I. Einleitung
Das Thema „Fundamentalismus“ hat Konjunktur. Wie „New Age“ für die achtziger Jahre scheint nun „Fundamentalismus“ ein Thema der neunziger Jahre zu werden. Dies zeigt ein Blick in Verlags-prospekte, Feuilletons und Tagungsprogramme von Akademien. Schnell zeigt sich jedoch, daß niemand genau sagen kann, was „Fundamentalismus“ eigentlich sei. Von der algerischen Heilsfront bis zu Rudolf Bahro, vom traditionellen Pietismus bis zu den Zeugen Jehovas, von Positionen eines politischen Konservativismus bis hin zu Strömungen der grünen Bewegung: alles wird dem Container-Begriff „Fundamentalismus“ zugeordnet. Neben solch inflationärem Gebrauch des Wortes und der Ausdehnung des Begriffes ist zudem auffallend, daß Fundamentalismus immer als Fremdbezeichnung verwandt wird: Fundamentalisten sind immer die anderen.
Vor allem aber ist es ein verbreiteter publizistischer Common sense, daß Fundamentalismus die Bezeichnung einer Gefahr ist. Vor ihm ist zu warnen. Fundamentalismus ist demnach religiöser oder politischer Fanatismus, das finstere Mittelalter erhebt drohend sein Haupt, das Licht aufklärerischer Vernunft verdunkelt sich. Die „fundamentalistische Versuchung“ ist zum Angriff angetreten. So ist in der Einleitung zu dem von Thomas Meyer herausgegebenen Sammelband „Fundamentalismus in der modernen Welt“ zu lesen: „Ein Gespenst geht um in der modernen Welt; das Gespenst des Fundamentalismus. Wer auf das Erbe von Aufklärung und Modernisierung pocht, hat sich verbündet, um das Gespenst zu verjagen.“ Und weiter: „Es verbindet die Autoren der Wille, Dämme gegen die fundamentalistische Flut wider die Aufklärung zu errichten.“ Solch aufklärungsbestimmtem Bewußtsein ist der „Fundamentalismus“ unheimlich; unheimlich deshalb, weil das Auftreten fundamentalistischer Bewegungen zeigt,daß die Geschichte der Moderne anders verlaufen könnte, als der eigene Vernunftglaube versichert hatte. Denn es war die Fortschrittsgewißheit aufklärerischer Vernunft, daß die Religion den Menschen an der Verwirklichung seiner wahren Bestimmung hindere, sich im emanzipatorischen Fortschrittsgang der Geschichte immer mehr verflüchtige, also ein überwundenes oder noch zu überwindendes Stadium der Menschheitsgeschichte bezeichne. Die fundamentalistischen Bewegungen müssen diesem Denken deshalb fremd, ja bedrohlich erscheinen: denn sie sind der Beleg dafür, daß religiöse Wahrheitsansprüche wieder Macht über die Menschen gewinnen können. Dies aber ist in der aufklärungsbestimmten Religionstheorie, der man sich sicher wußte, nicht vorgesehen.
Demgegenüber ist beim Thema „Fundamentalismus“ ein Zugang vonnöten, der weder von solch vorausgehenden theoretischen Wertungen bestimmt ist, noch auch jenen inflationären Gebrauch des Wortes „Fundamentalismus“ und seine begriffliche Ausdehnung weiterträgt, wodurch Begriff und Sache jede Kontur verlieren. Hierher gehört zunächst die Einsicht: Seit den siebziger Jahren sind religiöse Erneuerungsbewegungen unübersehbar, die nahezu alle Weltreligionen ergriffen haben. So begann ab Mitte der siebziger Jahre in Israel die religiös-orthodoxe Bewegung zunehmend Einfluß zu gewinnen. Die israelische Siedlungspolitik zum Beispiel ist überhaupt nicht zu verstehen ohne die hinter ihr stehenden religiösen Antriebe, die von der biblischen Verheißung vom „Land Israel“ bestimmt sind. Ebenfalls in den siebziger Jahren zeigt sich mit zunehmender Dynamik immer deutlicher, was unauffälliger schon lange vorher begann: die Reislamisierung der islamischen Welt mit dem Ziel einer universalen Verbreitung des Islam; eine Bewegung, die von Malaysia bis zum Senegal, von den Maghreb-Staaten bis zu den islamischen ehemaligen Sowjet-Republiken und auch schon in die Randzonen der europäischen Metropolen reicht. Schließlich erinnert man sich, daß in den USA der Wahlerfolg Ronald Reagans auch zu tun hatte mit den Mobilisierungskampagnen der „Moral Majority“, zu der auch die sich als „wiedergeborene Christen“ verstehenden Amerikaner zählten Doch auch im weithin säkularisierten Europa ist das Auftreten „fundamentalistischer“ Bewegungen und Gruppen unübersehbar. So im Katholizismus und im Protestantismus.
