Vor allem seit dem Ausgang der Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg vom 5. April 1992 beschäftigt ein politisches Krisenphänomen eine immer aufgeregtere Öffentlichkeit in Deutschland. Was Beobachter schon früher diagnostiziert hatten, ist mittlerweile unübersehbar geworden: Ein ganzes Syndrom von Politik-und Parteienverdrossenheit hat sich breitgemacht. Ihre wahlpolitischen Erscheinungsformen zeigen sich in einer wachsenden Neigung der Wahlbürgerschaft zur Stimmenthaltung sowie in der verstärkten Hinwendung zu radikalen Rechtsparteien, die auf der Woge der Proteststimmung beachtliche Erfolge erzielen können.
Fast alles, was mit Politik und vor allem mit Parteien zu tun hat, wird derzeit der Kritik unterzogen: Politik überhaupt ist „out“, die Politikerkaste sogar „mega-out“. Über diverse Femsehkanäle und in den Zeitungsspalten läuft eine Endlosdebatte über Politikereinkünfte, Renten-und Pensionsansprüche, Aufsichtsratstantiemen und Ämterprivilegien. Die Parteienfinanzierung sieht sich ebenso grundsätzlilch attackiert wie der gesellschaftliche Machtanspruch der Parteien überhaupt. Es hat fast den Anschein, als sei die Stunde des antiinstitutionellen Populismus gekommen. Von rechts bis links -im Fadenkreuz der Angriffe stets die „etablierten Parteien“. Und seitdem selbst der Bundespräsident „Machtversessenheit und Machtvergessenheit“ bei den Parteien ausgemacht hat, können sich die Kritiker auch auf höchste Autoritäten berufen
Wir befinden uns mitten in der tiefsten Krise der Politik in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Ob dies bereits Ausdruck einer allgemeinen „Wachstumskrise der europäischen Hochkultur“ ist, wie Antje Vollmer dies neulich beschrieben hat mag man noch bezweifeln. Derlei Kategorien reichen allzuweit ins Spekulative.
Aber sicher ist die Lage sehr ernst. Wer genau hinhört, was der deutsche Stammtisch derzeit redet, wird kaum die vordergründige Genugtuung mancher Grüner über die wachsende Bindungsschwäche der Großparteien nachvollziehen können. Wenn die FAZ schemenhaft bereits die Gespenster von Weimar auftauchen sieht, mag das noch für eine Übertreibung gehalten werden. Solche Vergleiche hinken immer. Aber nie zuvor in den vergangenen Jahrzehnten sind Politik und die Politiker derart in Verruf geraten wie zur Zeit.
So unübersehbar die Anzeichen einer tiefen Krise des politischen Institutionengefüges sind, so unterschiedlich und oft wenig überzeugend fallen die Ursachenanalysen aus. Gerne wird das Gebaren der Politiker selbst mit dieser Krise in Verbindung gebracht. Aber sind es wirklich die Politiker, neuerdings gerne die „Politische Klasse“ genannt, die mit Pöstchenwirtschaft, diversen Skandalen und Skandälchen, mit Seilschaftsbildungen, Cliquen-wirtschaft und „hemmungsloser Selbstalimentierung“ die Krise ausgelöst haben?
Einen anderen Zugang böte die Politik der Bundesregierung, verkörpert in der Person und politischen Ausstrahlung des Bundeskanzlers. Ist es vielleicht der politische Stil der Ära Kohl, dessen Reduktion des Politischen auf den bloßen Machtpragmatismus zum Zwecke der Machterhaltung nach der historischen Ausnahmesituation der Deutschen Einheit mittlerweile längst wieder sichtbar geworden ist und in einer Zeit der dramatischen Umbrüche, die mit schwierigsten politischen Sachfragen verbunden sind, viel gewichtiger und abschreckender zu Buche schlägt als in den vergleichsweise ruhigen Zeiten der alten Bundesrepublik? Auch strukturelle Erklärungsmuster werden angeboren. Ist am Ende die Politik in den modernen Parteiendemokratien überfordert mit den so unterschiedlichen Leistungsanforderungen, die heute an sie gestellt werden? Haben gar die historischen Umbrüche am Ende der achtziger Jahre zwar keine der euphorischen Zukunftshoffnungen erfüllen können, dafür aber eine elementare Schwäche der westlichen Parteiendemokratien kenntlich werden lassen? Schwächen, die als Kehrseite von gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen und der partizipativen Anspruchsrevolution schon länger existierten, aber in den verhältnismäßig ruhigen achtziger Jahren kaum breiter ins öffentliche Bewußtsein traten.
Oder hat sich vielleicht mit dem Fortfall des ideologischen Hauptgegners im Osten bloß die disziplinierende Kraft einer bipolaren Weltordnung verbraucht? Demnach wären die beobachtbaren partikularen und anomischen Tendenzen eine Folge von Verunsicherung und Überforderung in der Gesellschaft, die ihrerseits ein Ergebnis der „Neuen Weltunordnung“ darstellten.
Nachfolgend soll versucht werden, diesen Fragen genauer nachzugehen. Alle Analysen greifen zu kurz, die die Krise der Politik allein als Krise des handelnden politischen Personals, des aktuellen Agierens der politischen Parteien oder gar einer besonders abschreckenden Anspruchsmentalität der Politiker verstehen. Umgekehrt darf allerdings die Analyse längerfristig wirksamer Tendenzen und struktureller Probleme der Demokratieentwicklung den Blick nicht verstellen auf die singulären Protest-und Verdrossenheitsanlässe, die durch das wahrgenommene Agieren der Politischen Klasse in Deutschland ausgelöst wurden und werden. Vielmehr ist davon auszugehen, daß erst das Zusammenfallen längerfristiger Strukturprobleme des modernen Demokratietypus mit aktuell wahrnehmbarem Handeln der politischen Eliten im Kontext der dramatischen politischen Probleme, die sich derzeit stellen, das ganze Ausmaß der Krise der Politik erklären kann.
I. Der Niedergang der Volksparteien
Schon ein flüchtiger Blick auf das westliche Ausland zeigt, daß es sich bei dem in den letzten Wochen so häufig hervorgehobenen Bedeutungsverlust der Großparteien keineswegs um ein spezifisch deutsches Phänomen handelt. In fast allen hoch-entwickelten Industriegesellschaften des Westens mit funktionierender Parteiendemokratie ist seit längerem ein Rückzug der integrativen Kraft der großen „Volksparteien“ und des etablierten Parteiensystems zu beobachten. Dies gilt für Italien und Frankreich ebenso wie für kleinere Länder, etwa Belgien oder Österreich. Natürlich fallen derartige Tendenzen unter den Bedingungen des Verhältniswahlrechts wahlpolitisch sehr viel stärker ins Gewicht als beim Mehrheitswahlrecht, weshalb die relative wahlpolitische Stabilität von Conservatives und Labour bei den jüngsten Unterhauswahlen in Großbritannien kein Gegenbeweis sein kann.
