I. Einleitung
Als sich am 21. August 1968 auf dem Prager Wenzelsplatz Zehntausende von Demonstranten den sowjetischen Panzern entgegenstellten und in vielen anderen Städten der Welt Menschen auf die Straße gingen, um gegen die brutale Militär-aktion des Warschauer Paktes zu protestieren, blieb in Ostberlin die Lage ruhig. Brütende sommerliche Hitze lag über der nahezu ausgestorbenen Stadt, und nur an den Badestränden kam es zu größeren Menschenansammlungen. Die friedliche Idylle hinter Mauer und Stacheldraht schien durch die Ereignisse im Nachbarland kaum gestört.
Und doch hinterließ der Einmarsch der Truppen des Sowjetblocks in die Tschechoslowakei tiefe traumatische Verwerfungen. Immer wieder stößt man in Gesprächen und lebensgeschichtlichen Interviews auf die Ereignisse des Prager Frühlings, als eine Art Schlüsselerlebnis. Man hat die Herbstrevolution des Jahres 1989 gelegentlich auch die „Revolution der Vierzigjährigen“ genannt. Vielen Beobachtern war aufgefallen, daß in den Oppositionsgruppen durchaus nicht die Jugendlichen dominierten, sondern die Geburtsjahrgänge um 1950. Welche politische Entwicklung sie in den zwanzig Jahren nach 1968 auch immer genommen haben mögen, ein irrationaler Rest der romantischen Illusion des Prager Frühlings wurde von vielen bis in die turbulenten Herbstmonate des Jahres 1989 hinein bewahrt. Oder erscheint dies nur so in der Retrospektive? Werden hier liebevoll individuelle Mythen gepflegt? Basteln gar ehemalige SED-Genossen an der Legende, tief im Herzen immer den „Traum des demokratischen Sozialismus“ getragen zu haben? Auch Gregor Gysi verweist in Interviews und Talk-Shows gern auf eine Parteistrafe aus dem Jahr 1968.
Welche Resonanz hatten die Ideen des Prager Frühlings bei der Bevölkerung der DDR tatsächlich? Sicherlich ist es heute noch nicht möglich, diese Frage endgültig zu beantworten. Doch aufgrund der Aktenberge in den Archiven von Stasi und SED sind wir bei der Lösung des Problems nicht mehr allein auf subjektive Eindrücke und Spekulationen angewiesen.
Seitens der Staatssicherheit trug die innere Absicherung der militärischen Niederwerfung des Prager Reformkurses den Decknamen „Aktion Genesung“. Man meinte wohl, der „real existierende Sozialismus“ würde durch die Militäraktion vom Bazillus des demokratischen und freiheitlichen Gedankens genesen. Viele Menschen in der DDR haben dies genau umgekehrt empfunden. Der Versuch, Freiheit und Sozialismus zu verbinden, war in ihren Augen ein Gesundungsprozeß, eine Rückkehr zu den humanistischen Wurzeln der sozialistischen Utopie. Immer wieder gab es in der Geschichte der DDR Momente, in denen Hoffnungen aufkeimten, das stalinistische System könne von innen her aufgebrochen werden. Zum ersten Mal schien dies im Zeichen der Entstalinisierung nach dem XX. Parteitag der KPdSU möglich. Zwölf Jahre später war es der Prager Frühling, der von vielen Menschen als hoffnungsvolles Zeichen betrachtet wurde, wiederum zwölf Jahre später die polnische Arbeiterbewegung, obwohl diese nicht mehr unter dem Zeichen einer sozialistischen Reformbewegung stand. Und schließlich war es die Botschaft von Perestroika und Glasnost, die das Ende des Systems einleitete. Unabhängig davon, ob man diese Träume für nebelhafte Trugbilder hält, die niemals eine reale Chance auf Verwirklichung hatten, oder ob man meint, hier wäre die Möglichkeit einer menschlichen Gesellschaft verspielt worden, es bleibt die historische Tatsache, daß die Idee des demokratischen Sozialismus offenbar eine gewisse Anziehungskraft hatte.
II. Die DDR und der Prager Frühling
Im März 1968 schrillten in den Befehlszentralen von Stasi und Partei die Alarmglocken. Die neue tschechoslowakische Parteiführung unter Alexander Duböek führte solche verdächtigen Begriffeim Munde wie Wahrheit, Menschlichkeit und Freiheit. In der festgefügten Vorstellungswelt der SED-Funktionäre konnte dies nur Ausdruck politischer Schwäche sein. Denn neuerdings tarnte der imperialistische Gegner seine wahren Absichten hinter pseudo-sozialistischen Phrasen, mit denen er ungefestigte kleinbürgerliche Elemente infiltrieren wollte. Die Zielgruppe dieser Aufweichungstaktik waren Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle, Studenten und allgemein Jugendliche. Wenn in der Tschechoslowakei die Menschen nach mehr Freiheit und Demokratie strebten, so war klär, daß dahinter nur die Agenturen des westdeutschen Monopolkapitals stecken konnten, das seine im Zweiten Weltkrieg verlorenen Positionen wiedergewinnen wollte. Die internationale Lage war also wieder einmal sehr ernst.