II. Fundamentalistische Tendenzen im Protestantismus
Bevor wir nun fundamentalistische Tendenzen im Protestantismus genauer zu beschreiben versuchen, ist der Hinweis auf einen allgemeinen Befund vonnöten: Die „fundamentalistischen Tendenzen“ sind nur eine der kulturellen und sozialen Formen, in denen sich „Religion“ in der gegenwärtigen Kulturlage artikuliert und formiert. So ist seit rund 20 Jahren in den westlich säkularen und sich weiter säkularisierenden Gesellschaften eine bestimmte Renaissance religiöser Lebensorientierung zu beobachten. „Neue religiöse Bewegungen“, religiöse Kulte, oft als Jugendreligionen oder Jugendsekten bezeichnet und von ganz unterschiedlicher Orientierungsherkunft, haben sich gebildet; dazu treten ganz unorganisierte Formen einer frei vagierenden Religiosität, deren Inhalte von einem prinzipiellen Synkretismus und Eklektizismus der Traditionsströme, auf die sie sich berufen, bestimmt sind; es ist dies eine Religiosität, die sich selbst antiinstitutionell versteht, die -in ihrem eigenen Selbstverständnis zumindest -verbindliche, sozusagen „dogmatische“ Glaubensgehalte nicht mehr kennt, weil ihr „Religion“ allein Moment subjektiver Erfahrung ist. Die vitalste Erscheinung dieses Typs von neuer Religiosität ist in den vergangenen Jahren die publizistisch so viel besprochene New-Age-Bewegung. Demgegenüber stellt der „Fundamentalismus“ die in der Sozialgestalt hoch organisierte, in den Glaubensbeständen festgefügte und auf abrufbares, sozusagen „objektives“ Heilswissen angelegte Form gegenwärtiger Religiosität dar. Hierbei zeigt die genauere Beobachtung: Die sogenannten Neuen Religiösen Bewegungen, sei es in ihren organisierten Gruppen und Kulturen, wie auch die Strömungen frei vagie-render Religiosität, scheinen viel von ihrer anfänglichen Dynamik verloren zu haben. Demgegenüber scheint die fundamentalistische Variante gegenwärtiger religiöser Neuorientierung an Bedeutung und Gewicht zuzunehmen, so sehr hier selbstverständlich unterschiedliche Gesellschaften unterschiedliche Befunde aufweisen.
Versucht man, sich einen Überblick über „fundamentalistische“ Strömungen im deutschen Protestantismus zu verschaffen, so lassen sich folgende Tendenzen skizzieren: Schon vor über 25 Jahren formierte sich innerhalb des Protestantismus eine Bewegung, die sich gegen einen theologischen Liberalismus und Modernismus und deren Auswirkungen in der Kirche wandte und als „Bibel-und Bekenntnis-Bewegung“ sich zunächst gegen den Einfluß einer historisch-kritischen Bibelauslegung, insbesondere gegen Rudolf Bultmanns Konzept der Entmythologisierung des Neuen Testaments, richtete und sich später vor allem auch gegen eine „politische Theologie“ und deren Anwendung durch politisierende Pfarrer wandte. Daneben bildeten sich in den letzten Jahren, nicht selten unter nordamerikanischem Einfluß, teils innerhalb der Kirche beginnend, teils außerhalb von ihr, „unabhängige“ Glaubensgemeinschaften, missionarische Zentren, Bibelgemeinschaften, Hauskreise usw., in denen gegenüber einer als konturlos erlebten Volkskirche eine bewußte, oft durch eine Wiedertaufe beglaubigte christliche Existenz ermöglicht werden sollte. In der Konsequenz solcher Initiativen liegen zunehmend kirchlich unabhängige Gemeindeneugründungen. Diese sind überwiegend von „charismatischen“, neupfingstlerischen Antrieben geprägt. Daneben entstehen eigene theologische Ausbildungsstätten fundamentalistischen Zuschnittes, so die Freie Evangelische Theologische Akademie in Basel und die Freie Theologische Akademie in Gießen, die sich als bewußter Gegenentwurf zu den an den Universitäten etablierten theologischen Fakultäten formierten. In alldem ist auch der leise, aber stetige Zulauf zu den traditionell-fundamentalistischen Sekten wie den Zeugen Jehovas nicht zu übersehen. Der genauere Blick auf diese Tendenzen zeigt, daß mit dem Etikett „Fundamentalismus“'in ihrer Herkunftsgeschichte und ihrem Selbstverständnis ganz unterschiedliche Strömungen versehen werden: Ein traditionell-gewachsener Pietismus, Evangelikalismus, neu-pfingstlerisch-charismatische Bewegungen, bis hin zu Positionen eines christlichen Konservativismus. In solch problematischer Zuordnung rächt sich die eingangs erwähnte Ausdehnung des Begriffes und seine damit verbundene zunehmende Unschärfe.Wir wollen im folgenden auf eine Definition, was denn „Fundamentalismus“ heißen soll, verzichten; vielmehr -nach einem kurzen historischen Rückblick -einige Merkmale benennen, die uns für christlich-fundamentalistische Gruppen und Bewegungen sowie für „fundamentalistisches“ Denken kennzeichnend erscheinen. Zunächst ist es hilfreich, sich des historischen Befundes zu vergewissern, in dem Begriff und Sache geschichtlich verankert sind.
