I. Fundamentalismuskritik jenseits von Polemik und Apologetik
Die Rede vom jüdischen Fundamentalismus hat eine antijüdische Vorgeschichte. Die Juden galten als Diener des tötenden Buchstabens im Gegensatz zu den christlichen Dienern des lebendigen Geistes Kor Die Synagoge wird in der christlichen Ikonographie mit verbundenen Augen dargestellt, weil sie verblendet auf den buchstäblichen Sinn der heiligen Schrift fixiert ist und den christologischen Sinn nicht durchschaut. Der Apostel, dem die meisten antijüdischen Antithesen zu verdanken sind, ist auch die Quelle dieser Typologie: „Denn bis auf den heutigen Tag bleibt diese Decke unaufgedeckt über dem alten Testament, wenn sie es lesen, weil sie nur in Christus abgetan wird. Doch bis auf den heutigen Tag, wenn Moses gelesen wird, hängt die Decke vor ihrem Herzen. Wenn aber Israel sich bekehrt zu dem Herren, so wird die Decke abgetan“ (2 Kor 3, 14-16). Martin Luther, der Übersetzer dieser Verse, beklagt sich in seinen Tischreden über die humanistischen Hebraisten und ihre jüdischen Gewährsleute so: „O, die Hebräer -ich sag auch von den unsem -judenzen sehr ... Sie hängen schlechterdings an den Worten, achten nicht auf die Bedeutungen der Worte . . . Das Verb „judenzen“ entspricht der altkirchlichen Häresiebezeichnung „Judaismus“ für Christen, die die mosaischen Gebote weiterhin buchstäblich erfüllen, wie die „Circumcisi“, die sich beschneiden lassen, oder die „Shabbatharier“, gegen die Luther polemisiert, die den Schabbat feiern 2.
In England und Nordamerika hat der alttestamentlich orientierte Puritanismus radikale judaistische Forderungen begünstigt, etwa die Einführung des Hebräischen als Gebetssprache und die Restauration der mosaischen Verfassung 3. Auf diesem Boden ist auch der moderne protestantische Fundamentalismus im eigentlichen und engen Sinn gewachsen. Das „Judenzen“ der christlichen Häretiker und Sektierer galt und gilt als ein Rückfall ins Judentum, das starr und stur am Buchstaben des Gesetzes festhält. Ein Judentum strikter Observanz erscheint unter der Belastung dieser Begriffs-geschichte ohne weiteres als fundamentalistisch Das fundamentalistische Zerrbild des Judentums gehört zum Erbschaftsstreit und Verdrängungswettbewerb der Tochter-und Mutter-bzw. Sohn-und Vater-Religion. Der Philosemitismus protestantischer Fundamentalisten kehrt bloß das Vorzeichen dieses Zerrbildes um. Das Judentum versteht sich selber nicht als eine Religion des. Buches, des Buchstabens des Alten Testaments, es versteht sich als Religion der Torah in beiderlei Gestalt, der schriftlichen und der mündlichen Torah („Torah schäbichtaw“ und „Torah schäbealpäh“) des toten Buchstabens und seiner dauernden Wiederbelebung in der Tradition. Als traditionalistische Religion hat es Sekten vom „sola-scriptura“ -Typ wie die Sadduzäer 6 und die Karäer als unjüdisch ausgegrenzt. Die antijüdischen Konnotationen des Fundamentalismusbegriffs müssen neutralisiert werden, ehe er zur innerjüdischen Kritik des religiösen Radikalismus tauglich sein kann. Es wäre für die Fundamentalismuskritik im allgemeinen wichtig zu unterscheiden, ob „Fundamentalismus“ ein religionskritischer Begriff oder ein kritischer Religionsbegriff ist. Einen operativen Wert hat dieser Begriff für die innerjüdische Kritik nur, wenn er nicht pauschal das Judentum strikter Observanz vom christlichen, liberalen oder laizistischen Standpunkt aus abqualifiziert, sondern Kriterien angibt, die legitime und normale von illegitimen und abnormen religiösen Erscheinungen gerade vom religiösen Standpunkt aus zu unterscheiden helfen. Eine Aufklärung des antijüdischen Klischees vom jüdischen Fundamentalismus und eine Darstellung des antifundamentalistischen Traditionsprinzips des Judentums ist auch für den innerjüdischen Klärungsprozeß wichtig, doch kann es damit noch nicht sein Bewenden haben.
In der Diaspora -das gilt nicht nur für die jüdische Diaspora -gibt es einen penetranten Zwang zur Apologetik, die Mißstände übertüncht oder verharmlost. Angesichts des ungemein wandlungsund widerstandsfähigen antisemitischen Stereotyps der christlich-europäischen Tradition müssen sich Juden ständig rechtfertigen. Der negativen Verzerrung in der Außenperspektive entspricht die positive Verzerrung in der Innenperspektive. Es ist ein Zug der Festungsmentalität, Kritik mit dem Hinweis auf die feindselige Umwelt abzutun und die Kritiker der duckmäuserischen und drückebergerischen Verschämtheit -der Trotz spielt in der Identität der Fundamentalisten eine kaum zu überschätzende Rolle -, des Selbsthasses, kurz des Verrats zu bezichtigen. Es ist aber bei aller propagandistischen und ideologischen Polarisierung gerade auch vom religiösen Standpunkt wichtig, nicht unkritisch die Reihen zu schließen mit romantischen Nostalgikem, die sich nach der geschlossenen Welt des ostjüdischen Stetls, dem Ghetto, sehnen; mit enttäuschten Intellektuellen, die eine exotische Nische suchen; mit abergläubischen und hörigen Chassidim, die ihrem Wunderrabbi bedingungslos folgen und im messianischen Fieber taumeln; mit fanatischen Zeloten, die eine Blut-und-Boden-Ideologie vertreten und vom heiligen Krieg träumen; mit schwärmenden Esoterikern, die übergangslos von der Kommune und dem Ashram zur Jeschiwa und zum chassidischen Hof überwechseln; mit bigotten Frömmlern schließlich, die sich präventiv konformistisch auf die fundamentalistische Welle einstellen. Eine Kritik des religiösen Fundamentalismus vom religiösen Standpunkt ist inhaltlich schwierig, weil das sogenannte „normative Judentum“ einen weiten Spielraum läßt und sich alle Sekten auf die jüdische Tradition berufen, die sie von ihrem Standpunkt aus rekonstruieren.
Es gibt aber durchaus traditionelle jüdische Werte, die radikalen religiösen Einstellungen und Haltungen wie der antimodemistischen Weltverneinung, dem exklusivistischen Heilsanspruch, der Intoleranz gegen Andersdenkende, der rücksichtslosen Gesinnungsethik und Binnenmoral, der machiavellistischen Politik zur Durchsetzung der heiligen Zwecke usw. entgegenstehen. Es ist ein hoher Wert und eine religionsgesetzlich wichtige Rücksicht bei aller pünktlichen Gesetzeserfüllung, dem Ruf Gottes in der Welt nicht zu schaden („Chiliul ha-schem“) und diesseits der Linie des strengen Rechts („Lifnim mischurat ha-din“) ein vorbildliches Leben zu führen Dem entsprechen die Wertschätzung der mittelmäßigen Tugenden („Deot benonijot memuzaot“) und die Vorbehalte gegen asketische Sonderleistungen Das Judentum ist nicht heilsmonopolistisch; alle Menschen („Bnej noach“) gelten als Fromme der Völker der Welt („Chassidim umot ha-olam“) und haben Anteil am Heil, sofern sie ein Minimum von Menschenpflichten, die sogenannten sieben noachidischen Gebote, erfüllen 1I 1n jedem Fall gilt im Umgang mit den Heiden, die nicht zu den Noachiden zählen, die Erhaltung des Friedens („Mipnej darchej ha-schalom“) als ein Wert, der die Lizenzen der Binnenmoral außer Kraft setzt Es ist hier nicht möglich, diese halachischen Maßstäbe genau zu gewichten und kasuistisch auszudifferenzieren die knappe Aufzählung zeigt aber schon, daß sie mit dem Fundamentalismus im uneigentlichen und weiten Sinn unvereinbar sind. Es gibt zahlreiche systematische, historische und empirische Untersuchungen zum Thema „Judentum und Fundamentalismus“, auf die wir verweisen können *W*ir müssen uns hier auf eine signifikante Fallstudie beschränken, die zeigen soll, wie problematisch der Begriff des Fundamentalismus im jüdischen Kontext ist -auch und gerade dort, wo er auf den ersten Blick völlig angebracht erscheint, und wie unproblematisch umgekehrt die Vereinnahmung der Tradition zu fundamentalistischen Zwecken ist. Es handelt sich um den Fall des Moses Maimonides (1135-1204) der eine ähnliche Rolle im Judentum wie Thomas von Aquin im Katholizismus spielt; dessen Summe der Halacha („Mischneh Torah“, der Verfasser nennt das Werk oft „Chibbur“, d. h. wörtlich „Summe“) mutatis mutandis mit der „Summa Theologica“ vergleichbar ist. Dann soll die Position des Verdenket des modernen Judentums, Moses Mendelssohn, zum Fundamentalismus und sein Einfluß auf die moderne jüdische Apologetik behandelt werden. Schließlich behandeln wir den Fundamentalismus in der modernen jüdischen Identität.
