Die gegenwärtigen Feierlichkeiten zur 500jährigen Entdeckung der „Neuen Welt“ vollziehen sich vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden Veränderung internationaler Beziehungen, die auch das Gefüge der „westlichen Hemisphäre“ nicht unberührt gelassen hat. Parallel zur Diskussion um die Konturen der neuen Weltordnung mehren sich gegenwärtig die Reflexionen um die Neugestaltung interamerikanischer Beziehungen nachdem Lateinamerika mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes seine strategische Relevanz für die USA weithin verloren hat. Wohin driften die beiden Subkontinente der Neuen Welt? Wie gestalten sich die Nord-Süd-Beziehungen der westlichen Hemisphäre nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Auflösung kommunistischer Bedrohungsvisionen im karibischen Becken und in Zentralamerika?
I. Schatten der Vergangenheit
Die Geschichte der Begegnung des iberischen und des angelsächsischen Amerika ist überschattet von ungleicher Entwicklung und der Herausbildung stark asymmetrischer Interaktionsmuster und Machtpotentiale. Nicht zufällig wurde vor dem Hintergrund lateinamerikanischer Erfahrung im Umgang mit den USA das Paradigma der als „Dependencia“ bekannt gewordenen abhängigen Entwicklung entworfen. Der US-amerikanische Hegemonialanspruch über die westliche Hemisphäre fand seine erste deklaratorische Fassung in der Monroedoktrin (1823), deren faktische politische und militärische Bedeutung jedoch noch länger stark begrenzt blieb. Ein Abschirmen der Neuen Welt gegen europäische, d. h. spanische, französische oder russische Interventionen oder Einmischungen wäre der jungen amerikanischen Republik, die 1823 noch nicht über nennenswerte Streit kräfte verfügte, ohne Rückendeckung durch die britische Flotte kaum möglich gewesen. Dennoch waren die Vereinigten Staaten bereits im 19. Jahrhundert militärisch hinreichend schlagkräftig, um ihre durch den Erwerb Louisianas (1803) vorbereitete und später als „manifest destiny“ legitimierte Expansion nach Süden (Florida, Texas) und Westen (Arizona, New Mexico, Kalifornien) gegen iberische und mexikanische Besitzansprüche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchzusetzen. Mit dieser Expansion beginnt das schicksalhafte Spannungsverhältnis, das die Beziehungen der USA mit Lateinamerika im 19. Jahrhundert überschattete.
Einst Vorbild für die lateinamerikanische Unabhängigkeitsbewegung, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts (1808-1825) formierte, avancierten die USA zum Trauma der zerstrittenen, von inneren Kämpfen und Bürgerkriegen zerschlissenen, noch ungefestigten neuen Staatsgebilde Lateinamerikas, die dank napoleonischer „Rücken-deckung“ ihre Lösung von Spanien zwar frühzeitig erkämpften, dann aber darauf verzichteten, politische Separation mit postkolonialer gesellschaftlicher Modernisierung zu komplementieren und zu festigen Während sich die militärische Hegemonie der USA -vorbereitet durch den Sieg über Mexiko (1848) -im spanisch-amerikanischen Krieg (1898) und mit dem Zugriff auf Puerto Rico, Kuba und Panama (1903) bereits konsolidierte, gewann das ökonomische Einflußpotential der werdenden Weltmacht in Lateinamerika erst nach Abschluß des amerikanischen Bürgerkrieges (1865) Gewicht. Der Prozeß der Egalisierung und schließlich Verdrängung Großbritanniens als wirtschaftlicher Hegemonialmacht in Lateinamerika vollendete sich entsprechend verspätet um 1930 im Schatten der großen Weltwirtschaftskrise. Militärischer Interventionismus, programmatisch vorbereitet über den „Roosevelt Corollary“ zur Monroe-doktrin (1904) und ökonomische Durchdringung (zunächst geographisch konzentriert auf die Karibik und Zentralamerika) wurden erst im 20. Jahrhundert zu komplementären Pfeilern der vielbeschriebenen amerikanischen Hegemonialstellung in der westlichen Hemisphäre.
Der Prozeß der „Entzauberung“ der Neuen Welt verweist auf eine 500jährige Geschichte. Etwa 100 Jahre davon entfallen auf den spezifisch gestalteten Einfluß des modernen interamerikanischen Systems, das 1889 im Rahmen der ersten interamerikanischen Konferenz von Washington seine for-male Inauguration erlebte und nach dem Zweiten Weltkrieg mit Abschluß des Rio-Paktes (1947) und der Gründung der „Organisation Amerikanischer Staaten“ (Bogota 1948) unter sicherheitspolitischen Vorzeichen schließlich auch festere institutionalisierte Konturen gewann.