Von „Fundamentalismus“ ist schriftlich zum erstenmal explizit die Rede im Titel einer Schriftenreihe, die in Millionenauflage zwischen 1909 und 1915 in den USA erschien: „The Fundamentals -A Testimony to the Truth“ (Ein Zeugnis der Wahrheit). Die Antriebe, aus denen sich diese Schriftenreihe speiste und die auch die im Anschluß daran gegründete, schließlich über die USA hinaus sich ausdehnende „Worlds Christian Fundamentals Association“ bestimmten, lassen sich so zusammenfassen: Es handelte sich um eine offensive Gegenbewegung zum Modernismus, der auch die christliche Welt ergriffen hatte. Insbesondere war es eine Gegenbewegung gegenüber einer historisch-kritisch orientierten Theologie, die daranging, die überlieferten Glaubensbestände, besonders die biblischen Texte, in eine historisch-kritische Perspektive zu stellen -ein Ergebnis des Bündnisses mit der modernen Wissenschaft, das vor allem der Protestantismus einging.
Diesem Modernismus, der die Theologie, dann aber auch das kirchliche Handeln zunehmend bestimmte, stellten die „Fundamentales“ ihre „Fundamentals“ gegenüber; diese sollten den absoluten Wahrheitsanspruch unaufgebbarer christlicher Glaubensinhalte bezeichnen, die dem wissenschaftlichen Umschmelzungsprozeß, insbesondere der Relativierung durch die historische Methode, entzogen werden und ihren absoluten Geltungsanspruch bezeichnen sollten. Als solche „Fundamentals“ sollten insbesondere gelten: 1. Die wörtlich-buchstäblich irrtumslose Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift. 2. Die Ablehnung der Ergebnisse der modernen Wissenschaft, auch außerhalb der Theologie, die solchem Bibelglauben widersprachen. Der Ausschluß aller, die solchen „Fundamentalismus“ nicht teilen, aus dem Status eines wahren Christen. Die Überzeugung, daß die Politik in diesem „fundamentalistischen“ Sinne christlich sein müsse, der Staat also z. B. in seinen Erziehungseinrichtungen biblisch-fundamentalistische Wahrheiten vom Menschen vertreten müsse 3.
Festzuhalten ist zunächst der allgemeine Befund: „Fundamentalismus“ ist also schon in seiner Herkunftsgeschichte eingebunden in die Kulturgeschichte der Moderne. Er ist eine Erscheinung der Moderne selbst, gerade indem er sich als Protest und Gegenbewegung zu bestimmenden Strömungen säkularer Kultur der Moderne versteht. Von Fundamentalismus zu sprechen ist also nur sinnvoll, wenn wir ihn als moderne Erscheinungsform verstehen, die unter den Struktur-und Kulturbedingungen moderner Gesellschaften entsteht: Er ist ein moderner Antimodemismus. Über eine solche allgemeine Kennzeichnung hinaus lassen sich für die fundamentalistischen Strömungen im Protestantismus noch einige weitere Merkmale benennen. Dabei ist zu beachten, daß diese Merkmale in den verschiedenen Gruppen und Bewegungen in ganz unterschiedlicher Intensität auftreten können: -Ein bestimmtes Schriftverständnis, wonach die Heilige Schrift im Sinne einer Verbalinspiration als von Gottes Geist „eingehaucht“ zu verstehen sei: „Wir bekennen, daß die Schrift als Ganzes und in allen ihren Teilen, bis hin zu den einzelnen Wörtern der Originalschriften, von Gott inspiriert wurde.“ 4 -Die Taufe ist als Bekenntnis-und Bekehrungsakt sowie als Lebensübergabe an Christus zu verstehen und wird deshalb meist als Erwachsenentaufe und häufig als Wiedertaufe praktiziert. -Die Entwicklung eines Frömmigkeitsstils, der von einem Hang zu einem christlichen Perfektionismus geprägt ist. -Die Entwicklung eines christlichen Elitarismus, der zwischen der Schar der durch Bekehrung und Wiedergeburt Erwählten und der Masse der bloßen Namenschristen unterscheidet. Hierher gehört, daß die Gruppenidentität eines theologischen, kirchlichen oder säkularen Gegners bedarf, der dann häufig als der „Anti-Christ“ erscheint, wobei Name und Inhalte wechseln. -Das einzelne Mitglied unterliegt einer starken Gruppenkontrolle, die unter anderem dadurch ermöglicht und intensiviert wird, daß Frömmigkeitsstil und Lebensführung häufig an deren äußeren Formen identifiziert werden (Kleidung, Haartracht, Freizeitverhalten, Stellung der Frau in der Gemeinde usw.). -Dämonisierung der sichtbaren Welt; d. h., die Welt wird als Kampfplatz zwischen dem „Fürsten der Welt“ und Gott gesehen. -Endzeiterwartungen; d. h., die Zukunft ist mit häufig apokalyptischen Erwartungen besetzt, so daß der Fundamentalist sich etwa als Botschafter und Träger des nahen Milleniums und seines dann erscheinenden Messias weiß. Zu solch heilsgeschichtlichem Horizont gehört auch, daß in der Vergangenheit, vor allem im Urchristentum, die Zeit des wahren Heils gesehen wird, in welcher der Wille Gottes rein und unverfälscht gelebt wurde.
