I. Vorbemerkungen
Die sozialen Umbrüche haben im Osten Deutschlands sehr unterschiedliche, teilweise unerwartete Reaktionen der Menschen hervorgerufen. Sie sind durch objektive Lebensbedingungen schicht-spezifisch geprägt. Unterschiede im Sozialverhalten resultieren aber auch -was oft unterbewertet wird -aus der eigenen Biographie und Lebensführung, dem spezifischen Gewordensein in der DDR und aus sozialen Interaktionen.
Diese strukturell bedingten Veränderungen und ihre Wirkungen auf endogene Potentiale im Osten Deutschlands stehen im Zentrum unseres Forschungsprojektes „Der Wandel sozialer Milieus und Strukturen in den neuen Bundesländern -Am Beispiel der Stadtregionen Leipzig und Brandenburg“. Unser Augenmerk richtet sich auf Veränderungen in den Lebensführungen von Angehörigen unterschiedlicher sozialer Gruppierungen (Milieus) angesichts neuer sozialstruktureller Verhaltenszumutungen und -chancen, aus denen sowohl Potenzen als auch Risiken für dep Transformationsprozeß erwachsen Damit folgen wir dem Bourdieuschen Konzept, das die Wirkung soziokultureller Handlungsmuster und Verhaltensweisen auf die Reproduktion sozialer Strukturen ins Zentrum soziologischer Forschungsperspektive rückt In unserem Projekt nutzen wir dieses Konzept, um eine soziale Umbruchsituation begleitend zu erforschen.
Wir gehen in unseren Überlegungen von einem relativen Beharrungsvermögen der existierenden milieuspezifischen Denk-und Verhaltensmuster aus, das mit einer Aufwertung oder Zurückdrängung bisheriger individueller bzw. gruppenspezifischer Strategien verbunden ist. Sie entscheiden, wie die objektiven Lebensbedingungen angenommen und gestaltet werden. In unserem Forschungsprojekt verbinden wir traditionelle quantitative mit verschiedenen qualitativen Forschungsmethoden.
Um die verschiedenen Milieus im sozialen Raum verorten und Veränderungen in der Sozialstruktur erkunden zu können, werden sozialstatistische repräsentative Panel-Daten zur objektiven Lebenslage und subjektiven Befindlichkeit zusammengetragen und für unsere Fragestellung ausgewertet. Im Mittelpunkt stehen Verschiebungen in der Berufsstruktur, die in engem Zusammenhang mit Wanderungen im sozialen Raum zu sehen sind.
Im Rahmen dieses Beitrages wollen wir zunächst Ergebnisse biographischer Interviews und zahlreicher Expertengespräche vorstellen, in denen es schwerpunktmäßig um die aktuellen Erfahrungen von Einwohnern der Stadt Brandenburg vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Lebensgeschichten geht. Sie verdeutlichen, daß auch die individuellen Handlungsmuster der ostdeutschen Bevölkerung, je nach Mentalität und Erfahrungshintergrund, verschieden sind Die Aneignung und Gestaltung der veränderten sozialen Situation sind darüber hinaus durch soziale Interaktionen und Kontrolle innerhalb der verschiedenen Milieus bedingt. Aus dieser Perspektive heraus betrachten wir die nachfolgenden Beispiele individueller Lebensschicksale. Für die möglichst genaue Analyse der Ausbildung entsprechender Tendenzen scheint es uns -nicht nur angesichts der schlechten Datenlage -sinnvoll, von regionalen Fallbeispielen auszugehen. Der Übergang zu marktwirtschaftlichen Prämissen der Gesellschaftsgestaltung bringt eine bisher nicht gekannte Differenzierung zwischen den einzelnen ostdeutschen Regionen und zwischen Ost und West mit sich. Sie trifft auf bisher kaum beachtete regionale Ausprägungen sozio-kultureller Besonderheiten. Beide Tatsachen sollten auch bei der Analyse lebensweltlicher Veränderungen unter den Bedingungen des Transformationsprozesses die notwendige konzeptionelle Aufmerksamkeit erfahren.
Die Stadt Brandenburg steht im folgenden als ein regionales Fallbeispiel für sozialstrukturelle Prozesse in Ostdeutschland.