II. Moses Maimonides zwischen Fundamentalismus und Rationalismus
1. Das Dogma der Verbalinspiration der Torah Moses Maimonides war in ganz einzigartiger Verbindung die beherrschende jüdische Autorität des Mittelalters als Rechtsgelehrter, als Philosoph und als Arzt -und die umstrittenste dazu. Als führende rabbinische Persönlichkeit seiner Zeit war er auch Adressat zahlreicher Anfragen, die ihm zur Entscheidung vorgelegt wurden. Eine seiner Antworten, die sich auf eine unscheinbare rituelle Angelegenheit bezieht, ist für unser Thema aufschlußreich. Soll man, wenn im Gottesdienst zum Wochenfest, das an die Offenbarung am Sinai erinnert, die zehn Gebote („Asseret-ha-dibberot“, eigentlich: „Dekalog“) verlesen werden, aufstehen oder Sitzenbleiben? Heute ist es allgemein üblich aufzustehen, um die herausragende Stellung des Dekalogs zu unterstreichen. Das war aber nicht immer und überall so. Im Altertum war der Dekalog vermutlich Bestandteil des täglichen Gebets. Aber schon im Talmud werden dagegen Bedenken laut Kommt man damit nicht den Sektierern entgegen -vermutlich sind die Christen gemeint -, die nur den Dekalog gelten lassen und das übrige Gesetz aufheben? Es hat, wie der Talmud weiter berichtet, in Babylonien, wo die Auseinandersetzung mit den Christen keine nennenswerte Rolle spielte, immer wieder Versuche gegeben, den De-kalog in das tägliche Gebet einzuführen; das wurde aber immer wieder mit dem Hinweis auf die Abwege der Sektierer („Darchei ha-minim“) verhindert. Darauf bezieht sich auch die Entscheidung einer anerkannten Autorität, in ihrer Stadt die alte Sitte abzuschaffen, während der Verlesung des Dekalogs am Wochenfest aufzustehen. Nun habe dort, berichtet der Absender der Anfrage, ein Vorsteher mit dem Hinweis auf den Usus in Bagdad den alten Brauch wieder eingeführt. Soll man ihm folgen oder nicht? Und wer sind eigentlich die „Minim“, die „Sektierer“? Muß man denn auf ihre Einwände noch Rücksicht nehmen?
Die Antwort von Moses Maimonides ist wie immer bündig Die Entscheidung der älteren Autorität, den Brauch abzuschaffen, war richtig und sollte allgemein angenommen werden, damit nicht der irrtümliche Eindruck entstehe, daß es in der Torah wichtige und unwichtige Stellen gäbe. Wenn es die Leute in Bagdad anders hielten, brauche man es ihnen nicht gleichzutun. Das wäre so, als ob man anstatt einen Kranken zu heilen, alle Gesunden krank machen würde.
Dann geht Moses Maimonides auf die Frage ein, wer denn die „Minim“ eigentlich seien. Philologisch ist die Frage kaum zu beantworten. Manche Stellen der Traditionsliteratur passen auf die Christen, andere auf die Gnostiker. Hinzu kommt, daß die christliche Zensur, die sich betroffen fühlte, die Nomenklatur der altjüdischen Häresiographie entstellt hat. Der klassische Kommentator des Talmuds, Raschi (Akronym für Rabbi Schlomo Jizchaki, 1040-1105), faßt in einer wiederum zensierten Stelle den Ausdruck „Min“ als Akronym für „Maamanei ieschu ha-nozri“ (die an Jesus aus Nazareth glauben) auf Moses Maimonides’ Definition des „Min“ ist aber nicht historisch, sondern sachlich. Ein „Min“ sei jemand, der die Fundamente der Torah („Jessodej ha-torah“) unterminiere, indem er den fundamentalen Glauben an die Göttlichkeit der ganzen Torah anzweifle. Das sei aber schon dann der Fall, wenn man in der Torah göttliche Worte, wie den „Dekalog“, von menschlichen Worten unterscheide. Gegen solche Bibel-kritiker sei seine Entscheidung gerichtet. Am Ende des Responsums verweist Moses Maimonides auf das von ihm formulierte Dogma der Verbal-Inspiration der Torah In der Häresiennomenklatur seines Gesetzeskodexes (MT 1. 5. 3. 3) heißen solche, die das Dogma der Verbalinspiration der heiligen Schrift, und sei es auch nur eines Verses oder eines Buchstabens, leugnen und einem menschlichen Ursprung zuschreiben -aber auch hier muß im allgemeinen mit der christlichen Zensur gerechnet werden -Torahleugner („Kofrin batorah“). An anderen Stellen nennt er sie „Epikuräer“, nicht etwa nach der antiken Philosophenschule, sondern nach der aramäischen Verbwurzel „p-q-r“, d. h.freigeben, für herrenlos erklären, sich respektlos benehmen: „Freigeister“ (MT 1. 4. 2. 5)
Daß es überhaupt und in welchem Sinn es Dogmen des Judentums gibt, war, seit Moses Mendelssohn das „Dogma der Dogmenlosigkeit“ des Judentums verkündet hat, theologisch und wissenschaftlich heiß umstritten Es bestehen aber kaum Zweifel daran, daß Moses Maimonides Dogmen des Judentums, d. h. autoritative, normative, für jeden Juden verbindliche, in Zeit und Ewigkeit sanktionierte Glaubensätze, formulieren wollte wenn sich seine Dogmatik auch nicht durchgesetzt hat und lediglich, wie Moses Mendelssohn ironisch bemerkt, als Hymnus in die Liturgie aufgenommen wurde
Moses Maimonides hat seine Dogmen im Kommentar zu einer berühmten Mischnah formuliert Da heißt es ungefähr, ganz Israel habe An-x teil am Jenseits, außer solchen, die leugnen, daß sich der Auferstehungsglaube aus der Torah ergebe, daß die Torah göttlich sei, wie die Epikuräer u. a. Diese Mischnah ist m. E. auch von Moses Maimonides als Aufzählung seligmachender Glau benssätze -in umgekehrter Reihenfolge -theologischen, prophetologischen und eschatologischen Inhalts mißverstanden worden. Dabei scheint es sich um eine Sanktionierung des rabbinischen Torahverständnisses zu handeln. Nicht selig werden nicht etwa solche, die nicht an die Auferstehung glauben, was ihnen nach einem Apolog des Talmuds zur Stelle recht geschieht (b Sanhedrin 90a); nicht^selig werden vielmehr solche, die nicht glauben, daß die Auferstehung von den Weisen aus der Torah, in erster Linie aus dem Pentateuch, wo ja für unbefangene Leser tatsächlich nichts darüber steht, abgeleitet werden kann, auch wenn sie, wie Raschi hinzufügt, an die Auferstehung glauben. Es geht hier offensichtlich darum, den Offenbarungsrang der traditionellen Auslegungen -deren Verächter die „Epikuräer“ nach einer talmudischen Worterklärung sind -neben, ja wie in dieser Mischnah, noch vor der Schrift zu sichern.