Weitere mögliche Kennzeichen fundamentalistischen Denkens und darauf beruhender Lebensführung beiseite lassend, ist nun nach den Gründen zu fragen, die den fundamentalistischen Orientierungen in der gegenwärtigen Kulturlage Zulauf und Faszination sichern.
III. Die Antwort des Fundamentalismus auf die Krise der säkularen Kultur
Hier sei zunächst summarisch als allgemeine These festgehalten: Fundamentalistische Bewegungen geben Antwort auf die Unsicherheiten moderner Zivilisationsdynamik, sie stellen dem modernen Wertepluralismus einen absoluten Geltungsanspruch gegenüber. Ihre kulturelle Chance liegt gerade darin, daß sie ihren Anhängern einen Ausweg aus den gegenwärtigen Unsicherheitserfahrungen bieten und im Angebot normativer Verbindlichkeit klare und verhaltenssichemde Orientierungen liefern. Denn das ist Fundamentalismus: Suche nach Verbindlichkeit, Wahrheit und Geborgenheit, nach einer „festen Burg“ inmitten der Pluralität, Relativierung und Auflösung überlieferter Gewißheiten.
Die Auflösung innerweltlicher Fortschrittsgewißheit, der Geltungsschwund des Glaubens an die Wissenschaft als eine Garantiemacht des immer besseren und glücklicheren Lebens, der Zusammenbruch des Glaubens an die Ideologien mit ihren Verheißungen, „das Himmelreich auf Erden“ zu errichten, wofür der heutige Zusammenbruch des Marxismus das klarste Beispiel darstellt: diese Krise der säkularen Heilshoffnungen gehört zu den markanten Indikatoren gegenwärtiger Kulturlage, die das heutige Lebensgefühl vieler prägen. Hinzu kommen weitere Erfahrungen, die für das Auftreten fundamentalistischer Orientierungen von Bedeutung sein können. Zu nennen ist etwa die Erfahrung, daß die voranschreitende Verwissenschaftlichung die Welt, in der wir leben, uns nicht heimischer, sondern fremder machen kann. Die stürmische, alle strukturellen und kulturellen Grundlagen unserer Lebenswelt umwälzende Zivilisationsdynamik erhöht nicht unsere Sicherheit, sie produziert ständig neue Unsicherheit darüber, in welcher Welt wir schon morgen leben werden. Dazu tritt der Pluralismus der Weltorientierungen, der unsere Kultur weithin kennzeichnet. Was wir tun sollen, wie wir „richtig“ leben, worauf wir hoffen können -die Antworten hierauf sind kulturell einer prinzipiellen Pluralität anheimgestellt.
In kurzer Zusammenfassung läßt sich festhalten: Die Erfahrung der äußeren Unsicherheiten moderner Zivilisationsdynamik und die Erfahrung des Geltungsverlustes der überlieferten Sinntraditionen hat notwendig Folgen bis in die Innenlagen von Menschen und prägende Auswirkungen auf das heutige Lebensgefühl. Dahinter erhebt sich die Frage, wie in heutiger Kulturlage „Identität“ gelingen kann. Man kann es einfach sagen: Wer wir sind und was wir sein sollen oder wollen -die Antwort hierauf wird in unserer problematisierten Lebenswelt zunehmend schwerer. Die Glaubenswelt des Fundamentalismus erlaubt, den Krisenerfahrungen der Moderne, ihren äußeren und inneren Unsicherheiten durch das Angebot verbindlicher Orientierung und Lebensführung zu begegnen. Darin liegt seine Anziehungskraft und kulturelle Chance. Dies wollen wir im folgenden an einigen der zum Teil schon genannten Merkmale, die für den Fundamentalismus kennzeichnend sind, darstellen. 1. Zunächst ist noch einmal festzuhalten: Die Modernitätskritik des Fundamentalismus ist Kritik am Geltungsanspruch des aufklärerischen Denkens. In sicherem Gespür für den eigenen säkularen Glaubensanspruch der Moderne wird eben dieser als glaubensloser Irrweg abgelehnt. So sehen z. B. die protestantischen nordamerikanischen Fundamentalisten im sogenannten „secular humanism“ ihren Hauptgegner. Diesen glaubenslosen Irrweg westlichen Denkens gilt es zu überwinden. Dies geschieht im Rückgriff auf voraufklärerische Traditionen, die sich als tragfähiger erweisen, als die ja nun selbst krisenhaft gewordenen Orientierungen des säkularen Glaubens. Ob der westliche „Fundamentalismus“ den „secular humanism“ der eigenen Kultur überwinden und bekämpfen will oder man sich im arabischen Fundamentalismus gegen dessen Eindringen und die damit erfolgende kulturelle Überfremdung, welche die islamische Welt schon ergriffen hat, immunisieren will: es geht um Abwehr und Kampf gegen den glaubenslosen Irrweg der Moderne; dies im Namen einer Tradition, die unberührt blieb von westlich-aufklärerischem Denken. Dies gilt für den protestantischen Fundamentalismus und dessen Berufung auf ein exklusives, wörtlich-buchstäblich verstandenes Schrift-prinzip, gilt für den katholischen Integralismus und seine Verankerung in der Tradition der Kirche und gilt für die fundamentalistischen islamischen Bewegungen mit ihrer Berufung auf die Shari’a.