II. Brandenburg im Umbruch
Das tausendjährige Brandenburg wurde in seiner Sozialstruktur im Zuge der Industrialisierung seit dem 19. Jahrhundert besonders von Proletariern, aber auch von Handwerkern, Angestellten und Beamten geprägt. Derzeit leben hier knapp 89000 Menschen, unter ihnen nicht einmal ein Prozent Ausländer.
Obwohl Brandenburg im Vergleich zu südlichen Städten der DDR bessere wirtschaftliche und soziale Chancen erhielt, wurden beginnende Modernisierungstendenzen in der sozialstrukturellen Entwicklung auch hier durch politische Überformung blockiert. Das wirkt heute als Belastung im Transformationsprozeß nach. Im traditionellen Industriestandort Brandenburg brechen gegenwärtig ganze Branchen weg. Das hat katastrophale Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Wenn man die Zahlen der registrierten Arbeitslosen der Kurzarbeiter, der Teilnehmer an Umschulungen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) addiert, stehen den ca. 45000 Beschäftigten gegenwärtig etwa 22000 Nichtbeschäftigte gegenüber Jeder dritte Brandenburger wurde vom Arbeitsmarkt verdrängt und diese Tendenz ist anhaltend. Im Unterschied zu anderen Regionen eröffnen sich allerdings durch Investitionen, Existenz-und Ausgründungen sowie durch den Ausbau des Dienstleistungsbereiches positive Aussichten für die Stadt. Davon zeugen beispielsweise Aktivitäten so großer Unternehmen wie der Heidelberger Druck AG, der Zahnradfabrik Friedrichshafen und des italienischen Stahl-Konzerns Riva. Wichtig für die Region ist gleichermaßen, daß sich Brandenburger auf alte Handwerkstraditionen besinnen. Das produzierende und dienstleistende Handwerk erlebt dadurch erneut einen Aufschwung.
Die skizzierte widersprüchliche Gesamtsituation erzwingt soziale Umorientierungen in unterschiedliche Richtungen. Junge qualifizierte Arbeitskräfte gehen nach wie vor in den Westen, wodurch der Stadt eine fortschreitende Überalterung droht. Ein anderes Problem stellt die Unterprivilegierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt dar. Obwohl sich viele von ihnen vor allem im Rahmen von Umschulungen bemühen, auch in Zukunft dauerhaft am Berufsleben teilzunehmen, werden ihre Chancen dafür zunehmend schlechter.
Damit sind einige Dimensionen sozialer Umstrukturierung in der Brandenburger Region Umrissen. Im folgenden skizzieren wir anhand erster Unter-suchungsergebnisse, wie sich Alltagsleben in den verschiedenen sozialen Milieus zu verändern beginnt
III. Fünf Varianten für Leben im Wandel
1. Einer für alle?
Zuerst soll hier über Herrn Lamprecht berichtet werden, der heute Betriebsratsvorsitzender in einem mittleren Metallbetrieb Brandenburgs ist. Schon vor der Wende hatte unser Interviewpartner, wie er sagt, kein Blatt vor den Mund genommen, sprach nicht nur im Kreise seiner Kollegen, sondern auch gegenüber Leitern und politischen Funktionären betriebliche und gesellschaftliche Mißstände offen an. Menschen wie er waren in den DDR-Betrieben so etwas wie eine „nichtoffizielle Institution“, über die -wenn auch für alle Seiten zunehmend unbefriedigend -betriebliche Konflikte begrenzt wurden
Noch heute wundert sich Herr L. darüber, daß ihn in all den Jahren „keiner verpfiffen hat“, sonst hätte es ihm „schlecht ergehen können“. Einmal, Mitte der fünfziger Jahre, wurde allerdings eine Wohnungszuweisung an seine Familie zurückgenommen, weil er öffentlich über die SED gesagt hatte: „Solange so viele in der Partei sind, die nur ihre Vorteile suchen, ist es keine Partei.“ Das hat ihn, wie einige andere Erfahrungen mit der DDR-Staatsmacht, nachhaltig gekränkt.
