Ein steiler wirtschaftlicher Aufschwung und die Liberalisierung des politischen Systems seit 1978 machten Thailand zu einem der wenigen Hoffnungsträger inmitten der ansonsten trostlosen Landschaft wachstumsschwacher und mehr oder minder autoritärer Regime in der Dritten Welt. Zweistellige Zuwachsraten ließen die Volkswirtschaft des Königreichs bis Anfang der neunziger Jahre Anschluß an die ostasiatischen Schwellenländer Hongkong, Singapur, Taiwan, Südkorea und Malaysia finden. Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Expansion ging ein politischer Öffnungsprozeß, in dessen Verlauf die alten Herrschaftseliten aus Militär und Bürokratie zunehmend Macht einbüßten; dafür drängten Unternehmer, Freiberufliche und der gebildete städtische Mittelstand immer vehementer in die politische Verantwortung. Anders als die Regimewechsel in Lateinamerika, die „People’s Power Revolution“ auf den Philippinen oder der Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa verlief dieser Prozeß wenig spektakulär und wurde daher außerhalb Thailands lange Zeit kaum beachtet
Doch gerade auf diesem allmählichen Übergang ruhten die Hoffnungen, daß es Thailand gelingen werde, den ewigen Kreislauf von Diktatur und Liberalisierung zu durchbrechen und stabile pluralistische Strukturen aufzubauen. So hat bereits der amerikanische Demokratietheoretiker Robert A. Dahl in seinem Polyarchiemodell darauf verwiesen, daß bei evolutionärem Wandel die Chancen für eine anhaltende Demokratisierung steigen Politische Institutionen können sich so besser konsolidieren und je länger sie Bestand haben, desto mehr gewinnen sie an Legitimität -jedenfalls solange nicht massive Effizienzdefizite zu Tage treten. Anders als bei abrupten Regimewechseln verringert sich die Gefahr frontaler Interessenkollisionen, da etablierte Eliten dabei kaum in jene „Alles-oder-Nichts“ -Situation geraten, in der sie neben dem Verlust der politischen Macht auch eine akute Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlagen und Verfolgung durch die Justiz zu befürchten haben. Mit der Abdrängung in eine gesellschaftliche Paria-Existenz kämpfen entmachtete Eliten mit dem Rücken zur Wand, so daß ihre Bereitschaft zur Fundamentalopposition gegen die neue Ordnung wächst. Nicht nur, daß sie deren Spielregeln nicht anerkennen; mehr noch: die neue, liberalere Ordnung eröffnet ihnen Spielräume für politische Obstruktion und gezielte Destabilisierung. Allmählicher Wandel hingegen erhöht auch bei scharfer Elitenkonkurrenz die Chancen auf machtpolitische Arrangements und Interessenausgleich, beläßt den alten Eliten Möglichkeiten, sich dem sozialen Wandel anzupassen.
Die jüngsten politischen Unruhen, die gewaltsamsten seit Mitte der siebziger Jahre, haben jedoch zu einer dramatischen politischen Polarisierung in Thailand geführt, die den Fortschritt der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte grundlegend in Frage stellt. In der vom Militär zu verantwortenden Eskalation der Gewalt kulminierte der Versuch, eine politische Ordnung zu restaurieren, die mittlerweile in eklatanten Widerspruch zum Wertesystem breiter mittelständischer Schichten geraten ist. Das politische System Thailands steht am Scheideweg.
