In Europa geht ein neues Gespenst um, das Gespenst des islamischen Fundamentalismus. Es ist allerdings nicht zu erwarten, daß es den europäischen Gesellschaften so viel Kummer machen wird wie jenes, das Karl Marx in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts beschworen hatte. Das neu entstehende Feindbild vom Islam hat wohl mehr mit der allgemeinen Unsicherheit in den westlichen Gesellschaften nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Welt zu tun als mit den tatsächlichen Gefahrenpotentialen, die von der islamischen Welt ausgehen. Nachdem nicht einmal mehr die „Ölwaffe“ als islamisches Kampfmittel zu gebrauchen ist bleibt als islamische Gefahr für die westliche Welt nur noch die ständige politische Unsicherheit der Region als Störfaktor langfristiger und steuerbarer Entwicklungen übrig. Die Instabilität des Nahen und Mittleren Ostens hat allerdings weniger mit dem Islam zu tun, als man annehmen möchte.
I. Zum Begriff des islamischen Fundamentalismus
Es muß nicht gesondert darauf hingewiesen werden, daß der Fundamentalismus ein weltweites Phänomen ist und über den religiösen Kontext im Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus weit hinausgeht. Als Fundamentalisten werden ja auch die alt-kommunistischen Hardliner in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) oder die Radikalaltemativen in der Grünen-Bewegung Deutschlands bezeichnet. Die vielfältige Verwendung des Begriffs zeigt aber, daß sich ein wissenschaftlicher Konsens über Inhalt und Bedeutung noch nicht eingestellt hat. Natürlich lassen sich auch unter Muslimen Gruppierungen ausmachen, die in ihren Denkstrukturen den biblizistischen christlichen Gruppen in den USA vergleichbar sind, die derartig ubiquitären Strömungen ihren Namen gegeben haben
Die islamischen Fundamentalisten gehen von der auch von allen anderen Muslimen akzeptierten Vorstellung aus, daß die Zeit, in der der Prophet Muhammad (gest. 632) in Medina die Gemein? schaft seiner Anhänger leitete, die Zeit war, in der jeder, der sich so verhielt, wie es der Prophet befahl, sicher sein konnte, daß er den Willen Gottes erfüllte und am Ende der Zeiten -beim Jüngsten Gericht -zu den Seligen gehören würde. Denn diese Gemeinde wurde durch die immer wieder erfolgenden Offenbarungen Gottes an den Propheten durch ihn direkt geleitet. Dies war das goldene Zeitalter des Islams. Der Koran, als unerschaffenes Wort Gottes, löste zumindest für die Zeitgenossen des Propheten alle religiösen Fragen, klärte aber auch alle Unsicherheiten hinsichtlich des rechten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhaltens. Auch heute noch wird die Autorität des heiligen Buches der Muslime in der gesamten islamischen Welt anerkannt. Wenn es auch aus dogmatischen Gründen keine Textkritik am Koran geben kann, so besteht doch die Möglichkeit einer umfangreichen Interpretationstätigkeit, die die Intentionen des Textes zwar nicht in sein Gegenteil verkehrt, ihm aber doch manchmal, zumindest nach westlicher Auffassung, Gewalt antut. Da die zivilisatorische Entwicklung auf der Arabischen Halbinsel nach dem Tode des Propheten nicht stehengeblieben ist, ergaben sich schnell neue Fragen hinsichtlich des rechten, des Gott wohlgefälligen Verhaltens in den sich verändernden Lebensumständen. Da Muhammad als sündenfreier Mensch galt, wurde sein Verhalten als idealtypisch angesehen, und Spezialisten sammelten alle Nachrichten, die über ihn zu erhalten waren. Ob diese Traditio-nen authentisch sind oder nicht, spielt hinsichtlich ihrer aktuellen Wirkung keine Rolle. Sie werden von der überwiegenden Zahl der Muslime als fast so autoritativ angesehen wie der Koran selbst.
Koran und Prophetentradition (Hadith) sind die entscheidenden und einhellig akzeptierten Rechtsquellen, auf denen das islamische Glaubens-und Gesellschaftssystem beruht. In der Folge entwickelten sich noch zwei sekundäre Rechtsquellen, Analogieschluß (Qiyas) und Konsens (Idjma’), deren Autorität jedoch von den wirklichen islamischen Fundamentalisten in Frage gestellt wird. Die Ablehnung der sekundären Rechtsquellen kann also als ein Indiz für einen tatsächlichen islamischen Fundamentalismus angesehen werden.