Sensibel für Machtverhältnisse spürte Herr L. im Frühsommer 1989 die Chancen, die sich im Zerfall der alten Strukturen ankündigten. So hat er nicht nur aktiv an den Brandenburger Demonstrationen teilgenommen, sondern sich auch frühzeitig in seinem Werk auf Belegschaftsversammlungen engagiert. Gemeinsam mit einigen anderen Kollegen sorgte er dafür, daß diese nicht so abwartend und ruhig verliefen wie in den meisten anderen Betrieben der Stadt. Kein Wunder, so scheint es, daß Herr L. von seinen Kollegen Ende 1989 gedrängt wurde, für die seit Jahrzehnten erste demokratische Betriebsgewerkschaftswahl zu kandidieren, und daß er mit großer Mehrheit -auch bei der späteren Betriebsratswahl -gewählt wurde. Inzwischen ist Herr L. eine offizielle Autorität nicht nur für große Teile der Belegschaft, sondern auch für die ost-/westbesetzte Arbeitgeberseite seines Werkes. Der Betriebsrat hat unter seiner Führung einen erfolgreichen Kampf um die Sicherung eines Kerns von Arbeitsplätzen zur Sanierung des Betriebes geführt, darüber hinaus ist es gelungen, einige Mitarbeiter in andere Betriebe zu vermitteln. Für jene, die den Betrieb dennoch verlassen mußten, wurde ein akzeptabler Sozialplan erstritten. Selbstbewußt und mit Erfolg vertrat der Betriebsrat die Meinung der Arbeiter bei der Besetzung der mittleren Leitungsebenen und bei der Neueingruppierung der Belegschaft.
Wie auch Betriebsräte anderer Unternehmen hat Herr L.sehr schnell gelernt, die Spielregeln des Betriebsverfassungsgesetzes für die Lösung der drängendsten Probleme im Interesse der Belegschaft zu nutzen, d. h.der Geschäftsführung als kompetenter, hartnäckiger, aber auch als kompromißfähiger Partner gegenüberzutreten. Von besonderer Bedeutung für die bisher erreichten Erfolge bzw. Kompromisse im Interessen-kampf ist für die Betriebsräte um Herrn L. die enge Beziehung zwischen dem qualifizierten Kern der Stammbelegschaft des Betriebes sowie einer kleinen Gruppe der ingenieurtechnischen Angestellten und der unteren bis mittleren Leiter. Auf dieser Basis wurden in der Wende nicht nur in diesem Betrieb eine Reihe hochqualifizierter Spezialisten in Arbeitnehmervertreterfunktionen gewählt, die in westdeutschen Unternehmen eher in den Etagen des Managements zu finden wären Ein Teil von ihnen hatte zu DDR-Zeiten aus unterschiedlichen Gründen keine Karrierechancen. In ihrer neuen sozialen Stellung können sie nun ihre fachlichen Kompetenzen ausschöpfen und in Einklang mit ihren Vorstellungen von einer Interessenvertretung für die gesamte Belegschaft verwirklichen.
Herr L. steht für jene kleine Schicht innerhalb des traditionellen Arbeitermilieus, die gemeinsam mit den erwähnten angrenzenden sozialen Gruppierungen den Prozeß der Neukonstituierung von ostdeutschen Arbeitermilieus einleitete. Charakteristisch ist der Übergang von früher informellen zu heute rechtlich geregelten Formen demokratischer Interessenvertretung. Persönlichkeiten wie Herr L. sind vorrangig in den bisherigen Groß-und Mittelbetrieben anzutreffen. Wie das Brandenburger Beispiel zeigt, begann diese Umorientierung nicht in einer Stunde „Null“. Eine ganz wesentliche Rolle spielen die historisch gewachsenen kulturellen und sozialen Ressourcen der Region. Viele der von uns befragten Betriebsräte fühlen sich verantwortlich, die Interessen ihrer Kollegen gegenüber dem Arbeitgeber zu vertreten. Damit kommen sie weitverbreiteten traditionellen Vorstellungen in der Arbeiterschaft entgegen, ihre Interessenvertretung im Betrieb sei (wie früher) Sache ganz bestimmter Kollegen, die mit genügend Kompetenz und Autorität ausgestattet sind. Das Ansehen der Arbeitnehmervertreter wächst mit den Erfolgen, die sie der Arbeitgeberseite in wichtigen Fragen abhandeln können. Es sinkt mit deren Ausbleiben. In Betrieben wie dem von Herrn L. wurde ein erster Schritt zur demokratischen Interessenvertretung von Arbeitern und Angestellten getan.