Bemerkenswerterweise war eines der zentralen Anliegen der USA im Rahmen der interamerikanischen Konferenz von 1889, aus der die Pan American Movement hervorging, die südamerikanischen Nachbarn dazu zu bewegen, ihre Außenzölle abzubauen und zusammen mit den USA eine Zollunion einzugehen. Die Aussicht auf eine solche ökonomische Allianz mit den USA rief damals allerdings keine Begeisterungsstürme unter den lateinamerikanischen Konferenzteilnehmern hervor. Insbesondere, stark auf Europa orientierte Staaten wie Argentinien widersetzten sich der Monroe-Leitidee, „Amerika den Amerikanern“ zu überlassen, und postulierten dafür ein „Amerika für die Menschheit“
Das lateinamerikanische Mißtrauen gegen die ökonomische Umarmungsstrategie der Yankees aus dem Norden war bereits vor der Epoche des militärischen („big stick“ -) Interventionismus der USA, die der Roosevelt Corollary programmatisch eröffnete, stark ausgeprägt. Fast 100 Jahre später hat Präsident Bush im Rahmen seiner „Enterprise-for-the-Americas“ -Initiative vom 27. Juni 19906 der Grundidee einer panamerikanischen ökonomischen Allianz mit dem Vorschlag, eine von Alaska bis Feuerland reichende Freihandelszone zu schaffen, neue Prominenz verliehen. Nach vier Jahrzehnten des Kalten Krieges, die das Weltmachtprofil der USA entscheidend geprägt haben und zur Unterordnung Lateinamerikas unter die Priori täten eines globalstrategisch fixierten Interessenskalküls der USA führten, deuten sich gegenwärtig zumindest neue Akzente interamerikanischer Beziehungen an, die der Klärung bedürfen. Diese Akzente weisen allerdings über rein perspektivische Veränderungen amerikanischer Außenpolitik hinaus. Die Neue Welt -und nicht nur das amerikanische Interessenskalkül -ist zeitlich synchron mit dem Ende des Ost-West-Konflikts in Bewegung geraten. Die Frage nach Facetten und Kräften dieses Wandels sowie nach den Konsequenzen für die interamerikanischen Beziehungen bietet sich an.
II. Neue Akzente interamerikanischer Beziehungen
Vielfältige Veränderungstendenzen haben im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts den interamerikanischen Beziehungen neue Aktualität und Relevanz verliehen. Die Bush-Initiative vom 27. Juni 1990 ist nur ein Symptom des „wind of change“, der die westliche Hemisphäre in den vergangenen Jahren erfaßt hat; der Friedensprozeß in Zentralamerika und die gegenwärtig laufenden Liberalisierungsreformen in Lateinamerika sind weitere wichtige Indizien eines Wandels, der auf die interamerikanischen Beziehungen zurückwirkt. Insbesondere der aktuelle Trend zur Konvergenz wirtschaftspolitischer Ordnungskonzepte deutet auf den Beginn einer neuen Phase der Nord-Süd-Beziehungen in der westlichen Hemisphäre hin.
Die Pläne der Bush-Administration, eine panamerikanische Freihandelszone zu bilden, werden komplementiert durch neue Initiativen zur Eingrenzung der Verschuldung lateinamerikanischer Staaten sowie zur Unterstützung von Privatinvestitionen und Umweltschutz südlich des Rio Grande. Dabei sind sie eingebettet in das übergreifende neoliberale Experiment, das Entwicklungsprobleme der westlichen Hemisphäre auf dem Wege der selektiven Weltmarktintegration zu bewältigen sucht. Über die Öffnung der Märkte, die Aktivierung privater Wirtschaftsinitiative und verschärfte Konkurrenz soll die Krise der achtziger Jahre -Lateinamerikas verlorene Dekade -überwunden werden Das amerikanisch-kanadische Freihandelsabkommen (FTA), das im Januar 1989 in Kraft trat, ist eine Variante dieser Neuorientierung. Vom gleichen Geiste getragen ist das im Juni 1990 eingebrachte mexikanische Gesuch um Eröffnung von Verhandlungen mit dem Ziel, mit den USA und Kanada ein Freihandelsabkommen (North American Free Trade Agreement, NAFTA) abzuschließen. Die spektakulären Reformansätze, die -vermittelt (bzw. erzwungen) über die Auflagen der Strukturanpassungsprogramme von Internationalem Währungsfonds und Weltbank -gegenwärtig in Lateinamerika das traditionelle binnenmarktorientierte Entwicklungsparadigma ablösen, weisen ebenfalls in die Richtung dieser neo-liberalen Wende. Aufbauend auf diesem Gedankengut sind zahlreiche regionale Kooperationsprojekte mit unterschiedlicher geographischer Reichweite in Lateinamerika entstanden.
Mexiko hat sich durch den Wunsch einer Anbindung an das amerikanisch-kanadische Freihandelsabkommen am stärksten nach Norden geöffnet, in Richtung auf einen interamerikanischen -hemisphärischen -Regionalismus. Etwa zeitlich parallel zur Freihandelsinitiative der beiden Präsidenten Bush und Salinas gaben Argentinien und Brasilien zu erkennen, daß sie ebenfalls einen gemeinsamen Markt bilden wollen. Im Vertrag von Asunciön, unterzeichnet am 26. März 1991, wurden Paraguay und Uruguay in diesen geplanten Mercado Commün de Sur (Mercosur) einbezogen. Ebenso orientierten sich die fünf Länder des Anden-Paktes wie auch die Mitglieder des Zentralamerikanischen Gemeinsamen Marktes Ende der achtziger Jahre auf je unterschiedliche subregionale Projekte zur Bildung von Freihandelszonen. Bereits 1988 setzten in der Karibik die Bemühungen ein, mittels radikaler Neuorganisation dem Caribbean Community Market zu neuem Leben zu verhelfen