Das achte der dreizehn Dogmen *des Moses Maimonides ist das Prinzip der Verbalinspiration der Torah. Jeder Jude hat zu glauben, daß die Torah in der vorliegenden Form göttlichen Ursprungs ist, und daß Moses sie wie ein Sekretär unter dem Diktat Gottes verfaßt hat. Alle Verse der Schrift seien göttlich und gleichrangig. Der scheinbar nebensächliche Vers: „Tirana war das Kebsweib des Eliphaz“ (1 Mose 36, 12) aus den Genealogien der Genesis wiege nicht leichter als die scheinbar hauptsächlichen Verse: „Ich bin der Ewige dein Gott ...“ (5 Mose 5, 6) oder: „Höre Israel! Der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist Einer“ (5 Mose, 4, 6). Wer einen Unterschied macht zwischen Schale („Qlipah“) und Kern („Lew“) der Torah, zwischen nützlichen und unnützen Stellen, kurz, wer die integrale Göttlichkeit der Torah leugnet, muß als Erzketzer betrachtet werden („Kofer ... joter mikol ha-kofrim“).
Die fundamentalistische Auffassung der Schrift hat, nebenbei bemerkt, auch überraschende hermeneutische Konsequenzen. Verse, wie der angeführte 1 Mose 36, 12, werden zur Stütze für wichtige erbauliche Belehrungen herangezogen (b Sanhedrin 99b), während z. B. das Gebot der Nächstenliebe (3 Mose 19, 8), nach christlichem Verständnis ein zentraler Vers (Mark 12, 28-31; Röm 13, 9; Gal 5, 4), eher für spezielle halachische Schlußfolgerungen etwa strafrechtlicher Art herangezogen wird (b Sota 8b u. a.). Dieser Dezentralisierung der Schrift entspricht eine gleichsam an-archische Exegese, die im Midrasch begegnet. Das heben Apologeten, die in der modernen Literatur-theorie bewandert sind, immer wieder mit Genugtuung hervor Doch sollte man nicht vergessen, daß Moses Maimonides sein Dogma der Verbalinspiration eben nicht nur auf die heilige Schrift, sondern auch auf ihre traditionelle Auslegung der mündlichen Torah bezieht und, mit gewissen Einschränkungen gegenüber maximalistischen Formulierungen der Tradition, zu „verba dei non scripta“ erklärt. Ein bekannter Ausspruch im Talmud hatte jede logische und analogische Schlußfolgerung der Rabbiner aus der Schrift, ja jede exegetische Subtilität für göttlich erklärt (b Sanhedrin 99a). Demgegenüber unterscheidet Moses Maimonides in dem realistischeren Bild, das er von der Tradition in der Einleitung zu seinem Kodex entwirft, mündliche Lehren göttlichen und menschlichen Ursprungs. Schlußfolgerungen, die vermittels der 13 hermeneutischen Regeln („Schalosch-ässreh middot“) gewonnen werden, sind meist menschlichen Ursprungs, wenn sie nicht ausdrücklich als Überlieferungsgut vom Sinai gekennzeichnet sind, für das nur eine zusätzliche exegetische Stütze beschafft worden ist
Maimonides vertritt also nicht die romantische Vorstellung, die im 19. Jahrhundert etwa von Samson Raphael Hirsch (1808-1888) propagiert wurde, nach der die ganze Tradition in der Schrift eingefaltet enthalten ist und vermittels der exegetischen Regeln nach und nach entfaltet wird; er beweist einen Sinn für die Geschichtlichkeit der rabbinischen Entscheidungen und der exegetischen Arbeit. Obschon menschlichen Ursprungs, sind sie aber aufgrund von 5 Mose 17, 11: „Nach der Belehrung, die sie dir geben, und nach der Rechtsentscheidung, die sie dir sagen, sollst du handeln ...“ gleichwohl verbindlich. In seiner Häresiennomenklatur (MT 1. 5. 3. 8) werden solche, die die Autorität der traditionellen Schrifterklärung nicht anerkennen und die Torah frei nach ihrem Gutdünken gegen die geltende Erklärung auslegen, als Leugner der Erklärung („Kofer beferuschah“) bezeichnet und mit den Sadduzäern und Karäem, gewissermaßen die jüdischen Protestanten des Altertums und des Mittelalters, identifiziert Das Dogma der Verbalinspiration bezieht sich also auf die Torah in beiderlei Gestalt und entspricht eher einem Fundamentalismus katholischen als protestantischen Typs. Die mündliche Lehre ist jedenfalls weitgehend verschriftlicht und gerade Moses Maimonides gedachte sie in seinem Kodex eindeutig und endgültig zu fixieren Die exe-und exegetischen Freiheiten der Rabbiner, der Interpretationspluralismus im rabbinischen Schrifttum, stellt also keinesfalls, entgegen der Reklame zeitgenössischer Apologeten, eine Lizenz für die freie Auslegung der Schrift dar
Moses Maimonides hat das Dogma der Verbalinspiration nicht erfunden, er gibt nur die einschlägigen talmudischen Quellen teilweise wörtlich wieder. Er hat aber als Dezisor und Kodifikator die talmudischen Diskussionsbeiträge normiert und gerade seine Dogmen in ganz unerhörter Weise sanktioniert. Am Ende seiner Aufzählung der dreizehn Dogmen des Judentums („Schloscha Assar Jessodot“ oder „Iqqarim“) schreibt er: Wer sie glaubt, gehört, wenn er auch sonst ein Sünder ist, dem Judentum an, hat Anspruch auf Brüderlichkeit und Nächstenliebe und Anteil an der Seligkeit; wer eines dieser Dogmen leugnet, ist dagegen ein „Min“, ein „Epikoros“, ein Leugner der Prinzipien“ („Kafar baiqqar“), er ist kein, Jude mehr, verwirkt seinen Anteil an der Seligkeit, und es sei ein Gebot, an seinem Untergang zu arbeiten
Sobald Verstöße gegen den rechten Glauben als rechtliche Tatbestände erkannt und anerkannt werden, stellt sich die Frage nach den religionsgesetzlichen Folgen. Was ist z. B. zu tun, wenn ein Ketzer ein heiliges Buch abschreibt? Muß es, wie sonst schadhafte oder verbrauchte Bücher, begraben werden? Ist ein von ihm rituell geschachtetes Tier zum Genuß erlaubt? Ist eine Fundsache zurückzuerstatten? Besteht die Pflicht, ihn aus Lebensgefahr zu retten? Was geschieht, wenn er stirbt? Wie wird er begraben? Solche und ähnliche Fragen müssen jetzt entschieden werden. Aber wie?
Da im Alten Testament keine heilsnotwendigen Glaubens-und Bekenntnissätze wie im Neuen Testament (Röm 10, 9) verkommen *und daher auch keine Strafen für doktrinale Vergehen vorgesehen sind, fehlt zunächst eine Quelle für solche religionsgesetzlichen Entscheidungen. Die Fixierung, Formulierung, Normierung und Sanktionierung von Glaubenssätzen ist dem Glaubensverständnis der hebräischen Bibel fremd. Daß z. B. Gott existiert, muß nicht bekannt, geglaubt und beschworen werden; das weiß und erfährt jeder in der biblischen Welt. Wer es dennoch leugnet, ist bloß ein Tor, kein Verbrecher (Ps. 13, 1). Dagegen gilt aber die Untreue gegen Gott, die Verehrung fremder Götter als Hauptsünde und Verbrechen. In seinem Kodex stellt nun Moses Maimonides einen Zusammenhang zwischen dem dogmatischen Unglauben und dem Götzendienst her (MT 1. 4. 2. 3 und 5) und gewinnt so eine Handhabe für religionsgesetzliche Entscheidungen in einer Zeit, in der der Unglaube sicher ein größeres Problem als der Götzendienst darstellte.