Viel problematischer sieht es in jenen ausgegründeten Firmen und noch nicht geschlossenen Treuhandbetrieben aus, in denen es keine Arbeitnehmervertretungen gibt bzw. diese sich unter dem Druck ständiger Umstrukturierungen nur schwer konsolidieren können Hier wächst unter der Belegschaft die Existenzangst, reproduziert sich die alte Skepsis gegenüber den Möglichkeiten eigener Interessenvertretung auch unter den neuen Bedingungen. Unter dem Druck andauernder Massenentlassungen scheinen individuelle Handlungsstrategien oder auch Abwartehaltungen vielfach die einzig möglichen Verhaltensmuster zu sein.
Herr Nolze, in einem der Großbetriebe des Ortes beschäftigt, ist ein Fachmann auf seinem Gebiet. Mehrfach hat er sich fort-bzw. weitergebildet, aber wenn sein Betrieb -wie absehbar ist -geschlossen wird, besteht für seine Fähigkeiten in der Region kaum noch Bedarf. Erst 38jährig, zählt er sich, wie dies seine Kollegen im Alter zwischen 40 und 55 Jahren ohnehin tun, schon zum alten Eisen. Weggehen möchte Herr N. nicht. In Brandenburg hat er sein Häuschen und seine Familie. Er rechnet sich jedoch kaum noch berufliche Chancen aus und hat Angst vor der Zukunft, denn er weiß nicht, was er tun soll. Er müßte praktisch ganz von vorn anfangen. Das demütigt ihn genauso wie die vielfach im Westen Deutschlands vertretene Meinung, Ostdeutsche müßten erst mal richtig arbeiten lernen. Soll er umschulen? Aber welcher Beruf ist der richtige? Weil er auf diese und andere Fragen keine Antwort weiß und weil ihn die Angst lähmt, tut Herr N. im Moment gar nichts für seine Zukunft, außer pünktlich seine Arbeitslosenversicherung zu zahlen
Dagegen ist ein Teil der jüngeren Facharbeiter und Spezialisten im Alter bis etwa 30 Jahren wesentlich agiler. Ohne größere familiäre Belastung, aber mit einer guten Ausbildung in der Tasche, bemühen sie (meist Männer) sich in Westdeutschland um Arbeit, ziehen weg oder pendeln zwischen Ost und West. Ein anderer Teil der Jüngeren setzt auf Umschulung, wie der 28jährige Klaus 5., der ursprünglich einen Metallberuf erlernte, jetzt aber auf einen der „Weißkittelberufe“ umschult und sich danach eine Chance in einem der modernisierten Kleinbetriebe der Umgebung ausrechnet. Er blickt gelassen in die Zukunft, endlich kann er ohne Grenzen seinem ausgefallenen Hobby nachgehen. Das Geld dafür? „Kein Problem“, das schafft der Alleinstehende schon irgendwie ran.
2. Auf der Verliererseite
Das ist bei der alleinstehenden 37jährigen Frau Thalbach, die mit ihren zwei Kindern bei ihrer kranken Mutter wohnt, anders. Sie wurde Ende 1991 im Zuge der dritten Entlassungswelle aus ihrem Betrieb entlassen, in dem sie nach Abschluß der 8. Klasse einen Teilfacharbeiterberuf erlernt und später gearbeitet hatte. Der Betrieb legte der Treuhand einen Sanierungsplan nach dem anderen vor, seine Bestätigung bedeutete stets die Entlassung für einen weiteren Teil der Mitarbeiter. Der Betriebsrat des Frauenbetriebes konnte Sozialfälle wie den der Frau T. mit viel Kraft und Improvisationswillen noch über die ersten beiden Entlassungswellen retten, danach wurde die Alleinstehende arbeitslos.
Frau T. möchte arbeiten, sie muß arbeiten, um mit ihren Kindern nicht völlig ins soziale Abseits zu geraten. Aber sie sieht keinen Weg. Auf dem Arbeitsamt konnte man ihr bislang nicht helfen. Angebote für eine Umschulung, die sie für einen neuen Arbeitsplatz gerne auf sich nehmen würde, setzen den Abschluß der 10. Klasse voraus. Innerlich hat sie die Hoffnung auf Hilfe noch nicht aufgegeben, wenngleich sie nicht recht weiß, von wem diese kommen soll. Und -Hilfe braucht Frau Thalbach.
