I. Parteipolitik im kommunal-politischen Entscheidungsprozeß
Kommunalpolitik -eine Politikqualität eigener Art?
Wer die „Politisierung“ der Kommunalpolitik thematisiert, begibt sich wissentlich in das Feld eines altbekannten Grundsatzkonflikts, der um „Natur“ und „Wesen“ von kommunaler Selbstverwaltung geführt wird. Dieser Disput nimmt mitunter Züge eines verfassungspolitischen Bekenntnisstreits an. Bedenkt man, daß die kommunale Selbstverwaltung wichtige Funktionen einer dritten Ebene im Bundesstaat mit eigenen und übertragenen Aufgaben erfüllt, daß kommunale Körperschaften beispielsweise rund zwei Drittel aller jährlichen öffentlichen Investitionen tätigen und etwa 80 Prozent der Bundes-und Landesgesetze ausführen, daß ferner Gemeindepolitik immer noch als eine Grundschule der Demokratie gilt, dann wird deutlich, daß es für eine stabile Fundamentierung demokratischer politischer Kultur nicht unerheblich ist, ob die parteienstaatliche Konkurrenzdemokratie auch für die kommunale Ebene akzeptiert wird. Denn wenn der Kommunalpolitik im öffentlichen Bewußtsein eine politische Qualität eigener Art zugewiesen würde, müßte der Anspruch, das für die nationale Politik anerkannte regulative Prinzip des Parteienstaats auf kommunale Angelegenheiten zu übertragen, systemwidrig erscheinen.
Gewiß wird heute kaum mehr ernstlich behauptet, die Erledigung gemeindlicher Angelegenheiten durch Gemeinderat und -Verwaltung sei gänzlich „unpolitisch“. Daß auch Kommunalwahlen politische Wahlen sind -und zwar unabhängig davon, ob man die ebenenabhängigen Bestimmungsgründe des Wahlverhaltens stärker oder schwächer gewichtet 1 -, daß des weiteren die Kommunalpolitik de facto maßgeblich von politischen Parteien gestaltet wird und hierbei wiederum die großen Parteien eine Führungsrolle innehaben ist als ein Kennzeichen kommunaler Verfassungswirklichkeit inzwischen weithin bekannt, wenn auch nicht vorbehaltlos anerkannt. 2. Parteipolitisierung wächst mit den Ortsgrößen Die empirisch angeleitete lokale Politikforschung hat herausgearbeitet, daß der Faktor Parteipolitik für kommunale Entscheidungsprozesse an Bedeutung gewinnt. Eine Definition Hans-Georg Wehlings übernehmend, läßt sich Parteipolitisierung bestimmen als das Ausmaß, in dem es örtlichen Parteiorganisationen und Parteivertretern gelingt, „die Kommunalpolitik personell, inhaltlich und prozedural zu monopolisieren“ Als Maßstab für eine parteipolitische Durchdringung der Rathaus-politik können demnach die formelle Parteizugehörigkeit und -ungleich schwieriger nachweisbar -virtuelle Parteibindungen der Mitglieder von Rat und Verwaltungsstab herangezogen werden. Aufschlußreich sind ferner die inhaltliche Ausrichtung von Beschlußvorlagen an parteipolitischen Zielsetzungen sowie der Grad der Parlamentarisierung kommunaler Entscheidungsprozesse. Diese ist u. a. am arbeitsteiligen Zusammenwirken von Ratsausschüssen und Ratsplenum sowie an beider Abstimmungsverhalten ablesbar
Je nach Ortsgröße, Typus der Gemeindeordnung und regionaler politischer Kultur wird der er-reichte Stand der Parteipolitisierung schwanken Auch bei Anwendung dieser Variablen ist es dennoch schwierig, eine im Lauf der Zeit zunehmende Parteipolitisierung exakt nachzuweisen. Unter Berücksichtigung solcher Unsicherheiten resümiert Wehling: „Alle verfügbaren Befunde sprechen dafür, daß das Ausmaß von Parteipolitisierung . . . mit der Gemeindegröße zunimmt. Mit zunehmender Gemeindegröße verringert sich der Anteil der Freien Wähler an den Gemeinderatsmandaten, gehören-die Hauptverwaltungsbeamten und die Beigeordneten einer politischen Partei an -auch bei der Direktwahl des Bürgermeisters in Baden-Württemberg und Bayern finden allgemeinpolitische Debatten in Gemeinderäten statt, tendiert die Ratsarbeit zunehmend in Richtung Parlamentarisierung: mit entsprechendem Debattenstil, Vorentscheidungen in Fraktionen, Abstimmungen nach Mehrheit und Minderheit. . . . Mit zunehmender Größe der Räte werden schließlich parlamentarische Prozesse zunehmend funktional, deren Handhabung erleichtert wird durch ein mit Ortsgröße zunehmendes parlamentarisches, kompetitives Selbstverständnis der Ratsmitglieder.“
Diesem Befund widerspricht nur auf den ersten Blick, daß die Freien Wählergemeinschaften (FWG) bei Gemeinderatswahlen in Baden-Württemberg ihren Stimmenanteil, der im Jahr 1980 bei 24, 3 Prozent lag, bis 1989 auf 40, 7 Prozent haben steigern können Bei genauerer Prüfung erweist sich nämlich, daß ein Großteil der nicht parteigebundenen Mandatsträger der FWG ihre jeweiligen „freien“ Listen sehr wohl als einer der Parteien nahestehend ansieht