Der Rückgang der Wahlbeteiligung ist ebenso ein internationales Phänomen wie das Auftreten neuer Rechts-und Regionalparteien und ihre zum Teil beachtlichen Erfolge. Le Pen in Frankreich, Jörg Haiders FPÖ in Österreich, der Vlaams Blök im flämischen Teil Belgiens, die Lega Lombarda in Italien und die Autofahrerpartei in der Schweiz -der Nährboden für diese Parteien ist ebenso vergleichbar wie ihre besonderen Eigenheiten. In der Sozialwissenschaft ist bereits von den neunziger Jahren als dem „Jahrzehnt des Rechtspopulismus“ die Rede Das Management der Deutschen Einheit allein kann es demnach kaum sein, was die derzeitige Krise hervorgebracht hat.
In den sozialwissenschaftlichen Analysen und Krisendiagnosen vor einem Jahrzehnt wurde der Aufstieg grüner und linkslibertärer Parteien in Verbindung gebracht mit gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen, die alle hochentwickelten Industriegesellschaften beträfen: Die fortschreitende Lockerung traditioneller Parteienbindungen, die Erosion subkultureller, gewerkschaftlich oder konfessionell geprägter politischer Lager und Milieus, der Individualisierungsprozeß mit seinem Verlust an Traditionsbindung und der Zunahme rein kontextorientierter Verhaltensdispositionen Von diesen Tendenzen profitierten damals die GRÜNEN und ihnen verwandte politische Kräfte. Heute sind es Rechtsparteien, oder die Protest-stimmung fällt gar ganz in ein politisches Vakuum und findet im Gegensatz zu den frühen achtziger Jahren überhaupt keinen politischen Katalysator.
Die damaligen Ursachenanalysen des „Enttraditionalisierungsprozesses“ haben bis heute ihre Gültigkeit behalten. „Vorangetrieben wurde dieser Prozeß vor allem durch die Bildungsexplosion der vergangenen zwei Jahrzehnte, die eine Generation jüngerer Bürger mit formal hoher Bildung und dezidiert postmaterialistischen Werten hervor-brachte. Aufgewachsen im Wohlstand, ist diese Generation der heute Dreißig-und Vierzigjährigen mehr an Selbstverwirklichung und politischer Partizipation als an Vermehrung materiellen Wohlstands interessiert.“
Im Laufe der achtziger Jahre hatten diese Entwicklungen in der alten Bundesrepublik wahlpolitisch nur insoweit interessante Auswirkungen, als es zu Konkurrenz und Wähleraustausch zwischen SPD und GRÜNEN kam. Die in diesem Wähleraustausch zu beobachtenden Schwankungen lassen sich auf das Zusammentreffen von politisch-programmatischen Neuorientierungsversuchen bei der SPD einerseits und diverser Unklarheiten über das künftige Profil der GRÜNEN andererseits zurückführen.
Die Union sah sich erst durch den Erfolg der „Republikaner“ bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin im Januar 1989 ernsthaft mit den wahlpolitischen Konsequenzen ihrer abnehmenden Integrations-und Bindungskraft konfrontiert. Dabei zeigt eine Gesamtbilanz, daß beide Großen, CDU/CSU und SPD, im Laufe der achtziger Jahre in der Addition ihrer Stimmenergebnisse stetig verloren haben. Die in der Demokratietheorie so plausible Annahme, daß im funktionierenden Parteienwettbewerb die Schwäche der Regierung zugleich die Stärke der Opposition sein müsse, traf schon seit längerem immer weniger zu. Fragmentierung ist zusehends die Konsequenz von politischer Unzufriedenheit.
Die Wahlresultate zeigen deutlich den Abstieg der Großparteien. Bei den Bundestagswahlen 1983 erhielten CDU/CSU und SPD zusammen 87 Prozent der Stimmen und hielten damit ungefähr den Stand von 1980 (87, 4 Prozent; 1976: 91, 2 Prozent). 1987 waren es dagegen nur noch 81, 3 Prozent. 1990 erreichten Union und SPD zusammen sogar nur noch 77 Prozent, in der alten Bundesrepublik 79 Prozent, der Wählerstimmen. Dabei müssen für die Wahl vom 2. Dezember 1990 noch die Sonderbedingungen der ersten gesamtdeutschen Wahl berücksichtigt werden. Hätte es die Deutsche Einheit nicht gegeben, wäre das Ergebnis für die beiden Großparteien in der Addition um einiges schlechter ausgefallen: Vermutlich in einer Größenordnung zwischen 75 und 77 Prozent.
War bis zum Januar 1989 allein die SPD von den wahlpolitischen Konsequenzen dieses Desintegrationsprozesses betroffen gewesen, so verdeutlichte der Berliner Wahlerfolg der „Reps“, daß jetzt auch die Union strukturell vergleichbare Integrations-Probleme bekam -auf der anderen Seite des politischen Spektrums, wo die Opfer der mit dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß verbundenen Individualisierung auf einen „Verlust lebensweltlicher Sicherheit und Stabilität“ mit einer wachsenden Neigung zu rechtspopulistischen Kräften reagieren
Die Deutsche Einheit, für Kanzler Kohl und die Union wahlpolitisch ein Glücksfall, hat diese Entwicklung nur zeitweise überlagert. Schon im Verlaufe des Jahres 1991 begann sich die parteipolitische Konstellation des Jahres 1989 wiederherzustellen. Die Bremer Landtagswahlen im September zeigten bereits einen eindeutigen Trend weg von den beiden Großparteien. Jetzt ist „der Wiedervereinigungseffekt beendet“ und die „Fragmentierung“ anscheinend nicht mehr aufzuhalten. Daß es hier um tiefe Einschnitte geht, zeigt auch der sehr unterschiedlich ausgeprägte Rückgang der Bindungskraft der beiden Großparteien in den einzelnen Generationen. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 5. April 1992 haben nur noch 55 Prozent der Wähler unter Dreißig CDU oder SPD gewählt. Bei den über Fünfzigjährigen waren es dagegen immer noch 75 Prozent. Daraus läßt sich schlußfolgern: Beide Großparteien haben strukturell ein ähnliches Problem. Und vieles deutet daraufhin, daß dieses Problem aufgrund der Alterspyramide und des Generationenwechsels kaum so einfach zu lösen sein wird.