Am 11. März verabschiedete das Sekretariat des Zentralkomitees der SED eine „Information zur gegenwärtigen Lage in der ÖSSR“ In dem dazugehörigen Anschreiben werden die Leiter der ZK-Abteilungen angewiesen, „sofort... die Mitarbeiter ihrer Abteilungen sowie die Sekretäre der Parteiorganisationen, für deren Anleitung die Abteilungen verantwortlich sind, zu informieren“ Noch am gleichen Tag fand im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unter Leitung von Generalleutnant Beater eine Kollegiumssitzung statt, deren zweiter Tagesordnungspunkt lautete: „Information über die gegenwärtige Lage in der ÖSSR in Verbindung mit einigen Schlußfolgerungen für die operative Tätigkeit.“ Am 12. März 1968 folgte in der Kreisleitung der SED des MfS eine erweiterte Sekretariatssitzung zu diesem Thema. Anschließend erfolgte die Auswertung des Materials in den Grundorganisationen, das heißt, innerhalb von achtundvierzig Stunden wurden die streng geheimen Informationen vom Sekretariat des Zentral-komitees bis in die letzte Diensteinheit des MfS „durchgestellt“, wie dies im Funktionärs]argon genannt wurde. „Die Vorgänge in der ÖSSR“, heißt es in dem Papier, „geben Veranlassung, den Parteiorganisationen eine erste interne Information zu geben.“
Es fehlt in den folgenden Ausführungen nicht an Bekundungen der Freundschaft und der Solidarität mit den Völkern der Tschechoslowakei und deren führender Avantgarde, der Kommunistischen Partei. Die Kritik an einzelnen Führungspersönlichkeiten ist eher zurückhaltend. Deutliche Kritik wird dagegen am Prinzip der Dezentralisierung von Staat und Wirtschaft geübt. „Solche revisionistische Auffassungen begünstigen die Wühlarbeit des Gegners gegen die führende Rolle der KPÖ und gegen die sozialistische Staatsmacht ... die Vernachlässigung der ideologischen Arbeit habe auch zu einem starken Eindringen bürgerlicher Ideologie auf dem Gebiet der Philosophie, der Kultur und Kunst geführt. Besonderes Zentrum dabei ist der tschechoslowakische Schriftstellerverband.“ An anderer Stelle des Dokumentes heißt es: „Es wird leider zugelassen, daß in einer Reihe von Zeitungen, in Radio und Fernsehen unter dem Schlagwort . Demokratisierungdie Rückkehr der ÖSSR zur bürgerlichen Republik ... propagiert wird. ... Wie weit die geistige Übereinstimmung zwischen den Losungen dieser kleinbürgerlichen, antisozialistischen Kräfte innerhalb der CSSR mit der Ideologie des Imperialismus geht, zeigt die insbesondere von Schriftstellern und Künstlern vertretene Losung, die ÖSSR in eine . offene Gesellschaftzu verwandeln.“ Damit war auch innenpolitisch der Gegner ausgemacht. „Wir müssen uns auch deswegen mit diesen Fragen befassen, weil der Klassenfeind, insbesondere der westdeutsche Imperialismus, ... die gegenwärtigen Ereignisse ... zum Anlaß nimmt, um den psychologischen Krieg gegen die Deutsche Demokratische Republik zu verstärken“, lautete eine der einleitenden Formulierungen in dem Dokument des ZK-Sekretariats Die Nachrichten aus Prag erfüllten die Machthaber der DDR mit Angst und Sorge und veranlaßten sie, die höchste Alarmstufe gegenüber konterrevolutionären Tendenzen auszurufen, zumal im März 1968 auch in Warschau die Studenten revoltierten.
Am 15. März 1968 wurde von der Zentralen Auswertungs-und Informationsgruppe (ZAIG) für Erich Honecker und Kurt Hager ein Bericht über „die Reaktion der Bevölkerung der DDR über die • Vorkommnisse in der ÖSSR und in der VR Polen“ angefertigt. Dort heißt es noch relativ beschwichtigend: „Häufig werden Vergleiche zur Situation in der DDR angestellt. Hervorgehoben wird, durch richtige Führung beim Aufbau des Sozialismus in der DDR und sichtbare ökonomische Erfolge seien Vorkommnisse wie in der VR Polen und in der ÖSSR bei uns nicht denkbar.“ Immerhin wird anschließend eingeräumt: „So zeigen sich besonders Studenten, Kulturschaffende und Intellektuelle an weiteren Informationen vor allem auch über Detailfragen interessiert.“ Nachdem dann einige Einzelheiten behandelt werden, heißt es zu dem Komplex zusammenfassend: „In geringem Umfang wird die Meinung vertreten, die Entwicklung in der ÖSSR vollziehe sich gegenwärtig unkontrolliert und könne auch durch den neuen Sekretär der KPÖ Duböek nicht gestoppt werden ... Bisher wurden im Gebiet der DDR keine offenen Sympathiebekundungen bestimmter Gruppen zu den Vorkommnissen in der VR Polen und der CSSR bekannt.“
Am 22. März 1968, einen Tag bevor sich in Dresden die Parteiführer des Warschauer Paktes versammelten, um die neue tschechoslowakische Parteiführung von der Fortsetzung ihres Reformkurses abzubringen, Unterzeichnete Erich Mielke einen ungewöhnlich ausführlichen Informationsbericht an die Mitglieder des Politbüros. Darin hieß es einleitend: „In den Bezirken der DDR wird gegenwärtig zu den Vorgängen in Warschau und in der ÖSSR unter allen Bevölkerungsschichten diskutiert. Besonders die Meinungsäußerungen über die Erscheinungen in der ÖSSR sind vom Umfang und der Intensität her ständig gewachsen.“ Anschließend wird in dem Bericht ein durchaus differenziertes Bild der Lage gezeichnet, das nicht den Eindruck hinterläßt, als wolle die Staatssicherheit Öl ins Feuer der sich abzeichnenden politischen Krise gießen. „Die negativen und feindlichen Diskussionen nehmen einen geringen Umfang ein und beschränken sich überwiegend auf einzelne Personen. Der Einfluß politisch-ideologischer Diversion ist dabei offensichtlich. Folgende Grundrichtungen in den Diskussionen sind dabei festzustellen: Zustimmung zu den , Liberalisierungs-und Demokratisierungsbestrebungen 4 in der ÖSSR, teilweise mit dem Tenor, in der DDR sei eine ähnliche Entwicklung wünschenswert; Forderung nach , mehr Freiheit 4. Darunter wird u. a. verstanden: Freizügigkeit im Reiseverkehr nach Westdeutschland ... Erhaltung des , Streikrechts 4 auch in der neuen Verfassung der DDR; freizügigere Gestaltung der kulturellen Entwicklung (besonders unter Kulturschaffenden); ...freie Meinungsäußerung ...; freier Informationsaustausch .. ,“ Abschließend heißt es in dem Abschnitt über die „negativen Diskussionen“: „Aus den bisher vorliegenden Informationen und Hinweisen geht eindeutig hervor, daß besonders in Kreisen der Studenten,
Kulturschaffenden