Daß politische Parteien im Feld der Kommunalpolitik inzwischen ihre institutioneile Vormachtstellung haben ausbauen können, wird durch andere Untersuchungen in der Tendenz bestätigt. So hat Doris Gau am Beispiel von Kölner Stadtverordneten typische Verlaufsmuster kommunalpolitischer Karrieren ermittelt. Ihre Untersuchung zeigt, daß die Chancen für den Aufstieg zum Mandatsträger in der Großstadt primär über politische Parteien vermittelt werden Diese für mittlere und größere Städte wohl generell nachweisbare Auswahl-funktion politischer Parteien bei der Kandidaten-aufstellungfür Ratswahlen hat allerdings nicht automatisch zur Folge, daß sich die gewählten Repräsentanten hinfort als Notare eines Mehrheitswillens verstünden, der in Parteigremien vorab gebildet und bei Abstimmungen im Gemeinderat nur mehr ratifiziert würde. 3. Kommunalpolitiker als „Treuhänder“
und „Delegierte“
Anhand einer vergleichenden Untersuchung in nordhessischen Kreisparteiorganisationen von CDU, SPD und FDP wies Andreas Engel lokalen Parteiakteuren, die großteils gleichzeitig Ämter in kommunalen Vertretungsorganen innehatten, einen „flexiblen Repräsentationsstil“ nach, der zwischen den Rollen des am Wohl der Gesamtgemeinde orientierten „Treuhänders“ und des Parteibeschlüssen verpflichteten „Delegierten“ beweglich bleibt Das geteilte Rollenverständnis erklärt sich daraus, daß die mit einem Ratsmandat ausgestatteten Lokalpolitiker an der Schnittstelle zwischen kommunalpolitischen und parteibezogenen Beziehungsfeldern agieren: „Kommunalpolitiker betonen die politische Verantwortung gegenüber der Gesamtbürgerschaft, ebenso präferieren Akteure mit intensiven Kontakten im kommunal-politischen Handlungsfeld das Handlungsmodell des Treuhänders, während solche mit intensiven innerparteilichen Kontakten eine Affinität zur Delegiertenrolle zeigen.“ Das Ziel der Stimmenmaximierung gibt auch auf kommunaler Ebene die Bedingungen des politischen Wettbewerbs und der Neuverteilung von Machtchancen vor. Daher müssen sich kommunal aktive Parteipolitiker in einem „Spagat“ üben zwischen entschiedener Interessenvertretung ihrer Stammwähler einerseits und erfolgreicher Ansprache parteiungebundener Wählerschichten andererseits. Nach Engel ist es diese gleichsam gespaltene Dynamik des Wählerverhaltens, welche die Lokalpolitiker zum fortgesetzten Rollenwechsel nötigt
Auch die Art und Weise, wie kommunalpolitische Interessengegensätze reguliert werden, stellt sich janusköpfig dar. In einer vergleichenden Studie konnte Oscar Gabriel aufzeigen, daß sich im kommunalen Geschehen herkömmliche konkordanzdemokratische und parteienstaatlich-konkurrenzdemokratische Handlungsmuster offenbar miteinander verbinden. Erstere leiten die Praxis einer partei-und konfliktfreien Verhandlungslösung, letztere sind durch eine deutliche Scheidung zwischen Regierungs-und Oppositionsrolle sowie die Durchsetzung von Mehrheitsentscheidungen charakterisiert Aus Sicht dieser in Rheinland-Pfalz durchgeführten Untersuchung ergibt sich folgendes Bild: Parteifreie Wählergemeinschaften halten mancherorts erhebliche Wähleranteile, in verbandsfreien Gemeinden hingegen besitzen die national etablierten Parteien die weitaus meisten Ratssitze. „Trotz einer gewissen Auflockerung des lokalen Parteiensystems verloren die beiden großen Volksparteien nicht ihre führende Position in der Kommunalpolitik; denn selbst im ungünstigsten Falle kontrollierten CDU und SPD gemeinsam zwei Drittel der Ratsmandate.“ Allerdings ist in den Städten dieser Region seit Ende der siebziger Jahre eine Tendenz zur stärkeren Fraktionalisierung des lokalen Parteiensystems erkennbar. Legt man die Parteientheorie Lijpharts als Maßstab an, so müßte diese Entwicklung auf eine Stärkung konkordanzdemokratischer Verhaltensmuster hinauslaufen. Besser wohl deutet man diese Veränderung im lokalen Parteiensystem als Anzeichen aktueller Politisierung, denn es sind die GRÜNEN, die durch ihren Einzug in Ratsvertretungen die kommunalpolitischen Konfliktlinien neu markiert haben
Was parteipolitische Einflußnahmen auf Personal-und Sachentscheidungen betrifft, werden die von Wehling vorgetragenen Befunde von Gabriel im wesentlichen bestätigt. „Zwischen 1974 und 1984 nahm die Tendenz der Mehrheitspartei des Rates, die Verwaltungsspitze exklusiv zu kontrollieren, • deutlich zu. . . . Besonders nahm die Neigung zu, die Verwaltungsspitze ausschließlich durch Vertreter der Mehrheitspartei zu beschicken.“ In den untersuchten rheinland-pfälzischen Städten gehörten Mitte der achtziger Jahre zwei von drei Bürgermeistern der jeweiligen Mehrheitsfraktion des Rates an (nur eine einzige Stadtverwaltung wurde von einem parteilosen Amtsinhaber geführt). Die Bürgermeisterwahl ist überwiegend Gegenstand parteipolitischer Kampfabstimmungen geworden.