II. Was leistet Politik?
Kein Urteil über Politik ist derzeit verbreiteter als die Ansicht, Politiker würden zwar viel reden und vor allem streiten, aber letztlich nichts bewegen. Allenfalls bewegten sie sich für sich selbst und die Interessen ihrer Parteien. Auch diese Meinung kann sich auf ehrenwerteste Zeugen berufen. Kein Geringerer als der Bundespräsident hat über den modernen Politikertypus das harte Urteil gefällt, hier sei vor allem ein „Generalist mildern Spezial-wissen, wie man politische Gegner bekämpft“ gefragt. Diese Wahrnehmung in breitesten Kreisen der Gesellschaft speist sich aus dem phänomenologisch keineswegs falschen Eindruck, daß die Politik heute, gemessen am Handlungsdruck durch die dramatischen Veränderung der internationalen Realitäten und vor allem angesichts der ganz realen Ängste der Menschen, relativ wenig zustande bringt, dabei aber viel Lärm macht.
Diese Sicht der Dinge ist derart weit verbreitet, daß einer wachsenden Zahl von Politikern dazu nur einfällt, in aller Öffentlichkeit Klage zu führen, daß die Politik und die Politiker mit Ansprüchen überzogen würden, die gar nicht einlösbar seien. Die Wähler mögen doch bitte begreifen, daß Politik gar nicht all das könne, was von ihr verlangt werde. Eine Aufklärung der Wählerschaft über die begrenzten Handlungsmöglichkeiten der politischen Akteure soll zu einem realistischeren Änforderungsprofil und damit zu einer Verbesserung des Ansehens der Politiker führen.
Verständlich mag eine solche Reaktion wohl sein, intellektuell redlich ist sie sicher auch; doch überzeugend ist sie nicht. Die Wähler werden kaum Verständnis dafür aufbringen, wenn ihnen die Gewählten klarzumachen versuchen, daß sie eigentlich gar nicht viel bewegen können. Warum sollten die Menschen Repräsentanten wählen, die von vornherein eingestehen, daß von ihnen nicht besonders viel zu erwarten sei?
Die Klagen über die abnehmende Handlungs-und Gestaltungskraft in der Politik sind alles andere als neu. In der Wissenschaft ist schon in den siebziger Jahren eine Tendenz zur „Reduktion der Politik auf Symbolik“ diagnostiziert worden Die westlichen Parteiendemokratien haben ein immer stärker ausdifferenziertes, hochkomplexes Institutionengefüge hervorgebracht, das in der Summe der Handlungen einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure eine wachsende Unbeweglichkeit des Gesamtsystems produziert. Vergröbernd könnte man sagen: Eine immer größere Zahl von Beteiligten produziert auf den verschiedensten Ebenen von Politik, Verwaltung und Rechtsprechung immer mehr Lärm. Erreicht wird in der Sache durch die wachsende Lautstärke verhältnismäßig wenig. Weil dies so ist, flüchtet sich die Politik in wachsendem Maße in Symbolhandlungen, was wiederum den Gesetzmäßigkeiten der Mediendemokratie entgegenkommt. An die Stelle der Handlung tritt die Demonstration von Nachdenklich-keit, die Versicherung, daß das Problem ernst genommen werde usw. Wie so etwas in der Medien-gesellschaft praktisch aussieht, dafür liefert der Streit über die Ausländerpolitik, wie er seit vielen Monaten hierzulande geführt wird, vorzügliches Anschauungsmaterial.
Zur Analyse dieser abnehmenden Gestaltungskraft der Politik bieten sich im Prinzip zwei verschiedene Zugänge an: Der eine sähe hier eine elementare Schwäche der Politischen Klasse, die versage, weil sie pflichtvergessen vor allem ihre eigenen Interessen im Auge habe und sich dazu auch noch weithin damit begnüge, schon vorhandenen Einstellungen in der Gesellschaft hinterher-zulaufen, ohne selbst einen ernsthaften Versuch zu unternehmen, steuernd und orientierend einzugreifen. Auch hier ließe sich Richard von Weizsäcker anführen, der die konzeptionelle Schwäche der Politik heute so ausgedrückt hat: „Wir leben in einer Demoskopiedemokratie. Sie verführt die Parteien dazu, in die Gesellschaft hineinzuhorchen, dort die erkennbaren Wünsche zu ermitteln, daraus ein Programm zu machen, dieses dann in die Gesellschaft zurückzufunken und sich dafür durch das Mandat für die nächste Legislaturperiode belohnen zu lassen... Es handelt sich um einen Kreislauf, bei dem die politische Aufgabe der Führung und Konzeption zu kurz kommt.“
So zutreffend diese Beobachtungen sind, so ist doch davon auszugehen, daß bei der Analyse der Ursachen für abnehmende Handlungs-und Gestaltungskraft der Politik weniger die subjektive Seite der Selbstgenügsamkeit und „opportunistischen Anpassungsbereitschaft“ der Akteure, um so mehr aber die strukturelle Seite von Belang ist. Wir haben es hier mit der Kehrseite jenes gesellschaftlichen Demokratisierunsprozesses zu tun, der seit mehr als zwanzig Jahren einen beachtlichen Gewinn an individueller Entscheidungsfreiheit für den einzelnen hervorgebracht hat. Die partizipative „Anspruchsrevolution“ hat die Kosten für die Legitimationsbeschaffung bei politischen Entscheidungen einschneidender Art erheblich ansteigen lassen. Zugleich nimmt die Bereitschaft zur fraglosen Akzeptanz der Entscheidung übergeordneter Ebenen und Entscheidungsinstanzen ebenso ab wie der Sinn für formalisierte Sozialbeziehungen überhaupt. Das alles führt zu einer weitreichenden „Demokratisierung des Alltagslebens“, die auch in die Institutionen hineinreicht.
Selbst innerhalb der politischen Eliten erstaunlich gering verbreitet ist die Einsicht, daß alle demo-kratische Politik mit einem Antagonismus von Legitimität und Effizienz zu tun hat. Wer von der Politik Leistungskraft und enormen Output erwartet und das auch noch ohne viel Lärm, wird kaum zugleich immer neue Kommissionen und Beteiligungsinstanzen vorsehen können. Die Gestaltungsschwäche der Politik ist auch der Preis, den die Gesellschaften des Westens für ihren hochgradigen Pluralismus von Interessen, Auffassungen und Lebensstilen zu zahlen haben. Fraglich ist im Grunde vor allem, ob unter den schwierigen Bedingungen der neunziger Jahre das Demokratisierungsniveau der achtziger gehalten werden wird.