I. Der Putsch vom Februar 1991
Wie konnte es zu dieser Zuspitzung der politischen Situation kommen? Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage ist zweifellos in den Ereignissen zu suchen, die im Februar 1991 zum Putsch der Militärs gegen die gewählte Regierung Chatichai Choonhavan führten. Die Militärs begründeten ihre damalige Intervention mit Argumenten, die Uniformträger in solchen Fällen stets bemühen: Unter der Regierung Chatichai habe die Korruption nie dagewesene Ausmaße angenommen, außerdem habe sich die Regierung in die internen Angelegenheiten des Militärs eingemischt und schließlich versucht, eine parlamentarische Diktatur zu errichten
Die nachgeschobenen Argumente verraten es: Nicht die Korruption war das zentrale Motiv für den Coup. Vielmehr markierte er den vorläufigen Höhepunkt eines Machtkampfes zwischen neuen aufsteigenden Eliten und hohen Offizieren, die den Wandel in der Thai-Gesellschaft offenbar nicht wahrnehmen wollten und daher glaubten, die Machtverteilung wie bisher auf dem Wege des Staatsstreichs zu ihren Gunsten verändern zu können. Seit Beginn der achtziger Jahre hatten die Militärs eine zunehmende Erosion ihrer Macht hinnehmen müssen: So mißlang 1983 der Versuch, Verfassungsänderungen durchzusetzen, die ihre politische Vorherrschaft auf lange Sicht festgeschrieben hätten. Sie vermochten ein Jahr später selbst unter Putschandrohungen nicht, eine 15prozentige Abwertung des Baht zu verhindern. 1986 wurde der seinerzeitige Armeechef Arthit Kamlang-ek im Verlaufe eines Machtkampfes mit Premier Prem Tinsulanonda vorzeitig in den Ruhestand geschickt Auch sein Nachfolger General Chaovalit Yongchaiyudh, der mit weitaus subtileren Methoden verlorene Machtpositionen für das Militär zurückgewinnen wollte, scheiterte mit seinem Konzept einer „friedlichen Revolution“
Unter der im Juli 1988 gewählten Regierung Chatichai Choonhavan beschleunigte sich der Autoritätsverlust des Militärs. Chatichai ließ ein Maß an politischer Öffnung zu, wie es Thailand zuvor nur in sehr kurzen Abschnitten seiner Geschichte -so etwa zwischen 1944 und 1947 sowie in den Jahren 1973 bis 1976 -erlebt hatte; und dies ohne jene tumultuösen Umstände, die das parlamentarische Intermezzo nach dem Sturz der Thanom/Praphat-Diktatur 1973 begleiteten. Die Chatichai-Ära sah die Entstehung zahlreicher Bürgerinitiativen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Verbände und anderer gesellschaftlicher Initiativen, die nicht nur toleriert, sondern erstmals auch in zunehmendem Maße in das politische Entscheidungshandeln einbezogen wurden
Damit geriet das Militär zunehmend ins politische Abseits. Mehr noch, die Militärs begannen zu realisieren, daß sie im Rahmen der gegebenen politischen Spielregeln keine Chance mehr haben würden, die Machtbalance zu ihren Gunsten zu revidieren. Daran konnte auch die im September 1990 vom ehemaligen Armeechef Chaovalit gegründete „Neue Hoffnungspartei“ nichts ändern. Diese Partei wurde vom Militärestablishment einschließlich der Gruppe um Suchinda unterstützt; aber auch in Kreisen der durchweg konservativen Bürokratie hatte sie Gefolgschaft. Mit ihrer Hilfe wollte Chaovalit bei künftigen Wahlen mehrheitsfähig werden, sich das Amt des Premiers sichern und so dem Militär neue politische Geltung verschaffen. Doch Chaovalit wäre unter den damaligen Bedingungen bei Wahlen chancenlos geblieben: Grund dafür waren die immensen Schmiergelder und Provisionen, die den Mitgliedern des Chatichai-Kabinetts im Zuge verschiedener Mammutprojekte zum Ausbau der Infrastruktur im Großraum Bangkok zuflossen und die ihre Parteikassen füllten Angesichts des in Thailand weitverbreiteten Stimmen-kaufs bei Wahlen wären Chatichais Chart Thai Party und die anderen Koalitionsparteien kaum von der Macht zu verdrängen gewesen.
Chaovalit hatte 1990 sein Amt als Armeechef vorzeitig aufgegeben und war als stellvertretender Premier und Verteidigungsminister in Chatichais Kabinett eingetreten. Während Chatichai hoffte, auf diese Weise den ehrgeizigen Chaovalit als ständigen, hinter den Kulissen agierenden Unruhestifter in Schach zu halten, spekulierte Chaovalit darauf, Chatichai bei der nächsten politischen Krise als Regierungschef beerben zu können. Die ungleiche Ehe Chatichai-Chaovalit währte denn auch nicht lange -schon nach wenigen Wochen nahm Chaovalit, zermürbt von den endlosen Intrigen in der Koalition, seinen Hut. Nachdem nun klargeworden war, daß Chatichai auch nicht im entferntesten daran dachte, seinem Widersacher den Weg zur Macht frei zu machen, spitzte sich das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen Regierung und Militär immer mehr zu. Der Bruch Chatichai-Chaovalit war damit zugleich ein Bruch zwischen zivilen Politikern und dem Militär als Institution.