Ausgeprägter als bei der Beratung und Verabschiedung der kommunalen Etats, wo sich kontroverse und einstimmige Voten in etwa die Waage hielten, ist demzufolge die Bestellung der leitenden Verwaltungsbeamten abhängig von parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen 4. Parteipolitisierung -nicht primär ein Problem politischer Hygiene Der kommunale Parteienstaat als örtlich verkleinertes und auf gemeindliche Themen und Interessenlagen hin ausgerichtetes Formprinzip einer Politik, die sich durch Parteipolitik(er) und Parteienwettbewerb vermittelt, hat offenbar -diesen Schluß lassen die empirischen Ergebnisse zu -auf kommunalem Boden seine Position ausbauen können. Andererseits weckt die parteipolitische Steuerung kommunaler Angelegenheiten im Meinungsbild der Bevölkerung eher ablehnende Assoziationen. Auch Funktionsträger in lokaler Politik und Verwaltung ordnen auf Befragen ihre parteipolitische Bindung einer Verpflichtung gegenüber gesamtstädtischen Belangen meist unter. Fast scheint es, als nehme mit fortschreitender kommunaler Parteipolitisierung der öffentliche Widerstand gegen diese proportional zu.
Die Motive und die politische Stoßrichtung, die Träger und der sachliche Gehalt der Gegenströmungen sind naturgemäß unterschiedlich. Teils werden bestimmte „Auswüchse“ kommunaler Parteipolitik (personeller Filz bei Besetzung kommunaler Ämter, überzogene Ausgabewünsche bei der Haushaltsplanung) kritisiert teils wird die Ablehnung, so sie der traditionellen Vorstellung einer Ideologie-und parteifreien, rein sachbezogen arbeitenden Gemeinde-Selbstverwaltung verhaftet bleibt, grundsätzlicher vorgetragen. Geht es, wie häufig behauptet, bei der Erledigung gemeindlicher Angelegenheiten allein darum, die eine dem Problem sachlich angemessene Lösung zu beschließen, dann erscheint das Geltendmachen konkurrierender, zumal richtungspolitisch profilierter Lösungsalternativen in der Tat sachfremd und destruktiv.
Die Forderung, dieses Spannungsverhältnis durch Eindämmung parteipolitischer Einflußmöglichkeiten zu beheben, ist demokratietheoretisch jedoch nicht hinreichend reflektiert. Kommunale Parteipolitisierung sollte nicht vorrangig normativ als ein Problem politischer Hygiene bzw. politischen Machtmißbrauches beurteilt werden -als ginge es nur darum, illegitimer Pfründenwirtschaft und verbissener Parteidogmatik Einhalt zu gebieten. Es sind vielmehr wesentlich strukturelle, aus der Eigendynamik kommunaler Sachlagen und Institutionen kommende Impulse, welche die Parteipolitisierung -jedenfalls in großen Städten -fördern. Diese These bedarf freilich der Begründung. 5. Ideologiefrei, harmonisch, rein sachlich -
ein verbreitetes Idealbild kommunaler Politik Die Gegenposition zum Vorhergehenden ist seit jeher das Standardargument insbesondere Freier Wählergemeinschaften, daß eine möglichst partei-freie Zusammensetzung der kommunalen Wahl-körper einem sachpolitisch definierten ideellen Gesamtwillen der Gemeindebürgerschaft am besten Ausdruck gebe. Hier dient die Forderung nach „ideologiefreier“ Gemeindepolitik erkennbar der kommunalen Positionssicherung ihrer Fürsprecher, und dies ist im Wettbewerb um örtliche Wählerstimmen zweifellos legitim. Die in jüngster Zeit konsolidierten Stimmen-und Mandatsanteile für Parteifreie bezeugen, daß die Forderung, die Rathäuser nicht der Parteipolitik zu überlassen, bei Teilen der Wählerschaft immer noch -und neuerdings vermehrt -Zustimmung findet. Sobald Gemeindebürger demoskopisch befragt werden, sprechen sie sich mehrheitlich für eine kommunal-politische Praxis aus, die konsensgeleitet sein soll, ideologiefreie Lösungen sucht und nicht durch Parteistreitigkeiten polarisiert wird.