Auch wenn die Gestaltungsschwäche der modernen Politik nicht in erster Linie ein Problem der Politiker ist, so sind die handelnden Akteure gleichwohl an dieser Stelle nicht völlig auszulassen. Der Politischen Klasse ist dabei in erster Linie Unehrlichkeit, Mutlosigkeit und Opportunismus vorzuhalten. Berechnende Unehrlichkeit, die sich allenfalls kurzfristig auszahlt, am Ende aber sehr viel zerstört -das Musterbeispiel dafür hat in der deutschen Politik Helmut Kohl mit seinen Versprechungen zur wirtschaftlichen Entwicklung im Osten geliefert. Der Glaubwürdigkeitsverlust, den dies die Politik insgesamt gekostet hat, ist kaum zu ermessen.
Mutlos und opportunistisch präsentieren sich die Politiker heute, wo ihnen das Wasser bis zum Halse steht. Ihr ständiges Bemühen, den Leuten das mitzuteilen, was diese ohnehin schon denken, verführt nicht nur zum Verzicht auf Gestaltung, es sägt auch den Politikern den Ast ab, auf dem sie selber sitzen. Opportunistische Anpassungsbereitschaft an die derzeitige Welle -das alles führt womöglich nur tiefer in die Krise der Politik.
Ein so sensibler Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung wie Hans Magnus Enzensberger hat den Bedeutungsverlust des Politischen schon vor gut fünfeinhalb Jahren herausgestellt -und sich darüber linkslibertär gefreut Das war Mitte der achtziger Jahre und damals schon deshalb ein leicht erträglicher Standpunkt, weil es -vom Thema Ökologie einmal abgesehen -hierzulande keinen wirklich dramatischen Handlungsbedarf für die Politik in den Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung gab. Bei insgesamt prosperierender Entwicklung der Gesellschaft mußte der wachsende Ersatz der politischen Handlung durch die politische Symbolik nicht weiter störend ins Gewicht fallen. In den achtziger Jahren konnte es sich diese Gesellschaft problemlos erlauben, den politischen Zukunftsdiskurs weitgehend auf die Ebene von Talk-Show-Unterhaltung abgleiten zu sehen. Jetzt aber ist es nicht mehr möglich, sich mit dem Enzensberger des Jahres 1987 einfach darüber zu freuen, daß die Politik zusehends in die Gesellschaft „zurückwächst“.
III. Das Ende des Sozialismus und die Krise der westlichen Parteiendemokratien
Zumindest das Ausmaß der Krise der Politik hierzulande ist nur vor dem Hintergrund der welthistorischen Umbrüche am Ende der achtziger Jahre zu verstehen. Mit diesem tiefsten Einschnitt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts hat sich eine Schere geöffnet, die die westlichen Demokratien in eine gefährliche Schieflage bringen kann. Der verbreitete Unmut über die Politik und ihr Unvermögen hat sehr viel zu tun mit dem Eindruck, daß angesichts der neuen Probleme, die als Folge des Umbruchs im Osten auf uns zukommen, eine politische Gestaltungskraft verlangt wäre, zu der die Politik bei uns gerade nicht fähig ist. Mit anderen Worten: In diesen Umbruchzeiten dringt ins allgemeine Bewußtsein, wie begrenzt die Möglichkeiten der Politik in einer hochkomplexen modernen Dienstleistungsgesellschaft mit komplizierten Institutionengefügen und sich pluralisierenden Normen-und Wertesystemen sind.
Peter Glotz hat in der „Neuen Gesellschaft“ Elisabeth Noelle-Neumann zitiert: „Für die Demokratie ist nichts gefährlicher als die Kombination von anschwellenden Ängsten, die aus den unmittelbaren Erfahrungen des Alltags rühren, und dem Eindruck, daß die Politiker nichts tun wollen oder sich nicht zu helfen wissen.“ Tatsächlich liegt hier der Punkt, an dem sich die strukturellen Ursachen für die wachsenden Schwierigkeiten demokratischer Konsensfindung in dieser besonderen historischen Konstellation zu einem gefährlichen Syndrom von politischer Apathie, rechtspopulistischer Aggression und gutgemeinter, aber blauäugiger Institutionenkritik von links auswachsen können.
Zwei Jahre nach dem Vereinigungsjahr 1990 spürt jeder die Tiefe der historischen Veränderungen, die seit 1989 eingetreten sind. Der in der alten Bundesrepublik lange unternommene Versuch,die neuen Realitäten schlicht nicht wahrhaben zu wollen, erweckt bei den Wählern das Empfinden, mit einer Vielzahl von Ängsten und Problemen alleine gelassen zu sein, zu denen den Politikern anscheinend nichts einfällt. Jetzt geht es den Politikern so wie dem Kaiser in dem Märchen von den neuen Kleidern: Plötzlich steht die Politik nackt da, wirken viele ihrer Exponenten allzu selbstgefällig und geradewegs so, als lebten sie noch in der betulichen alten Bundesrepublik und nicht inmitten eines riesigen Handlungsdrucks, der die alten Rituale der Talk-Show-Dramaturgie und der Politik via Medienpräsentation ebenso überprüfungsbedürftig werden läßt wie das eingefahrene Streit-ritual im Bonner Bundestag.
Angesichts der Tiefe des historischen Einschnitts sind die erregenden und anscheinend unlösbaren Fragen der Finanzierung der Folgen der Einheit und die Rückwirkungen auf die staatliche Finanz-politik insgesamt fast noch Probleme mikropolitischer Art. Hinzu kommen wachsender Zuwanderungsdruck von außen, ein emotions-und kostenträchtiger Punkt, bei dem sich niemand einbilden möge, in den kommenden Jahren sei Entspannung zu erwarten; das Aufbrechen eines ethnozentrierten neuen Nationalismus im Osten, der inzwischen wieder Kriege mitten in Europa möglich werden läßt, zu denen dem Westen bisher nicht viel mehr eingefallen ist als eine Demonstration der eigenen Ohnmacht; schließlich das heikle Thema Europäische Einigung.