Chaovalits Nachfolger als Armeechef, General Suchinda Kraprayoon, ein in anachronistischen militärischen Ehrbegriffen und schlichten politischen Kategorien denkender Offizier, heizte die gespannte Atmosphäre durch die Forderung nach Kabinettsumbildungen, sowie durch militärische Stärkedemonstrationen und kaum verhüllte Putschdrohungen weiter an. Als Chatichai schließlich versuchte, den Druck der Armeeführung durch Allianzen mit Widersachern Suchindas in-nerhalb des Militärs auszubalancieren schlug die Clique um Suchinda zu.
Während die Bevölkerung auf den Putsch zunächst eher indifferent reagierte -hatte der Machtmißbrauch in der Chatichai-Regierung das in der Öffentlichkeit tolerable Maß doch offensichtlich überschritten stellte sich in der Folgezeit immer deutlicher heraus, daß die Korruption nur ein vorgeschobener Grund für den Putsch war. Daß das Korruptionsthema überhaupt jene Bedeutung in der Öffentlichkeit gewinnen konnte, hatte im wesentlichen zwei Ursachen: Das liberale politische Klima der Chatichai-Jahre erhöhte die Transparenz politischer Prozesse; darüber hinaus wollten die Politiker angesichts der anhaltenden politischen Krise für Eventualitäten wie Neuwahlen gewappnet sein. Geht man davon aus, daß bei Wahlen in Thailand über drei Milliarden Baht für Wahlgeschenke und Stimmenkauf ausgegeben werden, so hieß das für die Parteien und ihre Mandatsträger, in kurzer Zeit so viele Mittel wie nur möglich anzuhäufen. Das in der Endzeit Chatichais festzustellende Übermaß an Korruption war damit in erheblichem Maße auf die situationsbedingte politische Dynamik zurückzuführen.
Doch auch das Militär präsentierte sich keineswegs in weißer Weste. Diktatoren und hohe Offiziere hatten sich in der Vergangenheit immer wieder schamlos bereichert, und auch sie benötigten Patronageressourcen zur Absicherung ihrer Macht Chaovalit und führenden Mitgliedern der Junta wurden in der Presse wiederholt Kontakte zu den „chao phor“, den sino-thailändischen Mafiabossen, unterstellt Darüber hinaus steht das Militär ebenso hinter den kontroversen Holzgeschäften mit der Junta in Birma wie es in Waffenschiebereien und den Schmuggel mit Edelsteinen an der •kambodschanischen Grenze verstrickt ist Auch die Aufsichtsratsgremien der Staatsbetriebe sind noch immer eine Pfründe des Militärs; die Putschisten um Suchinda machten da keine Ausnahme.
Der Putsch entlarvte sich damit zunehmend als Versuch einer Offiziersclique um General Suchinda, die Macht an sich zu reißen. Mit wenigen Ausnahmen gehörten die führenden Köpfe des Putsches der Abschlußklasse fünf der Chulachomklao-Militärakademie an. Während der achtziger Jahre waren die Angehörigen dieser Klasse zur stärksten Fraktion innerhalb des Militärs aufgerückt. Unterstützt von den jüngeren Abschlußklassen acht und elf, kontrollierten sie zu Beginn der neunziger Jahre alle Schlüsselpositionen in den Streitkräften.
Anfangs taktierte die Junta, die sich selbst als National Peace Keeping Council (NPKC) bezeichnete, noch vorsichtig. Um das westliche Ausland zu beschwichtigen und um die eigene Stellung rascher zu konsolidieren, gab man sich zunächst konziliant. So setzte die Junta eine aus renommierten Akademikern, Geschäftsleuten und Beamten formierte Zivilregierung mit dem ehemaligen Wirtschaftsmanager Anand Panyarachun als Premier ein und hielt sie sich selbst weitgehend aus dem politischen Tagesgeschäft heraus. Auch repressive Maßnahmen blieben die Ausnahme und schon im Mai 1991 wurde das Ausnahmerecht wieder aufgehoben. Zwar hatte die Junta die Verfassung von 1978 außer Kraft gesetzt und das Parlament aufgelöst, doch im Gegensatz zu früheren Coups waren die politischen Parteien nicht verboten und die Pressezensur schon am Tage nach dem Putsch wieder aufgehoben worden. Bis spätestens April 1992 wollte die Junta Neuwahlen ausschreiben und damit zur Demokratie zurückkehren.