und Intellektuellen die Diskussionen über die Ereignisse in der VR Polen und vor allem in der ÖSSR einen großen Umfang angenommen haben. Die bereits angeführte Tendenz der Zunahme des Abhörens der deutschsprachigen Sendungen im Radio Prag trifft auf diese Kreise besonders zu. ... In diesem Zusammenhang ist eine Zunahme solcher Diskussionen festzustellen, in denen die Berichterstattung der DDR-Presse besonders über die Ereignisse in der ÖSSR kritisiert wird. ... In der Reaktion dieser Kreise überwiegt zwar die Auffassung, daß solche Ereignisse wie in der ÖSSR und der VR Polen in der DDR nicht möglich seien ..., aber Vertreter negativer Auffassungen verbinden diese Diskussionen mit dem »Argument 4, diese werde durch die »unfreien 4 gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR verhindert. Mehrfach wurden von solchen Personen die Ereignisse in der ÖSSR verherrlicht und mit Spekulationen über die , führende Rolle der Intelligenz 4 in Verbindung gebracht. In Einzelfällen wurde geäußert, daß die Schriftsteller der DDR , zu feige und zu korrupt 4 seien.“
Der für potentiell anfällig gehaltene Personenkreis wurde in einem weiteren Informationsbericht genauer untersucht. Am 30. März 1968 wurde in der ZAIG ein Bericht „über die Wirksamkeit der politisch-ideologischen Diversion an Universitäten, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen ...“ verfaßt Dieser Bericht war ausschließlich an Willy Stoph gerichtet und wurde hausintern u. a. an die für Hochschulen zuständige Abteilung XX/3 sowie in einer gekürzten Fassung an die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, weitergeleitet. In dem Bericht heißt es einleitend: „Im Zusammenhang mit den Studentendemonstrationen in Volkspolen,, mit der Entwicklung in der CSSR sowie mit der Verfassungsdiskussion wurden eine Anzahl ideologischer Erscheinungen sichtbar, die zu Feindhandlungen führten und die das Wirken der politisch-ideologischen Diversion innerhalb der Lehrkörper und unter den Studenten widerspiegeln.“
Zunächst werden in dem Bericht neun Einzelvorkommnisse geschildert. Immerhin finden sich dabei so alarmierende Mitteilungen, wie jene aus der Humboldt-Universität, wo dem Bericht zufolge einige Studenten die Meinung vertreten hätten daß, .. Studentendemonstrationen , ein legitimes Mittel der politischen Willensbildung 6 seien und dazu beitragen könnten, den Sozialismus weiterzuentwickeln. Die DDR würde sich durch ihre angeblich dogmatische Politik immer mehr isolieren. In diesem Zusammenhang werde auch die Forderung nach speziellen Studentenorganisationen erhoben, da die FDJ die Interessen der Studenten nicht richtig vertreten würde.“ Darüber hinaus wird in dem Bericht konstatiert, daß sich unter den Studenten und Wissenschaftlern ein verstärktes Interesse für Reisen in die ÖSSR zeige. Trotz eines ausdrücklichen Verbotes des Ministeriums für Hoch-und Fachschulwesen hätten beispielsweise 24 Mitarbeiter der Technischen Universität Dresden die Teilnahme an einer internationalen Tagung der Gesellschaft für angewandte Mathematik und Mechanik (GAMM) in Prag beantragt
In diesem Zusammenhang wird noch eine interessante Mitteilung nachgereicht: „Eine durchgeführte soziologische Untersuchung bei 2000 Studenten der TU Dresden zeigte, daß ca. 75 Prozent der Studenten aktive Westverbindungen unterhalten. Ähnlich werden auch die Westverbindungen von Studenten an anderen Hochschulen und Universitäten eingeschätzt. Dabei ist kennzeichnend, daß diese Verbindungen in einem erheblichen Umfang erst während der Studienzeit hergestellt worden sind. Die Verbindungsaufnahme erfolgte hauptsächlich auf Grund persönlicher Zusammenkünfte in den sozialistischen Ländern, von Jugendsendungen westlicher Rundfunkstationen mit Adressenvermittlung, durch Einreisen westlicher Studenten in die DDR .. ,“
All das, was so selbstverständlich sein sollte unter intelligenten jungen Leuten, daß man sich in der Welt umsieht, Freundschaften schließt, sich über andere Länder informiert, fürchtete die SED-Führung offenbar wie der Teufel das Weihwasser. Gleichzeitig liefert der Stasi-Bericht in seiner Mischung aus bornierter Dummheit und Klarsicht nachträglich gute Argumente dafür, wie richtig seitens des Westens eine Politik war, die sich von „menschlichen Erleichterungen“ eine allmähliche Aushöhlung der totalitären Herrschaftspraxis in den kommunistischen Staaten versprach.
Im Laufe des Frühjahrs verdichteten sich die Berichte über „ideologische Unterwanderung durch den Klassenfeind“ in verschiedenen Universitäts-Instituten. Ein Bericht über das Theaterwissenschaftliche Institut der Humboldt-Universität ist hierfür charakteristisch: „Es wurde bekannt, daß unter der Studentenschaft des Institutes eine tiefe Unzufriedenheit herrscht. Wesentliche Ursache dafür sei die Kluft zwischen theoretischer und praktischer Ausbildung und einer dogmatisch betriebenen Kulturpolitik, die einer freien Entfaltung der künstlerischen Persönlichkeit im Wege stehe ... Der entscheidenste Aspekt für die Unzufriedenheit wird jedoch in der Tatsache gesehen, daß z. Zt. ein gewisser Stillstand in der künstlerischen Entwicklung der DDR-Theater eingetreten sei. Es würden durchaus viele sozialistische Dramen geschrieben werden und es sei ein künstlerischer Ideenreichtum vorhanden, der jedoch durch Entscheidungen des Kulturministeriums eingeengt würde. Wertvolle Stücke würden verschwinden bzw. würden solche befähigten Kräfte wie Heiner Müller und Peter Hacks gezwungen werden, ihre Stücke im Westen zu verkaufen oder sich durch untergeordnete Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen... Ebenso wird Prof. Heise aufgrund seiner Haltung von den Studenten verehrt. Im Zusammenhang mit der Unzufriedenheit am Institut und der Kritik an der Kulturpolitik wurde durch Studenten zum Ausdruck gebracht, daß in der DDR eine geistige Auflockerung im Sinne eines Biermann und Havemann erfolgen müßte. Dabei wurde zum Ausdruck gebracht, daß die Entwicklung in der CSSR Vorbild sein müßte.“ Ähnliches schienen die Stasi-Spitzel auch von anderen Bereichen der Universität zu melden. In einem anderen Bericht der Bezirksverwaltung Groß-Berlin des MfS heißt es: „In den letzten Tagen und Wochen machen sich an der Humboldt-Universität unter den Studenten bestimmte negative Tendenzen im Zusammenhang mit der Entwicklung in der ÖSSR bemerkbar. ... Bei den Juristen, 2. Studienjahr, gibt es im Zusammenhang mit den dargelegten Problemen solche Diskussionen, daß man sagt, , wir können ja auch unsere Meinung durch Protestdemonstrationen mit Schildern und Plakaten usw. zum Ausdruck bringen 6. Man verweist in den Diskussionen auf die Studenten-Demonstrationen in der ÖSSR, Westdeutschland, Polen und Frankreich. Es soll auch schon Diskussionen über die »revolutionären Traditionen 6 der Humboldt-Universität aus dem Jahr 1956 gegeben haben.“ Die Information ist von Erich Mielke persönlich unterzeichnet und an den 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Paul Vemer, gerichtet worden. Ein zweites Exemplar war laut Verteilerschlüssel an dessen Stellvertreter, Roland Bauer, gerichtet