Daß in einer solchen Umbruchzeit viele Menschen verunsichert sind, nach Orientierung suchen und dabei Ansprüche und Bedürfnisse an die Politik formulieren, ist nur naheliegend. Daß die Politik dem so wenig abhelfen kann, trägt mehr zur Parteien-und Politikverdrossenheit bei als jene Unzahl von Diskussionen über Politikereinkommen, die zur Zeit überall geführt werden.
Von der Politik gefordert ist nichts weniger als eine Renaissance konventioneller politischer Tugenden: Sinn für die Politik als „Kunst des Möglichen“, Orientierung auf sachliche Problemlösung, Fähigkeit zur Konsensstiftung, Begrenzung der marktschreierischen medialen Streitdramaturgie der heißen Stühle. Es mag ja sein, daß die Politiker einer Gesellschaft letztlich mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind, die sich weigert, von der eigenen Vergötterung des Besitzindividualismus zu lassen. Aber daß sie, statt wenigstens den Versuch zur steuernden Einflußnahme zu wagen, mutlos resignieren oder dem vermeintlichen Massengeschmack nachrennen -das kann man ihnen schon vorwerfen.
IV. Machtpragmatismus pur -Die politische Kultur der Ära Kohl
Daß das schlechte Management der Deutschen Einheit zumindest mit dem Ausmaß zu tun hat, das die Krise der Politik hierzulande angenommen hat, liegt auf der Hand. Daß Kohls „Steuerlüge“ und all die anderen Versprechungen im Jahr der Deutschen Einheit dazu beigetragen haben, daß die Politik an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat, läßt sich kaum bestreiten.
Aber nicht nur wegen dieser Fehler und Fehleinschätzungen, die Kohls Amtsvorgänger im Frühjahr zu dem Urteil veranlaßt haben, „dieser Mann kann es nicht“, hat die Ära Kohl mit dem zu tun, was hier als ein Syndrom aus Politik-und Parteien-verdrossenheit bezeichnet worden ist.
Das Politikideal, das von diesem Bundeskanzler seit fast einem Jahrzehnt repräsentiert wird, ist auf einen rein machtpolitisch angelegten Pragmatismus reduziert, den man als „Machtpragmatismus pur“ bezeichnen kann und der seine Ausstrahlung in die Gesellschaft hinein keineswegs verfehlt. Politik wird zur bloßen Taktik, die Macht vor allem um ihrer selbst willen angestrebt, entleert jeder inhaltlichen Botschaft und ohne jede visionäre Kraft. Wo eine Politik derart wenig konzeptionellen Geist atmet und die überzeugende Idee so sehr vermißt wird, kann, ja muß sich dem Bürger der Eindruck vermitteln, der Sinn dieser Politik bestünde letztlich im bloßen Machterhalt der Regierenden selbst.
Hätte es den historischen Glücksfall der Deutschen Einheit nicht gegeben, die dem Kanzler den Platz in den Geschichtsbüchern sichert, wüßte nach einem Jahrzehnt der Regierung Helmut Kohl kaum jemand so recht, weshalb dieser Mann eigentlich so lange Kanzler sein mußte. Am Anfang hat er die konservativen Geister enttäuscht, die vergebens auf die geistig-moralische Wende gehofft hatten. Sie blieb aus, weil der Kanzler mit einigem Gespür für den liberalen Zeitgeist erkannt hatte, daß es an dieser Stelle machtpolitisch nicht viel zu holen gab. Also ließ der Kanzler die liberalen CDU-Modemisierer gewähren. Als dann Geißler überzog und gegen Kohl Front machte, wechselte dieser die Pferde und zog seinen Generalsekretär aus dem Verkehr. Inhaltlich begründet war da gar nichts, es zählte allein das machtpolitische Kalkül. Als Kohl dann die Deutsche Einheit mehr oder weniger wie eine reife Frucht in den Schoß fiel, bewies er immerhin so viel Geschick, daß er zur rechten Zeit auf den immer schneller fahrenden Zug aufzuspringen und den Part des Lokführers zu übernehmen verstand. Mit dem Glücksfall der Vereinigung bekam er Gelegenheit, die Vorteile seines Amtes voll auszuspielen und sein Mandat in eine dritte Amtszeit hinein zu verlängern.
Jetzt ist auch diese Phase abgeschlossen und der Kanzler von den schnöden Alltagsrealitäten seiner an vielen Stellen gar nicht glänzend gemachten Einheit eingeholt. Nun öffnet sich nach dem kurzen Jahr der Kohl-Bewunderung als „Kanzler der Einheit“ wieder der Blick des Bürgers auf den „Aussitzer“ und reinen Machtpragmatiker Kohl.
Der Mangel an politischer Perspektive, der kennzeichnend ist für die Ära Kohl, ist sicher nicht die Hauptursache für die derzeitige Krise. Wenn es sie wäre, dürften die Krisenphänomene im internationalen Vergleich nicht so viele Ähnlichkeiten aufweisen. Mitterrand ist schließlilch nicht Kohl, und doch gibt es selbst in Frankreich vergleichbare Probleme. Dennoch trägt dieser politische Stil zur Problemverschärfung bei. Wo Politik den Menschen nicht vermitteln kann, wozu sie gemacht wird außer zum Zwecke der Machterhaltung für jene, die die höchsten Ämter innehaben, darf sich niemand wundern, wenn Glaubwürdigkeitsprobleme entstehen. Die Kanzlerschaft Kohls trägt mit dazu bei, daß das Ausmaß der Krise so tief geht. Solange dieser Kanzler bleibt, wird es der Politik in Deutschland schwerer fallen, aus dem Glaubwürdigkeitsloch herauszufinden
V. Die Krise der Politik als Problem der „Politischen Klasse“
Im Mittelpunkt der derzeitigen Debatte über die Krise der Politik steht die „Politische Klasse“ Zahllos sind die Klagen über den angeblichen Niveauverlust beim politischen Führungspersonal, noch zahlreicher die Attacken gegen Selbstversorgung, „Klüngelwirtschaft“ und dergleichen. Manche sehen schon eine „Italienisierung der deutschen Politik“ kommen.
Das „politische Urgestein“ der zweiten deutschen Republik sei inzwischen fast ausgestorben und wir bekämen nun die Folgen zu spüren -so eine verbreitete Auffassung. Da werden Erinnerungen an legendäre politische Führungspersönlichkeiten aus der Geschichte der Bundesrepublik beschworen. So gilt die SPD-Führungstroika aus den siebziger Jahren mit Brandt, Schmidt und Wehner mittlerweile als leuchtendes Vorbild für eine zu echter politischer Führung angeblich nicht so recht befähigten sozialdemokratischen Enkelgeneration. Die Union schließlich habe nach dem Kanzler fast gar nichts mehr anzubieten. Statt knorriger Persönlichkeiten mit Schwere und Gewicht träten nur noch windschnittige Politangestellte ohne überzeugendes Profil auf.