Regionale Kooperationsansätze sind weder im interamerikanischen noch im subregionalen lateinamerikanischen Kontext eine Novität. Schon Bolivar verfolgte Visionen von einer panamerikanischen Einheit, die im interamerikanischen Kongreß von Panama (1826) bereits zur Debatte standen. Der Schwerpunkt seiner Einigungsbemühungen lag jedoch eindeutig auf Lateinamerika, während er mit England und den USA assoziierende Verbindungen knüpfen wollte; aber selbst im engeren lateinamerikanischen Rahmen mußte er gegen Ende seines Lebens resignierend das Scheitern seiner Föderationspläne als Ergebnis -wie er es sah -der prinzipiellen „Unregierbarkeit“ Lateinamerikas eingestehen Auch den späteren Versuchen regionaler Kooperation panamerikanischer wie subregionaler Orientierung war kein bes-seres Schicksal beschieden. Die ausgeprägte innere Heterogenität Lateinamerikas, nationale Rivalitäten, mangelnde Komplementarität der auf Rohstoffexport fixierten Ökonomien sowie dramatische Entwicklungsunterschiede, insbesondere zwischen dem Norden und Süden der westlichen Hemisphäre, haben bislang kein günstiges Klima für die Realisierung regionaler Kooperationsprojekte nach Muster etwa der Europäischen Gemeinschaft ergeben. Hinzu kommt, daß das Entwicklungsparadigma, das die vergangenen 50 Jahre Lateinamerikas Wirtschaft, aber auch Außenpolitik bestimmt hat -importsubstituierende Industrialisierung unter der dominierenden Regie eines korporativistisch verfaßten Staates-, strukturell im Widerspruch stand zu einer vertieften Öffnung in Rich-tung auf regionale Kooperation oder gar Integration. Wenn daher gegenwärtig regionale Kooperation in Lateinamerika ihre Renaissance erlebt, so reflektiert dieser Wandel primär die Konsequenzen des wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsels: die Abkehr von einer etatistischen, auf den Binnenmarkt orientierten Importsubstitutionsstrategie zugunsten einer liberal verfaßten selektiven Öffnung zum Weltmarkt, flankiert von entsprechenden monetären und fiskalischen Austeritätsbestrebungen. Diese innere Logik der aktuellen Kooperationseuphorie in Lateinamerika verweist zugleich auf die enge Verknüpfung der unterschiedlichen innerwie interamerikanischen Kooperationsprojekte mit der erfolgreichen Bewältigung der gegenwärtig laufenden wirtschaftlichen und politischen Reformprogramme. Ökonomische und politische Liberalisierung sind unausweichlich mit der Öffnung zu regionaler Kooperation verbunden.
Aber auch andere exogene Einflußfaktoren, die den neuen Trend zu regionalen Kooperationsprojekten beeinflußt haben, sollten bei einer Bewertung der aktuellen Renaissance des Regionalismus in beiden Teilen Amerikas nicht übersehen werden. Eine Differenzierung der unterschiedlichen, länderspezifischen Interessenlagen ist dabei unerläßlich.
Mexikos radikaler Schritt in Richtung auf ein NAFTA-Abkommen (nach Vorbild des Freihandelsabkommens zwischen Kanada und den USA) ist zunächst Ausdruck einer Interessenlage, die das hohe Maß an De-facto-Integration in den US-Markt reflektiert Rund 70 Prozent der mexikanischen (und 80 Prozent der kanadischen) Exporte gehen derzeit in die Vereinigten Staaten. Die verarbeitende Industrie, die inzwischen den Motor der mexikanischen Wirtschaft bildet, exportiert nahezu 85 Prozent ihrer Produkte in die Vereinigten Staaten. Nur 3, 3 Prozent (1989) des mexikanischen Außenhandels richten sich auf Lateinamerika. Tarifäre Hemmnisse zwischen Mexiko und den USA sind bereits in den achtziger Jahren erheblich reduziert worden, das durchschnittliche Niveau der Zolltarife liegt zur Zeit bei 10 Prozent (1985: 30 Prozent). Die Integration mexikanischer Produktion in den amerikanischen Markt ist insbesondere durch die sogenannte Maquiladora-Industrie vornehmlich im Grenzgebiet von Kalifornien bis Texas weit vorangeschritten. Diese mexikanischen Montagebetriebe liefern Teilfertigprodukte zoll-und steuerbegünstigt für die amerikanische Auto-, Textil-, Elektro-und Elektronikindustrie.
Migration und Elitenverflechtung haben, neben der Produktionsverflechtung, das ihre dazu beigetragen, die Orientierung Mexikos auf die USA zu verstärken: Legale wie illegale Emigranten sind zu einem gewichtigen Faktor des Arbeitsmarktes der südlichen Staaten der USA avanciert; eine neue Generation mexikanischer Eliten, die in Harvard, Yale und Chicago ihre Ausbildung erhielten, bestimmt heute die Geschicke ihres Landes. Für Mexiko geht es im NAFTA-Engagement, ähnlich wie im Falle Kanadas, um vertragliche Sicherung des Zugangs zum lebenswichtigen amerikanischen Markt in einer Zeit wachsenden Protektionismus. Dazu kommt die Erwartung, über die ökonomische Einbindung in diesen amerikanischen Markt zu einem Anziehungspunkt für Kapital und Knowhow aus dem Ausland zu werden. Auf seiten der USA stehen die strategischen Interessen zur Sicherung eines nordamerikanischen Absatzraumes, der zugleich über wichtige Rohstoffe (insbesondere Erdöl) verfügt, im Vordergrund; gewichtig ist aber auch das Bedürfnis, die wildwüchsige De-facto-Integration beider Länder mit den daraus resultierenden Belastungen -z. B. für Umwelt, sozialen Frieden und ökonomische Ordnung -in die kontrollierbareren Bahnen einer „managed Integration" zu überführen. An eine Liberalisierung des Personenverkehrs ist allerdings in diesem Integrationskonzept auf Insistieren der USA nicht gedacht. Auf beiden Seiten des Rio Grande läuft im übrigen eine kontroverse Debatte über die „Segnungen“ des NAFTA-Plans, in die zahlreiche Interessengruppen (von den Gewerkschaften bis hin zu Umweltschutzverbänden und Menschenrechts-organisationen) verwickelt sind. Ähnlich wie in Kanada ist in Mexiko das ökonomische Integrationsprojekt höchst umstritten geblieben.