Der Vorbildcharakter des Propheten hat dazu geführt, daß Muslime sich nicht nur bemühen, in ihrem religiösen und moralischen Leben dem Beispiel Muhammads zu folgen, sondern ihm auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild nacheifern. So führen manche Muslime ihre Barttracht auf den Propheten zurück. Von den Sicherheitsbehörden vieler Staaten, die sich mit radikalen Muslimgruppen auseinanderzusetzen haben, wird der Bart als äußeres Zeichen einer entsprechenden politischen Haltung angesehen. Besonders konsequente Fundamentalisten lassen es dabei aber nicht bewenden, sondern tragen Kleidung und Schuhwerk, wie es aus der frühislamischen Zeit als Praxis des Propheten und seiner Zeitgenossen überliefert worden ist. Zugleich lehnen sie die Verwendung der unterschiedlichsten modernen Techniken -vom Lastkraftwagen bis zum Maschinengewehr -ab. Besonders stark vertreten war diese Haltung im Saudi-Arabien der zwanziger Jahre. Die fundamentalistische Gruppe der Ikhwan (Brüder), mit deren Hilfe König Ibn Saud sein Reich gegründet hatte, gehörte dazu. In der Folge mußte er sich jedoch gegen den konsequenten Fundamentalismus dieser Gruppe wehren, die die Einführung moderner Technologien strikt ablehnte * *
Wichtiger als diese äußerlichen Formen des islamischen Fundamentalismus sind jedoch seine in haltlichen Forderungen, die im Sinn einer rückwärts gewandten Utopie das staatliche, politische, soziale, wirtschaftliche und moralische Ideal der Gemeinde von Medina rekonstruieren wollen. Dabei wird das Vorbild des, Propheten ebenfalls konsequent verfolgt. So wie Muhammad seine heidnische Vaterstadt Mekka verließ, um in Medina den wahren islamischen Staat aufzubauen, haben sich ägyptische Fundamentalisten in den siebziger Jahren in Wüstengebiete des Landes zurückgezogen und dort in kleinen Gemeinschaften versucht, ihr Ideal vom islamischen Staat zu realisieren. Sie sahen Ägypten als heidnischen Staat an und bekämpften ihn, wie Muhammad das heidnische Mekka bekämpft hatte. Allerdings waren diese Gruppen, von denen die Organisationen al-Takfir wa-l-Hidjra, al-Djihad, al-Amr bi-l-Ma’ruf und al-Sammawiyya die bekanntesten wurden, nicht so konsequent, bei ihrem Kampf ausschließlich traditionelle Waffen der früh-islamischen Zeit zu verwenden. Vielmehr verübten sie Bombenattentate und benutzten moderne Handfeuerwaffen. Auch in anderen Bereichen wird die Nachahmung der medinensischen Verhältnisse nicht konsequent durchgeführt. Anschaulich läßt sich die Diskrepanz am Beispiel der Stellung der Frau belegen. Alle Quellen zeigen, daß z. B. die Mobilität und Unabhängigkeit der Frauen in Medina außerordentlich hoch war. Auch die konsequente Segregation der Geschlechter, die heute von islamischen Fundamentalisten gefordert wird, hat es in Medina nicht gegeben.
Betrachtet man den sozialen Hintergrund dieser Fundamentalisten, so läßt sich zeigen, daß eine Vielzahl von ihnen aus dem unteren Mittelstand kommt. Die Zahl der Studenten bzw. Absolventen naturwissenschaftlicher Universitätsfächer ist dabei auffallend hoch. Bei den radikalen islamischen Gruppen im Algerien der frühen achtziger Jahre beispielsweise war die Anzahl der Studenten staatlicher Hochschulen besonders groß. Die mangelnde Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse der frühislamischen Zeit und zahlreicher Einzelheiten des aktuellen islamischen Rechts auf diesem Bildungshintergrund wurde und wird den Fundamentalisten vor allem von hohen islamischen Autoritäten, die mit den staatlichen Institutionen eng verknüpft sind, immer wieder vorgeworfen. Die politische Schwäche dieser radikalen islamischen Gruppen ist ihr starker Fraktionalismus, wobei zu einem in radikalen Vereinigungen ganz allgemein feststellbaren derartigen Verhalten zudem noch ganz erhebliche Rivalitä ten zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedem kamen, die zu immer neuen Zersplitterungen führten