Nicht nur die Generationenfrage wird in diesem Zusammenhang bemüht. Die Parteienherrschaft führe zu falscher Personalauswahl, verhindere das politische Engagement sachkompetenter Quereinsteiger und trage auf diese Weise zum Niveauverlust der Politik bei, so ein besonders populäres Urteil. Schließlich geht es um die „Selbstbedienungsmentalität“ der Politiker. Angefangen von Diätenregelungen über Übergangsgelder, Rentenansprüche bis hin zur Finanzierung von Parteien und Fraktionen steht zur Zeit fast alles am Pranger, was mit der materiellen Ausstattung von Politik zu tun hat. Dabei scheint die Erinnerung an diverse Diäten-skandale zu belegen, daß die Politiker vor allem an ihrer eigenen, möglichst üppigen Selbstalimentierung interessiert seien.
Ist demnach die Klage über das politische Führungspersonal und die Selbstbedienungsmentalität nur die Wiederholung der immer gleichen Nörgelei über die Politiker und vor allem darüber, das früher sowieso alles besser war? Ja und Nein. Ja, weil es solche Klagen zu allen Zeiten gab und die Erinnerung manches verklärt. Nein, weil an der Kritik trotzdem etwas bleibt: Es fehlt an Typen, die sich einprägen, es fehlt an Persönlichkeiten. Zu viele wirken austauschbar, ein bißchen wie Politiker von der Stange.
Dies ist nicht den handelnden Personen vorzuhalten, auch nur sehr begrenzt den Auswahlmechanismen der Parteien. Eher schon geht es um die Gesellschaft, die diese Menschen geprägt und auch gewählt hat. Daß die Zahl der Persönlichkeiten abnimmt, wird auch in anderen Berufen beklagt: im Sport, in der Kunst und in der Wirtschaft.
Ganz sicher hat die Führungsfähigkeit des politischen Personals abgenommen, während die Eitel keit der einzelnen Darsteller zugenommen hat. Mit steigender Tendenz neigen Politiker heutzutage dazu, ihre Urteile über sich selbst und ihre politische Leistung allein aus ihrem Spiegelbild in den Medien zu beziehen. Das nötigt zu Schnellschüssen und Spektakel, die zwar mitunter einigen Wirbel machen, dann aber oft auch schnell wieder vergessen sind.
Hinzu kommt der libertäre Zeitgeist. Wenn etwa der SPD-Vorsitzende Björn Engholm auf innerparteiliche Kritik an seinem angeblich zu laschen Führungsstil mit dem Hinweis antwortet, heutzutage könne ein SPD-Politiker eben nur noch moderieren, macht das klar, daß hier gesellschaftliche Veränderungen eine Rolle spielen. Tatsächlich wäre ein autoritärer Zuchtmeister vom Schlage eines Herbert Wehner an der Spitze der SPD-Bundestagsfrakton heute kaum noch denkbar.
Der Demokratisierungsschub der letzten zwanzig Jahre und der Einbruch der Mediengesellschaft haben die Ausübung von Macht und Führungskraft schwerer werden lassen. Macht und Führungskraft -sie leben auch vom Abstand, wohl auch vom Mythos. Die Veralltäglichung von Politik, ihre Entzauberung durch die unerbittliche Fernsehscheinwerferrealität -dies alles liefert nicht wenigen die Chance zum Auftritt und verhindert dabei doch die Entwicklung der großen „politischen Persönlichkeiten“, die derzeit so vermißt werden. Wie soll heute ein „Standing“ wachsen, wenn allüberall die Medien mit ihrer über die Marktkonkurrenz induzierten Neigung zu „ex und hopp“ bereitstehen? Unter den Bedingungen der Mediengesellschaft ist das Wachsen der starken politischen Führungspersönlichkeiten jedenfalls schwerer geworden. Wer am liebsten jeden Winkel der Politik permanent medial ausgeleuchtet sehen möchte, darf nicht gleichzeitig „Größe“ im Weberschen Sinne verlangen. Wer alles über Politik und die Politiker wissen will, erfährt auch ihre schnöden, schmutzigen und gemeinen Seiten -ganz wie im sonstigen Leben auch. Die Politiker sind im Durchschnitt nicht schlechter, aber eben auch nicht besser als die Gesellschaft, die sie hervorbringt und mit Mandaten versieht.
Die soziale Rekrutierung der Politiker ist in der Demokratie zu allen Zeiten ein ebenso heikles Problem gewesen wie das Thema „Politik als Beruf“ überhaupt. Politik soll „professionell“ gemacht werden, gleichwohl tut sich die Gesellschaft mit der Akzeptanz des „Politikerberufs“ besonders schwer'. Umgekehrt steht außer Frage, daß die internen Auswahlmechanismen politischer Parteien nicht selten wenig flexibel und schwerfällig sind. Die „Ochsentour“ von Bewerbern für Ämter und Mandate ist die Regel, Seiteneinsteiger haben es schwer.
Zum Rekrutierungsmechanismus der Politiker werden die verschiedensten Reformüberlegungen diskutiert: Nicht selten sind es Vorschläge, die in den achtziger Jahren in der einen oder anderen Form von den GRÜNEN bereits ausprobiert worden sind. Diskutiert werden zum Thema Personalauswahl vor allem drei Vorschläge: die Einführung von „Primaries“ nach amerikanischem Vorbild bei der Auswahl von Bundestags-und Landtagskandidaten, die Präsentation mehrerer Bewerber durch die Parteien, schließlich die Einführung eines rotierenden Systems, also eine Begrenzung der Mandatszeit auf eine maximale Zahl von Wahlperioden. Der Wissenschaftler Erwin K. Scheuch hat jüngst die inzwischen von den GRÜNEN aufgegebene Position einer Beschränkung auf acht Jahre wieder aufgegriffen.