Minäer und Epikuräer gelten als potentielle Götzendiener und stehen auf der Skala der religiösen Verbrechen mit den Apostaten, Demagogen, Denunzianten, Despoten usw. auf der tiefsten Stufe (MT 1. 5. 3. 8), tiefer noch als heidnische Götzen-diener (MT 10. 1). Entsprechend drastisch fallen Moses Maimonides’ Entscheidungen aus. Wenn ein Epikuräer eine heilige Schrift niederschreibt, der an die Heiligkeit der Schrift gerade nicht glaubt und sie für ein Buch unter anderen hält, dann ist auch die Schrift unheilig und muß samt der darin vorkommenden, sonst jedes Schriftstück unzerstörbar machenden Gottesnamen verbrannt werden (MT 1. 1. 6. 8 und 2. 3. 1. 13); ein von ihm geschachtetes Tier gilt als Aas (MT 5. 3. 4. 14), sein Zeugnis ist ungültig (MT 14. 2. 11. 10), es ist sogar verboten eine ihm gehörende Fundsache zurückzuerstatten (MT 11. 3. 11. 2-3), nicht nur sein Eigentum auch sein Leben ist ungeschützt, er ist vogel-frei (MT 1. 5. 4. 10 und 14. 3. 3. 1), und wenn der Ketzer endlich umgekommen ist, dann soll sich seine Familie weiß kleiden und das Verschwinden des Gottesfeindes feiern (MT 14. 4. 1. 10).
Diese drakonischen Gesetze gegen den Unglauben sind nicht angewandt worden Vielleicht wurden die Ketzer von Amsterdam -Uriel Acosta und Baruch Spinoza -nach ihnen verurteilt. Sie stellen, wie auch sonst die halachischen Strafmaße, eher eine Metrik dar, die es erlaubt, die Schwere eines Vergehens einzuschätzen. Die Epikuräer, die Minäer sind nach Moses Maimonides wörtlich Frei-geister („Hem hatarim achar machschewot libam“ MT 1. 4. 2. 5), die die Autorität der Torah in beiderlei Gestalt, wie auch alle anderen Fundamente der göttlichen Verfassung, leugnen und ungebunden und frei darüber urteilen. Diese Möglichkeit erschreckte den Law-and-order-Denker, der Moses Maimonides auch war: wenn jeder dächte, was er wollte, ginge die Welt unter (MT 1. 4. 2. 3.)! Für ihn, der sich als Kodifikator einer endgültigen Verfassung Israels verstand, waren die Freigeister schlicht Verfassungsfeinde, hors la loi im eigentlichen Wortsinn, die den gesetzlichen Schutz und das Verfahren, die jedem gewöhnlichen Kriminellen zustehen, nicht in Anspruch nehmen können. Da es sich zudem um eine göttliche Verfassung handelt, ist eine Berufung auf übergesetzliche Rechte des Individuums gegen die Autorität des positiven Gesetzes nicht möglich.
Resümierend kann festgestellt werden, daß bei Moses Maimonides alle Merkmale des Fundamentalisten vereinigt sind: er ist buchstabengläubig, dogmatisch, intolerant, um nur die dominanten Merkmale zu nennen. Es entsteht das düstere Bild eines jüdischen Inquisitors. Das ist verwunderlich, wenn man bedenkt, wie schlecht sein Ruf bei den Traditionalisten und wie gut sein Ruf bei den Aufklärern stets gewesen ist Wie wenig die Etikette „Fundamentalist“ auf ihn paßt, läßt sich gerade am Dogma der Verbalinspiration zeigen. Der Inquisitor verwandelt sich unversehens in einen Aufklärer. Das belegt, wie unzulänglich unsere Maßstäbe und wie ambivalent die Berufung auf die Tradition sind.
2. Die Vernunft in der Offenbarung
Schon in der Formulierung des Dogmas der Verbalinspiration zeichnen sich die Bruchlinien in der fundamentalistischen Mauer ab. Da heißt es zunächst kompromißlos, daß die ganze Torah, so wie sie vorliegt, aus dem Munde Gottes („Mipi hagewurah“) Mose mitgeteilt wurde. Das Mittel dieser Mitteilung nenne man bildlich („al-däräch haschalah“): Wort („Dibbur“). Die Rede vom Wort Gottes ist also nur ein Bild! Gott ist in Wirklichkeit ein nicht körperliches Wesen, das keine Sprachwerkzeuge hat, das nicht spricht (MN L 46) Wie sind die unzähligen biblischen Stellen aufzufassen, die von den Ansprachen und Ansprüchen Gottes berichten? Sie erklären sich, wie Moses Maimonides in seinem philosophischen Hauptwerk, dem „Führer der Verirrten“, ausführt, aus der Doppelsinnigkeit der hebräischen Verben „reden“ („Dabber“) oder „sprechen“ („Amar“). Sie bezeichnen auf der einen Seite das gewöhnliche, äußere Reden und Sprechen, auf der anderen Seite aber auch das innere Gespräch, den Monolog der Seele mit sich selber, das Denken, das Meinen, das Wollen (MN 1, 65). So sind alle fraglichen Stellen, immerhin die wichtigsten biblischen Texte, im übertragenen Sinn zu verstehen. Mit den sinnlichen Bildern sollen die sinnlichen Menschen zur Annahme einer Kommunikation zwischen Gott und Mensch geführt werden („Hujscheru“ MN 1, 46). Eigentlich kann es sich dabei aber nur, entgegen dem buchstäblichen Sinn der Schrift, um eine spirituelle Kommunikation handeln. Nach der gleichen Methode der Allegorese paßt Moses Maimonides mit wenigen Ausnahmen alle Schriftstellen der zeitgenössischen modernen Wissenschaft -dem arabischen Aristotelismus -an, die ja in der philosophischen Gotteslehre gründet und gipfelt. Eine seltsame Vemunftehe von buchstabengläubigem Fundamentalismus und spiritualistischem Rationalismus!
Der Sinn dieser Verbindung wird deutlich, wenn man Maimonides’ Analyse der Sinai-Perikope, auf die sich auch das „fundamentalistische“ Responsum bezieht, unter die Lupe nimmt. In seinem Kodex insistiert er wie die ganze jüdische Tradition auf dem öffentlichen Charakter der Offenbarung am Sinai (MT 1. 1. 8. 1-2). Obwohl er auch hier nicht von der öffentlichen Bekanntgabe des Dekalogs, sondern nur von der öffentlichen Investitur des Propheten spricht, räumt er immerhin ein, daß alle Anwesenden Ohrenzeugen des göttlichen Rufes gewesen sind („Weanu schomim: Mosche, Mosche ...“). Was bleibt von diesem Ereignis übrig, wenn man an es den Maßstab der Theoprepes, der Gottwürdigkeit der philosophischen Theologie, anlegt?
In seinem philosophischen Werk nimmt er dann auch das Zugeständnis wieder zurück. Die Rede erging an Moses alleine („Awal ha-dibbur lemosche lewado“, MN 11, 33). Das Volk hörte nur eine Stimme („Kol“), einen unartikulierten Schall, den Mose, der allein Worte vernommen hatte, aus-buchstabieren mußte, die biblische Erzählung der Offenbarung (2 Mose 19-20), der in der zweiten Person konjugierte Dekalog, sowie diverse Zitate aus der Tradition unterstützen diese Auffassung. Das Volk hat also nur eine Stimme und nur Mose eine göttliche Rede als spirituelle Eingebung vernommen. Das Phänomen muß weiter analysiert werden. Die göttliche Stimme, ein furchterregender Schrei, sozusagen der den Dekalog untermalende Befehlston pur (2 M 20, 20-21), sei nur ein einziges Mal erschollen, alle übrigen optischen und akustischen Phänomene seien nichts als ein natürliches Gewitter gewesen, Schall und Rauch. Das Residuum dieser Analyse, der erschreckende Schrei Gottes, kann allerdings nicht weiter destilliert und subtilisiert werden. Es bleibt ein, wie Moses Maimonides ausdrücklich sagt, singuläres Ereignis. Aber da Gott sowenig schreien, wie er sprechen kann, handelt es sich bei diesem unerklärlichen singulären Ereignis nicht um einen Ausdruck, sondern um ein Geschöpf Gottes, so unerklärlich wie die ganze Schöpfung selbst, in der nach Moses Maimonides allerdings auch alle singulären Ereignisse vorprogrammiert sind (MN 11, 33, 11, 25, 11, 29). Hier erst stößt die Rationalisierung des Offenbarungsberichts an eine Grenze. Man könnte einwenden, es sei eine petitio principii, den Rationalismus bei einem bekannten Rationalisten nachzuweisen. Aber auch der als fideistischer Antipode gefeierte Jehuda Hälevi (vor 1075-1141) hat fast mit den gleichen Worten das Offenbarungsereignis spiritualisiert Inhaltlich geht Moses Maimonides einen entscheidenden Schritt weiter.