Neben diesen politisch aktiven fundamentalistischen Gruppen finden sich auch solche, die eher quietistische Positionen vertreten. Zu nennen ist hier als Beispiel die Gemeinschaft al-Farmawiyya in Ägypten, die sich nach ihrem Gründer Muhammad Salim al-Farmawi nennt. In noch stärkerem Maß als die politisch radikalen Gruppen zeichnet sich die Farmawiyya durch sehr exklusive Positionen aus. So weigern sich die Mitglieder der Farmawiyya, am Gemeinschaftsgebet der Muslime teilzunehmen, wenn es nicht von ihrem Oberhaupt, Muhammad Salim al-Farmawi, selbst geleitet wird. Auf sie passen all die generellen Feststellungen, die allgemein über fundamentalistische oder integristische Gruppen gemacht werden: Ausschließlichkeit und Absolutheitscharakter, Anti-Modernismus und Autor! tarismus. Der Farmawiyya gehören im Gegensatz zu den aktivsten Gruppen vor allem Handwerker und Händler an, die der unteren Mittelschicht bzw.der Unterschicht zuzurechnen sind. Zu ihren Normen zählt, daß sie sich weigern, im Krankheitsfall einen Arzt aufzusuchen oder sich gar in einem Krankenhaus behandeln zu lassen. Begründet wird diese Haltung damit, daß Gott der einzige Heiler sei und man daher auf alle Ärzte verzichten könne. Mitglieder dieser fundamentalistischen Gruppierungen verweigern die schulische Ausbildung ihrer Kinder mit der Begründung, daß in den staatlichen Schulen Koedukation herrsche. Auch mit den Lehrplänen der staatlichen Schulen erklärten sie sich nicht einverstanden. „Wir allerdings sind der Meinung, daß der Mensch nicht unbedingt in Chemie, Trigonometrie oder Sport unterrichtet werden müsse. Für unbedingt notwendig halten wir dagegen die Unterrichtung in Koran und Hadith (Prophetentraditionen).“ Ferner schließen sich nach Auffassung der Farmawiyya ökonomisch orientierte Tätigkeiten und die Verehrung Gottes gegenseitig aus Ähnliche mit asketischen Praktiken verbundene fundamentalistische Haltungen fanden sich auch bei vorwiegend von jüngeren Männern gebildeten algerischen Gruppierungen zu Beginn der achtziger Jahre
Gemeinsam ist den aktivistischen wie den quietistischen islamischen Fundamentalisten ihre Distanz zum offiziellen Islam, wie er sich an islamisch-theologischen Hochschulen artikuliert. Seinen Vertretern werfen die Fundamentalisten Abhängigkeit vom als heidnisch angesehenen Staat und Korrumpierbarkeit vor. Sie konstatieren auch ein deutliches Desinteresse der Vertreter des offiziellen Islams an den tatsächlichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen der Gläubigen und fordern stärkere pastorale Bemühungen. In der direkten persönlichen Konfrontation sind die Fundamentalisten den hervorragenden Vertretern des offiziellen Islams intellektuell und hinsichtlich ihrer spezifischen theologischen Kenntnisse weit unterlegen. Häufig erkennen sie nach derartigen Gesprächen die religiöse Autorität der orthodoxen Religionsgelehrten an. Daher entsteht immer wieder der Eindruck, daß es sich bei diesen Formen des islamischen Fundamentalismus um ein vorübergehendes Phänomen handelt.
II. Die Islamisten
1. Ältere Gruppierungen Es ist nicht auszuschließen, daß sich im Laufe einer längeren persönlichen Entwicklung Anhänger fundamentalistischer Positionen, wie sie zuvor geschildert worden sind, der Haltung anschließen, die hier nun als islamistisch bezeichnet wird *V*ieles von dem, was in der islamischen Welt von westlichen Beobachtern als fundamentalistisch interpretiert wird, ist eher als modernistisch anzusehen, wenngleich auch für die islamistischen Muslime die Bedeutung des Propheten, des Korans und der früh-islamischen Gemeinde von Medina von großer Bedeutung ist. Diese überraschende Feststellung kann aus der historischen Entwicklung der islamistischen Bewegungen im Islam heraus verstanden werden. An ihrem Beginn stehen zwei bedeutende Persönlichkeiten des modernen Islams: Yamal al-Din al-Afghani (1839-1897) und Muhammad Abduh (1849-1905). Beide führten die Schwäche der Muslime gegenüber den westlichen Kolonialmächten einerseits auf die politische Zersplitterung der islamischen Welt, andererseits aber auf eine Abkehr vom wahren Islam zurück. In der Tat hatte sich das intellektuelle Leben in der islamischen Welt, das noch im Mittelalter dem des christlichen Abendlandes weit überlegen gewesen war, spätestens seit dem 16. Jahrhundert kaum noch entwickelt Das scholastische Denksystem des Islams erschöpfte sich nur noch in der Wiederholung, Kommentierung, Erklärung und Zusammenfassung älterer Werke bedeutender Gestalten der islamischen Geistesgeschichte. Al-Afghani und Abduh gewannen den Eindruck, daß der Koran als