Während die hier geschilderte Protesthaltung politisch noch diffus ist, wird von weitergehenden politischen Analysen aus Kreisen christlicher Studenten berichtet. In einer Zusammenfassung der Argumente leitender Funktionäre des „Studenten-kreises im evangelischen Jungmännerwerk“ heißt es: „Krawalle, wie sie von Studenten in der VR Polen organisiert wurden, seien an der Humboldt-Universität nicht möglich ... Man müsse deshalb den Weg gehen, wie er in der CSSR beschritten werde. Dabei dürfe man nicht sofort voll gegen die SED auftreten, sondern müsse mit der Partei gehen und ihr eine Fehlerdiskussion aufzwingen, die zu Auseinandersetzungen in der Parteiführung führen würde. ... Die Aufgabe der Kirche in der gegenwärtigen Situation besteht vor allem darin, die Zivilcourage der Bevölkerung der DDR zu fördern und abzuwarten, bis man in der DDR seitens der Staatsführung beginnt, einige Fragen allmählich zu ändern. Dann müsse sich die Kirche unbedingt anschließen, darin läge die historische Mission der Kirche in der DDR.“
Unbeschadet der vielfachen Brechungen innerhalb der Gedankenwelten der Spitzel und Stasi-Offiziere, die an der Verfertigung des Berichtes beteiligt gewesen sind, schimmern hier immer noch einige kluge und vernünftige Gedanken durch, die sich zwanzig Jahre später bewahrheiten sollten. Überhaupt erweisen sich die Berichte bei aller ideologischen Begrenzung als sachlich und informativ. Nirgendwo wird behauptet, die Situation stände kurz vor einer Explosion, doch es wird klar, daß ein erheblicher Teil der Studenten und viele Wissenschaftler die Entwicklung in der Tschechoslowakei mit Sympathie verfolgten und sie als beispielhaft auch für die DDR empfanden, wenn auch die Hoffnungen auf eine baldige Verwirklichung nicht sehr groß waren. In einem ausführlichen Bericht über die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität wird dazu zusammenfassend folgende Analyse gegeben: „Obwohl eingeschätzt werden muß, daß eine derartige Haltung nicht von allen Studenten der Fakultät vertreten wird, muß aber gesagt werden, daß es den reaktionären Studenten unter den Theologen offensichtlich gelungen ist, einen großen Teil auf ihre Positionen fest zulegen.“ In einer Information vom 2. April 1969 werden die Namen von acht verhafteten Berliner Theologie-Studenten genannt. Die Aufklärung der Zusammenhänge dieser Verhaftungen, die im März 1969 erfolgten, erfordert allerdings nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz die Mitarbeit der Betroffenen
Es fehlte also für die SED-Führung nicht an bedenklichen Warnsignalen. Sie reagierte darauf in der ihr eigenen Weise, indem sie weiter an der Schraube der totalen Überwachung drehte. In einer Weisung des Leiters der Auswertungs-und Informationsgruppe (AIG) der Berliner Bezirks-verwaltung des MfS vom 19. Juli 1968 wird angeordnet: „Im Zusammenhang mit den in letzter Zeit veröffentlichten Materialien über die Entwicklung in der ÜSSR... ist es notwendig, einen konkreten Überblick über die Reaktion der Bevölkerung zu verschaffen und ... darüber konkret an die AIG zu berichten. Dabei ist besonders zu berücksichtigen: a) die Reaktion der einzelnen Bevölkerungsschichten, insbesondere der Intelligenz, der Künstler und Studenten, b) die Reaktion der negativ-feindlichen Kräfte (Pläne, Absichten und Anzeichen zur Aktivierung ihres gegen unseren Staat und die Sowjetunion gerichteten Auftretens), c) Auffassungen über die weitere Entwicklung in der ÜSSR und die sich daraus ergebenden Konsequenzen und Probleme ... (Differenzierung nach negativen Meinungen, Spekulationen, Zweifeln, Besorgnis, Unverständnis, Unklarheit usw.) und d) Forderungen an staatliche und gesellschaftliche Institutionen, die im Zusammenhang mit der ÜSSR-Entwicklung gesehen werden müssen.
Die Berichterstattung hat täglich bis 14. 0Q Uhr an die AIG zu erfolgen.“ Jeden Tag wurde nun aufgrund des aus den Kreisdienststellen einfließenden Materials ein Informationsbericht über die Situation in Berlin angefertigt. Auf diese Weise ist ein hochinteressantes Quellenmaterial entstanden, das gegenwärtig in der Gauck-Behörde lagert. Das Stimmungsbild, das in den Stasi-Berichten entworfen wird, ist durchaus differenziert. Es fehlt auf der einen Seite nicht an Stimmen, die unverblümt eine Übernahme des tschechoslowakischen Reformmo-dells auch in der DDR fordern, andererseits entsteht nicht der Eindruck, daß eine große Mehrheit der Bevölkerung diesen Kurs aktiv unterstützt. Interessant ist vor allem, daß sich die Sympathiebekundungen für den tschechoslowakischen Reform-kurs durchaus nicht auf intellektuelle Kreise beschränken, sondern offenbar in allen Berufsgruppen einheitlich auftreten. „Im Mannequin-Kollektiv des Deutschen Modeinstituts wurde darüber diskutiert, daß sie es sehr begrüßen würden, wenn man bei uns ebenso wie in Prag alle westdeutschen Tageszeitungen und Zeitschriften zu kaufen bekäme“, heißt es in dem Bericht vom Juli 1968. „Dies wäre ein Ausdruck wirklicher Demokratie, und jeder könne sich entsprechend seinen Vorstellungen informieren, was jetzt nicht möglich sei.“ 25 Oft stehen am Rand dieser Berichte die handschriftlichen Kürzel OK oder OB. Dies bedeutet „Operative Kontrolle“ oder „Operative Bearbeitung“, das heißt, daß die erwähnten Personen Bespitzelungen, Schikanen, Erpressungsversuchen oder sogar Verhaftungen ausgesetzt waren.