Zur Illustration dieses Sachverhalts sei ein lokales Beispiel angeführt: Ende 1981 hatte sich in Augsburg von der Ortspartei und Stadtratsfraktion der CSU eine „Christlichsoziale Mitte“ (CSM) abgespalten, weil sich ein Teil der der CSU angehörenden Ratsmitglieder und Referenten weigerte, den auf innerstädtische Konfrontation angelegten Kurs der lokalen Parteiführung mitzutragen Eine repräsentative Umfrage erbrachte, daß diese Form der innerparteilichen bzw. kommunalen Konfliktaustragung von lediglich 19 Prozent der befragten Bürger befürwortet wurde. 31 Prozent bewerteten den Vorgang negativ. Sogar unter den Anhängern der CSM war der Anteil derer, die meinten, eine Spaltung wäre besser vermieden worden, nicht viel niedriger als die Zahl der Sezessionsbefürworter (31 zu 29 Prozent).
Soll ein Politiker, ein Abgeordneter, der bei Abstimmungen in Gewissenskonflikte mit seiner Partei gerät, sich der Parteiräson beugen oder widersetzen? Auch danach wurden die Augsburger befragt. 26 Prozent gaben der Parteidisziplin den Vorrang, fast 54 Prozent antworteten, „er soll so abstimmen, wie er selbst denkt“ zwar ist in der Frageformulierung nicht nach Politikebenen unterschieden worden, da die Antworten jedoch im Kontext des konkreten örtlichen Parteikonflikts eingeholt wurden, lassen sie sich als zusätzlichen Hinweis auf eine gegenüber parteipolitischer Überformung von Kommunalpolitik überwiegend skeptische Grundeinstellung interpretieren
Einer ungebremsten Parteipolitisierung kommunaler Organe wirkt diese Grundeinstellung wirksam entgegen. Das zeigen nicht zuletzt die relativen Wahlerfolge Freier Wählergruppen. Wehling berichtet, daß in Baden-Württemberg (Stand 1984) fast jedes zweite Gemeindeoberhaupt einer politischen Partei angehört. Zugleich vertraten aber drei Viertel der befragten Bürgermeister die Meinung: „Parteien haben auf dem Rathaus nichts zu suchen. Hier geht es um Sachfragen.“ Dieses Selbstverständnis wird gewiß gefördert durch den besonderen Wahlmodus, der die Besetzung des kommunalen Spitzenamtes durch Direktwahl vorsieht und überdies politischen Parteien kein Vorschlagsrecht einräumt. Der von Engel herausgearbeitete Rollenkonflikt wird auf der Bürgermeisterebene offenbar überwiegend zugunsten des überparteilichen Treuhänders gesamtstädtischer Belange entschieden.
II. Problemgeleitete und systembedingte Politisierung
1. Politikverflechtung fördert Politisierung Die Abneigung gegen eine Parteipolitisierung der Kommunalpolitik erweist sich nicht zuletzt deshalb als so zählebig, weil sich ein latentes Einstellungsmuster in der Bevölkerung und ein entsprechendes Politikverständnis von Wählergruppen sowie nicht weniger Bürgermeister wechselseitig reproduzie-ren. Zwar demontiert kommunale Parteipolitik ihr schwaches Ansehen immer wieder beharrlich selbst, indem etwa bei der Besetzung städtischer Verwaltungsposten die Herrschafts-und Versorgungspatronage allzu ungeniert betrieben wird oder die symbolische Dramatisierung örtlicher Probleme allzu durchsichtig ist. Entgegen einer verbreiteten Annahme existiert jedoch kein quasi-natürlicher Gegensatz zwischen „sachlicher“ Kommunalpolitik und „ideologischer“ Parteipolitik. Einmal deshalb, weil sich nicht genau ausloten läßt, ob die lokale Anti-Parteien-Haltung hauptsächlich ein Reflex genereller Parteiverdrossenheit ist oder ob sie primär aus der größeren Anschaulichkeit und Übersichtlichkeit örtlicher Aufgabenstellungen resultiert, was einen „rein sachlichen“ Lösungsbedarf subjektiv einleuchtend macht. Zum anderen steht eine eigene Qualität kommunaler Politik, die aus der Absetzung gegen (parteien) -staatliche abgeleitet ist, auch objektiv in Frage.