wichtigste Quelle des islamischen Lebens mehr und mehr aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit der Muslime gerückt und an seine Stelle die sterilen Betrachtungen ganzer Generationen von Rechtsgelehrten getreten seien. Die Rückkehr zum Koran als dem Fundament des Islams wurde von ihnen als der erste Schritt zur Gesundung der islamischen Welt angesehen. Die Wiederentdekkung des Koran ging mit einer modernistischen Interpretation des heiligen Buches der Muslime einher. Bei den verschiedensten Themen, die im Koran angesprochen werden, fand Muhammad Abduh Bezüge zur modernen Welt. Djinnen (Wesen aus Feuer), von denen auch im Koran die Rede ist, wurden zu Bazillen. Auch die Kernspaltung oder die Bewegung der Erde um die Sonne wurde in den Koran hineingelesen. Die Entdeckung dieser modernen Phänomene im Koran wurde als Beweis dafür genommen, daß der Koran das Buch sei, mit dessen Hilfe alle sozialen, wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten der islamischen Welt einer Lösung zugeführt werden könnten
Aus dieser Tradition heraus ist es verständlich, daß Muslime heute auch keine Probleme mit jeder neuen naturwissenschaftlichen, technischen oder medizinischen Entwicklung haben. Sie sind in der Lage, Organverpflanzungen, In-vitro-Fertilisation oder die Verwendung künstlicher Organe auch unter religiösen Gesichtspunkten zu akzeptieren 11 * Dieser Umgang mit dem heiligen Buch der Muslime hat sich in immer größerem Umfang in vielen Teilen der islamischen Welt fortgesetzt. Auf ökonomischer Ebene hat das Zinsverbot des Koran bei der Neubewertung besonderen Eindruck gemacht. Dort wird in Sure 2, 275-276, 278-279 und öfter jede Form von Wucher untersagt. Im Lauf der geschichtlichen Entwicklung ergab sich daraus ein generelles Zinsverbot. Viele Muslime, denen bewußt ist, daß eines der zentralen Probleme der Dritten Welt die Schuldenkrise darstellt, meinen nun, daß die Befolgung des koranischen Zinsverbots eine Überschuldung verhindert hätte. Solche Überlegungen stärken selbstverständlich die ohnehin schon große Autorität des Korans; dennoch ist der Unterschied eines derartig modernistischen Umgangs mit dem heiligen Buch zu den biblizistischen Verfahren christlicher Fundamentalisten hinsichtlich des Alten bzw. Neuen Testaments deutlich.
Das gesellschaftliche Modell bezog sich seit alAfghani und Abduh stets auf die „umma muhammadiya“ der islamischen Frühzeit, auf die Zeit der trefflichen Altvorderen (salaf salih). Daher stammt die Bezeichnung „Salafiten“ für Vertreter dieser Geisteshaltung. Sie versuchten, ihre Vorstellungen einer wahren islamischen Gesellschaft durch Erziehung der Muslime zu erreichen, nicht etwa durch direkten Eingriff in die Politik. Muhammad Abduh schrieb: „Gott bewahre mich vor der Politik, vor dem Wort Politik und vor dem Inhalt Politik, vor jedem Wort, mit dem das Wort Politik ausgesprochen wird, vor jeder Einbildung, die mich aus der Politik befällt, vor jedem Ort, in dem die Politik erwähnt wird, vor jedem Menschen, der in der Politik redet, lernt, wahnsinnig wird oder denkt, und vor dem, der geherrscht hat und herrscht, der herrschend ist oder beherrscht wird.“ Diese Haltung ist angesichts der Kolonial-situation, in der sich fast die ganze islamische Welt befand, verständlich. Die Salafiten versuchten, ihr Erziehungswerk im politikfreien Raum zu realisieren. Daß ihre Verweigerung der Politik und den Politikern ihrer Zeit gegenüber hochpolitisch war, war ihnen bewußt. Der staatlichen Einheit der islamischen Welt, die die Salafiten erhofften, mußte die religiöse Einheit vorausgehen. Die Trennung des Islams in eine sunnitische Mehrheit und eine schiitische Minderheit war daher besonders schmerzlich für sie. Die verschiedenen regionalen und lokalen Sonderformen des Islams in den verschiedenen Spielarten muslimischer Volksfrömmigkeit und der islamischen Mystik bekämpften sie mit allen ihnen zu Gebot stehenden Mitteln. Hier konnten sie auch größere Erfolge erzielen. Allerdings darf die lebhafte Aufmerksamkeit, mit der im Westen die verschiedenen Formen des radikalen Islams beobachtet werden, nicht die Tatsache übersehen lassen, wie groß auch heute noch in den Zentren der islamischen Welt und auf dem Land, aber auch unter muslimischen