2. Diese Traditionen haben in ihrer fundamentalistischen Rezeption den Rang einer unbefragten Autorität. Entscheidend ist, daß solche Traditionen nicht in ihrem geschichtlichen Gewordensein angesehen, also einer historischen Betrachtung ausgesetzt werden, sondern als durch die Zeiten hindurch unverändert und unberührt geglaubt werden. So weiß sich der Fundamentalist in einer Welt zerfallender Autorität getragen und gehalten von einer Autorität, die der modernen Bezweiflung, Problematisierung, ja Auflösung enthoben ist. Freilich zeigt sich in der Außenbetrachtung gerade an einem solchen Rekurs auf unbefragte Autorität, daß ein solcher Fundamentalismus ein moderner Antimodernismus ist. Auch der Fundamentalist ist ja nicht mehr eingebunden in die Selbstverständlichkeit überlieferter Religion. Er muß sich vielmehr unter Aufgabe modernen Kritikbewußtseins, soz. B.der historischen Betrachtung von Autorität und Tradition, selbst für unbefragte Autorität und unwandelbare Tradition entscheiden und unterscheidet sich gerade darin von seinen „vormodernen“, in der fraglosen Gültigkeit von Religion lebenden Vorfahren.
3. Eigens sei als Ergänzung zu den oben genannten Punkten noch die Formierung eines geschlossenen Weltbildes genannt. Das fundamentalistische Glaubenssystem soll eben alles erfassen: eine Erklärung und Deutung von Welt und Kosmos, vom Verlauf der Geschichte bis hin zu den Normen der persönlichen Lebensführung im Alltag.
4. Der Fundamentalismus ist, wie schon erwähnt, gekennzeichnet durch eine bestimmte Elitebildung und ein bestimmtes Elitebewußtsein: Die Zugehörigkeit zur fundamentalistischen Gemeinde bedarf bestimmter Zugehörigkeitskriterien, so z. B. eines nachweisbaren und protokollierten Bekehrungserlebnisses, worauf wir später noch einmal eingehen. Der Fundamentalist weiß sich also der kleinen Schar der Erwählten zugehörig, die der „massa perditionis“ als der Schar der Verlorenen gegenübersteht. Dies verweist zwar auf ein uraltes religionsgeschichtliches Muster, gewinnt aber heute in der kulturellen Lage der Gegenwart zunehmend die Bedeutung: In dem Strudel der inneren und äußeren Auflösung, in den der einzelne sich geworfen sieht, weiß sich der Fundamentalist geborgen in der Arche der Erretteten. Hier liegt übrigens auch die weitere Begründung dafür, daß fundamentalistische Bewegungen -wie schon erwähnt -zur Sicherung ihrer selbst immer des Feindes von außen bedürfen. So hat z. B. die maßlos übersteigerte Okkultismusangst, wie sie in manchen fundamentalistischen evangelikalen Kreisen geradezu zelebriert wird, sicher auch die Bedeutung, die Bindung nach innen zu sichern.
5. Der äußeren und inneren Krise wird ein Geschichtsbild entgegengesetzt, das vor allem durch ein bestimmtes Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft gekennzeichnet ist. So wird die Vergangenheit hochstilisiert als die Zeit des noch gelingenden Lebens und es wird die Zukunft mit eschatologischen, ja apokalyptischen Erwartungen aufgeladen. Durch eine solche Geschichtsauffassung kann dann die Gegenwart als sinnhaft erlebt werden, d. h., sie kann religiös oder auch ideologisch interpretiert werden: Gerade in ihrer Krisenhaftigkeit ist sie die Vorstufe, gerade in ihren Verfallserscheinungen ist sie das Fanal des kommenden Heils.
6. In ihrer Bedeutung für die individuelle Lebensführung sei eigens die Bekehrung als weiteres Merkmal fundamentalistischer Orientierung genannt. Sie läßt sich in eine eigene, die fundamentalistische Lebenshaltung sichernde Beziehung zu den Krisenerfahrungen der modernen Lebenswelt setzen. Die von fundamentalistischen Bewegungen oft zur Norm erhobene Bekehrungserfahrung hat auch eine lebensentlastende und lebensorientierende Bedeutung. Die eigene Biographie gewinnt Kontur und Anhaltspunkt, wo sie auf Bekehrung hin gedeutet und strukturiert werden kann. Dies erhält in der gegenwärtigen Lage sein besonderes Gewicht, da andere sozial bislang verfügbare, identitätssichernde Fixpunkte einer Biographie (Berufswahl, Heirat usw.) alle im strukturellen und kulturellen Umschmelzungsprozeß der Mo-deme diese ihre Bedeutung kräftig eingebüßt haben. „Bekehrung“ heißt eben in sozialpsychologischer Perspektive auch: Das Wissen, wohin man auch in seiner eigenen Lebensgeschichte gehört. 7. Schließlich sei die Bedeutung rigider Normen und Werthaltungen für die fundamentalistische Lebensführung wenigstens noch kurz erwähnt. Gerade weil die umgebende Gesellschaft als moralisch zerfallen und anomisch erfahren wird, verleiht das Leben in der fundamentalistischen Gemeinschaft mit seinen strengen normativen Regelungen Entlastung und Sicherheit.