In den Monaten vor dem Einmarsch hielt man sich mit offenen Repressionsmaßnahmen noch auffallend zurück. Zähneknirschend duldete man relativ offene Diskussionen und wetzte innerhalb des Apparates die Messer für die Abrechnung mit den Vertretern der demokratischen Ideen in der Tschechoslowakei wie im eigenen Lande. Mit Datum vom 15. Mai 1968 wurde eine an die Mitglieder und Kandidaten der SED gerichtete Information „Zur gegenwärtigen Lage in der CSSR“ verbreitet Mit dramatischen Worten wird die Gefahr einer Konterrevolution in der CSSR beschworen, und es werden zahlreiche Einzelheiten genannt, in welcher Form der Klassenfeind sich innerhalb des Landes organisiere und von außen unterstützt werde. Allerdings heißt es zum Schluß ausdrücklich: „Wir sind vor allem daran interessiert, daß die positiven Kräfte in der KPC selbst auftreten. ... Wir haben das Vertrauen in die KPC, in die tschechoslowakische Arbeiterklasse, in die Bauern, in die fortschrittliche Intelligenz der CSSR, daß sie, wenn sie entschieden die Positionen des Sozialismus vertreten, der konterrevolutionären Gefahren bald Herr werden .. ,“
Ungefähr zweieinhalb Monate später werden gegenüber der KPC bereits andere Töne angeschlagen. In einem internen Papier einer „Arbeits gruppe KPC“, die innerhalb des SED-Apparates gebildet worden war, wird in einer „Einschätzung“ des neuen Statutenentwurfs der sich reformierenden KPÖ ausgeführt: „Der vorliegende . Arbeitsentwurf des neuen Statuts der KP£‘ entspricht nicht den Anforderungen an ein marxistisch-leninistisches Statut. Es ist unmarxistisch und revisionistisch, drückt den Opportunismus in Organisationsfragen aus und steht offensichtlich unter starkem sozialdemokratischem Einfluß. ... Alle Erfahrungen des Marxismus-Leninismus, angefangen vom Statut des Bundes der Kommunisten über Lenins Kampf um ein revolutionäres Statut der Partei neuen Typus bis zu den revolutionären Statuten der KPdSU und anderer Parteien, darunter der SED, werden bewußt ignoriert.“ Wer die Sprache des Apparates in ihren fest gefügten stereotypen Formeln kennt, weiß, daß dies harte Worte waren -immerhin ging es um ein offizielles Papier einer sozialistischen Bruderpartei. Die „Einschätzung“ ist vom 7. August 1968 datiert. Vierzehn Tage später rollten die Panzer.
III. Die DDR nach dem 21. August
Ab 5. 45 Uhr verbreiteten die Fernschreiber von ADN eine Erklärung über den Hilferuf internationalistischer Kräfte innerhalb der CSSR sowie eine TASS-Erklärung über den Truppeneinmarsch, die ab sechs Uhr stündlich im Rundfunk verlesen wurden. Parallel lief das vorbereitete Programm einschließlich der Nachrichten weiter, als ob nichts geschehen wäre. Die üblichen Erfolgsmeldungen über die Einbringung der Getreideernte und über die Vorbereitung des neuen Schuljahres hoben sich in ihrer Belanglosigkeit grotesk von dem dramatischen Geschehen in dem Nachbarland ab.
Am 23. August 1968 trat in Berlin das Zentralkomitee der SED zusammen, um den Bericht Walter Ulbrichts über die Vorgeschichte des Einmarsches zu hören Dabei verlor Ulbricht kein Wort über eventuelle innere Komplikationen. Offenbar meinte er, die Lage fest im Griff zu haben. Vielleicht wollte er es auch vermeiden, Säuberungswellen im Stile des Stalinismus das Wort zu reden. Da es auf höherer Parteiebene im Unterschied zu 1953 und 1956 keine erkennbaren Schwankungen und Differenzierungen gab, schien hierfür auch keine Veranlassung zu bestehen. Der Bericht Ulbrichts wurde ohne Diskussion einstimmig gebilligt.
Währenddessen hatte auch das MfS die höchste Alarmstufe ausgelöst. Bereits am 29. Juli war die permanente Gefechtsbereitschaft proklamiert worden. In einem Schreiben von Mielke heißt es: „Bis auf Widerruf haben alle Angehörigen Ihrer Dienst-einheit am 29. 7. 1968 im Dienst zu verbleiben. ... Leiter von Diensteinheiten im Ministerium, die zur Erledigung unaufschiebbarer operativer Aufgaben ihre Diensteinheit kurzzeitig verlassen, haben sich im Büro der Leitung ... ab-und wieder anzumelden und den zeitweiligen Aufenthaltsort bekannt-zugeben.“ Ergänzend wird darüber hinaus angeordnet: „Ab sofort sind 1. in den Diensteinheiten bis auf weiteres unter Leitung eines befähigten Offiziers Einsatzgruppen zu bilden, die nach Dienstende bis zum Dienstbeginn die ständige Besetzung und Bereitschaft der Diensteinheit gewährleisten; 2. die übrigen Kräfte in ständiger Einsatzbereitschaft zu halten und 3. die Genehmigung von Urlaub für leitende Kader und Spezialisten unterliegt der Genehmigung von mir bzw. meines zuständigen Stellvertreters.“
Die permanente Einsatzbereitschaft wird noch einmal verschärft. In einer Weisung an alle Leiter heißt es lapidar: „Entsprechend der mündlichen Weisung des Genossen Minister befindet sich der gesamte Mitarbeiterbestand des MfS bis auf Widerruf durchgehend im Dienst.“ Auch das Berichtsaufkommen sollte angesichts der kritischen Situation noch weiter erhöht werden. In einer Weisung vom 22. August 1968 wird angeordnet: „Auf Grund der gegenwärtigen Lage ist es notwendig, einen ständigen Überblick über die Situation in der Hauptstadt der DDR zu schaffen und die Leitung des MfS sowie Partei und Regierung regelmäßig und exakt zu informieren. Zur Gewährleistung einer kontinuierlichen Informationstätigkeit wird deshalb festgelegt: Ab sofort hat die tägliche Berichterstattung in zusammengefaßter Form um 9. 00 Uhr und um 15. 00 Uhr an die AIG zu erfolgen; besondere Vorkommnisse und auftretende feindliche Handlungen (Flugblätter, Zusammenrottungen u. ä.) sind außer an den E-Stab auch sofort an die AIG zu melden .... Bei der Erarbeitung der Informationsberichte ist besonderer Wert zu legen auf: -Diskussionen unter der Bevölkerung (unterteilt nach Personenkreisen wie Jugendliche, Arbeiter, ehern. SP-Mitglieder, Kirchenkreise usw.) und die dabei bekanntgewordenen Meinungen und Argumente; -Vorkommnisse und Erscheinungen, die im Zusammenhang mit den eingeleiteten Maßnahmen stehen; -Verhalten der in der DDR befindlichen CSSRBürger (Diskussionen, evtl, feindliche Handlungen usw.).“
Tatsächlich gelang es durch die umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen, jeden Widerstand im Keime zu ersticken. Die Ruhe der folgenden Tage und Nächte stand im Gegensatz zu einer tiefen inneren Empörung vieler gerade junger Menschen über die Militäraktion des Warschauer Paktes. Überall in der DDR gab es Aktionen kleinerer Gruppen oder einzelner Personen. Ohne jede Organisation und Erfahrung sowie mit technisch einfachen Mitteln versuchten meist junge Leute, sich der geballten Macht der Sicherheitskräfte entgegenzustellen. Mit handgeschriebenen Flugzetteln und Aufrufen, die nachts mit Farbe und Pinsel an Häuserwände geschrieben wurden, hofften sie, die lethargische Bevölkerung aufzurütteln. Für viele endeten solche Aktionen mit langen Haftstrafen und einer zerstörten beruflichen Laufbahn.