Arbeitsmigranten in Europa der Einfluß des Volksislams mit seinen magischen und exorzistischen Praktiken ist Die Forderungen von alAfghani und Abduh nach der staatlichen Einheit der islamischen Welt wurden von dem osmanischen Sultan Abdulhamid (1876-1909) aufgegriffen, der die panislamischen Vorstellungen der Salafiten gegen seine äußeren und inneren Gegner nutzen wollte. In den Kolonialverwaltungen und in der Öffentlichkeit der westlichen Kolonialmächte spielte der Panislamismus damals etwa die Rolle, die heute der islamische „Fundamentalismus“ innehat. Zu einem einheitlichen islamischen Staat ist es bisher nicht gekommen. Eine solche Entwicklung ist auch nicht zu erwarten. Mit der „Islamischen Weltliga“ und in der „Konferenz islamischer Staaten“ existieren jedoch Institutionen, die die Aufgabe haben, ein einheitliches politisches und kulturelles Erscheinungsbild der islamischen Welt zu gewährleisten
Große Teile der Vorstellungen der Salafiten wurden von den „Muslimbrüdern“ (al-Ikhwan al-Muslimun) aufgenommen. Dabei handelt es sich um die erste größere Organisation, die die Realisierung eines islamischen Staates als eines ihrer Hauptziele ansah und die zunehmende Säkularisierung der Staaten des Nahen und Mittleren Ostens bekämpfte. Sie war 1928 von dem Grundschullehrer Hasan al-Banna (1906-1949) in Ägypten gegründet worden. Die Organisation glich zunächst den in der Nachfolge von al-Afghani und Abduh entstandenen islamischen Vereinigungen, die durch Wohltätigkeit und Erziehung die Gesellschaft bessern wollten. Die Muslimbrüder strebten eine die Werte des Islams betonende Erziehung breiter Volksschichten an; man kann geradezu von einer „Volkshochschulbewegung“ sprechen. Dabei wurden moderne Wissenschaften in den Fächerkanon durchaus mit einbezogen. Im Vergleich zu den traditionellen islamischen Religionsgelehrten konnten die Muslimbrüder durchaus als progressiv angesehen werden. Ihr konsequentes Hinarbeiten auf einen islamischen Staat, das auch den Kampf um die nationale Unabhängigkeit von kolonialer Vormundschaft bedeutete, brachte ihnen von westlicher Seite schon bald den Vorwurf des Fanatismus ein. Die Ende der dreißiger Jahre formulierte Doktrin der Ikhwan besagt folgendes: Der Islam ist ein vollständig auf sich selbst beruhendes, totales System, das auf dem Koran und der Sunna (dem Vorbild des Propheten Muhammad) basiert und zu jeder Zeit und an jedem Ort anwendbar ist Diese Doktrin enthält ein übernationales Moment, das dazu führte, daß in vielen arabischen Ländern, aber auch darüber hinaus, Anhänger für die Bruderschaft gewonnen werden konnten. Zumindest in den vierziger Jahren bestanden auch Kontakte zu radikalen islamischen Gruppen z. B.des Irans, die sich auch in ihren Selbstbezeichnungen an diejenigen der Muslimbrüder anlehnten.
Einen wichtigen Punkt in der Einschätzung der westlichen Welt stellt für die Muslimbrüder das Israel/Palästina-Problem dar. Sie sahen von Beginn an ihre Aufgabe in der Befreiung vor allem Jerusalems, der nach Mekka und Medina dritten heiligen Stadt des Islams. Vor allem am ersten arabisch-israelischen Krieg nahmen die Muslim-brüder mit eigenen Einheiten teil. Diese Militarisierung wirkte sich in der Folge insofern problematisch aus, als einzelne Mitglieder, aber auch kleinere Gruppen ihre Waffen später auch gegen die häufig arabisch-nationalistisch und/oder sozialistisch eingestellten heimischen Regierungen einsetzten, was wiederum häufige Verfolgung und zeitweilige oder dauerhafte Verbote der Organisation der Muslimbrüder in vielen Ländern zur Folge hatte. Die ständigen Verfolgungen haben dazu geführt, daß die Militanz der Ikhwan sich deutlich gemildert hat. Das hat wiederum zu einer nachlassenden Attraktivität der Organisation auf jüngere Leute geführt Die neben den Muslimbrüdern lange Zeit einflußreichste und bekannteste islamistische Organisation ist die Djama’at-i islami (Islamische Gemeinschaft) in Pakistan, die von ihrem Ideologen Abu 1-Ala’ al-Maududi (1903-1979) im damaligen Britisch-Indien 1941 gegründet worden war. Der Kampf um einen eigenen islamischen Staat auf dem Subkontinent und die Form, in der dieser Staat bestehen sollte, waren die eigentlichen Anlässe für die Gründung der Organisation. Während ein Teil der indischen Muslime einen eigenen Staat mit einem mehr oder weniger säkularen Charakter wünschten, forderte die Djama’at-i islami einen islamischen Staat, in dem eine islamische Lebensform verwirklicht werden könnte, d. h. in dem das islamische Recht (Scharia) Gültigkeit hätte. Der Organisation gelang es allmählich, Einfluß auf führende Politiker Pakistans zu gewinnen, so daß mit der Machtübernahme des Generals Zia ul-Haq ein Mann an der Spitze des Landes stand, der versuchte, die Vorstellungen der Djama’at-i islami von einem idealen islamischen Staat auf dem Wege einer Militärdiktatur durchzusetzen. 