auch die erste Druckerei der Neuen Welt einrichten lassen (1539). Allein für die Gründungsphase der mexikanischen Kirche (1524-1573) sind über 100
Werke in mehreren Indianersprachen nachgewiesen, die meisten davon in Nähuatl, der lingua franca des Aztekenreichs.
Der genialste Erforscher der Kultur Mexikos war wohl der als „Vater der amerikanischen Ethnologie“ geltende Bernardino de Sahagün, der nach systematischer Feldforschung und mit Hilfe zweisprachiger Informanten eine illustrierte Enzyklopädie der Nähua-Kultur (Religion, Kalender, Moralphilosophie, Staatswesen, Geschichte, Natur, Eroberung) schuf (Historia general de las cosas de Nueva Espafia), die 1569 fertiggestellt war, aber aufgrund der Hispanisierungspolitik nicht veröffentlicht werden durfte Diese Politik, aber auch die inneren Schwierigkeiten des Synkretismus und die Rivalitäten von Welt-und Ordensklerus ließen die franziskanische Vision einer indianischen Urkirche scheitern.
VII. Missionstheorie im amerikanischen Kontext (Jose de Acosta)
Der Jesuit Jose de Acosta (1540-1600) ist derjenige, der nach missionarischen Erfahrungen im andinen Raum eine Missionstheorie verfaßte die unter dem Titel „Über die Sorge um das Heil der Indianer“ (De procuranda Indorum salute) erstmals 1588 erschien und über lange Zeit als vielgelesenes Handbuch der Mission dienen sollte In diesem Werk verfolgt er eine Strategie der zwei Fronten, insofern er zum einen die angesichts der Fehlschläge und Schwierigkeiten entmutigten Missionare neu motivieren und zum anderen die politischen Autoritäten zur Wahrnehmung ihrer sozialen Verantwortung drängen will. Darin spiegelt sich die im Peru dieser Zeit besonders deutliche politische und religiöse Krise, die Acosta durch scharfe Denunziation der Übelstände und durch eine neue Methode und normative Theorie der Mission beheben möchte. Daher behandelt das Werk -ausgehend von der heilsuniversalistischen These, derzufolge es keine Rasse von Menschen gebe, die von der Mitteilung des Evangeliums und des Glaubens ausgeschlossen sei -zunächst die Rechtstitel des Eroberungskrieges gegen die Indianer und die fatale Verquickung von Conquista und Mission sowie die Rechte und Pflichten der zivilen Verwaltung und die Probleme der Tribute, der Minenarbeit und der „persönlichen Dienste“; erst nach dieser Diskussion der kolonialen Rahmenbedingungen befaßt sich Acosta mit missionarischen Fragen im engeren Sinn, d. h.den geistlichen Diensten, der Katechese, dem Sprachenerwerb und der Verwaltung der Sakramente.
Doch diskutiert Acosta nicht allein den kolonialen Kontext der Mission, sondern verfaßt auch eine Naturkunde und Kulturgeschichte Amerikas, die auf eigener Erfahrung sowie auf der glaubwürdiger Informanten beruht und eine umfassende frühe Darstellung des Wissens über die Natur (Klima, Geographie, Fauna, Flora) und Kultur (Religion, Gebräuche, Geschichte) Amerikas darstellt. Diese „Historia natural y moral de las Indias“ (1590), die viele Auflagen und Übersetzungen erfuhr, darunter allein drei deutsche zeichnet sich dadurch aus, daß Acosta in ihr eine „verstehende Methode“ entwickelt, die auf der Erfahrung der neuen Wirklichkeit, ihrer analytischen Durchdringung und auf dem Kulturvergleich beruht.
Auf diesem Hintergrund entwickelt Acosta eine Typologie von drei Missionsmethoden
1. Die ideale Methode ist für ihn die „apostolische“ (more apostolico), wie sie von der Urkirche angewandt worden sei und von den zeitgenössischen Missionaren im asiatischen Raum angewandt werde, doch in der Neuen Welt nur bedingt anwendbar sei, und zwar wegen der im Vergleich mit den Asiaten niedrigeren Kulturstufe und wegen der mangelnden Fähigkeit der Missionare, Wunder zu wirken.
2. Die in der Neuen Welt oft praktizierte Methode der Missionierung nach vorheriger Unterwerfung lehnt Acosta als perverse und in keinem Fall zu billigende Methode ab, weil sie der apostolischen Weise zuwiderlaufe, die auf gutes Beispiel, Armut und Wohltat setze, niemals aber auf Gewalt.
3. Die dritte Methode der Missionierung unter militärischem Schutz sieht Acosta unter bestimmten Bedingungen als erlaubt an, wobei jedoch Gewalt nur im Fall der Notwehr, niemals aber im Zusam-menhang der Evangelisierung angewandt werden dürfe.
Acostas „neue Methode der Evangelisation und Akkomodation“ schließt jede Art von Zwang, Gewalt und Unrecht bei der Mission aus und gibt drei Bedingungen an, die bei jeder authentischen Mission erfüllt sein müssen:
1. Die wichtigste ist, wie schon bei Las Casas, die Integrität des Lebens, d. h. die Übereinstimmung von Glaubensbekenntnis und Lebenspraxis, die für Acosta das wirksamste und fast einzig nötige „Wunder“ darstellt.
2. Die Beherrschung der indianischen Sprachen sowie
3. eine umfassende Kenntnis sowohl der indianischen als auch der europäischen Kultur.