Die Unterscheidung zwischen -lokaltypischen -Einzelfall-Entscheidungslagen und programmgeleiteten Richtungsentscheidungen, die der „großen“ Politik vorbehalten sind, ist als Begründung für die Sondernatur kommunaler Politik längst brüchig geworden. In dem Maße nämlich, wie konkrete Probleme, die im örtlichen Wirkungskreis anfallen, unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen Politikverflechtung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden immer schon ebenen-übergreifenden richtungspolitischen Vorentscheidungen -auch: Nicht-Entscheidungen -unterliegen, sind diese Probleme nicht mehr in „lokalistisehen“ Alleingängen entscheidbar. Der vorläufige Stopp für die Neufassungen der kommunalen Abfallsatzungen Nürnbergs und Münchens, den die kommunale Rechtsaufsicht bzw. das Verwaltungsgericht mit Hinweis auf entgegenstehende bundesgesetzliche Regelungen verhängt haben, ist dafür ein Beispiel. Dasselbe Beispiel verdeutlicht zugleich, wie von kommunaler Seite versucht wird, eine sachgerechte lokale Problemlösung durchzusetzen, indem man ein kommunales Aufgabenfeld -hier über den Weg des kalkulierten Satzungskonflikts -gezielt politisiert
Der Tatbestand, daß Gemeindepolitik mit Landes-und Bundespolitik zunehmend häufiger in „Verbundlösungen“ eingebettet ist, erweist sich für die Einschätzung der Politisierung kommunaler Entscheidungsprozesse als bedeutsam. Es ist nicht sehr sinnvoll, aus dem nachweisbaren Spannungsverhältnis zwischen den kommunalen Gestaltungsansprüchen politischer Parteien einerseits und typischen Erwartungshaitungen der Gemeinde-bürger andererseits, die primär an einer leistungsfähigen Gemeindeverwaltung und örtlichen Infrastrukturversorgung interessiert sind und Parteipolitik hier auszuklammern wünschen, immer wieder die Forderung abzuleiten, parteipolitische „Fehlentwicklungen“ der Selbstverwaltung seien aufzuhalten Vielmehr stellt sich die Frage: Gibt es Faktoren, welche die Politisierung der Kommunalpolitik vorantreiben, gerade weil sie die besonderen lokalen Problemlagen und Politikbedingungen abbilden? 2. Steigender Problemdruck verstärkt Handlungszwang für lokale Akteure Diese Frage leitet die nachfolgenden Ausführungen. Aufgenommen werden damit analytische Überlegungen, die Joachim Jens Hesse schon Anfang der achtziger Jahre skizziert hat Unbestritten bleibt dabei eine spezifische Qualität von Gemeindepolitik; deren Besonderheit wird in den Handlungsbedingungen kommunaler Selbstverwaltung gesehen, wie sie durch typische lokale Problemlagen und den institutioneilen Rahmen der Selbstverwaltung vorgegeben sind. Daran knüpft die Annahme an, daß die aktuelle Entwicklung in klassischen kommunalen Aufgabenbereichen wie Wohnen, Verkehr, Energie, Soziale Dienste und Abfallentsorgung inzwischen ein Stadium erreicht hat, das diese Bereiche als kritische Politikfelder ausweist. Die Problemverschärfung erzeugt einen steigenden Belastungs-und Erwartungsdruck für kommunale Akteure, der, so meine These, Politisierungsschübe freisetzt.
Der Handlungsrahmen kommunaler Politik wird dadurch doppelt verändert. Einmal wird die Vorbereitung örtlicher Entscheidungen vermehrt Gegenstand kommunaler „Außenpolitik“. Zum anderen verschieben sich die Machtgewichte innerhalb der kommunalen Verfassungsorgane und zwischen diesen: Weil die rechtliche Konstruktion der Gemeindeordnungen kein echtes parlamentarisches System in dem Sinne vorsieht, daß Rat und Ver-waltungsspitze sich wie Parlament und eine von diesem gewählte und zugleich abhängige Stadtregierung gegenüberstehen, verstärken die Ratsparteien auf anderem Wege ihre sachlichen und personellen Einflußnahmen auf die Kommunalverwaltung. Um nach außen hin Kompetenz zur Lösung örtlich drängender Probleme nachzuweisen, versucht die lokale Parteipolitik sich der flankierenden Hilfe der Fachreferate und -ämter zu versichern.
Die problemgeleitete Politisierung wird somit um eine systembedingte Komponente Ergänzt. Letztere ist ein bevorzugter Ansatzpunkt für die parteipolitische Durchsetzung kommunaler Funktionsstellen, kennzeichnend insbesondere für die Situation in Städten, die über eine ressortmäßig ausdifferenzierte Administration verfügen. Jedoch sind die politischen Parteien nicht ausschließlich Gewinner der Politisierung des kommunalen Sektors. Vermehrt lokal präsent und bei Kommunalwahlen erfolgreich sind nämlich parteifreie Gruppierungen eines neuen Typs, die sich in ihrer sozialen Basis und ihren Zielpräferenzen von „alten“ Freien Wählergemeinschaften sichtlich unterscheiden. Infolge dieses Politisierungseffekts hat sich das lokale Parteiensystem vor allem auf der Ebene kreisangehöriger Gemeinden häufig zu Lasten des Mandatsanteils der etablierten Parteien verändert. Nachfolgend wird sowohl die „ländliche“ wie auch die „städtische“ Variante kommunaler Politisierung vorgestellt und exemplarisch beschrieben.