II. Manipulationen mit der Verfassung
Doch mit den unverhohlenen Versuchen, eine auf die Interessen der Junta zugeschnittene Verfassung durchzusetzen, mehrten sich die Zweifel an den Absichten der Militärs -auch wenn Suchinda wiederholt beteuerte, keine Ambitionen auf das Amt des Premierministers zu hegen. Die Presse und die politisch interessierte Öffentlichkeit verfolgten das weitere Vorgehen der Junta mit Argusaugen. So zwangen bereits im November 1991 Massendemonstrationen in Bangkok die Militärs zu verfassungsrechtlichen Konzessionen Und man erinnerte sich jetzt wieder daran, was Suchinda kurz vor und nach seiner Beförderung zum Armeechef über das politische System Thailands gesagt hatte: Zivile Politiker und demokratische Institutionen verachtete er, auch einen Putsch wollte er für seine Amtszeit nicht von vornherein ausschließen
Doch gelang es den Militärs trotz gewisser Zugeständnisse, eine Verfassung zu verabschieden, die ihnen eine dominante Rolle im politischen Prozeß sicherte. Mit Hilfe einer zweiten Kammer, dem Senat, dessen 270 Mitglieder von der Junta ernannt wurden und mehrheitlich aktive oder pensionierte Militärs waren, konnte man die Opposition im Repräsentantenhaus jederzeit aushebeln, hatte doch der Senat das Recht, bei wichtigen Entscheidungen in gemeinsamer Sitzung mit dem Repräsentantenhaus abzustimmen
Damit war auch abzusehen, daß die für den 22. März 1992 anberaumten Wahlen keine Rückkehr zur Demokratie bringen würden. Die Junta selbst hatte in der Zwischenzeit mit der Samakkhi Tham Party (STP) eine ihr nahestehende politische Partei aufgebaut, mit deren Hilfe sie auch im Repräsentantenhaus ihre Interessen durchzusetzen gedachte. Daß sie dafür aber vorwiegend jene korrumpierten zivilen Politiker rekrutierte bzw. mit Parteien wie der Chart Thai und der Social Action Party (SAP) Wahlbündnisse einging, gegen die sich der Staatsstreich vorgeblich gerichtet hatte, vergrößerte ihre Unglaubwürdigkeit.
Der Wahlkampf war eine Auseinandersetzung zwischen zwei Lagern: den Parteien, die von der Junta zu Steigbügelhaltern für General Suchinda ausersehen waren -also der Samakkhi Tham Party (STP), der Chart Thai Party, der Social Action Party, Prachakorn Thai und Rassadorn -, standen jene gegenüber, die für die Demokratie eintraten. Zu ihnen gehörten Chaovalits Neue Hoffnungspartei, die Democrats und die Phalang Dharma Party (PDP) des früheren Gouverneurs von Bangkok, Chamlong Srimuang. Daß die Democrats im pro-demokratischen Lager standen, überrascht nicht -ihre distanzierte Haltung gegenüber dem Militär ist ihr Markenzeichen. Um so mehr mußten aber vor dem Hintergrund früherer Verlautbarungen die Bekenntnisse General Chaovalits zur parlamentarischen Demokratie überraschen. Inwieweit sie ernstgemeint sind und nicht nur taktischem Kalkül entsprangen, wird erst die Zukunft zeigen müssen. Denn in dem Maße, in dem deutlich wurde, daß die Suchinda-Clique selbst nach der Macht griff, hatte sich Chaovalits Verhältnis zu seinem ehemaligen Bundesgenossen zunehmend verschlechtert. Chaovalit, der am Putsch selbst nicht beteiligt war, hatte gehofft, daraus politisches Kapital schlagen zu können. Da er weder mit dem Odium des gewaltsamen Machterwerbs behaftet war noch mit der Korruption der Chatichai-Regierung belastet schien, überdies in der Zwischenzeit eine respektable Parteiorganisation aufgebaut hatte, sah er anfangs den lange angestrebten Posten des Premiers gewissermaßen wie eine reife Frucht auf sich zufallen.