Der bekannteste Fall ist der einer Gruppe, die zum Teil aus Kindern hoher SED-Funktionäre und bekannter Intellektueller bestand. Die beiden Söhne Professor Robert Havemanns, Florian und Frank, der Sohn des stellvertretenden Kulturministers, Thomas Brasch, und die achtzehnjährige Tochter des Direktors des Institutes für Marxismus-Leninismus, Erika Berthold, gehörten zu dieser Gruppe, die versuchte, in der Nacht vom 21. zum 22. August eine Flugblattaktion durchzuführen und dabei in die vorbereitete Falle des Staatssicherheitsdienstes lief Es wurde allgemein als Ausdruck des moralischen Bankrotts des SED-Regimes angesehen, daß die Kinder der Nomenklatura sich gegen die Herrschaft ihrer Väter erhoben, und der Fall fand eine entsprechende Publizität. Der Widerspruch zwischen dem hohen moralischen Anspruch der sozialistischen Erziehung und der Alltagspraxis von verlogener Propaganda, Opportunismus und Doppelmoral wurde natürlich von diesem Personenkreis besonders stark empfunden. So blieb das individu-eile Aufbegehren von Söhnen und Töchtern der Funktionärsschicht auch kein Einzelfall.
Doch es wäre ein Irrtum, anzunehmen, die Protesthaltung hätte sich auf Oberschüler, Studenten und Intellektuelle beschränkt. „In der Gärtnerischen Handelsgenossenschaft (GHG) Molkereiprodukte, Betriebsteil Greifswalder Straße, äußerten sich sieben Kraftfahrer bzw. Transportarbeiter ... in hetzerischer Weise gegen die Maßnahmen der fünf sozialistischen Staaten. Sie beschimpften u. a. Genossen Walter Ulbricht und sagten, sie würden der Konterrevolution in der CSSR zu Hilfe eilen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten.“
Aus einem anderen Betrieb wurde gemeldet: „Am 21. 08. 1968 wurde durch den Parteisekretär ... eine Versammlung zu den Maßnahmen der fünf sozialistischen Staaten durchgeführt. Diese wurde durch einen Teil der Anwesenden (25 Kollegen) durch provokatorische Fragen, Bemerkungen und Zwischenrufe gestört. Dabei traten vier Arbeiter ... besonders provokatorisch in Erscheinung. Seitens des Parteisekretärs war es nicht möglich, eine Atmosphäre sachlicher Diskussion zu schaffen. Er sagte deshalb, daß die Kollegen bleiben sollten, die gewillt seien, mit ihm sachlich zu diskutieren. Daraufhin verließen alle 25 Kollegen den Raum.“ Zufrieden wird am Schluß des Berichtes vermerkt: „Durch intensive politisch-operative Arbeit wurden die Ausgangsmaterialien über zwei Hetzer ... so qualifiziert, daß nach relativ kurzer Zeit die Ermittlungsverfahren wegen staatsfeindlicher Hetze nach § 106 (und § 108 in einem Fall) eingeleitet werden konnten.“
Mit welcher Härte jeder einzelne verfolgt wurde, der sich den Zustimmungsritualen entzog, zeigt ein Vorfall im VEB Güterkraftverkehr Berlin. Über Betriebsfunk wurden am 21. August die Kollegen im Schulungsraum zusammengerufen. Dort wurde von einem Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit, der gleichzeitig Verfasser des Berichtes ist, eine Resolution verlesen. In der Erklärung war von „Zustimmung und Befriedigung“ über den Einmarsch die Rede. Darüber wurde dann öffentlich abgestimmt, und niemand wagte es, seine Stimme zu verweigern. Doch damit nicht genug. Anschließend mußte auch noch jeder einzeln die Resolution unterschreiben. Da wurde ein Kollege bemerkt, der sich heimlich davonstahl, um die demütigende Erklärung nicht unterzeichnen zu müs sen. Statt die Sache auf sich beruhen zu lassen, setzte die Stasi ihren Ehrgeiz darein, diese Person ausfindig zu machen. „Da die Person namentlich nicht bekannt ist“, heißt es in dem Bericht, „und auch nicht gesagt werden kann, als was sie tätig ist, ist die Ermittlung erschwert. Konkrete Maßnahmen zur Aufklärung dieser Person sind jedoch eingeleitet.“
In den Unterlagen findet sich eine große Zahl von Einzelbeispielen für Akte von Widerstand, Protest und Verweigerung, die teilweise außerordentlich illustrativ für die Beschreibung der damaligen Atmosphäre sind. Weitaus seltener sind umfassende Einschätzungen der Lage oder gar präzise Quantifizierungen. Für den Berliner Bereich hegen einige Angaben vor. Bereits in einem Schreiben des Leiters der Bezirksverwaltung Groß-Berlin, Generalmajor Wiehert, vom 25. August 1968 an die Leiter der operativen Diensteinheiten vom 25. August 1968 heißt es: „Seit dem 23. und 24. August 1968 mehren sich Vorkommnisse der staatsfeindlichen Hetze und der Staatsverleumdung in mündlicher Form. Es muß damit gerechnet werden, daß Personen, die wegen dieser Delikte anfallen, in der Vergangenheit oder zukünftig auch schriftliche staatsfeindliche Hetze durchgeführt haben oder durchführen werden. Bei der Bearbeitung aller Vorkommnisse der mündlichen Hetze und Staatsverleumdung ist es daher unbedingt erforderlich, allen angefallenen Tätern Schriftproben abzunehmen .. ,“ Diese Weisung ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß sich in diesen Tagen Fälle von Flugblattaktionen häuften, denen man aufgrund von Schriftproben verdächtiger Personen auf die Spur zu kommen suchte. Zwei Tage später wurde eine Weisung erlassen, die speziell auf die künstlerische Intelligenz zielte: „Gemäß einer Weisung des ... Genossen Oberstleutnant Schwanitz sind bis zum 29. 08. 1968, 10. 00 Uhr, über folgende Personenkreise Auskunftsberichte zu fertigen, die aufgrund ihrer beruflichen Stellung Möglichkeiten der Massenbeeinflussung besitzen. ... a) Rundfunk, Fernsehen, b) kulturelle Bereiche. c) Literatur, bildende und gestaltende Kunst (z. B. Schauspieler, Graphiker, Bildhauer, Maler usw.). d) Film, Presse, Verlagswesen (dabei freiberufliche Personen besonders beachten). Es interessieren alle vorliegenden operativen Hinweise zu diesen Personen. Ebenfalls alle begründeten Verdachtsmomente sowie operative Hinweise für eventuell vorhandenes oder bekannt gewordenes negatives oderfeindliches VerhaltenZ“