Die „Problemüberbürdung“ (Thomas Ellwein) des kommunalen Entscheidungssystems ist nicht ausschließlich ein Kennzeichen großstädtischer Verdichtungsräume, wenngleich in diesen besonders ausgeprägt. Im örtlichen Lebenskreis werden Beeinträchtigungen und Mängel in Bereichen der Grundversorgung -Wohnraum, Umweltschutz, Müllbeseitigung, Sozialhilfe, Verkehrswegeplanung und Verkehrsberuhigung -individuell immer stärker spürbar. Die gravierenden Umweltbelastungen -allein für Baden-Württemberg wird der Besatz mit Altlastenverdachtsflächen auf 17 000 bis 26000 geschätzt -beeinträchtigen die örtlichen Lebens-und Arbeitsbedingungen. Zudem kumulieren sich die Belastungen bei bestimmten Problemgruppen: Beispielsweise sind die städtischen sozialen Dienste angesichts der fortlaufenden Verknappung an billigem Wohnraum zunehmend weniger in der Lage, die Lebensumstände bedürftiger Personengruppen oberhalb der Armutsgrenze zu halten.
Kürzungen im Bereich kommunaler Hilfs-und Serviceangebote rühren auch daher, daß die finanzielle Ausstattung der Gemeinden mit den steigenden Leistungsanforderungen nicht Schritt hält. In Nürnberg beispielsweise hat sich von 1979 auf 1990 die durchschnittliche Sozialhilfebelastung je Einwohner mehr als verdreifacht. Im gleichen Zeitraum ist die Steuerkraft je Einwohner lediglich um 70 Prozent (Index 1978 = 100) gestiegen Neuesten Pressemeldungen zufolge ist der Haushalts-fehlbetrag der westdeutschen Städte, Gemeinden und Kreise insgesamt im ersten bis dritten Quartal 1991, verglichen mit dem Vergleichszeitraum des Vorjahres, von 1, 6 auf 5, 3 Mrd. DM angewachsen
Steigender Problemdruck und anhaltende Ressourcenknappheit verstärken sich also in den Kommunen gegenseitig. Im Wohnungssektor wird dieser Wirkungszusammenhang besonders anschaulich: Während einerseits der Nachfragedruck durch Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge in den Wohnungsmarkt seit Mitte der achtziger Jahre zunimmt, ist das Angebot an preisgünstigem Wohnraum zurückgegangen, da die kommunale Neubautätigkeit nachgelassen hat. Überdies schrumpft der Bestand an relativ billigen Altwohnungen durch Umwandlung von Miet-in Eigentumswohnungen. Wie sich für Nürnberg zeigen läßt, konzentrieren sich die Umwandlungsaktivitäten auf Wohnungen in verdichteten innerstädtischen Altbauquartieren sowie auf Sozialwohnungen älterer Förderungsjahrgänge, mit hohen Anteilen einkommensschwacher Mieter. Die Folge ist, daß einkommensschwächere Haushalte auf neue Sozialwohnungsbestände in städtischen Randlagen verwiesen werden. Ein solches Ausweichen wird jedoch aufgrund des sinkenden Neubau-volumens immer schwieriger (für Nürnberg weisen die Jahre 1989/1990 die geringste Fertigstellungsrate seit 1950 aus)
Die kommunalen Akteure geraten durch die krisenhafte Entwicklung in zentralen Politikfeldern unter verstärkten Handlungsdruck. Jene Felder, in denen ein öffentlicher Vorsorge-und Regelungsbedarf besonders dringlich ist, gehören zum klassi-sehen gemeindlichen Aufgabenspektrum. Dies begründet die formelle Zuständigkeit der kommunalen Ebene. Indes empfinden Städte und Gemeinden diese Zuständigkeit zunehmend als Belastung. Mit den Leistungserwartungen betroffener Bürger vor Ort direkt konfrontiert, sind sie nur unzureichend imstande, die z. T. gesetzlich festgelegten Ansprüche zu erfüllen. Der Gesetzgeber hat kostenträchtige Bereiche lokaler Leistungsverwaltung zu pflichtigen Aufgaben der Kommunen erklärt, ohne diesen jedoch immer eine angemessene Finanzausstattung (etwa durch Bezuschussung der Sozialhilfeausgaben) mitzugeben.