Dies also ist das Angebot des Fundamentalismus: Geborgenheit in neuer verbindlicher Wahrheit, eine „feste Burg“ inmitten der Pluralität, Relativierung und Auflösung überlieferter Gewißheit.
IV. Der Fundamentalismus: Anfrage und Herausforderung für Gesellschaft und Kirche
Jeder, der sich auf das Phänomen „Fundamentalismus“ einläßt, wird alsbald erkennen: Das Thema zwingt zur Auseinandersetzung mit den eigenen Orientierungen und Grundlagen, von denen man herkommt und aus denen man lebt. Anders gewendet: Die Beschäftigung mit dem Fundamentalismus stellt die Frage nach den jeweils eigenen Fundamenten. Im Gewölk postmoderner Beliebigkeit stellt der Fundamentalismus die Frage nach der Wahrheit. Diese in der Präsenz fundamentalistischer Bewegungen enthaltene Rückfrage an das jeweils eigene Fundament ist der Kultur und Gesellschaft ebenso gestellt wie der christlichen Kirche. Hierzu seien abschließend einige kurze, notwendigerweise unvollständige Anmerkungen vorgelegt, wobei wir uns zuerst dem Bereich von Staat, Kultur und Gesellschaft zuwenden.
Hier ist zunächst an die Einsicht zu erinnern, daß Staat und Gesellschaft kultureller Voraussetzungen bedürfen, die sie nicht selbst wieder begründen und garantieren können. Gemeint ist, daß jedes Gemeinwesen, will es von Dauer sein, eines Minimalkonsenses an Werten bedarf, der in der Moralität seiner Mitglieder verankert ist. Nur unter dem Dach eines solchen Minimalkonsenses an Grundwerten, dem die meisten verpflichtet sind, ist es überhaupt möglich, ansonsten unterschiedliche, pluralistische Orientierungen zu leben. Der bloße Rekurs auf die „Vernunft“ des Menschen ist noch keine Garantie für die humane Gestaltung des Gemeinwesens. So gibt es kein einziges „rationales“ Argument gegen Folter, vielmehr sind sehr wohl Situationen denkbar, in denen es „rational“ erscheinen mag, Folter anzuwenden. Toleranz, Menschenwürde, Freiheit der Person, Schutz des Lebens usw. sind Werthaltungen, die sich nicht in einem offenen rationalen Diskurs hersteilen, diesem vielmehr vorausliegen. Durch den Fundamentalismus von außen und innen ist der aufgeklärten liberalen Gesellschaft des Westens die Frage gestellt, aus welchen Werten sie lebt und in Zukunft leben will. Der Tötungsbefehl Chomeinis gegen Salman Rushdie hat schnell die Brüchigkeit westlicher Wertorientierungen offengelegt. Der erste Aufschrei der Empörung gegen einen solchen Anschlag auf die Meinungsfreiheit und Würde der Person wurde in manchen deutschen Verlagen schnell leiser, als es um die Frage ging, die „Satanischen Verse“ in deutscher Übersetzung herauszubringen.
Noch einmal: Der Fundamentalismus zwingt zur eigenen kulturellen Selbstvergewisserung. Man muß kein Prophet sein, um vorauszusehen, daß die Dringlichkeit der Aufgabe kultureller Selbstvergewisserung künftig zunehmen wird. So wird das Gehngen einer wirklichen Vereinigung der beiden Teile Deutschlands auch davon abhängen, ob wir dies als geistig-kulturelle Aufgabe sehen. So wird das erstrebte Zusammenwachsen Europas, soll es nicht in schierem Bürokratismus und einem bloßen wirtschaftlichen Zweckverband enden, auch einer Besinnung auf die geistig-kulturellen Grundlagen bedürfen, die ein solches Europa prägen und in Zukunft sichern können.