Doch die vorliegenden Analysen scheinen zu belegen, daß die Schwerpunkte der Widerstandshaltung nicht im intellektuellen Bereich lagen. Der Sektor Parteiinformation im ZK-Apparat verfertigte im November 1968 eine zusammenfassende Übersicht über „Politische Schwerpunkte, die sich im Zusammenhang mit der Entwicklung in der ÜSSR in der Diskussion in Berliner Betrieben und Institutionen zeigen“ Einleitend heißt es: „Die Parteiorganisationen haben die genannten politischen Schwerpunkte unter Kontrolle genommen und mit Hilfe bewährter Agitatoren die Auseinandersetzung geführt— In einigen Fällen mußte die Sicherheit eingreifen.“
Im folgenden werden 56 Schwerpunkte benannt und teilweise wird die Art der Widerständigkeit klassifiziert. Es handelt sich dabei meist um Unterschriftenverweigerung, negative Diskussionen, feindliche Argumente usw. Teilweise betrifft es ganze Betriebe, teilweise nur einzelne Betriebsteile oder Abteilungen. Insgesamt fällt auf, daß das soziale Spektrum von den großen Produktionsbetrieben bis zum Weinrestaurant Ganymed reicht. Obwohl auch einige Akademieinstitute, das Berliner Ensemble und die Komische Oper genannt sind, dominieren die Industriebetriebe, wo teilweise ganze Belegschaften die Unterschriften-leistung verweigerten. Im Stasi-Archiv findet sich eine ähnliche Aufstellung, die über weite Strecken die gleichen Angaben enthält Dies belegt ein weiteres Mal die gute Zusammenarbeit von Staats-sicherheit und SED-Apparat.
Für den Zeitraum vom 21. August bis zum 8. September 1968 liegt eine „Einschätzung der schriftlichen staatsfeindlichen Hetze“ für den Bereich Ost-berlins vor. Darin heißt es: „Nach dem Einmarsch der Truppen der fünf Bruderländer in die ÜSSR zeigte sich in der Hauptstadt ein sprunghaftes Ansteigen der Delikte der schriftlichen Hetze gegen die Maßnahmen und der schriftlichen anonymen Stellungnahme für den konterrevolutionären Weg in der uSSR. An 389 Stellen in Berlin wurden insgesamt 3528 Flugblätter verbreitet und an 212 Stellen 272 Losungen geschmiert. ... Die Herstellungs-und Verbreitungsmethoden der Flugblätter und das Schmieren der Losungen zeigen kein? besonders raffinierten Methoden. Überwiegend wurde auf öffentlichen Plätzen und Straßen geworfen im Unterschied zur sonstigen Verbreitung, wo das Einwerfen in Hausbriefkästen überwiegt. ... In keinem Fall wurde eine Massenwirksamkeit erreicht, da gestreute Flugblätter sofort eingesammelt und geschmierte Losungen rasch entfernt wurden. ... Bei den ermittelten Tätern der Verbreitung von Flugblättern und des Schmierens von Losungen handelt es sich fast ausschließlich um Personen unter 30 Jahren, vornehmlich um das Alter zwischen 17 und 25 Jahren. Die Tendenz, daß eine Reihe von Tätern der schriftlichen Hetze Jugendliche unter 16 Jahre bzw. zum Teil geistig primitive Menschen sind, zeigte sich während des genannten Zeitraumes nicht. Bei den Tätern handelt es sich fast ausnahmslos um Personen, die wußten, was sie mit ihren Handlungen erreichen wollen. ... Es kann eingeschätzt werden, daß alle größeren Aktionen der Flugblattverteilung aufgeklärt wurden. Von 63% aller verbreiteten Flugblätter sind die Täter ermittelt. Bei Hetzlosungen beträgt die Prozentzahl 12.... Das gute Zusammenwirken zwischen Volkspolizei und Verwaltung für Staats-sicherheit trug wesentlich dazu bei, daß zahlreiche Täter auf frischer Tat gestellt wurden.“
Das Schriftstück mit der Unterschrift von Oberstleutnant Wolfgang Schwanitz, der heute zu den unbehelligten Biedermännern gehört, die „von nichts gewußt haben“, ist erschütternd in seiner eisigen Menschenverachtung. Gleichzeitig ist es ein Dokument des Widerstandes eines Teils der DDR-Bevölkerung gegen die totalitäre Herrschaft der Politbürokratie. Insbesondere ein lapidarer Satz aus dem Schwanitz-Dokument könnte zum Motto einer noch zu schreibenden Geschichte des Widerstandes in der DDR gewählt werden: „Die Täter waren in der Mehrzahl bereit, ein größeres Risiko einzugehen.“
IV. „Normalisierung“ in den Farben der DDR
Als sich in der ÜSSR die Lage äußerlich stabilisiert hatte, begann auch in der DDR eine Art „Normalisierung“. Alle Bereiche der Gesellschaft wurden von einer Disziplinierungs-und Einschüchterungs-kanjpagne überrollt. In Betriebskollektiven, unter Studenten und in Behörden wurden Zustimmungserklärungen unterzeichnet. Wer sich dem peinlichen Ritual verweigerte, riskierte oft seinen Arbeits-oder Studienplatz. Insbesondere an den Universitäten und wissenschaftlichen Instituten herrschte eine beispiellose Atmosphäre der Hexenjagd, die selbst das Institut für Militärwissenschaft des Ministeriums für Nationale Verteidigung erfaßte. In einem Brief an Erich Honecker ist von der „Aufdeckung und Zerschlagung einer revisionistischen, parteifeindlichen Gruppe“ die Rede, der angeblich fünf Mitglieder angehört hatten. Darunter befanden sich ein Oberstleutnant und zwei Majore. Auffallend ist zudem, daß vier der fünf genannten Personen Mitglieder der Parteileitung der Grundorganisation des Militärgeschichtlichen Institutes waren und der fünfte Parteigruppenorganisator Am 29. Oktober wurde in dieser Angelegenheit eine erweiterte Sekretariats-sitzung der Kreisleitung der NVA durchgeführt. Über die Humboldt-Universität brach im September 1968 das Unwetter herein. Auf den Sitzungen der Kreisleitungen der SED wurden die Gesellschaftswissenschaftler, insbesondere die Historiker und Juristen, der mangelnden Wachsamkeit gegenüber den Machenschaften des Klassenfeindes bezichtigt. In ihrer panischen Angst lieferte daraufhin die Leitung der Sektion vier Studenten ans Messer, die in einem Diskussionspapier die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatten, daß es jenseits der Wahrheit der Partei allgemeinere Maßstäbe für die Wahrheitsfindung geben könnte
Auch innerhalb der SED gab es eine Welle von verbandsinternen disziplinarischen Maßnahmen. Wichtig ist dabei festzuhalten, daß auch diese Strafen in der Regel erhebliche berufliche Folgen hatten. Dies konnte bis zur Vernichtung der sozialen Existenz führen. Die vorliegenden Materialien über Parteiverfahren sind vorläufig nur fragmentarisch, lassen aber bereits interessante Schlüsse zu.