In anderen städtischen Problemfeldern, deren Regelung von ordnungspolitischen Entscheidungen der Bundesgesetzgebung abhängt, fehlen den Kommunen bislang wirksam greifende Steuerungsmittel, etwa befristete Umwandlungsverbote oder eine Herabsetzung der sogenannten Kappungsgrenze für Mieterhöhungen. Für betroffene Bürger ist schwer erkennbar, daß die politische Verantwortlichkeit über mehrere Systemebenen verteilt ist. Dies hat zur Folge, daß den kommunal Verantwortlichen auch staatliche Steuerungsdefizite anderer Politikebenen ungefiltert angelastet werden. Protest und Unzufriedenheit regen sich zusätzlich dort, wo die Kommunen zu Kürzungen freiwilliger Leistungen gezwungen sind, um die Kostenunterdeckung bei Aufgaben auszugleichen, die ihnen von Staats wegen übertragen sind.
Hinzu kommt, daß gesamtstädtische und partikulare Interessen besonders in kritischen Aufgabenfeldem zusehends schwieriger ausbalanciert werden können. Bürger wehren sich beispielsweise gegen Neubaumaßnahmen, weil sie aufgrund der damit einhergehenden höheren Wohnund Verkehrsdichte eine Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität befürchten. Bei der Planung von Abfalldeponien, Kraftwerken und Müllverbrennungsanlagen sind Standortkonflikte mittlerweile vorprogrammiert. Wo Anliegerproteste aufbrechen, werden lokale Probleme in den Bereich öffentlicher Kontroversen gerückt und dadurch automatisch als Sache politisiert. 3. Kritische kommunale Aufgabenfelder werden parteipolitisch besetzt Für eine lokale Parteipolitik bedeutet diese Politisierung städtischer Lebenswelt eine neue Herausforderung. Die ohnedies bestehenden strukturellen Schwierigkeiten des lokalen Parteiensystems -die sich mit Stichworten wie nachlassende Partei-bindung, Erosion von Traditionsmilieus und sinkende Wahlbeteiligung benennen lassen -werden zusätzlich verschärft. Als kommunale Akteure stehen Parteipolitiker vor dem Dilemma, daß sie, im mühsamer gewordenen Wettbewerb um Wählerstimmen, ihre Lösungsfähigkeit für spezifisch örtliche Probleme nachweisen müssen, dabei aber mit wechselnden Teilen ihrer Wählerklientel in Ziel-konflikte geraten. Maßnahmen zur innerstädtischen Verkehrsberuhigung etwa finden zwar den Beifall der Anwohner, vergraulen jedoch regelmäßig Einkaufs-und Berufseinpendler und den Handel. Für örtliche Parteiorganisationen ist es sichtlich schwieriger geworden, ihre klassische Funktion zu erfüllen, ein Konzept flächendeckender Stadtpolitik anzubieten, das in einer nach Lebens-stilen und Interessenlagen zunehmend zergliederten Stadtgesellschaft mehrheitsfähig bleibt.
In dieser Situation entwickeln örtliche Parteiakteure Strategien, welche die Politisierung der kommunalen Arena verstärken. Geradezu zwangsläufig werden kritische Politikfelder zum Gegenstand parteipolitischer Kontroversen. In solchen Feldern finden Aktionsprogramme und Dringlichkeitsanträge am ehesten öffentliche Aufmerksamkeit. Parteiverbände und ihre örtlichen Mandatsträger, die sich mit themenbezogenem Engagement als Sachwalter zahlenmäßig großer Bevölkerungsgruppen profilieren, dürfen sich bessere Wahlchancen ausrechnen -kann doch als gesichert gelten, daß die Issue-Orientierung, also die subjektive Einschätzung der Wichtigkeit politischer Themen und der Problemlösungskompetenz der Wahlbewerber, auch die kommunale Wahlentscheidung wesentlich leitet So erklärt sich, daß der öffentlich inszenierte, verbale Schlagabtausch zwischen lokal konkurrierenden Parteien härter geworden ist. Das Bemühen um die erfolgreiche Besetzung von Themenfeldern, die für die Wähler wichtig sind, zwingt die Konkurrenten aber auch zu höherer Professionalität in der Sache: Wenn Parteien örtliche Probleme aufgreifen und Lösungen Vorschlägen, müssen sie bei Betroffenen und bei einer kritischen lokalen Öffentlichkeit den Verdacht ausräumen, primär parteitaktisch vorzugehen. Um überhaupt Gehör und Unterstützung zu finden, müssen parteipolitische Lokalinitiativen sachlich fundiert sein. Da ist es von erheblichem Vorteil, wenn eine Partei auf das Expertenwissen und die fachliche Reputation der kommunalen Fachverwaltung zurückgreifen kann. 4. Parteipolitik sucht Assistenz der kommunalen Fachverwaltung Aus dieser Sicht erscheint die so häufig und heftig als lokale „Selbstbedienung“ und „Parteibuchwirtschaft“ kritisierte kommunale Personalpolitik in etwas anderem Licht, denn das Bestreben politischer Parteien, auf Stellenbesetzungen in der Stadtverwaltung (auch unterhalb