Es gibt nämlich Stimmen in der Tradition, die behaupten, das ganze Volk hätte am Sinai zumindestens die beiden ersten Gebote: „Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus dem Lande Ägypten geführt...“ (2 Mose 20, 2) und „Du sollst keine anderen Götter haben ...“ (ebd. 3) gehört (b Makkot 24a, Horajot 8a). Moses Maimonides faßt diese beiden ersten Gebote als Glaubensgebote, als Verkündigung der Dogmen des Monotheismus auf und stellt sie an die Spitze seiner Dogmatik Aber gerade diese beiden Gebote sind keine Gehorsamsgebote („Schimijot“), sondern Vernunft-gebote („Sichlijot“). Der Mensch ist zur Erkenntnis der Existenz und der Einheit Gottes von Natur aus befähigt und nicht auf eine übernatürliche Offenbarung angewiesen. Abraham ist nach der jüdischen und übrigens auch islamischen Tradition der Typus des vernünftigen Gottsuchers, der in einer Zeit allgemeiner Gottesvergessenheit Gott in der Schau des Kosmos wiederentdeckt Daraus erhellt sich nun für Moses Maimonides der Sinn der rabbinischen Apologe, das ganze Volk -nicht nur Mose -habe die ersten beiden Gebote vernommen. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß das ganze Volk diese Gebote kraft natürlicher Vernunft hätte vernehmen können, wenn es sie auch tatsächlich kraft positiver Offenbarung durch den Propheten vernommen hat. Die Dogmen, wenigstens die dogmatischen Gebote des Dekalogs, sind gleichzeitige autoritäre Aussagen der positi ven Religion und vernünftige Aussagen der Vernunftreligion. Zwischen der positiven und der natürlichen Theologie gibt es nur einen formalen Unterschied: Die vernünftigen Aussagen werden für das Volk autoritär verkündet.
Nun kann Moses Maimonides die beiden scheinbar gegensätzlichen Interpretationen der Sinai-Perikope zusammenfassen: Die furchterregende göttliche Stimme vom Sinai, die alle hörten, enthielt unhörbar das vernünftige monotheistische Credo. Sie wies auf die Existenz und die Einheit Gottes bloß hin, und Mose mußte sie dem Volk verständlich machen. Das sagt auch etwas über den Sinn der Dogmen bei Moses Maimonides aus. Anders als bei den jüdischen Dogmatikern des späten Mittelalters, wie Chasdai Kreskas (ca. 1340-1410), Josef Albo (ca. 1380-1444), Isaak Abrawanel (1437-1508), die im Abwehrkampf gegen die christliche Mission und die aufklärerische Philosophie standen, ist für Moses Maimonides die Dogmatik keine spezielle Axiomatik des Judentums im Gegensatz zum Christentum und zur Philosophie, sondern eine pädagogische Vorbereitung oder ein Ersatz für die Vemunftreligion.
Moses Mendelssohn, der offen und entschieden den aufklärerischen Standpunkt der natürlichen Vernunftreligion vertritt, wirft Moses Maimonides vor, daß die „Donnerstimme und der Posaunen-klang“ niemand von jenen Dogmen überzeugen konnte, der nicht schon zuvor, etwa während der dreitägigen Vorbereitung (2 Mose 19, 11), über die „einzige, ewige Gottheit“ aufgeklärt worden sei. Eine furchterregende Stimme kann allenfalls „niederschlagen, aber nicht eines besseren belehren“ Hinter der Kontroverse über die Sinai-Perikope verbirgt sich der Unterschied zwischen einem elitären Aufklärer, der die Vemunftreligion dem unvernünftigen Volk autoritär vorschreiben und als unantastbares Fundament der Religion mit furchterregenden Gesetzen absichem will, und einem populären Aufklärer, der auf die natürliche Vernunft der Menschen vertraut, aber auch in bezug auf die positiven Inhalte und Formen der jüdischen Religion alle Droh-und Strafmittel der Kirchen-zucht aufgehoben wissen will Es ist aber bei Moses Maimonides unübersehbar, wie die fundamentalistischen Deklarationen von der Verbalinspiration der Schrift und der Tradition, die bei ihm vor allem als opportune Zitatencollage figuriert, mit exegetischen Mitteln spiritualistisch und rationalistisch zurückgenommen wird. Unter Zensurbedingungen operiert die Aufklärung unauffällig mit den Zweideutigkeiten des herrschenden, heiligen Textes. Eine nützliche Tradition in einer Zeit, in der die Gegenaufklärung einen eindeutigen heiligen Text propagiert.
Die eben dargestellte Spiritualisierung und Rationalisierung gilt nach Moses Maimonides zunächst nur für die beiden ersten Gebote des Dekalogs; die folgenden Gebote sind nicht theoretische, sondern praktische Weisungen, die sich die Vernunft nicht selber vorschreiben kann, es sind autoritäre Gesetze, die gehorsam angenommen werden müßten und bloß konventionell gelten („Mekubalot“, „Mefursamot“) Die Tradition scheint hinsichtlich der Autonomie der praktischen Vernunft großzügiger. In einer berühmten Talmud-Stelle (bJoma 67b) heißt es, daß die Verbote des Götzendienstes, der Unzucht, des Blutvergießens, des Raubes, der Blasphemie, die ja auch im Dekalog Vorkommen, geschrieben werden müßten, wenn sie nicht geschrieben worden wären. Es handelt sich also hierbei um ein ungeschriebenes natürliches Gesetz, ein nomos agraphos, das auch gälte, wenn es nicht positiv offenbart worden wäre Nicht zufällig stimmt diese Liste mit der Liste der sogenannten noachidischen Gebote (b Sanhedrin 56a-b), die exegetisch aus dem Gebot an Adam (1 Mose 2, 16) gewonnen werden, also eine Art Uroffenbarung für alle Menschen darstellen, fast vollständig überein. Das ist auch der Maßstab für den Anteil der Frommen der Völker der Welt („Chassidei umot ha-olam“), der anderen Religionen am Heil; darauf beruht die jüdische Toleranz gegen Nichtjuden.
Moses Mendelssohn konnte dem aufdringlich missionierenden Lavater antworten, er habe es nicht nötig, sich zu verteidigen, da das Judentum nicht exklusivistisch sei: „Die ihren Lebenswandel nach den Gesetzen der Religion, der Natur und der Vernunft einrichten, werden . tugendhafte Männer 1 von anderen Nationen genennet und diese sind Kinder der ewigen Seeligkeit“ Hier liegt aber zugleich auch der Ansatzpunkt für die christliche Unterscheidung eines allgemeinen natürlichen Gesetzes (Römer 2, 14ff.), das mit dem Dekalog übereinstimme von dem im allgemeinen ungültigen positiven Gesetz der Torah (Gal 5, 5; Eph 2, 11-21; AG 10). Obwohl Moses Maimonides in bezug auf die acht praktischen Imperative des Dekalogs eine positivistische Haltung einnimmt und an einer heiß umstrittenen Stelle die lexnaturalistische Interpretation der noachidischen Gebote sogar ausdrücklich ausschließt hat er im dritten Teil seines philosophischen Werkes eine durchgängige Rationalisierung und sogar historische Relativierung der 613 Gebote und Verbote der Torah vorgenommen.