Es ist nicht so, daß sie die Hände in den Schoß legt, ihr Arbeitslosenalltag beschäftigt sie voll und ganz. Ihr Jüngster, der auf die existentielle Bedrohung der Familie neuerdings mit ständigen Infektionskrankheiten und beginnenden Verhaltensstörungen reagiert, muß zu Hause betreut werden.
Sozialzuschläge für den Kindergarten oder andere Ausgaben erhält sie nur unter großem zeitlichen Aufwand und in einer Weise, die sie als entwürdigend empfindet. Eine Fahrt zum Arbeitsamt oder zum Gericht in der Stadt kostet Frau T. zudem über 5, 00 DM. Zum Gericht wird sie nun wohl öfter müssen, denn ihr sind schon mehrere Zahlungsaufforderungen von dubiosen „Kaffee-Fahrten-Firmen“ ins Haus geflattert. Es sind Summen zu begleichen, über die sie gar nicht verfügt.
Frau T. versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie will sich weder auf die Sozialhilfe zurückziehen, noch will sie bei den Geldforderungen nachgeben. Aber ein Großteil der Spielregeln der neuen Gesellschaft sind ihr unbekannt und für manches fehlt ihr auch die Kraft.
Frau T. ist nicht wütend verzweifelt, sie ist auf eine stille Weise einfach ratlos. Und -sie fühlt sich von denen, die ihr ein besseres Leben versprochen haben, im Stich gelassen.
Vermutlich werden die sozialen Schwierigkeiten der genügsamen, stillen Frau T. nicht in einer Weise eskalieren, daß die neue Gesellschaft darauf reagieren „muß“. Aber die Probleme kumulieren bei ihren Kindern. Daß sie zu Hause von der Großmutter sehr oft hören, den Ausländern in Deutschland gehe es besser als ihnen, könnte in deren Leben einmal einen Ausschlag geben. Die soziale und politische Erfahrung der Kinder von Frau T. beginnt mit einer schweren Hypothek.
3. „Ich bin nicht mehr das Karlinchen von früher“
Auf der Suche nach Gesprächspartnern im Verwaltungsbereich der Stadt Brandenburg trafen wir Frau Heidenreich. Wir wollten die vielzitierte Norm(al) -biographie erkunden und fanden auch hier das bunte Leben.
Frau H. ist heute 39 Jahre alt, Angestellte, verheiratet und hat zwei Kinder. Sie wuchs mit drei Geschwistern in sehr einfachen, bescheidenen Verhältnissen auf, konnte studieren und lebt heute mit ihrer Familie in Brandenburg.
Mit Fleiß und großer Selbstverständlichkeit geht Frau H. an ihre jetzige Tätigkeit, in der sie Verantwortung für einen ganzen Arbeitsbereich trägt. Damit nahm sie nach der Wende einen bescheidenen sozialen Aufstieg. Obwohl sie -wie auch ihr Mann -einen sicheren Arbeitsplatz hat und nun zum ersten Mal auch durchschnittlich gut verdient, wird weiter sparsam gelebt. Sicherheit, besonders die finanzielle, bedeutet ihr sehr viel.
Frau H. gehört zu jenen Frauen im Angestellten-bereich, die ihre Bildungschance genutzt haben und in Ehe und Beruf „ihren Mann“ stehen. Sie konnte die Grenzen ihrer familiären Herkunft überschreiten, indem sie ihr „kulturelles Kapital“ (höhere Bildung, erworbene Kompetenzen) im Bourdieuschen Sinne anreicherte. Indem Frau H. Bildungsmöglichkeiten nutzte und die offizielle Abwertung von materiellem Besitz in der DDR akzeptierte, gewann sie eine gewisse soziale Mobilität. Auch traditionelle Verhaltensmuster in den Geschlechterrollen wurden durch ihre erweiterten Lebensansprüche zurückgedrängt. Das symbolisiert sich in ihrer Forderung an die Schwiegereltern und ihren Mann, endlich zu begreifen, daß „ich nicht mehr das Karlinchen von früher bin“.
Andere Frauen aus diesem Bereich, die nicht über vergleichbare soziale Voraussetzungen wie Frau H. verfügen und den Sprung in die Marktwirtschaft vorrangig als berufliche Verunsicherung erleben, müssen andere Verhaltensweisen und Sicherheitsstrategien nutzen, sich etwa ganz auf die Familie zurückziehen.