Da aber spätestens Ende 1991 als ausgemacht galt, daß Suchinda nach den Wahlen allen Dementis zum Trotz das Amt des Premierministers anstreben würde, spitzte sich der Wahlkampf zunehmend auf die Alternative Demokratie oder Diktatur zu. Wie schon 1986 und 1988 rückte dabei vor allem die Frage in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen, ob der künftige Premier aus den Reihen des Parlaments kommen müsse oder ob auch ein Außenstehender zum Zuge kommen könne Obwohl die Verfassung letzteres zuließ, suchten die pro-demokratischen Parteien dies unbedingt zu verhindern, zumal als Außenstehender nur General Suchinda in Frage kam, der damit seine Machtergreifung quasi-legal abgesichert hätte.
Die Wahl endete mit einer knappen Mehrheit für die militärfreundlichen Parteien. Samakkhi Tham, Chart Thai, SAP, Prachakorn Thai und Rassadorn eroberten 195 von 360 Sitzen und einigten sich umgehend auf die Bildung einer Koalitionsregierung Als titularer Vorsitzender der Samakkhi Tham Party, mit 79 Sitzen stärkste Fraktion, wurde Narong Wongwan zum neuen Premier designiert. Freilich ließ sich Narongs Kandidatur nicht mehr halten, nachdem in Washington der Verdacht geäußert wurde, er sei in Drogengeschäfte verwikkelt. Die Nominierung Narongs stellte sich damit zunehmend als Winkelzug des Militärs dar; denn falls Narong Verbindungen zum Drogenhandel hatte -und die öffentliche Meinung hegte daran wenig Zweifel -, konnte dies den militärischen Nachrichtendiensten nicht verborgen geblieben sein. Auch die Schnelligkeit, mit der man Narong fallen ließ, nährt diesen Verdacht. Die Vermutung liegt nahe, daß die Militärs mit seiner Nominierung die zivilen Politiker diskreditieren wollten, um Suchinda als Retter in der Not um so leichter als Premier einsetzen zu können. Suchindas wiederholte Versprechen, sich aus der Politik herauszuhalten und nicht für das Amt des Premiers zur Verfügung zu stehen, waren damit hinfällig.
Das Kabinett, das Suchinda der Öffentlichkeit präsentierte, umfaßte nicht weniger als 16 Minister, die schon der Chatichai-Regierung angehört hatten und die zum Teil sogar von einem nach dem Coup im Vorjahr eigens eingesetzten Antikorruptionstribunal für „ungewöhnlich reich“ befunden worden waren Mit Montri Pongpanich und Banharn Silapa-archa waren darunter selbst jene Minister, die das Militär vor dem Sturz Chatichais besonders angegriffen hatte. Sie finanzierten der Samakkhi Tham nicht nur den Wahlkampf, auch nach der Wahl brauchte Suchinda angesichts der knappen parlamentarischen Mehrheit seiner Koalition dringend ihre Patronageressourcen, um peinlichen Abstimmungsniederlagen im Unterhaus vorzubeugen.
Die Öffentlichkeit reagierte empört. Man sah in diesen Schachzügen schlichtweg politischen Betrug, einen „stillen“ Putsch. Bereits unmittelbar nach den Wahlen hatte Chamlong düster angedeutet, daß die Ernennung Suchindas eine hochgradig destabilisierende Wirkung für das politische System des Landes nach sich ziehen werde. Insbesondere in der Hauptstadt war die Stellung Suchindas und seiner politischen Hilfstruppen überaus prekär: Chamlongs Phalang Dharma Party hatte hier 32 von 35 Parlamentsmandaten und kurz darauf auch die Gouverneurswahlen gewonnen.
Anfang Mai begannen die pro-demokratischen Parteien und Studentenverbände Massendemonstrationen gegen Suchinda zu organisieren, deren Teilnehmerzahl ständig zunahm. Zuletzt waren es weit über 200000 Demonstranten, die den Protest-aufrufenfolgten. Anders als bei früheren politischen Krisen gingen nicht mehr allein die Studenten auf die Straße breite Bevölkerungsgruppen schlossen sich ihnen an. Zugleich traten Politiker mit unangefochtener moralischer Statur wie Chalard Vorachart und Chamlong Srimuang in einen unbefristeten Hungerstreik, den Chamlong erst aufgab, als. Suchinda und seine parlamentarischen Kohorten nachgaben und Verfassungsänderungen zustimmten. So sollte der Posten des Premiers nunmehr einem gewählten Parlamentarier Vorbehalten sein, die Kompetenzen des Senats beschnitten werden. Doch die Militärs hielten nicht Wort: Suchinda machte weder Anstalten zurückzutreten, noch gab er zu erkennen, daß er sich einer Nach-wahl stellen würde. Vielmehr verlautete aus Regierungskreisen, daß zunächst Übergangslösungen nötig seien, bevor Verfassungsänderungen in Angriff genommen werden könnten
Damit war der letzte Akt des Dramas eingeleitet. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Bang-koks Straßen nahmen ihren Lauf. Mehr als 100 Menschen kamen nach (vorsichtigen) inoffiziellen Schätzungen um als Militäreinheiten das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten eröffneten. Suchinda verhängte den Ausnahmezustand über Bangkok sowie eine strikte Pressezensur und ließ den Wortführer der Opposition, Chamlong Srimuang, zusammen mit 3 000 weiteren Regimegegnern verhaften. Erst ein Machtwort des Monarchen setzte der eskalierenden Gewalt ein Ende.