Diese Zweideutigkeit von Moses Maimonides ist den eigentlichen Fundamentalisten nicht verborgen geblieben. Isaak Abrawanel hat am Ende des Mittelalters die ganze mittelalterliche Dogmendiskussion zusammengefaßt In zweiundzwanzig von vierundzwanzig Kapiteln seines Werkes über die Glaubensprinzipien verteidigt er Moses Maimonides gegen die Angriffe der jüdischen Dogmatiker des 15. Jahrhunderts, die anderer Meinung über Sinn, Umfang und Anzahl der Dogmen waren. Im dreiundzwanzigsten Kapitel vollzieht er eine ebenso erstaunliche wie zeittypische integristische Wende. Die Formulierung von Dogmen -als begriffliche Fixierung der Glaubensinhalte immerhin Ausgangspunkt der religionsphilosophischen Reflexion und leider auch oft ihr Endpunkt -sei unjüdisch, eine Folge der Orientierung am logischen Aufbau der Wissenschaft. Diese geht von nichthinterfragbaren Grundsätzen aus, um die Haupt-und Folgesätze daraus abzuleiten. Ein solches Beweisverfahren ist aber bei der Torah, die gläubig angenommen werden soll, unangebracht. Alle Sätze sind gleichrangig, gleichwertig und gleich wahr. Wer den leisesten Zweifel anmeldet, und sei es auch nur eine Kleinigkeit, muß nicht rational überzeugt, sondern als Minäer und Epikuräer behandelt werden.
Isaak Abrawanel weist darauf hin, daß Moses Maimonides gerade diese Auffassung -zumindest als ein Lippenbekenntnis -in seinem achten Dogma vertreten hat. Warum, so könnte man fragen, warum hebt Maimonides dann einzelne Sätze und Gebote als Fundamentalsätze hervor? Wenn es stimmt, daß der Satz: „Ich bin der Ewige, dein Gott“ nicht wichtiger ist als der Satz: „Timna war das Kebsweib von Eliphaz“, warum bildet dann letzterer kein Dogma? Ist ein fundamentalistisches Dogma nicht ein Widerspruch in sich selbst? Übrigens ist auch der fundamentalistische Antidogmatismus widersprüchlich. Denn die Behauptung des exklusiven und integralen Wahrheitsanspruchs der Offenbarung ist offensichtlich eine dogmatische Setzung und kein Satz der Offenbarung. Da ist ein ausdrückliches Dogma schon redlicher. Solche Fragen wirft Abrawanel allerdings nicht auf. Er verteidigt Moses Maimonides: Seine Dogmatik habe nur eine pädagogische Funktion und ändere an seiner grundsätzlich integristischen Haltung nichts. Die Argumente des fundamentalistischen Anwalts des großen Aufklärers lassen ahnen, mit welchen Angriffen man bei seinen zahlreichen fundamentalistischen Anklägern zu rechnen hat, allen voran den Kabbalisten. Für sie sind die philosophischen Spiritualisierungen, Rationalisierungen und Relativierungen des Moses Maimonides eine unerträgliche Verfälschung der wahren Tradition („Kabbalah“), die noch in der materiellen Gestalt eines jeden Buchstabens der Schrift unerhörte Mysterien aufspürt.
Es wäre allerdings ungerecht, nun den Kabbalisten den Schwarzen Peter des Fundamentalismus zuzuschieben, wenn auch die unkritische Traditionshörigkeit, die Geheimniskrämerei und der Aberglaube für den Fundamentalismus im weiteren Sinn zweifellos einen fruchtbaren Boden abgeben. Gegen den Fundamentalismus im engeren Sinn hat aber gerade die Kabbala die eindrucksvollsten Bilder für das Primat der inspirierten Tradition vor dem leblosen Buchstaben der Schrift gefunden Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß diese spät ans Licht gekommene esoterische Tradition gegenüber der schriftlichen und der verschriftlichten mündlichen Torah gerechtfertigt werden mußte. In kühnen Metaphern wird hier die Schrift vollständig, bis auf einen sinnlosen und daher auch beliebig deutbaren Rest, in den Interpretationsprozeß aufgelöst, ja ausgelöscht Ein bekannter kabbalistischer Ausspruch legt das alte Gleichnis von der Torah, die mit schwarzem auf weißem Feuer geschrieben sei, im Hinblick auf das Verhältnis von schriftlicher zu mündlicher Lehre aus. Die schriftliche Torah ist in dieser Deutung paradoxerweise das unbeschriebene Pergament, die mündliche Lehre die Tinte, die sichtbare Schrift. Ohne die Aktualisierung in der mündlichen Lehre bleibt die Schrift pure Potentialität, ist eigentlich gar nicht da. Das ist eine völlige Umkehrung der fundamentalistischen Anschauung: Die Schrift ist keine eindeutige und unwandelbare Berufungsinstanz, die Tradition legt sie in ihrem Be stand und ihrem Sinn überhaupt erst fest. Die mündliche Torah emanzipiert sich vollständig von der schriftlichen Torah; die uns bekannte Schrift wird zu einem Abfallprodukt der lebendigen Tradition. An die Stelle der einmaligen Offenbarung tritt eine dauernd sich erneuernde Offenbarung, eine revelatio continua. Die Verabsolutierung der Tradition verleiht dem rabbinischen Verbot, die mündliche Lehre aufzuschreiben eine tiefe Bedeutung: „Sie (die Tradition) wandelt sich selber mit der Zeit, in der immer neue Facetten des Sinnes aufleuchten ... und sie ist ihrem mystischen Sinne nach eben deshalb mündliche Torah, weil jede Verfestigung im Schriftlichen gerade das unendlich Bewegte, dauernd Fortschreitende und sich Entfaltende in ihr behindern und zerstören würde, weil sie es versteinern ließe.“
III. Die moderne jüdische Identität und der Fundamentalismus
Es ist im modernen jüdischen Denken umstritten, ob das Judentum überhaupt Fundamente habe. Gibt es nicht unverwechselbare und unverzichtbare jüdische Inhalte und Werte? Folgt man Moses Mendelssohn, der für das moderne jüdische Selbstverständnis wegweisend war, so ist das nicht der Fall Das Judentum sei kein besonderer Glauben, schreibe keine besondere Lehre vor und fordere daher weder Rechtgläubigkeit (Orthodoxie), noch bestrafe es Irrlehren (Heterodoxie). Weltanschaulich lehre das Judentum vielmehr das gleiche wie die allgemeine Vemunftreligion, nämlich eine göttliche Welt-und Wertordnung, vor der sich der Mensch moralisch verantworten muß. Allerdings zeichne sich das Judentum durch eine besondere geoffenbarte Lebensordnung aus, verpflichte zu einem besonderen Kult, der auch die Inhalte und Werte der Vemunftreligion, wenn auch auf besondere Weise, versinnbildliche verlange strenge Observanz dieser Lebensordnung (Orthopraxie), wenn es auch die Heteropraxie nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit nicht mehr ahnde Im Gegensatz zum Christentum, das zum Glauben an über-oder widernatürliche Dogmen verpflichte, lasse das Judentum die Gedanken frei, was sich in seiner „ursprünglichen“ Verfassung in der Mündlichkeit, der Offenheit, der Flexibilität und Pluralität der mündlichen Lehre spiegele; es reglementiert aber streng das religiöse Verhalten: „Die Gesetze leiden keine Abkürzung. In ihnen ist alles fundamental, und insoweit können wir im Grunde sagen: uns sind alle Worte der Schrift, alle Verbote und Gebote Gottes fundamental.“
Für die aufgeklärten christlichen Zeitgenossen Moses Mendelssohns war ein aufgeklärter Jude ein Unding. Den Deisten Shaftesbury, Morgan, Tindal, Voltaire, Reimarus, Kant u. a. diente das Judentum als naheliegendes Beispiel einer rückständigen, ignoranten und intoleranten Religion. Um so fortschrittlicher und toleranter -und zwar wie stets im umgekehrten Verhältnis -schien ihnen das Christentum Es hat auch öffentliche Aufforderungen zur Bekehrung gegeben. Die Antwort Moses Mendelssohns war seine aufklärerische Rechtfertigung des Judentums. Dabei dreht er das Verhältnis von Judentum und Christentum genau um. Er betont die liberalen Züge des Judentums strikter Observanz im Gegensatz zu den dogmatischen, totalitären Zügen des Christentums. Nicht das Christentum, das den Menschen einen absurden Glauben aufzwinge, sondern das Judentum komme der aufklärerischen Vernunftreligion am nächsten. Es kann sich bei Wahrung der fundamentalen kultischen Differenz ohne religiöse Bedenken die moderne Bildung aneignen und bürgerliche Gleichstellung anstreben.