Bereits die bisher umrissenen Beispiele zeigen, wie unterschiedlich Angehörige traditioneller sozialer Milieus auf die gleichen schwierigen Veränderungen reagieren. Sie sollen das Bild von den untätigen, grauen Ostdeutschen widerlegen helfen, das sich auf den ersten Blick und vor dem Hintergrund der altbundesdeutschen Erfahrungen verbreitet eingestellt hat. 4. „Das Frauenhaus, daß das jetzt möglich war.. Über dem damit beschriebenen unteren und mittleren sozialen Feld befindet sich eine „kleine Schicht“, die über mehr „kulturelles Kapital“ verfügt. Sie rekrutiert sich insbesondere aus Vertretern der medizinischen und technischen Intelligenz. Wissenschaftlich, künstlerisch und sozial Qualifizierte sind ihr ebenfalls zuzurechnen. Sie ist jedoch in der Stadt Brandenburg deutlich in der Minderheit.
Diese Schicht ist insbesondere durch ein hohes Qualifikationsniveau und Allgemeinwissen charakterisiert. Ihre Vertreter verfügten bzw. verfügen über sehr unterschiedliche Einkommen und soziale Positionen, über verschiedenartige soziale Netze, Beziehungen und Verhaltensmuster Sie gehören verschiedenen sozialen Milieus bzw. Submilieus an Mit ihren Verhaltensweisen und Ansprüchen beeinflussen sie spürbar das städtische Leben, sie hinterlassen Spuren in der Kommunal politik, in sozialen Institutionen Brandenburgs, beeinflussen die regionalen Wirtschaftsstrukturen.
Um das neu aufgebaute Brandenburger Sozialamt herum gruppieren sich soziale Projekte aus unterschiedlichen Trägerschaften, deren Arbeit bestimmten sozialen Randgruppen gewidmet ist. Seit Anfang des Jahres gibt es in Brandenburg auch ein Frauenhaus. Angebunden ist es an den Unabhängigen Frauenverband. Frau Hübner ist eine Hauptverantwortliche für die inhaltliche und organisatorische Arbeit dieser Einrichtung; die Stelle -eine ABM-Stelle -wird vom Arbeitsamt finanziert. Um eine von ihr lange gehegte Idee -„Frauen gegen Gewalt zu schützen“ -umzusetzen, gab Frau H. ihre feste Anstellung in der kirchlichen Sozialarbeit auf und ging ein befristetes Arbeitsverhältnis ein. Ein Frauenhaus-Projekt war in der DDR nicht realisierbar, durfte es doch nach der offiziellen Interpretation der Wirklichkeit überhaupt keine Gewalt gegen Frauen geben.
Nach monatelanger konzeptioneller Arbeit, persönlicher Weiterbildung und aufreibender Organisationsarbeit konnte das Frauenhaus eröffnet werden. Es bietet 21 Plätze für Frauen und deren Kinder und ist immer voll belegt. Für die Brandenburger ist dies ebenso eine neue Erfahrung wie die volle Auslastung des Obdachlosenhauses der Stadt.
Die Konsequenz, mit der Frau H. ihre selbstgesteckten Lebensziele verwirklicht, ist für Menschen ihres Umfeldes gleichermaßen charakteristisch. Es scheint uns gerechtfertigt zu sein, in diesem Zusammenhang von einem politisch-alternativen Submilieu zu sprechen Es hat sich -sehr klein und überschaubar -auch in der DDR entwickelt.