III. Schlußfolgerungen
Die Konfrontation hat gezeigt, daß die thailändische Gesellschaft politisch mündiger geworden ist. Das fulminante Wirtschaftswachstum der letzten Dekade hat insbesondere in den Städten eine neue Mittelschicht entstehen lassen, die in zunehmendem Maße an der gesellschaftlichen Entwicklung Anteil nimmt. Dies gilt nicht nur für den Fall, daß ihre ökonomischen Interessen durch Handeln des Staates berührt werden; mit steigendem Bewußtsein für gehobene Lebensqualität wuchs auch der Wunsch, an der Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen mitzuwirken. Das geradezu sprunghafte Wachstum gesellschaftlicher Organisationen, Vereinigungen, Verbände und Bürgerinitiativen verdeutlicht diesen Sachverhalt. Hoheitliches Planungsgebaren, bürokratische Arroganz, Korruption und fehlende staatliche Sensibilität für drängende soziale und ökologische Probleme wurden nicht mehr stillschweigend toleriert. Mit der zunehmenden wirtschaftlichen Öffnung der Thai-Gesellschaft, steigenden Bildungsstandards, fortschreitender ökonomischer und kommunikativer Verflechtung mit dem westlichen Ausland sowie mit langen und vermehrten Auslandsaufenthalten für Studium und berufliche Fortbildung setzte ein Wertewandel ein, der auf Hierarchie, Autorität und Paternalismus gründende traditionelle Legitimationsvorstellungen zunehmend untergrub. Verstärkt wird dieser Prozeß durch einen Teil der Medien deren politische Berichterstattung ebenfalls eine deutliche Präferenz für parlamentarisch-demokratische Formen der Willensbildung sowie transparente und saubere Politik erkennen läßt. Die traditionell weitverbreitete negative Konnotation von Politik wich insbesondere in den Städten einer unbefangeneren Einstellung. Damit stand der Protest auf breiter Basis, was zusätzlich dadurch unterstrichen wurde, daß die Demonstrationen erstmals auch auf die Provinzen Übergriffen. So wurden auch aus Khon Kaen, Chiang Mai, Songkhla und Surat Thani Solidaritätskundgebungen für die Demokratiebewegung in Bangkok gemeldet.
Zugleich ging mit dem Machtverlust des Militärs auch ein Verlust an Sozialprestige einher. Längst führt der Weg zu sozialer Anerkennung, Macht und Einfluß nicht mehr nur über eine militärische Karriere. Mit gesellschaftlicher Differenzierung und wirtschaftlicher Diversifizierung entstanden namentlich in der freien Wirtschaft neue attraktive Aufstiegskanäle. Weniger denn je sind die Militärs heute in der Lage, eine komplexe, sich rasch industrialisierende Gesellschaft zu steuern. Sie benötigen dazu die Hilfe moderner technokratischer Funktionseliten. Mit der fortgesetzten Delegierung technischer Sachfragen an eigens dafür ausgebildete Spezialisten geben sie jedoch immer mehr politische Prärogativen aus der Hand.