Aber Mexikos Lage und Interessen sind nicht identisch mit denen der übrigen lateinamerikanischen Staaten. Die Verflechtung mit dem amerikanischen Markt ist soweit vorangeschritten, daß manche Beobachter die Gefahr einer Abspaltung Mexikos von Lateinamerika nicht mehr ausschließen dies gilt um so mehr unter Berücksichtigung der Rückwirkungen des zu erwartenden Abschlusses des Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada. Noch bevor allerdings Präsident Salinas im Juni 1990 sein offizielles Gesuch um Eröffnung der NAFTA-Verhandlungen in Washington und Ottawa einbrachte, hatte er auf einer Europareise die Möglichkeiten vertiefter Wirtschaftskontakte mit Ländern der Europäischen Gemeinschaft sondiert. Erst als die erhofften Investitionszusagen, insbesondere aus Bonn und London, ausblieben und der Eindruck künftiger Konzentration westeuropäischer Investitionen auf Osteuropa sich verfestigte, fiel die Entscheidung zugunsten eines engeren wirtschaftlichen Kooperationsabkommens mit den USA und Kanada.
Die Befürchtung des mexikanischen Staatspräsidenten, sein Land könnte mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und der damit verbundenen Öffnung Osteuropas in eine weltwirtschaftliche Marginalisierung abgedrängt werden, reflektiert eine weit verbreitete Stimmung in Lateinamerika. Europas Fixierung auf den Binnenmarkt und Deutschlands zunehmende Orientierung nach Osten werden als Vorboten eines reduzierten Interesses an Lateinamerika gewertet
Dennoch sind die Reaktionen auf die Bush-Initiative in Lateinamerika nicht einheitlich ausgefallen. Argentinien, Brasilien und Venezuela tendieren gegenwärtig eher dazu, einem subregionalen Freihandelsarrangement den Vorzug zu geben. Dies dient nicht zuletzt auch dazu, eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber den USA zu gewinnen, sollte die weiter mit Skepsis betrachtete Freihandelsinitiative das Verhandlungsstadium erreichen. Nur bei Chile deutet sich eine prononcierte Neigung an, langfristig nach dem Vorbild Mexikos auf Teilnahme an einem interamerikanischen Freihandelsabkommen zu setzen. Das Freihandelsexperiment der Anden-Staaten steht bereits vor dem Konkurs, nachdem Venezuela den jüngsten Staatsstreich in Peru (Fujigolpe) zum Anlaß genommen hat, eine fünfzehnprozentige Im-portsteuer auf alle Produkte aus dem Andenraum zu erheben. Allerdings kann Lateinamerika schon aufgrund seiner inneren Heterogenität nur schwerlich gemeinsame Positionen im Ringen um die Konturen neuer regionaler Kooperationsansätze beziehen. Man denke etwa an die unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen und Interessenlagen der karibischen und zentralamerikanischen Kleinstaaten gegenüber den Großstaaten des südlichen Lateinamerika (Cono Sur), den Andenstaaten oder Ölexporteuren wie Mexiko und Venezuela. Das Engagement der USA bei der Realisierung eines hemisphärischen Regionalismus bleibt seinerseits von erheblichen Unsicherheiten überschattet, die in ihrer inneren Logik auf die Ambivalenzen der neuen Relevanz verweisen, die Lateinamerika für die USA gewonnen hat.
Inwieweit läßt sich die „Enterprise-for-the-Americas“ -Initiative der Bush-Administration als Wende in der Geschichte interamerikanischer Beziehungen bewerten? Wie tiefgreifend und gewichtig ist
III. Das amerikanische Dilemma
„Big-stick“ -Interventionismus und Kanonenboot-Diplomatie sind nicht die einzigen Formen des hegemonialen Umgangs der USA mit den Nachbarstaaten im Süden gewesen. An Versuchen der USA, in diesem Jahrhundert panamerikanische Kooperation und hemisphärische Solidarität zu mobilisieren, um das interamerikanische Konflikt-verhältnis zu entschärfen oder Beziehungen zu stabilisieren, hat es nicht gefehlt. Die „Good Neighbor Policy“ der Roosevelt-Administration, angesichts aufziehender Konflikte in Europa konzipiert und 1933 in Montevideo durch Außenminister Cordell Hüll verkündet, ebenso wie die „Alliancefor-Progress“ -Initiative, die Präsident Kennedy im Schatten der Kuba-Krise 1961 initiierte, sind die bekanntesten Beispiele solcher Versuche; sie erwiesen sich allerdings beide nur von kurzlebiger und folgenloser Natur, eine starke Diskrepanz zwischen Rhetorik und Realität war ihr prägendes Merkmal Ähnliches läßt sich auch von der -wenngleich regional enger gefaßten -Caribbean Basin Initiative sagen, die die Reagan-Administration 1982 mit Blick auf die wachsende Involvierung der Sowjetunion und Kubas in Krisenherde in Zentralamerika (Nicaragua) und der Karibik (Grenada) konzipierte. Die im Dezember 1989 von der Bush-Administration propagierte „Initiative für die Anden-Staaten“, die ganz im Zeichen der Bekämpfung des Drogenhandels stand, weist in eine ähnliche Richtung. die „Wiederentdeckung Lateinamerikas“ durch die USA zu Beginn der neunziger Jahre? Da die konkrete Umsetzung der angekündigten Initiative bislang nur zaghaft begonnen hat, sind finale Aussagen über ihre Bedeutung bislang unmöglich; dennoch lassen sich einige Besonderheiten dieses Entwurfs zur Restrukturierung interamerikanischer Beziehungen hervorheben.