Dementsprechend sind die größten Hindernisse für die Mission das schlechte Beispiel der Spanier, die mangelnden Sprachkenntnisse sowie die schlechte Kenntnis und Verwaltung der indianischen Angelegenheiten. Der christlich-humanistische Optimismus eines Acosta hinsichtlich der Bildbarkeit des Menschen -der „pädagogischen“, was die Indios betrifft und der ethischen, was die Europäer betrifft -prägte auch das große Missionsexperiment unter den Guarani in Paraguay im 17. und 18. Jahrhundert.
VIII. Der „Jesuitenstaat“ Paracuaria
Das bekannteste unter den vielen Missionsprojekten nach dem Modell der „Reduktion“ d. h.der Zusammenführung der halbnomadisch lebenden Indianer in eigenen Siedlungen, führten die Jesuiten -nach Vorbildern am Titicacasee und in Asunciön -im heutigen Grenzgebiet von Argentinien, Brasilien und Paraguay durch. Dieses als „Jesuitenstaat“ in die Geschichte eingegangene Projekt unter den Guarani hatte eine wechselvolle Geschichte von Gründungen, Vertreibungen und Verteidigungen; es bestand rund 160 Jahre und umfaßte in der Blütezeit 30 Städte mit insgesamt etwa 140000 indianischen Bewohnern Das Reduktionsmodell blieb gewiß im politischen und rechtlichen Rahmen der spanischen Kolonialherrschaft und diente der geostrategischen Sicherung der Grenzen {Frontier), doch entwickelte es in diesem Rahmen eine antikoloniale Utopie, indem es sich hermetisch von den Spaniern und bestimmten Institutionen (encomienda) abschirmte und indem es die für die Indianer günstige spanische Gesetzgebung für Amerika (Leyes de Indias) strikt durchführte. Die Grundidee war keine Utopie ä la Thomas Morus, wie sie ein Vasco de Quiroga in Mexiko durchzuführen versuchte, sondern die Einheit von Evangelisierung und integraler menschlicher Entwicklung sowie die Anknüpfung an die autochthone Kultur, was Mentalität, Religiosität, Sprache und Wirtschaftsweise angeht.
Die Reduktionssiedlungen, deren Ruinen noch heute zu besichtigen sind, hatten eine planmäßige Anlage im Schachbrettgrundriß; an einer Seite der Plaza mit ihren durchgehenden Arkadengängen lagen die wichtigsten Gebäude (Kirche, Wohnung der Patres, Werkstätten, Magazine, Friedhof, Kranken-und Witwenhaus), während an den drei anderen Seiten des quadratischen Platzes die Wohnhäuser der Indios symmetrisch angeordnet waren.
Was die innere Ordnung angeht, so lag die Leitung in weltlichen und geistlichen Dingen bei den Patres (in der Regel zwei bis vier), doch hatten auch die Kaziken eine privilegierte Stellung und bestimmte Amtsfunktionen inne. Bei der Wirtschaftsverfassung knüpften die Jesuiten an einheimische Traditionen einer hochsozialisierten Produktion, Verteilung und Konsum an, an die Praxis der Gemeinschaftsarbeit, an Gemeinbesitz und großzügige Gastfreundschaft. Erträge für die Vorratshaltung, die soziale Fürsorge, die Tribute an die Krone und die Ausstattung der Reduktionen wurden auf dem Gemeindeland {tupa mbai = Gottesland) erwirtschaftet (Erzeugung von Fleisch, Häuten, Wolle, Baumwolle und Yerba-Mate); dafür waren zwei Tage in der Woche vorgesehen, während die private Bewirtschaftung des „Familienlands“ {Aba mba£) vier Tage in Anspruch nahm. Der primitive Ackerbau wurde technologisch verbessert (Axt und Pflug), und auch das Handwerk und die Bautätigkeit blühten, nicht zuletzt durch handwerklich ausgebildete Jesuiten aus den deutschsprachigen Landen. Waren die Guarani nach Aussagen der Missionare auch weniger innovativ, so waren sie doch Meister der Imitation, etwa bei Steinmetzarbeiten oder beim Bau von Musikinstrumenten.
All dies stand wegen der Einheit von Missionierung und Humanisierung im Zeichen der christlichen Religion, die durch Unterweisung und Gottesdienste nahegebracht wurde, nicht nur kognitiv, sondern auch durch Musik (bis hin zu Orgel und Orchester) und religiösen Tanz, durch Prozessionen und religiöse Schauspiele, durch reich ausgestattete Kirchen und feierliche Zeremonien, also durch die ganze Sinnlichkeit, deren die Barockzeit fähig war. Vor allem wurde die Sprache gepflegt, eine guaranitische Schrift entwickelt sowie Wörterbücher und Grammatiken erstellt (bis heute ist Guarani Staatssprache in Paraguay).
Bei aller von heute her möglichen Kritik (etwa des Paternalismus) ermöglichten die Reduktionen eine „symphonische“ Begegnung der Kulturen und stellten eine guaranitisch-christliche Synthese dar, die durch programmatische Absonderung von der Kolonialwelt, strikte Einhaltung der Gesetze, pragmatische Anknüpfung an das autochthone Substrat und einen festen Glauben an die Kraft der christlichen Botschaft zustande kam.
Die Reduktionen in Lateinamerika scheiterten an der politischen Vertreibung der Jesuiten (1767), wie fast zeitgleich die Missionsbemühungen in China am „Ritenstreit“ scheiterten. Nicht nur die Missionsgeschichte wäre gewiß anders verlaufen, wenn die beiden großen Projekte der Inkulturation des Evangeliums im 18. Jahrhundert nicht abgebrochen-worden wären und wenn sich im 19. Jahrhundert nicht eine eurozentrische und von neuem mit dem Kolonialismus verquickte Mission hätte etablieren können.