Erschwerend kommt hinzu, daß mit dem Abzug der Vietnamesen aus Kambodscha und der Niederwerfung der kommunistischen Guerilla im eigenen Lande auch die traditionellen Feindbilder und mit ihnen die Legitimationsgrundlagen für den politischen Führungsanspruch der Militärs verloren gegangen sind. Dessen ungeachtet wies das stets bemühte Bild vom Militär als dem Garanten der nationalen Sicherheit bereits zuvor tiefe Risse auf: Bei den Grenzgefechten mit vietnamesischen Okkupationstruppen in Kambodscha zu Beginn und Mitte der achtziger Jahre, im Grenzkrieg mit Laos 1987/88 und bei wiederholten Grenzverletzungen birmanischer Truppen blieb die thailändische Armee den Nachweis ihrer Schlagkraft schuldig. So werden nun Forderungen nach einem Abbau des aufgeblähten Offizierskorps und Maßnahmen zur Einschränkung der politischen Rolle der Armee immer lauter. Es bedarf allerdings nur geringer Phantasie, um das innenpolitische Konfliktpotential zu ermessen, das hinter solchen Versuchen zur Beschneidung der Militärmacht lauert. Ein ähnlicher Gedanke war übrigens bereits 1946 von den Briten ins Gespräch gebracht worden. London wollte damit Thailand, das im Zweiten Weltkrieg bis 1944 auf Seiten der Achsenmächte gestanden hatte, in ähnlicher Weise demobilisieren wie die Kriegsverlierer Deutschland und Japan. Die britischen Pläne wurden jedoch im Zuge des heraufziehenden Kalten Krieges von den USA verworfen
Der durch Massenproteste erzwungene Rücktritt General Suchindas ist zweifellos ein Sieg der Demokratiebewegung. Ob dieser Sieg jedoch von Dauer sein wird, bleibt gegenwärtig offen. Mehr noch, die Risiken für eine dauerhafte Demokratisierung sind durch die Unruhen größer geworden als vor dem Putsch vom Februar 1991. Dafür sprechen folgende Überlegungen:
Die innenpolitische Kräftebalance wird gravierenden Veränderungen unterworfen, von denen niemand weiß, wie sie sich langfristig auswirken werden. Zwar erzwangen die Demostrationen den Sturz Suchindas, doch noch immer kontrollieren die Putschisten vom Februar 1991 die Schaltstellen in der Armee. Solange dies der Fall ist, wird der Machtkampf zwischen den Militärs und ihren pro-demokratischen Widersachern andauern, liegen weitere Kurzschlußhandlungen der Armeeführung im Bereich des Möglichen. Daß die Militärs auch nach dem Rücktritt Suchindas nicht zur Aufgabe ihrer machtpolitischen Ansprüche bereit sind, zeigt der gescheiterte Versuch, die Ernennung des ihnen nahestehenden früheren Luftwaffenoffiziers Somboon Rahong zum neuen Premier zu erzwingen. Somboon war 1991 von der Junta in einer Art „Hijacking“ -Aktion der Chart Thai Party als Parteichef oktroyiert worden. Damit wird auch die politische Instabilität anhalten. Problematisch wäre in diesem Zusammenhang insbesondere eine Schwächung der Monarchie, die seit den Tagen Sarit Thanarats zur wichtigsten Quelle politischer Legitimation herangewachsen ist Die Rolle des in Thailand hochverehrten Königshauses während der Unruhen blieb'jedoch nicht unumstritten. Nicht nur ausländische Beobachter warfen die Frage auf, warum das königliche Machtwort erst fiel, als bereits viele Demonstranten getötet und Hunderte durch das brutale Vorgehen der Armee verletzt waren Auch die nach Beendigung der Unruhen verkündete allgemeine Amnestie stößt in Thailand nicht nur auf Zustimmung; bedeutet diese Amnestie doch, daß die für das Massaker Verantwortlichen straffrei ausgehen.
Das politische System wird in den nächsten Jahren weitaus offener sein, als dies vor dem Februar 1991 der Fall war. Plebiszitäre Formen der politischen Willensbildung werden starken Auftrieb gewinnen, Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen, NGO und Interessenverbände werden an politischem Gewicht zulegen. Gesellschaftliche Kontroversen werden weit mehr als bisher von Massendemonstrationen und -kundgebungen gekennzeichnet sein. Genau hier liegt aber eine der Hauptgefahren für die Demokratisierung: Die politische Landschaft wird sich zunehmend polarisieren. Einer militanten außerparlamentarischen Opposition werden die konservativen Kräfte in den politischen Parteien und dem staatlichen Sicherheitsapparat gegenüberstehen; der Ruf nach Autorität, Recht und Ordnung wird schlagartig wieder zunehmen und gäbe dem Militär eine neue Chance zur Intervention. Es paßt nur zu gut in dieses Bild, daß bereits jetzt das Militär darangeht, rechtsradikale Gruppierungen wie die „Red Gaurs“ zu reaktivieren, die sich schon während des „demokratischen Interregnums“ 1973-1976 einen höchst zweifelhaften Ruf als Sturmtruppe der Reaktion erworben haben.