Mit dieser Formel gedachte Moses Mendelssohn den Graben zwischen geschichtlicher jüdischer Identität und Moderne zu überwinden. Sie ist jedoch zu sehr auf seine eigene Situation im Berlin Friedrichs des Großen zugeschnitten, als daß sie Allgemeingültigkeit beanspruchen könnte. Sie spiegelt genau die Verbindung von jüdischer Observanz und deutscher Aufklärung wider, die Moses Mendelssohn geradezu idealtypisch verkörperte. Der Dualismus von Gesetzesgehorsam und Gedankenfreiheit erinnert auch an die Regierungsmaxime seines Königs im Umgang mit den Intellektuellen: Laßt sie räsonieren soviel sie wollen, wenn sie nur gehorchen. Die Formel Moses Mendelssohns -kulturelle Assimilation und kultische Differenz -war außerdem schnell überholt. Die Reformer, die aus dem Mendelssohn-Kreis hervor-gingen, entsprachen den Erwartungen, als sie seine Formel umkehrten und an deren Stelle die äußere gesellschaftliche Assimilation bei Erhaltung der inneren konfessionellen Differenz setzten. Die Liturgie-und Traditionsreformen im 19. Jahrhundert sollten das Gewicht der jüdischen Identität vom sichtbaren auf den unsichtbaren Unterschied verschieben. Alle Reformer verwarfen die „mendelssohnsche Phrase“ (Abraham Geiger) von der theologischen und weltanschaulichen Neutralität des Judentums. Die Verbindlichkeit der traditionellen jüdischen Lebensweise, die Moses Mendelssohn bekräftigt hatte, stellte ein Hindernis für die vollständige Assimilation dar. Die doktrinalen Differenzen lassen sich dagegen leichter einebnen. Zumal es sich bei dem jüdischen Katechismus der Reformer nicht um ein absurdes Credo handelt, sondern um Platitüden wie den ethischen Monotheismus, der geschichtlich bereits universalisiert worden ist oder messianisch bald universalisiert werden wird. Wie wenig die Formel Moses Mendelssohns taugte, zeigt auch die Tatsache, daß alle seine direkten Nachkommen die totale innere und äußerliche Assimilation durch die Taufe vollzogen haben. Obwohl die Formel Moses Mendelssohns für eine jüdische Existenz in der modernen Welt allenfalls in der neoorthodoxen Formel: „Torah im derech erez“ (Torah verbunden mit allgemeiner Bildung) eine Entsprechung fand hat seine Apologie des Judentums, insbesondere auch seine Darstellung der mündlichen Torah, Schule gemacht. Die Zitate, die er aus der Tradition beibringt, um ihre Toleranz, ihren Pluralismus, ihren Liberalismus, ihre Aufgeklärtheit zu belegen, begegnen in der jüdischen Apologetik der unterschiedlichsten Richtungen. Die jüdischen Intellektuellen, die Anfang der achtziger Jahre von den Abenteuern der Dialektik ad fontes zurückkehrten, fühlten sich nicht als Fundamentalisten, die Verrat an der Aufklärung begingen; ganz im Gegenteil, die jüdische Tradition erschien ihnen als die wahre Aufklärung gegenüber aufklärerischen Bewegungen, die sich als totalitäre Systeme entpuppt hatten. Besonders eindrucksvoll ist in dieser Hinsicht die „Umkehr“ der französischen jüdischen Intellektuellen aus der linksradikalen Szene um Jean-Paul Sartre im Anschluß an die „Lectures Talmudiques“ von Emmanuel Levinas der in den Kolloquien der jüdischen Intellektuellen französischer Sprache seit 1957 die antitotalitäre Botschaft des Talmud verkündet hat. 1. Fundamentalismus in Israel Mit der Gründung des Staates Israel haben fundamentalistische Strömungen ein neues Betätigungsfeld gefunden und seit dem Sechs-Tage-Krieg Schubkraft gewonnen. Dabei wirken sich vor allem zwei Faktoren aus:
Erstens der totalitäre Anspruch des orthodoxen Judentums. Die Religion wird nicht als Privat-oder Gemeinde-, sondern als Volkssache angesehen und eine strikte Trennung der theologischen und politischen Bereiche nicht anerkannt. Obwohl Israel ein säkularer Staat ist und ultraorthodoxe Gruppierungen die Staatsgründung nach wie vor als Einmischung in die göttlichen Pläne verurteilen, liegt es auf der Hand, daß das souveräne jüdische Gemeinwesen auf Dauer zu einem unbegrenzten Betätigungsfeld für die innere Mission werden wird.
Mit dem totalitären religiösen Anspruch ist, zweitens, ein für den jüdischen Fundamentalismus im heutigen Israel charakteristischer messianischer Anspruch eng verbunden. Eine messianische Absicht spielte bei der Staatsgründung zwar keine Rolle. Aber da sich die uralte messianische Hoffnung auf eine Restauration des israelitischen Reiches und der nüchterne politische Zionismus auf das gleiche Objekt beziehen, konnte es nicht ausbleiben, daß, wie Gerschom Scholem schrieb, der „utopische Rückzug auf Zion... von Obertönen des Messianismus begleitet“ wurde. Es kann auch gar kein Zweifel daran bestehen, daß der Anklang des zionistischen Projekts bei den jüdischen Massen durch sein messianisches Echo verstärkt wurde und die dadurch freigesetzten Energien auch verborgenen messianischen Potentialen zu verdanken sind.
Neben diesen Kryptogrammen messianischer Motivationen gab es aber von Anfang an auch eine ausdrücklich messianologische Deutung des Zionismus, die im gegenwärtigen theologisch-politischen Fundamentalismus in Israel zum Tragen kommt. So hat bereits der Thomer Rabbiner Zwi Hirsch Kalischer in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, lange vor dem Erscheinen von Theodor Herzls „Judenstaat“, gegen den vorherrschenden Quietismus der Orthodoxie die Siedlung in Palästina als Beginn der Erlösung der Juden und der Menschheit gedeutet Darin ist ihm der erste Oberrabbiner von Palästina, Abraham Isaak Kook, in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts gefolgt. In den Augen dieses Mystikers dient der säkulare Zionismus -gleichsam von einer „invisible hand“ geleitet -wider Willen dem messianischen Ziel, die Rückkehr der Juden in das verheißene Land zu bewerkstelligen Sein Sohn Zwi Jehuda Kook hat diese diffuse messianologische Dimensionierung des Siedlungswerkes nach der Eroberung der Westbank, des biblischen Judäa und Samaria, auf eine handfeste „Ganz-Israel“ -Ideologie verengt und die bewußte Verschmelzung des Heiligen Volkes mit dem verheißenen Heiligen Land zu einer religiösen Pflicht gemacht. In seiner 1974 in der „Jerusalem Post“ veröffentlichten „Erklärung an die Welt“ heißt es: „Alle Völker der Erde sollen erkennen, daß dieses Land vollständig uns gehört und daß es auch in seinen einzelnen Teilen unveräußerlich ist.“
Seine Schüler und Anhänger, die „Gusch Emunim“, der „Block der Getreuen“, rechtfertigen die Landnahme und Besiedlung der besetzten Gebiete fundamentalistisch aus den biblischen Landverheißungen und versuchen, mit der Bibel als Grundbuch, politische und militärische Entscheidungen -etwa über den zukünftigen Grenzverlauf -zu beeinflussen
Den Gegenpol zu den radikalen religiösen Zionisten bildet die antizionistische schwarze Orthodoxie litauischer und chassidischer Herkunft. Zum zionistischen Staat nehmen die politischen Parteien der schwarzen Orthodoxie eine vom Interessenkalkül diktierte pragmatische Haltung ein. Ilan Greilsammer hat die Organisationen und ideologischen Positionen dieser ungemein mannigfaltigen Orthodoxie untersucht