Zunächst ist bemerkenswert, daß erstmals in der Geschichte interamerikanischer Beziehungen von seiten der USA ein hemisphärisches Kooperationskonzept vorgelegt wurde, das nicht als vom Primat sicherheitspolitischer Erwägungen bestimmt erscheint. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und der darin implizierten Abkoppelung Nicaraguas und Kubas von sowjetischer Unterstützung hat sich die traditionelle strategische Bedeutung Lateinamerikas gleichsam über Nacht verändert. Daß ein Kooperationskonzept mit hemisphärischer Reichweite von seiten der USA überhaupt vorgelegt wurde, ist an sich schon bemerkenswert. Denn Beobachter amerikanischer Lateinamerika-politik hatten schon länger unter Verweis auf den starken politischen wie ökonomischen Differenzierungsprozeß Lateinamerikas das Ende regional-spezifischer Nord-Süd-Beziehungen prognostiziert
Im gleichen Zuge wurde auch die These vom Rückgang „soziokultureller Einflußmöglichkeiten der USA in Lateinamerika“ vertreten, um somit dem amerikanischen politischen Modell einen „ständig verblassenden Effekt... auf die Zielvorstellungen lateinamerikanischer Politik“ zu bescheinigen. Diese These hat sich offensichtlich nicht bestätigt. Denn die „läuternde“, nivellierende und integrierende Wirkung von Staatsbankrott und Schuldenkrise im Lateinamerika der achtziger Jahre ist vielerorts unterschätzt worden. Das Modell des amerikanischen Liberalismus hat ungeahnte Attraktivität gewonnen. Die zentrale Position der USA für Lateinamerika scheint heute wirtschaftlich, politisch und kulturell stärker als je zuvor.
In der Diskussion um die tragenden Motive der „Enterprise-for-the-Americas“ -Initiative der Bush-Administration sind strukturelle wirtschaftliche Zwänge ebenso ins Spiel gebracht worden wie taktisch-diplomatisches Kalkül. Angesichts eines immer noch fehlenden ausgefeilten Rahmen-konzeptes liegt es nahe, die Bush-Initiative vorerst als Teil eines noch laufenden Reflexionsprozesses über die Neugestaltung interamerikanischer Bezie hungen zu betrachten, zugleich aber auch als diplomatischen Warnschuß gegen weitere regionale Abkapselungstendenzen in Europa (Projekt Binnenmarkt) wie -unter japanischer Regie -im asiatisch-pazifischen Raum und zum anderen ge-gen weitere Affronts im Rahmen der laufenden konfliktreichen GATT-Verhandlungen (UruguayRunde). Daß das Gipfeltreffen der Gruppe der sieben wichtigsten Industriestaaten (G-7) nur wenige Tage nach Verkündigung der „Enterprise-for-the-Americas“ -Initiative vom 9. bis 11. Juli 1990 in Houston stattfand, kann bei deren Bewertung nicht unbeachtet bleiben.
Wo auch immer die Prioritäten der Bush-Administration gelegen haben mögen, es bleibt das Dilemma einer amerikanischen Wirtschaft, die nach Jahrzehnten eines expansiven Globalismus von ihren strukturellen Dispositionen her kaum in Einklang zu bringen ist mit der beengenden Perspektive hemisphärischer Blockbildung, auch wenn auf diese Weise ein Freihandelsraum von potentiell über 700 Mio. Konsumenten entstehen würde. Denn nach wie vor sind die führenden Akteure der Wirtschaft der USA transnational operierende, global orientierte Unternehmen, die den Schwerpunkt ihrer Direktinvestitionen in Europa und nicht in Südamerika haben. Letztere Region absorbiert nur 10, 6 Prozent der gesamten US-Auslandsdirektinvestitionen, bei weiterhin sinkender Tendenz. Nach wie vor nimmt Lateinamerika nur 13, 5 Prozent der US-Exporte auf und liefert 12, 2 Prozent der US-Importe.
Es bleibt auch das Dilemma, daß eine über Freihandel regionalisierte „westliche Hemisphäre“ zwar attraktive Handelschancen in Aussicht stellt, zugleich aber die Bürden eines Schuldenkartells impliziert. Die Schuldnemation USA -die für 1992/93 von der Bush-Administration in Aussicht gestellte Staatsverschuldung liegt bei 400 Mrd. Dollar -müßte sich in ein fragiles Boot mit der Schuldnergemeinschaft Lateinamerika begeben. Wie Aho und Stokes hervorgehoben haben: „A Western hemispheric trading bloc that includes most of the world’s major debtor nations could make it extremely difficult for all of these economies to work their way out of debt. This is a particular concem for the United States, which must generate significant trade surpluses to Service it’s debt, in part by reestablishing export markets in Latin America. Those nations, in turn, need trade surpluses as well to repay their obligations to American banks, among others. It will be impossible for all countries to run surpluses in a System of closed bilateral trading arrangements.“
So versteht sich, daß es bislang keine eindeutige Ausrichtung amerikanischer Wirtschaftspolitik auf eine hemisphärische regionalistische Option gibt. Wachsender internationaler Konkurrenzdruck stimuliert amerikanisches Interesse an einem gesicherten erweiterten Absatzraum in Lateinamerika, dessen Absorptionskraft für amerikanische Produkte durch die Schuldenkrise der achtziger Jahre erheblich geschwächt wurde. Die ökonomische Verflechtung und Interdependenz zwischen den USA und Lateinamerika ist nicht zuletzt über die Schuldenkrise unwiderruflich geworden, zugleich aber wird dieser Trend zur Konvergenz konterkariert von den strukturellen Zwängen einer in ihren Spitzenbranchen nach wie vor von globalen bzw. multilateralen Interessen gezeichneten Wirtschaft.