Hierbei ist, noch einmal bezogen auf die fundamentalistische Herausforderung, vor allem islamisch-fundamentalistischer Bewegungen, ausdrücklich festzuhalten: Zerrbilder des Islam als Inkarnation des fundamentalistischen Bösen scheinen bei uns zunehmend die Funktion zu bekommen, uns selbst als wahrer Hort von Menschenwürde, der Freiheit der Person, der Toleranz usw. darzustellen. Wir brauchen anscheinend -nicht zum erstenmal in der Geschichte zwischen Orient und Okzident -den Orient als negativ besetztes Gegenbild eigener kultureller Identitätsvergewisserung. Aus einer solchen Strategie ist noch nirgends eigene kulturelle Identität gewachsen. Es geht vielmehr gerade unter dem Eindruck fundamentalistischer Geltungsansprüche -auch aus außerwestlichen Kulturen -um die Frage nach den eigenen kulturellen Quellen.Ebenso stellt der religiöse Fundamentalismus, besonders in seinen christlichen Formulierungen, die protestantische Kirche vor die Frage, wie es denn mit ihren eigenen „Fundamenten“ bestellt ist. Wenn etwa zunehmend auch Jugendliche in ihrer religiösen Orientierung -sieht man von der großen Zahl der religiös Desinteressierten ab -in „fundamentalistischer“ Verbindlichkeit und in den Gruppen und Gemeinschaften, die solche anbieten, ihr Leben zu sichern suchen, so wird die Kirche gut daran tun, dies als Anfrage an sich selbst zu verstehen. So kann z. B. Kirche als Ort von Gespräch und Dialog mit allen pluralen geistigen Strömungen eine große Bedeutung haben, und dies gewiß mit solider, auch theologischer Begründung -als Ort eines voraussetzungslosen Diskurses, der Un-verbindlichkeit an Unverbindlichkeit reiht, produziert sie ihre eigene religiöse Überflüssigkeit. Solches können Volkshochschulen auch und oft besser. Keiner geht zur Kirche, um in der Predigt den politischen Leitartikel von gestern zu hören, gleich welcher politischer Couleur. Wohlgemerkt: Es kann nicht darum gehen, daß die Kirche nun zur Sicherung ihrer selbst sich „fundamentalistisch“ gibt; so wenig sie sich Aktualität sichern kann durch Rezeption von Versatzstücken des New-Age-Denkens. Aber es geht um die Einsicht, daß kirchliche Anpassungsstrategien an die säkulare Kultur spätestens dann scheitern müssen, wenn die säkulare Kultur nunmehr ihrer selbst nicht mehr sicher ist und etwa der Ruf nach neuer Verbindlichkeit aus ihr selber kommt.
Dies ist nur die eine Seite der Anfrage und Herausforderung durch den Fundamentalismus. Ebenso gilt es festzuhalten: Gerade wenn Fundamentalismus Absage an Erklärung und Modemitätsbewußtsein bedeutet, zwingt dies auch zur Abgrenzung und Kritik gegenüber dem fundamentalistischen Denken und seinen Handlungsfolgen. Hier muß es gerade der christlichen Theologie und dem kirchlichen Handeln auch darum gehen, an einem Bündnis mit der Vernunft festzuhalten. Christliche Theologie und Kirche können „sich nicht damit begnügen, den Traditionsbestand dogmatischer Lehrinhalte zu sichern. Damit würde nur eine Gegenwelt des Glaubens der säkularen Welt gegenübergestellt.“ Vielmehr geht es gerade gegenüber einem christlich sich verstehenden Fundamentalismus um die Bewahrung eines Begriffes von Vernunft, in dem auch das Angewiesensein des Menschen auf Gott einbeschlossen ist. Denn es hat, um es mit Wolfhardt Pannenberg zusammenzufassen, „der Bund mit der Vernunft von Anfang an zur missionarischen Dynamik des Christentums gehört. Er hat in der urchristlichen Patristik den Anspruch des Evangeliums auf Allgemeingültigkeit gekennzeichnet, entgegen allen Irrationalismen, an denen ja gerade auch die Spätantike so reich war.“ So kommt es auch „für die christliche Auseinandersetzung mit der säkularen Welt“ und dann eben auch für die Auseinandersetzung mit dem christlichen Fundamentalismus darauf an, „den Verkürzungen der säkularen Kultur gegenüber eine tiefere und weitere Vernunft zur Geltung zu bringen: Darin ist dann der scheinbare Gegensatz von Theonomie und Autonomie aufgehoben, darin sind die großen Errungenschaften der säkularen Kultur wie der Toleranzgedanke und das politische Freiheitsrecht bewahrt.“
Die Herausforderung des Fundamentalismus, die zu Kritik und Abgrenzung zwingt, läßt sich auch an den folgenden, ausgewählten Sachverhalten verdeutlichen, die wenigstens noch angedeutet seien.