2. Aktuelle Gruppen und Entwicklungen Da die Entstehung und die internen Auseinandersetzungen der verschiedenen islamistischen Gruppen bei den politisch Interessierten des Westens nur wenig Beachtung gefunden hatten, kam der Erfolg der Islamischen Revolution des Ayatollah Khomeini 1978/79 für viele westliche Berichterstatter und Kommentatoren völlig überraschend. Dabei hatte die wirtschaftliche und soziale Situation des Irans kaum einen aufmerksamen Beobachter daran zweiten lassen, daß hier eine revolutionäre Situation entstanden war. Man kann als Ursache -auch für alle anderen spektakulären Erfolge islamistischer Gruppen und Parteien in weiten Schichten -die teilweise verzweifelten und hoffnungslosen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse großer Teile der Bevölkerung in vielen Gebieten der islamischen Welt, die ja in der Mehrzahl der Fälle zu den ärmsten Staaten der Dritten Welt gehören, festhalten. Fahrplan und ideologische Basis der islamischen Revolution des Irans waren verschiedene Schriften Khomeinis, in denen er die Notwendigkeit der Herrschaft der islamischen Religionsgelehrten begründet. Seine Legitimierung der Revolution bemüht sich um eine strikte, formale Logik: Da Gott Gesetze erlassen habe, müssen diese auch durch eine Exekutive durchgesetzt werden. Diese Exekutive ist das Imamat, d. h.der Prophet Muhammad und nach seinem und dem Tod der (schiitischen) Imame die gerechten Gesetzesgelehrten (Fuqaha). Da der Islam sich auf alle Lebensbereiche beziehe, müssen sich die Fuqaha auch um alle Aspekte des Lebens der Muslime kümmern. Sie müssen den Islam gegen ungerechte, tyrannische und gottlose Herrscher verteidigen. Dazu seien sie aber nur in der Lage, wenn sie über die politische Macht verfügten
Die Revolutionsführung war aber auch so konsequent festzustellen, daß die Religionsgelehrten dafür auch Kenntnisse in allen modernen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen Bereichen erwerben müßten. In den theologischen Ausbildungsstätten der iranischen Mullahs wurden daher nach der Revolution auch Fächer wie Soziologie, Psychologie oder Wirtschaftswissenschaften in den Unterricht aufgenommen, die von der Schah-Regierung zuvor für die Theologiestudenten ausdrücklich verboten worden waren. Im Islam jedoch sahen Khomeini und seine Anhänger eine Möglichkeit, die nationale und kulturelle Identität des Irans gegenüber einer westlichen Überfremdung zu verteidigen und zu bewahren. Dabei sind sie technischen und naturwissenschaftlichen Innovationen gegenüber stets aufgeschlossen geblieben. Das Bewußtsein der Schwierigkeiten, die die Notwendigkeit des Umgangs mit modernen Technologien mit sich bringt, zeigen die Ausführungen eines hochrangigen iranischen Religionsgelehrten: „Wir wissen, daß bei der Übernahme der Technologie und der anderen Errungenschaften des Westens auch manche Änderungen in unseren Werten vor sich gehen. Wir wissen, daß es eine feste Beziehung zwischen Wertsystemen und Lebensweisen gibt. Was wir im Iran versuchen, ist, diese Veränderungen soweit wie möglich unter Kontrolle zu halten... Wir verstehen, daß Modernisierung auch Folgen für unser Wertsystem hat. Wir verstehen das genau. Aber wir haben keine Wahl... Wir sind Menschen und wir wollen in dieser Welt leben und wir wollen auch entsprechend unseren Werten leben. Aber manchmal gibt es Notwendigkeiten, die unsere Wege so festlegen, wie wir es eigentlich nicht wollen. Aber das ist die Wirklichkeit.“ *D*aß wir es bei der Revolution im Iran nicht mit einer fundamentalistischen, sondern mit einer islamistischen Bewegung zu tun haben, zeigt die Tatsache, daß die Verfassung der Islamischen Republik Iran in vielen Punkten von islamischen Fundamentalisten kritisiert worden ist