Eine kritische Auseinandersetzung mit den politischen Strukturen und Institutionen, durch die die in der sozialistischen Programmatik fixierte „menschenwürdige Gesellschaft“ negiert bzw. unterlaufen wurde, waren für Frau H. und Gleichgesinnte wesentlicher Lebensinhalt. Dazu fanden sie sich beispielsweise im Friedenskreis zusammen, der wie andere Gruppen unter dem Schutz der Evangelischen Kirche agierte. Die danach erarbeiteten Vorstellungen können heute partiell umgesetzt werden, unter anderem mit einem Frauenhaus. Ihre bisherige soziale Praxis erschwert es Menschen wie Frau H., mit interessierten Brandenburgern anderer Milieus in stärkerem Maße bei kommunalpolitischen Entscheidungen zusammenzuarbeiten. 5. Eine Frau macht Untemehmenspolitik
Andere Verhaltensmuster zeigen sich bei Brandenburgern mit Karriere-bzw. Aufstiegsorientierungen. Status-und Bildungsgewinn wurden in der DDR stark durch politische Restriktionen beeinflußt -Karrieren wurden zugelassen oder auch behindert
Frau Hausmann steht für einen bestimmten Typ innerhalb dieser Gruppierung. Ihre berufliche Entwicklung in den letzten Jahren hätte auch anders verlaufen -gebrochen werden -können. Nachdem Frau H. sich zielgerichtet auf ihre berufliche Laufbahn konzentriert hatte, wurde die Ingenieurin 1986 als Direktorin eines mittleren Betriebes eingesetzt. In der Nachwende stellte sie in der Betriebsleitung die Vertrauensfrage, bekam eine positive Antwort und wurde eine der Geschäfts-führerinnen. Aus der Belegschaft gab es gegen diese Art von Kontinuität auch Angriffe. Der Betriebsrat stellte -insbesondere im Kontext eines starken Personalabbaus in den letzten zwei Jahren -wiederholt Fragen nach betrieblichen Perspektiven und der Kompetenz der Geschäftsleitung. Frau H., die diese für sich in Anspruch nimmt, kämpft seit Herbst 1990 engagiert um das Überleben des Treuhanduntemehmens. Natürlich geht es ihr dabei auch um ihr persönliches Fortkommen. Das aber hätte Frau H. möglicherweise auch leichter haben können, hatte sie doch andere Arbeitsangebote von westlichen Unternehmen. In dieser Entscheidungssituation jedoch erweist sie sich als „Kind der Republik“ -es geht ihr darum, „ihren“ Betrieb „durchzubringen“.
Die Entscheidung, den betrieblichen Kindergarten solange zu erhalten, bis ihn ein gemeinnütziger Verein tragen kann, oder ihr Bemühen, gemeinsam mit dem Betriebsrat Umschulungs-oder ABM-Perspektiven für einige der zu entlassenden Kolleginnen zu finden, zeugen davon, daß sich in dieser Frau klassische Karrieremuster mit dem Wunsch paaren, „etwas für andere zu tun“.
Das ist ein biographisches Moment, das nur ein typisches Verhaltensmuster beschreibt. Auffällig ist gegenwärtig eher ein anderer Typ. Er gehört auch der beschriebenen Schicht an, erklimmt selbstbewußt die soziale Stufenleiter und paßt sich scheinbar problemlos den veränderten Machtmechanismen an. Solches „Umpolen“ ist aufgrund der politischen Veränderungen natürlich nur bestimmten Gruppierungen möglich. Bei Aufstiegsorientierten, die zu DDR-Zeiten leitende Funktionen inne-hatten, gab es mit der Wende häufig einen Karriereknick. Sie haben ihre bisherigen beruflichen und sozialen Positionen verloren, was von ihnen als schwerer Verlust erlebt wird. Durch ihren Ausschluß wird auf Potenzen für den sozialen Umbau im Osten verzichtet.
Es ist zu vermuten, daß es gerade unter den aufstiegsorientierten Brandenburgern zu starken Umschichtungen kommen wird. Schon heute zeigen sich bei den „Neueinsteigern“ nicht nur jene, deren sozialer Aufstieg zu DDR-Zeiten blockiert war.
IV. Kontinuität und Wandel
Inwieweit die von uns skizzierten Verhaltensmetamorphosen eine „nachholende Modernisierung“ unterstützen oder aber einer „Individualisierung“ im Sinne von Ulrich Beck entgegenkommen werden, bleibt zu erkunden. Festzustellen sind im Kontext der beginnenden Transformation zunächst einsetzende Wanderungen im sozialen Raum, eine Verstärkung der Abgrenzung zwischen den Milieus und erhebliche regionale Unterschiede in den sozialen Lagen. Abschließend wollen wir aus unseren Untersuchungsergebnissen die folgenden hervorheben: 1. Bei der Analyse der ostdeutschen Sozialstruktur sind zwei historisch bedingte Unterschiede zu westdeutschen Entwicklungen zu beachten. Erstens sind bis in die achtziger Jahre für die DDR insgesamt eher traditionelle Verhaltensweisen prägend gewesen. Ihr Bestand wurde durch ökonomische und politische Strukturen untermauert. Zweitens konnten sich neue soziale Praktiken durch die politisch begrenzte Öffentlichkeit nur in eingeschränktem Maße ausdifferenzieren. Sie wurden marginalisiert und diskriminiert. Unter den Bedingungen sich erweiternder Chancen, aber auch Risiken für sozialen Auf-und Abstieg werden die Differenzen und Abgrenzungen in den Verhaltens-praktiken wachsen.