Trotz des bemerkenswerten politischen Wandels bleibt die Rezeption westlicher Demokratiemodelle noch immer oberflächlich. Selbst in den Curricula des politikwissenschaftlichen Studiums beschäftigt man sich weit mehr mit den institutionellen Aspekten parlamentarischer Willensbildung, denn mit ihrer demokratietheoretischen Fundierung. Ideengeschichte und politische Theorie haben nur einen nachgeordneten Stellenwert in der politikwissenschaftlichen Forschung. Um so mehr Vorsicht ist angebracht, wenn thailändische Politiker den Begriff „Demokratie“ in den Mund nehmen, zumal dann, wenn sie wie Chamlong Srimuang, Chaovalit Yongchaiyudh und viele andere ehemalige Offiziere sind. Das paternalistische und etatistisch geprägte Demokratieverständnis Chaovalits und seiner „Democratic Soldiers" wurde an anderer Stelle bereits analysiert; gleiches gilt für die „Young Turks“, denen Chamlong einst nahestand. Ob sie sich heute von diesen Vorstellungen gelöst haben, darf bezweifelt werden
Zwar läßt sich mit dem Niedergang des Militärs eine allmähliche Abnutzung autoritär-korporatistischer und organischer Staatsideen in Thailand beobachten, doch die entstehende pluralistische Ordnung ist nach wie vor von erheblichen Strukturfehlern gekennzeichnet. Die thailändische Pluralismusversion folgt in hohem Maße altliberalen Laisser-faire-Vorstellungen und hat so zu erheblichen Verzerrungen in der Willensbildung geführt. So sind es trotz der Proliferation sozialkritischer NGOs und Bürgerinitiativen in erster Linie die etablierten und finanzstarken Wirtschaftsverbände, die von der Liberalisierung der achtziger Jahre am meisten profitierten. Damit werden aber die im Gefolge raschen wirtschaftlichen Wachstums immer eklatanter zu Tage tretenden sozialen und regionalen Disparitäten sowie die zunehmenden ökologischen Probleme des Landes eher verschärft Kommt es im Bereich der Interessenrepräsentation nicht zu einer größeren Ausgewogenheit, wird dies militanten, plebiszitären Bewegungen starken Auftrieb verleihen.
Schließlich zeigen die Ereignisse der letzten Woche, daß sich der Protest noch mehr als das Eintreten für abstrakte Demokratieideale vor allem gegen das Manipulieren mit politischen Institutionen für partikulare Interessen militärischer Eliten richtet. Die zunächst widerspruchslose Hinnahme des Coups vom Februar 1991 im Namen der Korruptionsbekämpfung, die breite Zustimmung für die von der Junta seinerzeit eingesetzte, außerordent-lieh effiziente Interimsadministration unter Anand Panyarachun und die enorme Popularität Chamlong Srimuangs verdeutlichen, worum es großen Teilen der Öffentlichkeit zuvorderst geht: rule of law, Rechtssicherheit, Transparenz politischer Vorgänge und die Lösung von Sachproblemen. Insofern sind die Chancen für eine dauerhafte Demokratisierung in Thailand offen. Der Sturz Suchindas kann sich unter günstigen Rahmenbedingungen als großer Sprung nach vorn erweisen; die Unterbrechung der Institutionenbildung durch den Putsch im Februar 1991 und die anschließenden Machtkämpfe bergen jedoch auch erhebliche politische Risiken für die Zukunft. Somit sind die Chancen für eine dauerhafte Demokratisierung in Thailand offen. Doch könnte die neuerliche Ernennung des angesehenen Wirtschaftsmanagers Anan Panyarachun zum Chef einer Übergangsregierung zusammen mit den gerade beschlossenen Verfassungsänderungen, die den Einfluß des Militärs einschränken, und der baldigen Abhaltung von Neuwahlen den Weg aus der Krise weisen. Angesichts der ohnehin hochgradig fluiden Parteienlandschaft und der auf dem Tiefpunkt angelangten Popularität des Militärs steht zu erwarten, daß sich zahlreiche Abgeordnete von den militärfreundlichen Parteien lösen und bei weniger kompromittierten Parteien Anschluß suchen werden. Mit neuen parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen verbessern sich die Chancen zur Eindämmung der Klasse 5 erheblich.