Neben dem Iran war und ist Algerien der Schauplatz erheblicher Aktivitäten von Islamisten, die 1990 zu unübersichtlichen politischen Verhältnissen führten. Die geographische Nähe zu Europa und die vielfältigen persönlichen Verbindungen zwischen dem nordafrikanischen Land und Frankreich haben in Westeuropa zu großer Sorge vor einem radikalen Islam geführt. Besondere Aufmerksamkeit hat dabei die FIS (Front Islamique du Salut) gefunden. Hier handelt es sich um eine am 10. März 1989 offiziell gegründete politische Partei, die sich mit großem Erfolg an Wahlen beteiligte. Es besteht zumindest der Verdacht, daß sie einen Teil ihrer finanziellen Mittel aus Saudi-Arabien erhält. Ihre Mitgliederzahl soll drei Millionen betragen haben. Die Programmatik der Partei ist deutlich von älteren Forderungen arabischer Islamisten wie den Muslimbrüdern beeinflußt, enthält aber auch algerische Besonderheiten. Die FIS fordert die Einheit von Religion und Politik, wobei die Religion Politik und Gesellschaft prägen soll. Grundlage aller Gesetze des Landes soll die Scharia, das islamische Recht, sein. Die FIS interpretiert dabei Begrifffe wie Demokratie, Toleranz und soziale Gerechtigkeit im Sinne der Scharia. Besonders heftig wendet sie sich gegen jede Form von Sozialismus, lehnt also auch einen islamischen Sozialismus, wie er von staatlichen Stellen gerade in Algerien propagiert wurde, ab und fordert die Privatisierung der nationalisierten Produktionsbetriebe und Ländereien. Besonders heikel -angesichts des großen Anteils an Berbern in Algerien -erscheint die Forderung der FIS nach einer konsequenten Arabisierung der algerischen Gesellschaft
In den Fällen, in denen die FIS die Mehrheit in Gemeindeparlamenten errungen hatte, wurden vor allem Versuche unternommen, die islamitischen Vorstellungen von der gesellschaftlichen Stellung der Frau in die Tat umzusetzen. So wurde auf eine strikte Trennung der Geschlechter in den Behörden und Schulen, aber auch am Strand geachtet. Beobachter erstaunte auch die Einrichtung eines „islamischen“ Marktes in einem Armenvierteil von Algier, bei dem vor den Verkaufsständen Gitter aufgestellt wurden, die die weiblichen und männlichen Kunden voneinander trennen sollten.
Neben der FIS als politischer Partei gibt es in Algerien noch eine Vielzahl islamistischer Organisationen, die sich dem Bau und Erhalt von Moscheen, der Unterhaltung von Fürsorgeeinrichtungen und verschiedenen erzieherischen Aktivitäten widmen. Auch sie sind erheblich von der Programmatik der Muslimbrüder beeinflußt. Die einflußreichsten Gruppierungen dieser Art sind die 1989 gegründete Ligue de la Da’wa Islamique, der es vor allem auch um die Vereinheitlichung der islamistischen Bewegungen in Algerien geht, und die Vereinigung Irchad wal-Islah (Rechtleitung und Reform), die Ende 1988 entstanden ist. Ziel beider Organisationen ist die Errichtung eines islamischen Staates auf der Grundlage des islamischen Rechts. Irchad wal-Islah hat besonders die „Förderung des Bildes der Frau“ in den Mittelpunkt der Aktivitäten gestellt. „Seit September 1989 ruft die Organisation zur »Islamischen Allianz* auf, die zur »Stärkung der Reihen der Muslime* und der . Vereinheitlichung des Diskurses* beitragen soll. Der Aufruf unterstreicht: Man solle die Grundfreiheiten achten, die Frau ehren, und ihr erlauben, aktiv am Aufbau des islamischen Gesellschaftsprojektes teilzunehmen.“
III. Die Stellung der Frau
Islamischer Fundamentalismus und Islamismus werden im Westen häufig mit zwei eher sekundären Aspekten der islamischen Kultur in Verbindung gebracht, dem Alkoholverbot und der Verschleierung der Frau. Häufig reagieren Regierungen islamischer Länder wie Ägypten, Afghanistan oder andere auf islamistische Unruhen mit dem Verbot des Alkoholverkaufs und des öffentlichen Konsums von Alkoholika. Diese Versuche waren schon im arabisch-islamischen Mittelalter wenig erfolgreich weil sich immer wieder Möglichkeiten fanden, das Verbot zu umgehen, und weil im Fall der Durchsetzung des Verbotes dem Staat z. B. aus Steuern auf Wein hohe Einnahmen entgingen. Algerien und Tunesien sind weiterhin unter den größten Weinproduzenten der Welt.