Sollen aktuelle Veränderungen im sozialen Raum hinreichend erklärt und in ihren möglichen Richtungen vorhergesagt werden, müssen die Ansätze vorhandener Ausdifferenzierungen innerhalb der traditionellen Milieus beleuchtet werden. Gleichzeitig sind die DDR-spezifischen sozialen Abgrenzungs-und Austauschmechanismen innerhalb und zwischen den einzelnen Milieus bedeutsam, die unter den Bedingungen politisch begrenzter Öffentlichkeit blockiert waren. Sie bedingten die Reproduktion sozialer Balancen während der Stagnation und fortschreitenden Gesellschaftskrise ebenso wie das langsame Abdriften ganzer sozialer Gruppen von ihren Ursprungsmilieus. Sie bildeten so auch eine Voraussetzung für das Aufbrechen der Gesellschaftskrise in der DDR. 2. Veränderungen in den aktuellen Verhaltens-praktiken lassen sich nicht einfach durch individuelle Entscheidungen herbeiführen, sie beziehen sich immer auch auf die (Erosions-) Geschichte der Muster sozialer Kohäsion und Abgrenzung. In allen sozialen Milieus wird auf langfristig gewachsene Verhaltens-und Wertemuster zurückgegriffen, die in keiner Richtung einfach zu „wenden“ oder gar „abzuschaffen“ sind. Sie machen gerade die Vielfalt in der Aneignung umbrechender sozialer Verhältnisse aus. Mit diesen unterscheidbaren Verhaltenspraktiken müssen Politiker heute rechnen. 3. Der Raum unterschiedlicher Lebensführung in der DDR war durch einen spezifischen Generationsbruch geprägt. Er trennte die älteren Generationen, die sich aufgrund ihrer Erfahrungen großenteils bis zuletzt mit dem DDR-Staat arrangierten, und die in der DDR geborenen Generationen, die den Widerspruch zwischen der offiziellen Ideologie und ihren realen sozialen Erfahrungen kaum noch sinnvoll im Rahmen des alten Systems lösen konnten. Zunehmend verengte vertikale Bewegungsmöglichkeiten im sozialen Raum der DDR führten nach unserer Auffassung zu bestimmten -f wenn auch begrenzten -horizontalen Bewegungen und beginnenden sozialen Ausdifferenzierungen. Ihre politische Begrenzung forderte die zunächst schleichende Ablehnung und schließlich die Überschreitung der vorgegebenen Systemgrenzen heraus. Ansätze zu neuen, flexiblen Verhaltensmustern sind unter diesen Bedingungen vorrangig unter den jüngeren Generationen und dies wiederum in unterschiedlichem Maße in den verschiedenen Milieus zu suchen. 4. Innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung sind derzeit drei Gruppen von Bewältigungsstrategien auszumachen: erstens aktives Gestalten der als Handlungschancen wahrgenommenen Lebensbedingungen, zweitens passives Abwarten gegenüber der unübersichtlichen Situation und drittens anomisches Verhalten angesichts individueller Über-forderung.
Aufgrund der gegenwärtig anhaltenden krisenhaften Situation in den neuen Bundesländern und der erst beginnenden Transformationsprozesse ist eine gewisse Vorsicht bei der Interpretation empirischer Ergebnisse geraten. Die fortdauernde Unübersichtlichkeit und die schlecht zu kalkulierenden Perspektiven erschweren logisch erscheinende Veränderungen individueller Verhaltensmuster. Aktuelle Verhaltenstendenzen können sich mittelfristig durchaus als Übergangslösungen zum Überleben der Krise, denn als gültige Anzeichen für grundsätzlichere Habitusmetamorphosen erweisen.
Entsprechende Untersuchungen scheinen uns für eine Sozialpolitik unerläßlich, die darauf gerichtet ist, den regionalen Akteuren Handlungsspielräume zu erschließen. Dem fühlen sich die Autorinnen verpflichtet.