Ich halte alle drei Vorschläge für unpraktikabel und wenig sinnvoll. Die Einführung von „Prima-ries“ mag bei besonders herausgehobenen Funktionen einiges für sich haben. Aber jeden Bundes-und Landtagskandidaten auf diese Weise auszuwählen, bedeutete eine enorme Überschätzung des Interesses, mit dem die Auswahl der „gewöhnlichen“ Abgeordneten normalerweise rechnen kann. Im übrigen dürfte ein solches System eher den Amtsinhaber und damit gerade nicht den Wechsel begünstigen. Auch der Vorschlag, die Parteien mögen doch mit jeweils zwei Kandidaten vor die Wähler treten, liefert nicht den Stein der Weisen. Hier ist vor allem an die enormen politischen Kosten zu denken, die durch ein solches Verfahren entstünden. Die jeweiligen Parteigliederungen wären über längere Zeiträume durch den Wettkampf der betreffenden Kandidaten nahezu lahmgelegt. Und da der unterlegene Teil aufgrund des öffentlichen Wettbewerbs einen höheren Preis für seine Niederlage zu zahlen hätte, fiele der Konflikt vermutlich sehr viel härter aus.
An dieser Stelle muß dem wohlfeilen Urteil entgegengetreten werden, Absprachen und längerfri-stige personalpolitische Überlegungen seien in der Politik prinzipiell von Übel. Wer die praktischen Erfahrungen der GRÜNEN bedenkt, wo die Gegenkandidatur nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist und ansonsten eine ganze Reihe basisdemokratischer Experimente über ein Jahrzehnt praktiziert worden sind, wird kaum so blauäugig über Strukturreformen von Parteien urteilen können. Selbst die Furcht der Parteien vor Konkurrenzkandidaturen folgt nicht immer „niedrigen“ Beweggründen. Da sich die mit harten Konkurrenzkämpfen stets verbundenen Verwerfungen in sozialen Organismen wie Parteien meist nicht begrenzen lassen und nach der Entscheidung weiter-wuchern, ist es eher vernünftig, wenn Organisationen einen Mechanismus entwickeln, der verschiedene Ambitionen möglichst konsensual zusammenbringen will. Sofern auf diese Weise die unterschiedlichen Ambitionierungen durch Kompromißbildung im Vorfeld abgefedert werden können -das gelingt allerdings immer weniger -, ist der so vermißten Handlungsfähigkeit der Politik am Ende viel mehr gedient. Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen: Diesen Preis wollen wir zahlen. Aber dann muß auch klar sein, daß die flächendeckende Einführung solcher Auswahl-mechanismen nicht Zusammengehen wird mit den gleichzeitig an die Politik gerichteten steigenden Handlungsanforderungen.
Erst recht gilt dies für die Rotation. Auf diesem Gebiet gibt es keine besseren Experten als die GRÜNEN, die über ein ganzes Jahrzehnt ihre Erfahrungen mit Theorie und Praxis des Rotationsgedankens in der Politik gemacht haben. Das Fazit von zehn Jahren läßt sich in wenigen Stichworten zusammenfassen: Die Zwangsrotation bringt keineswegs die angestrebte größere Offenheit und Transparenz. Umgekehrt zahlt die Organisation einen sehr hohen Preis: mangelnde Effizienz, übermäßige Konkurrenz innerhalb der Führungsgruppen, vermeidbare Verletzungen durch vorzeitige Personalwechsel, Heuchelei und Doppelmoral. Hinzu kommen die Probleme mit den Medien. Bekannte Gesichter sind nicht ohne weiteres austauschbar. Und die öffentliche Wahrnehmung eines politischen Gedankens ist nun zunächst einmal an die Plazierung der Sprecher im öffentlichen Diskurs gebunden.
Die Macht der Parteien in der Gesellschaft ist zu groß. Eine finanzielle Selbstbeschränkung von Parteien und ihrer Stiftungen tut not. Die Parteien sollten sich aus öffentlich-rechtlichen Rundfunkräten zurückziehen. Aber es sollte niemand daran übertriebene Erwartungen knüpfen: Die Krise der Politik heute liegt woanders begründet.
Natürlich muß auch über die Auswahl des politischen Führungspersonals nachgedacht werden. Die unerwünschten sozialen Selektionsmechanismen sind bekannt: Der Bundestag ist vor allem ein Parlament von Beamten und Rechtsanwälten. Daß diese Berufe so überrepräsentiert sind, hat einen ganz einfachen Grund: Angehörige des öffentlichen Dienstes können sich -wie vielleicht einige Freiberufler unter bestimmten Bedingungen (Anwälte einer Sozietät) auch -vergleichsweise gefahrlos für eine politische Tätigkeit auf Zeit entscheiden. Jedenfalls ist ihr persönliches und familiäres Risiko begrenzbar, wenn ihr Engagement nach einiger Zeit beendet sein sollte. Für viele andere Berufsgruppen gilt dies nicht: Für sie steht der Rechtsanspruch auf den alten Arbeitsplatz eher auf dem Papier. Was soll denn ein Computer-spezialist machen, der nach acht Jahren Fulltime-Beschäftigung im Bundestag mit Fünfzig ausscheiden muß? Er hat beruflich längst den Anschluß verloren.
Dies mag zeigen, wie blauäugig und weltfremd es ist, wenn etwa Erwin K. Scheuch zwei Dinge auf einmal verlangt: Einmal soll der Politiker in seiner Mandatszeit nichts anderes tun. Demnach dürfte er seine berufliche Tätigkeit nicht weiter ausüben, auch nicht eingeschränkt. Gleichzeitig aber fordert Scheuch die Rotation der Abgeordneten. Daß nun das gerade nicht zusammenpaßt, liegt auf der Hand.
Wer die sozialen Selektionsmechanismen wenigstens begrenzen will, hat im Prinzip drei Möglichkeiten: Entweder den Politikern werden relativ großzügige Einkommens-und Übergangsregelungen angeboren, die das Risiko eines politischen Engagements auf Zeit abmildern. Dieser Weg ist in Deutschland gewählt worden, hat freilich eine Reihe von Mißbräuchen und Übertreibungen hervorgebracht, die den Politikern zu Recht vorzuhalten sind. Eine zweite Möglichkeit der Politikerfinanzierung liefe auf den amerikanischen Weg hinaus. Dort haben wir -vereinfacht gesprochen -die Dauerrotation der Politiker in die Wirtschaft und umgekehrt. Dies führt zu einem politischen System, in dem die Politik von der Wirtschaft im Grunde ausgehalten wird.