So gehört zum Fundamentalismus ein bestimmtes Verhältnis von Politik und Religion. Dies meint: Zum Wesen des fundamentalistischen Denkens gehört, daß sein religiöser oder politisch-ideologischer Geltungsanspruch unmittelbar das politische Handeln leiten und schließlich kulturbestimmend werden soll. Fundamentalismus heißt Theologisierung (oder auch „Religionifizierung“) der Politik und Politisierung der Religion Hier bedeutet Fundamentalismus das Zurückfallen hinter einen Erwerb gelungener Aufklärung. Es ist dies ein Rückfall hinter jenen Prozeß „religionspolitischer Aufklärung“ (H. Lübbe), der gerade darin besteht, daß die Wahrheit der Religion und der dann begrenzte Geltungsanspruch politischen Handelns auseinandertreten. Es gehört insofern zu den Beständen gelungener Aufklärung -freilich in der Realgeschichte der Moderne ständig bedroht daß das politische Handeln den Freiraum zu sichern hat, in dem unterschiedliche religiöse oder weltanschauliche Orientierungen gelebt werden und nebeneinander bestehen können. Damit kann der Fundamentalismus nicht leben. Denn ihm sind alle anderen religiösen oder weltanschaulichen Orientierungen bloßer Abfall von der Wahrheit, ein religiöses und schließlich auch ein kulturelles Dissidententum. Sein religiöses und politisches Ziel ist die religiös fundamentierte societas perfecta
Wenigstens erwähnt sei, daß für fundamentalistisches Denken ebenso ein bestimmtes Verhältnis von Wissenschaft zur Religion kennzeichnend sein kann; hier wird Wissenschaft zur Garantiemacht der „objektiven“ Richtigkeit des fundamentalistischen Glaubens. Ein klares Beispiel hierfür bietet der sogenannte „Kreationismus“ der die Wahrheit des biblischen Glaubens naturwissenschaftlich nachweisen will; so wenn er, ausgehend von der rational beweisbaren Irrtumslosigkeit der Bibel, naturwissenschaftlich begründen will, daß der biblische Schöpfungsbericht, wonach Gott die Erde in sechs Tagen geschaffen habe, gegenüber der Evolutionstheorie größere Plausibilität besitze.
Sodann ist die prinzipielle oder zumindest tendenzielle Dialogunfähigkeit des Fundamentalismus zu nennen. Die Problematik solcher Dialogunfähigkeit liegt nun weniger darin, daß „Dialogfähigkeit“ eine menschlich gewiß wünschenswerte Qualität wäre (was sie sicherlich auch ist); vielmehr geht es um die Einsicht, daß die kulturelle und gesellschaftliche Reallage, in der wir jetzt schon stehen und in der wir künftig, nach aller menschlicher Voraussicht, noch klarer stehen werden, Dialogfähigkeit und Dialogbereitschaft zu einer Schicksalsfrage macht. Die „Intemationalisierung und Globalisierung“ der Kultur wird auch zur Konsequenz haben, daß wir zunehmend in eine Kultur hineinleben, in der unterschiedliche religiöse Daseinsauffassungen gelebt werden. Wie wir eine solche Lage bestehen, wird auch davon abhängen, ob wir eine Dialogfähigkeit lernen, die das Eigene be wahrt, im Dialog womöglich vertieft neu entdeckt und zugleich das Gewissen, die Würde und die Personalität des anders Glaubenden achtet.
Schließlich ist auch nicht zu übersehen, daß manche fundamentalistische Bewegungen Züge eines religiösen Totalitarismus annehmen können. Ein solcher könnte, wegen seines immer auch politischen Anspruchs, gerade in Zeiten kultureller und politischer Ungewißheit und Verunsicherung schnell zu einer sehr konkreten Herausforderung für Staat und Gesellschaft werden. Aber gerade auch wo religiöser Fundamentalismus sich in Gruppen und Gemeinschaften zur Herrschaftsform eines religiösen Totalitarismus entwickelt, sind christliche Kirche und christliche Gemeinde im Glauben herausgefordert. Die Manipulation religiöser Heilsziele und Heilswege zum Zwecke menschlicher Machtausübung, die Mißachtung des einzelnen durch Ausbeutung und Vergewaltigung des Gewissens -solch beobachtbaren Tendenzen in manchen Gruppen und „Sekten“ wird die christliche Kirche im Namen ihres Auftrages widerstehen müssen.
Doch sollen diese Überlegungen zum Thema „Fundamentalismus“ nicht mit der Beschreibung, gar Beschwörung seiner Gefahren abschließen. Wenn -recht begriffener -Dialog eine Aufgabe gegenwärtiger Kulturlage ist, muß dies auch gerade gegenüber dem Fundamentalismus gelten. Nur: Wie führt man einen Dialog mit „Dialogunwilligen“, mit einem Fundamentalismus, der zum Dialog nicht in der Lage sein kann? Ein erster Schritt hierzu wäre, hinter dem „Fundamentalismus“ den „Fundamentalisten“ zu sehen, d. h.den Menschen, der in der Brüchigkeit und Unübersichtlichkeit der Gegenwart sein Leben zu sichern sucht. Das feste Gehäuse fundamentalistischer Orientierung hat sich der „Fundamentalist“ ja mit guten Gründen gesucht. Auch gegenüber dem Fundamentalisten geht es um das Bemühen um ein inneres Verstehen eines solchen Weges. Hierher gehört auch -bei allen nicht zu verschweigenden Fraglichkeiten, ja auch Gefahren Es gilt wahrzunehmen, daß es dem Fundamentalisten im Kern um seine religiöse (oder weltanschauliche) Wahrheit geht. Also: Plädoyer für einen Dialog auch mit dem Fundamentalismus! Dieser kann um so eher gelingen, wenn alle Teilnehmer an einem solchen Dialogversuch bereit sind, von ihren eigenen Fundamenten zu erzählen.