Allerdings ist die Frage des Pro und Kontra regionaler hemisphärischer Kooperation der USA mit den südlichen Nachbarn längst aus dem Bannkreis steriler ökonomischer Kalkulation herauskatapultiert worden. Wer die Tragweite der amerikanischen „Wiederentdeckung Lateinamerikas“ und die relevanten Facetten der Umgestaltung interamerikanischer Beziehungen erfassen will, muß weitergreifen und jenen gesellschaftlichen Turbulenzen Rechnung tragen, die heute im Milieu wachsender Verflechtung und Interdependenz das US-amerikanische Verhältnis zu Lateinamerika maßgeblich gestalten.
IV. Neue Turbulenzen
Die amerikanische Hegemonie über Lateinamerika hat verständlicherweise stets die Gemüter bewegt. Die „Verarbeitung“ dieser Hegemonie durch Lateinamerika fand hingegen nur marginale Beachtung. So kann es nicht verwundern, daß Dependenzanalysen über lange Zeit schillernde Prominenz gewannen, das Phänomen der Gegenmachtbildung in Lateinamerika jedoch weithin unerkannt blieb. Zu den faszinierenden „neueren“ Entwicklungstendenzen interamerikanischer Beziehungen zählt unter dem Aspekt der Genese von Gegenmacht die fortschreitende „Latinisierung“ der Vereinigten Staaten Dieser Prozeß läßt sich auf sprachlich-kultureller Ebene beispielsweise an-hand des wachsenden Trends zum Bilingualismus in öffentlichen Einrichtungen, Behörden, Schulen und Medien aufzeigen; Hispanisierung prägt die großen urbanen Zentren von Los Angeles bisMiami, von Houston bis New York. Im sozialen Gefüge der amerikanischen Gesellschaft schlägt der ungeminderte Zustrom von Migranten aus Lateinamerika dramatisch zu Buche: Hispano-Amerikaner mit ihren hohen demographischen Wachstumsraten werden bis zum Jahr 2000 die schwarze Bevölkerung der USA als dominierende Minorität überholt haben. Mehrheitlich handelt es sich um Migranten aus Mexiko, der Karibik und Zentral-amerika (insgesamt leben mehr als Mio. „Latinos“ gegenwärtig in den USA), die das neue Gesicht der amerikanischen Gesellschaft bestimmen. 20 Prozent der Bevölkerung von Texas sind mexikanischen Ursprungs. Die Chicano-Anteile für Neu-Mexiko (18 Prozent), Arizona (15 Prozent) und Kalifornien (16 Prozent) liegen bei einer ähnlichen Größenordnung Die Hälfte der Schüler von Los Angeles County sowie von vier Staaten des Südwestens der USA sind Hispano-Amerikaner. Der mexikanische „Exodus“ 20 dominiert das interamerikanische Migrationsszenario, aber auch zehn Prozent der Bevölkerung Zentralamerikas haben sich auf der Flucht vor Krieg und Gewalt im Verlauf der achtziger Jahre außer Landes begeben, die meisten von ihnen mit dem Ziel, in die Vereinigten Staaten zu migrieren
Ebenso ungebrochen ist der Zustrom in die USA von Migranten aus der Karibik seit dem Zweiten Weltkrieg geblieben, dominiert vom Exodus der Kubaner nach Miami und dem der Puertoricaner nach New York. Etwa fünf Mio. Menschen aus der Karibik befinden sich inzwischen in den USA; jeder achte nach 1945 geborene Bewohner der Karibischen Inseln lebt heute in den Vereinigten Staaten. Schon allein aufgrund ihrer demographischen Dynamik haben sich Mexiko, Zentralamerika und die Karibik in den vergangenen Jahrzehnten aufs engste mit den Vereinigten Staaten verflochten
Die Latinisierung der Vereinigten Staaten hat weitere Auftriebsmomente und Komponenten gewonnen, und zwar über den Drogenhandel und die Verschuldungskrise Lateinamerikas. Die USA finden sich heute als weltweit wichtigster Absatzmarkt für Kokain eingebunden in ein perfekt organisiertes, durch die kolumbianische Drogen-Mafia geführtes System interamerikanischer Arbeitsteilung in dem Peru und Bolivien als die wichtigsten Produzenten von Koka-Paste fungie ren und Kolumbien mit Weiterverarbeitung und Vertrieb des Kokains betraut ist, eng verknüpft operierend mit variablen Transitzentren in der Karibik und Zentralamerika. Amerikanische und Schweizer Banken, in Steuerenklaven wie Panama, den Bahamas, Bermudas oder den Niederländischen Antillen angesiedelt, sorgen für das „Waschen“ der erwirtschafteten Drogengewinne beim Rücktransfer in den normalen Geldkreislauf. Seit den siebziger Jahren ist die Drogen-industrie „die einzig wirklich florierende Wachstumsindustrie.