Ein dritter Weg würde sich um die sozialen Selektionsmechanismen durch materielle Gratifikationen gar nicht weiter kümmern. Danach wäre Politik im Grunde kein Beruf, sondern Berufung und demnach kein Ort für den Erwerb von Rentenansprüchen. In dieser Definition des Politikers wird über Geld nicht geredet, weil schon dies das idealistische Motiv verdunkelte. Dieser Weg führte geradewegs in eine Mischform aus Honoratiorenparlament, Parteiangestellten und Abenteurernaturen, die durch keinerlei familiäre Rücksichten gehindert sind, das Wagnis auf sich zu nehmen, das mit einer politischen Karriere auf Zeit unter solchen Bedingungen verbunden sein muß.
Wer dies alles abwägt, kann am Ende das derzeitige System im Grundsatz so schlecht nicht finden. Würde es transparenter gemacht, Übertreibungen korrigiert, Renten-und Pensionsansprüche mit Aktiveinkünften verrechnet und die Finanzansprüche der Parteien und Fraktionen zurechtgestutzt -wir hätten nicht den Stein der Weisen, aber eine vertretbare Regelung der Politikfinanzierung.
VI. Die Politiker als Projektionsfläche einer gesellschaftlichen Krise
Die Debatte um die Politikfinanzierung ist richtig und notwendig, aber es ist im Grunde die richtige Diskussion zur falschen Zeit. Denn so, wie sie derzeit geführt wird, verdunkelt sie eher die eigentlichen Probleme der Politik in dieser Umbruch-phase.
Daß die Politik so sehr ins Gerede gekommen ist, daß sich kaum jemand noch mit den Politikern identifizieren mag, liegt in erster Linie daran, daß die Wähler bemerken: Die Politik leistet nicht das, was sie leisten soll. Wer das ändern will, muß sich in erster Linie auf die Frage konzentrieren: Warum leistet die Politik das nicht? Soweit sich die öffentliche Auseinandersetzung statt dessen auf die Mechanismen der Politikfinanzierung konzentriert, haben wir es hier eher mit einem Neben-kriegsschauplatz zu tun, auf dem Folgeprobleme abgearbeitet werden.
Die westlichen Parteiendemokratien sind auf die Anforderungen schlecht vorbereitet, die der weltgeschichtliche Umbruchprozeß an sie stellt. Während der Parteienstaat einerseits immer tiefer in das gesellschaftliche System eingedrungen ist, hat die reale Gestaltungskraft der Politik auf eine angesichts der aktuellen Problemkonzentration gefährliche Weise abgenommen.
Politik und Gesellschaft haben sich hierzulande all-zulange hartnäckig geweigert, zur Kenntnis zu nehmen, was seit 1989 geschehen ist. Während im Westen hedonistisch und zukunftsoptimistisch die neuen Chancen nach dem Ende der bipolaren Weltordnung beschworen wurden, wurden die düsteren Mächte ethnonationalistischer Atavismen, die aus den Trümmern des Ostblocksozialismus aufsteigen, lange Zeit geflissentlich übersehen. In der Gesellschaft aber haben sich allmählich Ängste aufgestaut, denen gegenüber die Politik sich nicht zu helfen weiß. Ob es um soziale oder kulturelle Verlustängste von Westdeutschen geht oder um die souveräne Ignoranz der Bonner Politik gegenüber den massenhaft in die Arbeitslosigkeit entlassenen Ostdeutschen: Die Politik erweckt derzeit den Eindruck, weit entfernt von den Problemen der Menschen zu sein. „Erstens hat die ökonomisch unbewältigte Wiedervereinigung ein gewaltiges Potential an depravierten Menschen produziert: 30 Prozent De-facto-Arbeitslose in einigen neuen Bundesländern, dazu die notwendigerweise oft haßerfüllten Opfer der Stasi-Manie und die oft unnötigerweise ressentimentgeladenen Solidaritätszuschlagszahler im Westen.“ Und dazu kommen die keineswegs nur irrationalen Ängste vor jener Völkerwanderung, an deren Beginn wir erst stehen. „Zweitens bewegt sich die Regierung in einer schwierigen Situation würdelos und täppisch. Man wählt einen Mann zum Vizekanzler, der allgemein als unseriös gilt... eine Staatsschauspielerin nennt einen Staatsschauspieler öffentlich , Du intrigantes Schwein und das klassische Justizressort wird von einer jungen Frau besetzt, deren komplizierten Doppelnamen selbst in der politischen Klasse kaum jemand kennt... Es kommt ein Drittes hinzu: Die Opposition ist unvorbereitet und lebte allzu lange, allzu unbekümmert im Einerseits-Andererseits.“
Diese Diagnose enthält eher eine Unter-als eine Übertreibung. Statt eines Triumphzuges der westlich-demokratischen Ideenwelt, des Sieges des Liberalismus als „Ende der Geschichte“ (Fukuyama), erleben wir allgemeine Orientierungslosigkeit und wachsendes Chaos. Das ist der Hintergrund der derzeitigen Krise der Politik, nicht die Einkommen des saarländischen Ministerpräsidenten.
Die Unappetitlichkeiten in der Politikerversorung erhalten erst vor dem Hintergrund von Verunsicherung, Überforderung und des verbreiteten Eindrucks, der Politik fiele dazu nichts ein, jene Bedeutung, die seit einigen Wochen zu erleben ist. So werden die Politiker zur Zeit vor allem zur Projektionsfläche für eine viel tiefergehende gesellschaft liehe Krise -ein Umstand, an dem sie freilich keineswegs unschuldig sind. Antje Vollmer hat unlängst mit tiefem Zukunftspessimismus die „Wachstumskrise der europäischen Hochkultur“ als „Hintergrund der europaweiten Parteienkrise“ bezeichnet. Da die Grenzen des europäischen Wachstums aus ökonomischen, sozialen und ökologischen Gründen erreicht seien, bliebe den Führungsgruppen in diesen Gesellschaften allein noch die Chance, „kompromißlos zu regieren“. Diese Zeit ließe nur noch „böse oder schwache Herrscher“ zu
Dieser linkskonservative Zukunftspessimismus irritiert durch seine vage Terminologie. Aber eines ist daran gewiß richtig: Der größte Fehler, den die Politik derzeit begehen könnte, bestünde darin, sich bloß libertär an Petitessen zu delektieren, während um uns herum aus der neuen Weltunordnung das Chaos zu werden droht. Die Politik hierzulande braucht vor allem eines: einen Rückgewiiin an Legitimation und konsensbildender Kraft. Das schafft nicht, wer immer nur den Leuten nach dem Munde reden will. Gewinnt sie diese Kraft nicht zurück, steht auf mittlere Sicht ganz real das Problem autoritärer Lösungen vor der Tür.