Von der Bezirksparteikontrollkommission Leipzig wurde beispielsweise eine umfassende Statistik „über in Grundorganisationen des Bezirks aufgetretene Erscheinungen und Auseinandersetzungen mit Mitgliedern und Kandidaten im Zusammenhang mit den Ereignissen in der ÜSSR“ angefertigt Insgesamt waren 306 Mitglieder und 14 Kandidaten der Partei von innerparteilichen Diszipli-narmaßnahmen betroffen. Das Spektrum der säuberlich aufgegliederten Verfehlungen reicht von „feindlichen Handlungen“ (vier Fälle), womit offenbar gemeint ist, daß die Betroffenen verhaftet wurden, bis zu „politischen Unklarheiten“, die insgesamt bei 169 Genossen aufgetreten waren. In allen Fällen ging es um die „Hilfsmaßnahmen der sozialistischen Bruderstaaten“. Interessant ist auch, daß sich unter den gemaßregelten Parteimitgliedern 94 Arbeiter und nur 31 Angehörige der Intelligenz und sechs Studenten befanden. Ob dieses Bild des Bezirkes Leipzig, in dem sich ja mehrere Hochschulen und eine Vielzahl kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen befanden, repräsentativ ist, müssen weitere systematische Quellen-forschungen zeigen.
Für die Bezirksorganisation Berlin liegt ein ähnlicher Bericht vor ... parteierzieherische Auseinandersetzungen oder Maßnahmen (mußten) in 61 Fällen eingeleitet werden“, heißt es in dem Bericht. „... 9 Personen, die sich als Parteifeinde erwiesen, waren oder sind noch inhaftiert. Alle werden sich vor den Rechtspflegeorganen zu verantworten haben. ... In 4 Fällen handelt es sich um Hetze gegen Parteiführung und Regierung durch Wort und Schrift (Flugblätter, Losungen), in einem weiteren um Aufforderung zur Arbeitsniederlegung. Mehrfach wird in dem Bericht darauf hingewiesen, daß die Auseinandersetzungen unter Wissenschaftlern und bekannten Künstlern in dem Bericht noch nicht erfaßt sind, „... da diese sehr kompliziert sind .. .“ Offenbar wartete man noch auf Verhaltensmaßregeln von oben. Hager hatte beispielsweise die erwähnten Fälle Berthold, Brasch, Havemann u. a. persönlich an sich gezogen, und auch Honecker und Ulbricht ließen sich direkt informieren.
V. Zusammenfassung
Das bisherige Bild beruht auf einer fragmentarischen und teilweise zufälligen Auswertung der Quellen. Allerdings ist schon dieser Quellenbestand quantitativ so umfangreich, daß für die vor-liegende Arbeit nur ein Bruchteil davon herangezogen werden konnte. Es ist nicht ganz einfach, aus der Vielzahl von Akten, die meist einzelne Vorkommnisse betreffen, ein stimmiges Gesamtbild zu zeichnen. Aus den bisher ausgewerteten Materialien ergibt sich der Eindruck, daß trotz der äußeren Ruhe und des Überwiegens von politischer Apathie die DDR-Gesellschaft im Jahre 1968 von einer inneren Krise betroffen war, die vor allem die Glaubwürdigkeit der Partei und ihrer Ideologie betraf. Für eine Massenbewegung waren die Ideale des Reformkommunismus zu abstrakt und sie fanden wohl auch nur unter einem Teil der Bevölkerung Anklang. Trotzdem vermutete die Stasi und die Partei zu Recht, daß es in der Bevölkerung erhebliche Sympathien für einen reformsozialistischen Kurs gab.
Nach dem Einmarsch vom 21. August 1968 kam es zu einer Vielzahl einzelner Protestaktionen, die allerdings vom MfS ohne große Schwierigkeiten unterdrückt werden konnten. In den Reihen der SED und in weiten Kreisen der Bevölkerung regte sich starke Empörung, die ihren Ausdruck in meist spontanen und isolierten Akten der individuellen Verweigerung fand. Gegen eine derartige Verweigerungshaltung, die man in den späten siebziger und achtziger Jahren faktisch duldete, wurde seitens der Staatsmacht 1968 mit großer Härte vorgegangen. In bisher nicht bekanntem Ausmaß erstreckte sich dieser individuelle Widerstand auf weite Bevölkerungskreise, beschränkte sich also durchaus nicht auf Studenten und Intellektuelle.
Das SED-Regime hatte bewiesen, daß es in der Lage war, jeden Widerstand im Keime zu erstikken. Notgedrungen zerstörte es dabei aber auch das kritische Potential, das es gebraucht hätte, um das System flexibler und effizienter zu gestalten. Im Lande herrschte Ruhe und Ordnung. Aber es war jene Friedhofsruhe, die alle jene menschlichen Eigenschaften erstickt, ohne die eine moderne Gesellschaft nicht leben kann. Jeder Fahndungserfolg der Stasi, jedes Parteiverfahren gegen einen kritischen Genossen und jeder relegierte Student brachte das System seiner Katastrophe näher. Die Weichen, die am 21. August 1968 gestellt wurden, führten schließlich zum Herbst 1989.