“ Lateinamerikas Ein Industrie-zweig -das wäre hinzuzufügen -, der sich zudem dem Ideal „partizipatorischer Entwicklung“ äußerst flexibel verschrieben hat: Hunderttausende von Kleinbauern, Händlern und Zwischenhändlern sind in den Kreislauf von Kokainproduktion und -vertrieb integriert. Armut und Unterentwicklung in Lateinamerika sind über die Kokain-industrie zum Hebel einer latinischen „Reconquista“ (Rückeroberung) geworden, die mit ihren kriminalisierenden und demoralisierenden Folgen für die US-amerikanische Gesellschaft bedrohliche Dimensionen angenommen hat Ähnlich eng verknüpft in ein Netzwerk turbulenter Interdependenz hat sich das Schicksal der USA mit Lateinamerika über die Verschuldungskrise des Halbkontinents im Süden. Amerikanische Banken sind als maßgebliche Gläubiger der gegenwärtig auf 425 Mrd. Dollar kumulierten Schulden Lateinamerikas immer noch empfindlich betroffen. Abhängigkeit hat sich im Schatten einer so dramatischen Verschuldungssituation in ein nicht unbedeutsames Interdependenzverhältnis verwandelt. Schon der Weg Lateinamerikas in die Verschuldungskrise zeugt von einer nicht zu unterschätzenden Fähigkeit lateinamerikanischer Entscheidungsträger zum strategischen Kalkül im Umgang mit den Krediten des Nachbarn im Norden Die Verschuldungskrise, ausgelöst 1982 durch die Zahlungsunfähigkeit Mexikos, hat die Misere Lateinamerikas zweifellos vertieft, zugleich aber nicht unbedeutsame Machtmittel in die Hände Lateinamerikas retransferiert. Die Stabilisierung des amerikanischen Banken-und Finanzsystems hat sich unlösbar verknüpft mit der Zahlungsfähigkeit Lateinamerikas. Aber noch mehr steht auf dem Spiel, geht man davon aus, daß ein enger Zusammenhang besteht zwischen Verschuldungssyndrom und sozialer Krise Lateinamerikas. Nye spricht vor dem Hintergrund dieser neuen Interdependenzen von der „Macht des Schuldners“ und der „Macht des Schwachen“, die sich aus seiner Fähigkeit ergibt, Chaos zu exportieren
Die Paradoxien der Macht im Zeichen wachsender Interdependenz ließen sich im interamerikanischen Kontext weiter verfolgen bis hin zur Umweltschutzproblematik Lateinamerikas, die inzwischen auf die Agenda der Verhandlung um die Bewältigung der Schuldenkrise vorgerückt ist. Schuldenerlaß als Gegenleistung für Umweltschutzmaßnahmen („debt for nature swaps“) ist in die „Enterprise-for-the-Americas“ -Initiative programmatisch einbezogen worden.
Die Konfrontation Lateinamerikas mit amerikanischer Hegemonie ist kein passiv erlittenes Schicksal geblieben. Migration, Drogenhandel und Verschuldung sind Varianten einer „Chaosmacht“ Lateinamerikas, deren Sogwirkung interamerikanische Beziehungen zunehmend prägt. Vor dem Hintergrund dieses turbulenten Szenariums gewinnt die Frage nach dem politischen Ordnungsrahmen interamerikanischer Beziehungen zwangsläufig veränderte Akzente. Denn auf der informellen Ebene der Nord-Süd-Beziehungen der westlichen Hemisphäre hat sich über das Verschuldungs-, Drogenund Migrationsszenarium längst ein engmaschiger Verbund gebildet. Die Latinisierung Nordamerikas im Zeichen turbulenter Interdependenz schreitet zügig voran, die hieraus erwachsenden innergesellschaftlichen Konflikte und neuen Feindbilder werden sich jedoch nur schwerlich als fruchtbarer Bo-den erweisen für die Realisierung ehrgeiziger hemisphärischer Kooperationsprojekte.
V. Auf dem Wege zu einem Zeitalter des Regionalismus?
Nicht wenige Beobachter des derzeitigen internationalen Wandels sind geneigt, die „neue Weltordnung“ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts unter dem Primat eines „coming age of regionalem“ auch in ihrer interamerikanischen Komponente zu betrachten. Entscheidend für diese Perspektive ist die Annahme, daß mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion die Anreize für Interventionen einer Supermacht rückläufige Tendenz zeigen und daß mit der Aufhebung jener Zwänge zur Bildung transregionaler Allianzen, die im global geführten Kalten Krieg impliziert lagen, der „regionale Raum“ als Ordnungsfaktor internationaler Beziehungen erhöhte Bedeutung gewinnt. Kurz, dem Ende des Kalten Krieges wird eine inhärente Dynamik in Richtung auf eine „regionalisierte Welt“ zugeschrieben. Auf das interamerikanische System übertragen, bedeutet dieser Gedankengang, daß eine „Wiederentdeckung Lateinamerikas“ durch die USA, ein neuerwachsenes Interesse der Supermacht an ihrem „Hinterhof“ der Logik der Aufhebung des Kalten Krieges entspricht.
An der „Wiederentdeckung Lateinamerikas“ durch die USA ist nicht mehr zu zweifeln. Allerdings handelt es sich dabei, wie deutlich wurde, um einen ambivalenten Prozeß, der in erster Linie vermittelt erscheint über die eigenen innergesellschaftlichen Probleme und Konflikte, die sich aus der zunehmenden Latinisierung der USA im Milieu einer turbulenten Interdependenz mit Lateinamerika ergeben. Hier liegt auch das besondere Antriebsmoment für Sonderbeziehungen der USA mit Mexiko. Umgekehrt waren es Verschuldungskrise und Zusammenbruch des etatistischen Entwicklungsmodells Lateinamerikas in den achtziger Jahren, die die USA in ein neues Licht der Zentralität für Lateinamerika rücken ließen. Miami -und . nicht mehr Paris, London oder Madrid -ist heute allgegenwärtig in Lateinamerika.