Daß die häufig unterstellte Gleichsetzung von religiösem und politischem Radikalismus in Israel keineswegs immer zutrifft, läßt sich z. B. an der Haltung des Philosophen und religiösen Integristen Jeschajahu Leibowitz (1934) und der von ihm inspirierten Friedensbewegung „Os we-schalom“ (Mut und Frieden) zeigen. J. Leibowitz ist der schärfste Kritiker der Gusch Emunim, und er mahnt penetrant zur Rückgabe der besetzten Gebiete. Wenn wir Leibowitz als Integristen bezeichnen, so soll das nicht bedeuten, daß er irgendeiner orthodoxen Richtung oder Partei in Israel zugerechnet werden konnte. Diese empfindet er als korrupte Sektierer, die sich den religiösen Herausforderungen, die die Staatsgründung mit sich gebracht hat, nicht stellen, den Staat in seiner gegenwärtigen Verfassung ablehnen und ablehnen müssen, sich aber gleichzeitig seiner zu eigennützigen Zwecken parasitär bedienen. Das erlaubt wiederum dem zionistischen Establishment, sich um eine echte Auseinandersetzung über den jüdischen Charakter des laizistischen Staates zu drücken. Als radikaler Integrist wünscht sich Leibowitz das Ende dieses auf gegenseitigen Vorteil bedachten laizistisch-klerikalen Stillhalteabkommens und eine klare Trennung von Staat und Religion. Nur so könne der längst fällige Kulturkampf ausbrechen, an dessen Ende zwar keine real existierende Theokratie stehen müsse, aber doch zumindest eine theokratische Opposition, die klare religiöse Optionen für den Staat Israel und für die Diaspora bereithält. Was Leibowitz dem vermeintlich religiösen Integrismus vorwirft, ist, daß er nicht integristisch genug sei, daß er mit einer jüdischen Lebensordnung, die den Bedingungen der Diaspora angepaßt ist, das öffentliche und staatliche Leben der Juden, das wichtigste Novum der letzten zwanzig Jahrhunderte, vernachlässige. Die integristische Haltung von Leibowitz in religionspolitischen Fragen hängt zweifellos mit seiner integristischen Auffassung des Judentums überhaupt zusammen. Das Judentum ist für ihn im wesentlichen eine Gesetzesreligion. Das Religionsgesetz, die „Halacha“, hat die Identität des Judentums geprägt, während in Glaubensfragen immer Differenzen bestanden haben und bestehen dürfen. Das Religionsgesetz integriert die religiösen Quellen zum Kanon, es bildet das Integral des jüdischen Lebens in all seinen Äußerungen und Veränderungen, es gewährleistet die Integration der jüdischen Gemeinschaft; keine Provinz des jüdischen Lebens, die nicht unmittelbar unter der Herrschaft des göttlichen Rechts steht. Versuche, das Judentum außerhalb dieses Reiches anzusiedeln, wie sie im europäischen Judentum im 19. Jahrhundert unternommen wurden, sind vom balachischen Standpunkt aus schlicht ein Abfall vom Judentum. Halachischer Integrismus bedeutet aber nicht, wie Leibowitz nachdrücklich betont, starrer Fundamentalismus. Ganz im Gegenteil! Die Halacha ist stets eine ebenso umfassende wie flexible und anpassungsfähige Form des jüdischen Lebens gewesen, vorausgesetzt, es gibt Dezisoren, die den Mut haben, von ihrer Autorität Gebrauch zu machen, und nicht in einen unzeitgemäßen Konservatismus erstarren. Die Halacha muß jüdische Wirklichkeit dauernd formen und nicht bedauern! Die dynamische Entwicklung der Halacha ist aber etwas ganz anderes als ihre Stützung oder Aufhebung, wie sie das Reformjudentum im Namen von halachafremden religiösen, moralischen, sozialen und politichen Prinzipien fordert Es gelang aber gerade den fundamentalistischen Strömungen wie den radikalen religiösen Zionisten in das ideologische Vakuum vorzustoßen, das der abgewirtschaftete politische Zionismus nach dem Jom-Kippur-Krieg Unterließ, weil sie einer rat-und richturigslosen israelischen Jugend jene nationale Aufbruchstimmung vermitteln, die für die sozialistische Pionier-und Siedlungsbewegung in der Aufbauphase des Landes charakteristisch war. Als überparteiliche Idealisten im Kampf um die nationale Sache sicherten sich die „Emunim“ auch die Duldung und Sympathie solcher Kreise, die sonst dem theologisch-politischen Fundamentalismus ganz fernstehen, die aber in der selbstlosen Hingabe der Siedlerbewegung nostalgisch eine Wiederkehr der Pionierzeit sehen. Seit den achtziger Jahren rekrutiert auch die schwarze Orthodoxie unter dem Einfluß einer weltweiten fundamentalistischen Welle Aussteiger aller Art. Besonders in Israel, aber auch in den großen Zentren der Diaspora bekommt der Fundamentalismus im weiten Sinn dieses Wortes verstärkt Zulauf. 2. Jüdischer Fundamentalismus in Deutschland?
Wie stellt sich die Situation in der Bundesrepublik dar? Kaum irgendwo ist seit den späten sechziger Jahren die Frage der jüdischen Identität so intensiv diskutiert worden wie unter den jüdischen Jugendlichen in Deutschland. Dafür gibt es viele Gründe und komplizierte Motivationszusammenhänge. Dazu nur zwei Beobachtungen: Die jüdische Identität im polizeitechnischen Sinn war für die Eltern-generation lebensgefährlich. Ein ungeniertes Ausleben der jüdischen Identität war für die Überlebenden gerade in Deutschland angstbesetzt. Jedenfalls war die jüdische Identität hier keine unproblematische Lebensform und wurde mit ganz verschiedenen Strategien versteckt, verdeckt, verstellt oder vertagt. So wurde für die erste und zweite Kindergeneration die Frage nach der jüdischen Identität dringend. Um so dringender, als junge Juden in den meisten sozialen Zusammenhängen „Unikate“ waren und als Vertreter des Opferkollektivs mit unverschuldeter Anerkennung, Ablehnung und Neugier bedacht wurden, oft ohne hinreichenden Rückhalt im Judentum. In dieser sozialpsychologisch prekären Lage, die sich in einer ganzen Reihe von Autobiographien spiegelt wurde die Frage nach der jüdischen Identität diskutiert und mit unspezifischen Antworten bedacht. Es wurden die in der jüdischen Welt allgemein gängigen Identitätsentwürfe -zionistische, traditionalistische und säkulare -übernommen. Diese Diskussion konnte den Eindruck vermitteln, daß die jüdische Identität etwas Beliebiges, Weiches oder Undefinierbares sei. Die Rückbesinnung auf die religiösen Quellen und Traditionen eröffnet dagegen die Möglichkeit einer vorgegebenen, harten und absolut definierten Identität. Der Boden für fundamentalistische Optionen ist aus diesen besonderen Gründen in Deutschland noch fruchtbarer als anderswo. Zudem importieren die jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik ihre Rabbiner und Religionslehrer von auswärts und sind so den herrschenden religiösen Strömungen in der jüdischen Welt unmittelbar ausgesetzt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Aktivität der Missionare („Schlichim“) der Sekte von Lubawitsch-Chassidim, die sich Missionstechniken der protestantischen Fundamentalisten der Vereinigten Staaten angeeignet haben, in den großen jüdischen Gemeinden. Es gibt aber auch zahlreiche Widerstände, die eine Prognose unsicher machen: eine in ihrer Zusammensetzung äußerst ungleiche jüdische Gemeinschaft; eine durchschnittliche Bürgerlichkeit, die dem religiösen Exzeß entgegensteht; eine starke Dominanz der politischen Führung im Vergleich zur religiösen Führung. Ein Indiz dafür, daß sich der allgemeine fundamentalistische Trend aber auch in den jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik durchzusetzen beginnt, ist z. B. die Haltung der jungen Vorstände der Kultusgemeinde München im Konflikt um den Rabbiner Pinchas Biberfeld. Das starke Identitätsmuster polarisiert, auch wenn es nur von einer Minorität repräsentiert wird, allmählich das soziale und ideologische Feld.