Anders verhält es sich mit dem Schleiergebot für Frauen. Es hat sich in unterschiedlichen Formen vom Kopftuch bis zum Ganzkörperschleier seit etwa 15 Jahren in verschiedenen Staaten der islamischen Welt wieder als Symbol der Islamizität einer Frau etablieren können, wie zuvor das Ablegen des Schleiers als Zeichen einer modernen, aufgeklärten Haltung angesehen wurde. Die Trennung der islamischen Gesellschaft in eine weibliche und eine männliche Sphäre ist von muslimischen, aber auch von westlichen Beobachtern vielfach konstatiert worden. Frauen sind für den Innenbereich des Hauses und der Familie zuständig, Männer für den Außenbereich, die Öffentlichkeit. Diese Situation ist lange Zeit von beiden Geschlechtern als gegeben hingenommen worden. Mit der Emanzipationsbewegung der Ägypterinnen, die in Kairo schon um die Jahrhundertwende einsetzte, haben sich hier Entwicklungen ergeben, die in vielen Fällen zu heftigen gesellschaftlichen Spannungen führten. Die Re-Islamisierung der vergangenen Jahre hat dazu geführt, daß sich in diesem Bereich Veränderungen ergeben haben. Dabei haben auch Musliminnen mitgewirkt.
Die Mehrzahl der islamistischen Organisationen überall in der islamischen Welt und in der Diaspora verfügen über spezielle Frauengruppen oder über mehr oder weniger eigenständige Schwesterorganisationen. Eine Reihe von westlichen Beobachterinnen haben in diesen Organisationen neben restriktiven Ideologien auch deutlich emanzipatorische Tendenzen feststellen können. Diese betreffen vor allem eine bessere Ausbildung der muslimischen Mädchen und Frauen auch im Sekundarund Hochschulbereich, vor allem in den medizinischen und sozialpädagogischen Fächern, und eine stärkere Teilnahme an religiösen Aktivitäten außerhalb des Hauses. „In den Moscheen treffen sich Frauen nicht nur zum Gebet. Sie entwerfen und vollziehen in den oft weitläufigen Gebäude-komplexen rund um eine Moschee soziale Programme, medizinische und hygienische Projekte. Sie sind dabei, das alte patriarchalische Bildungswesen zu reformieren, gründen Literaturzirkel, geben Kommentare zu Rechtsgutachten, helfen in Erziehungsfragen und tun vieles andere mehr, was säkularisierte Frauenzirkel selbstverständlich auch tun.“ Dabei hilft diesen Islamistinnen der Schleier, der ihnen Respektabilität sichert und ihre Übereinstimmung mit den Forderungen des Islams dokumentiert.
IV. Fazit
Der Erfolg der verschiedenen Formen des radikalen Islams beruht zum einen auf der Tatsache, daß er in der Lage ist, die Ursachen für die aktuellen Probleme breiter Bevölkerungsschichten in der islamischen Welt auf eine einfache, der Komplexität der anstehenden Themen sicher nicht genügende, aber vielen verständliche Weise zu erklären und als Lösungsmöglichkeit eine spezielle Form des Islams anzubieten. Die vorgeschlagenen Lösungen sehen als Voraussetzung die Realisierung eines islamischen Staates vor. Um diesen zu erreichen, muß eine allgemeine Anhebung des Bildungsniveaus erfolgen.
Die islamistischen Organisationen werden große Mühe haben, hier Erfolg zu haben. Wie groß ihr tatsächlicher Einfluß auf die unteren Bevölkerungsschichten ist, kann nicht abgeschätzt werden. Die Etablierung des islamischen Staates soll mit einer deutlichen Distanzierung von der westlichen Welt und ihrer Zivilisation einhergehen, wobei aber auf die Errungenschaften westlicher Technologien nicht verzichtet werden soll. Der Widerspruch in dieser Haltung ist nur einem Teil der führenden Vertreter derartiger Spielarten des Islams bewußt. Wenn in einem der Staaten der islamischen Welt eine islamistische Form des Islams an die Macht gelangt, stehen deren Repräsentanten vor der Aufgabe, die Probleme des Landes mit „islamischen“ Mitteln zu lösen. Die Führung im Iran kann bisher auf den langen und verlustreichen Krieg mit dem Irak verweisen, um Verzögerungen in der Durchsetzung eines islamischen, d. h. gerechten Gesellschaftssystems zu erklären. Was aber geschieht, wenn auch die islamischen Methoden nicht ausreichen, um Lebensunterhalt und -umstände der großen muslimischen Unter-und Mittelschichten zu sichern, wenn auch das Projekt einer islamischen Gesellschaft scheitert?