Ansonsten könnte man als Ergebnis dieser Krise auch von einer Wiederentdeckung Lateinamerikas durch sich selbst sprechen, wie die vielfältigen regionalen Kooperationsinitiativen andeuten, die im Süden der westlichen Hemisphäre über den ökonomischen Bereich hinaus neue Relevanz gewonnen haben. Die Rolle der Contadora-Gruppe beim Friedensprozeß in Zentralamerika ebenso wie das wachsende Gewicht der Rio-Gruppe als Konsultationsorgan der wichtigsten Länder Lateinamerikas seit Mitte der achtziger Jahre deuten ebenfalls in diese Richtung.
Die Erfolgsaussichten der regionalen bzw. hemisphärischen „Öffnung“ Lateinamerikas sind aller dings, darauf wurde bereits verwiesen, unausweichlich verknüpft mit dem Gelingen der politischen wie ökonomischen Liberalisierungstendenzen der Länder Lateinamerikas. Gerade hier bestehen aber nach wie vor große Unsicherheiten. Die sozialen Kosten der Liberalisierung werden beim Jubel über neue Wachstumsimpulse der lateinamerikanischen Wirtschaft meist verschwiegen. Wenn sich nach Informationen der CEPAL die Zahl der Personen in Lateinamerika, die unter Armutsbedingungen existieren, zwischen 1980 und heute um 47 Mio. Menschen erhöht hat, so daß 183 Mio. Lateinamerikaner unter Bedingungen extremer Armut leben, so läßt dieser Trend die ganze Brisanz der Lage Lateinamerikas erkennen, die heute durch die rasche Ausweitung der Armutsseuche Cholera ihr epidemiologisches Symbol gefunden hat.
Unter Berücksichtigung dieser Entwicklungen muß auch der laufende Demokratisierungsprozeß in Lateinamerika mit Nüchternheit betrachtet werden. Welche Relevanz hat Demokratie unter den Bedingungen von extremer Armut, Analphabetismus, Korruption, Klientelismus und ungehemmter sozialer Gewalt. Wenn Gewaltenteilung, und insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz, in den meisten Ländern Lateinamerikas eine Fiktion ist, wenn Todesschwadrone in den großen urbanen Zentren ihr mörderisches Metier betreiben, wenn, wie im Falle Kolumbiens, Terror (26 000 Morde allein im Jahre 1991) oder ein blutiger Bürgerkrieg, wie in Peru, das tägliche Leben bestimmen, droht der demokratische Wahlakt ohnehin zur Farce zu degenerieren. Die drei Militärputsche der vergangenen Monate -Haiti, Venezuela und Peru-ebenso wie Hungerrevolten in Venezuela und Argentinien zeugen von den Schatten der Vergangenheit, die heute noch über Lateinamerika lasten.
Viele Schatten belasten auch heute noch das Nord-Süd-Verhältnis der westlichen Hemisphäre. Die großen ökonomischen Ungleichheiten haben sich im Zeichen der Krise der achtziger Jahre weiter vertieft. Der Hang der USA zum militärischen Interventionismus in Lateinamerika hat mit der Intervention in Panama neues Gewicht gewonnen. Allerdings sollte nicht übersehen werden, daß mit Beendigung der Bürgerkriege in Zentralamerika (Nicaragua, El Salvador) ein wichtiger psychopolitischer Komplex der USA, aus dem heraus amerikanischer Interventionismus immer wieder Nahrung gewann, eliminiert wurde.
Amerikanische Strategien zur Bekämpfung des Drogenhandels bleiben weiterhin geprägt von einer Präferenz für militärische Lösungsansätze wie etwa Pläne zur Stationierung eines Flugzeugträgers vor der Küste Kolumbiens oder der Einsatz von „special forces“ für Bolivien und Peru erkennen lassen. Ein Marshallplan für Lateinamerika als entwicklungspolitisches Komplement der großen Freihandelsinitiative vom 27. Juli 1990 ist bei leeren Kassen Washingtons und zunehmender Beschäftigung mit den eigenen inneren Problemen nicht zu erwarten.
Unter dem Einruck dieser widersprüchlichen Entwicklungstendenzen stellt sich die Frage, inwieweit es nicht an der Zeit ist, neuen Denkansätzen auch in der Reflexion über Internationale Beziehungen die Tore zu öffnen und traditionelle Ordnungsmodelle aus der Zeit des Kalten Krieges und davor aus den Köpfen zu verbannen. Die alten Ordnungsmuster und -Vorstellungen lassen sich nur schwerlich in Einklang bringen mit den neuen, zentrifugalen Realitäten einer multipolaren, polyarchischen und zugleich globalisierten Welt, die aus dem Zusammenbruch des disziplinierend wirkenden Ost-West-Konflikts hervorgegangen ist. Regionale Kooperationsansätze mit vielfältigen Schattierungen, unterschiedlicher Dichte und Reichweite wären aus dieser Sicht nur als eine Variante dieses quasi postmodernen Pluralismus zu begreifen, komplementiert von neuen informellen Machtzentren und parastaatlichen Akteuren (Drogenmafia, Terrororganisationen, rebellierende ethnische Gruppierungen, fundamentalistische Bewegungen), die in zunehmendem Maße an die Seite altetablierter staatlicher und wirtschaftlicher Machtzentren rücken und den Prozeß der Verschränkung staatlich organisierter Gesellschaften weiter forcieren.
Präsident Bush sprach in seiner vielbeachteten Rede zur „neuen Weltordnung“ am Ende des Golf-krieges vom Heraufkommen einer neuen „wundervollen Welt der Entdeckung“ Vieles deutet darauf hin, daß diese neue Welt in ihrer interamerikanischen -wie auch europäischen -Variante manch wundersame Überraschung bereithält, für deren Bewältigung die Kunst des Umgangs mit „Unordnung“ sich zukünftig als wichtiger erweisen könnte, als das Festhalten an erbaulichen hemisphärischen Integrationsidealen.