der Leitungsebene) Einfluß zu nehmen, ist durch die Dynamik kommunaler Problemlagen und die Logik des kommunalen Entscheidungssystems mitbegründet. Vergleichend angelegte empirische Fallstudien haben herausgearbeitet, daß die Stadtverwaltung in der Regel über einen Wissensvorsprung verfügt, der sie den Ratsmitgliedern „bei der Initiierung und Vorbereitung von Beschlüssen der Stadtvertretung generell überlegen“ macht. Zwar kann von einer eindeutig „exekutiven Führerschaft“ der Kommunalpolitik nicht gesprochen werden. Aber es ist eben doch die fachlich spezialisierte und kontinuierlich tätige Verwaltung, die einen örtlichen Regelungsbedarf aufgreift und anmeldet, Vorschläge ausarbeitet und dabei häufig über denkbare Alternativen de facto eine Vorentscheidung trifft
Um so mehr kommt es für die im Rat vertretenen Parteien darauf an, schon in die Vorbereitung kommunalpolitischer Entscheidungen, die in die Zuständigkeit der Verwaltung fällt, über Personen ihres Vertrauens einbezogen zu werden Auf diesem Wege kann in Planungsprozesse und in die Entwicklung der kommunalen Leistungsangebote ein richtungspolitischer Gestaltungsanspruch eingebracht werden, der aufgrund des Wählerauftrags legitim ist. Indes: Nicht nur verfassungsrechtlicher Bedenken wegen, die auf möglichen Durchbrechungen des Prinzips gleicher Zugangschancen zu öffentlichen Ämtern gründen, sind einer einseitig parteipolitisch gesteuerten Personalauslese Grenzen gesteckt. Die Amtszeit kommunaler Wahlbeamter endet nicht mit der Legislaturperiode der gewählten Stadtvertretungen. Daher sind, zumal bei wiederholtem Wechsel der Mehrheitsverhältnisse, Rat und Dezernentenkollegium häufig parteipolitisch nicht gleich zusammengesetzt. Auch sind absolute Ratsmehrheiten in der Bundesrepublik in letzter Zeit seltener geworden, so daß die Zahl der Städte mit Besetzungsmonopol der SPD oder der Unionsparteien sinkt.
III. Strukturwandel parteifreier Wählergruppen
Die Politisierung hat auch die Kommunalpolitik kleinerer, kreisangehöriger Städte und Gemeinden erfaßt. Diesen Politisierungsprozeß in Gemeinden mittlerer und kleinerer Größenklasse in Verbindung mit der dort relativ starken Position partei-freier Gruppierungen zu sehen, mag zunächst widersinnig anmuten, da doch gerade Freie Wählergemeinschaften als erklärte Verfechter einer kommunalen Sachpolitik auftreten, die harmonie-betont ist und Parteipolitik ausgrenzt. „Auf kommunaler Ebene werden keine Gesetze erlassen, die den Stempel der sie beschließenden politischen Parteien tragen. Gemeindepolitik ist Sachpolitik und sollte als solche auch erhalten bleiben. Eine Gewähr dafür bieten die Freien Wähler, die auf Gemeindeebene wie auf Landkreisebene sachlich mit Erfolg arbeiten... Für das Wohl einer Gemeinde ist es unabdingbar, daß in den Gemeinderat Persönlichkeiten mit Sachverstand und dem Willen zur Zusammenarbeit gewählt werden.“ Diese Aussage, zitiert aus einem Bürgermeister-Wahlbrief der FWG einer fränkischen Marktgemeinde aus dem Jahr 1990, gibt das typische traditionelle Selbstverständnis Freier Wähler beispielhaft wieder.
Jedoch mehren sich in der letzten Zeit Anzeichen, daß sich im Spektrum parteifreier örtlicher Wählergruppen ein Strukturwandel vollzieht. Der Wandel ist Ausdruck einer Politisierung, deren gesellschaftliche und sachliche Bestimmungsgründe denen der Großstädte ähnlich sind, die sich hier jedoch nicht primär als verstärkte Parteipolitisierung auswirkt. Die überwiegend großstadtzentrierte lokale Politikforschung hat diesen Vorgang bisher vernachlässigt. Doch drängt sich als Hypothese geradezu auf, daß gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, die zu einer Politisierung lokaler Themen und Politikverfahren in Ballungszentren beitragen, zumindest auch in Gemeinden wirksam sind, die im Einzugsbereich städtischer Verdichtungsräume liegen. Auch Umlandgemeinden sind von Umweltbelastungen, Zersiedelung und Planungskonflikten um Verkehrswege, Deponien oder Industrieansiedlungen inzwischen eingeholt worden. Gleichzeitig haben sich hier durch Zuzug aus innerstädtischen Wohngebieten in wachsender Zahl Einwohner angesiedelt, die auf Beeinträchtigungen der Wohnstandortqualität mit vergleichsweise hoher Konfliktbereitschaft reagieren.
Unter den Neubürgern stadtnaher kleiner Gemeinden ist der Anteil der Beschäftigten des Dienstleistungssektors, also der neuen Mittel-schichten mit gehobener Bildungs-und Berufsqualifikation sowie urbanem Lebensstil, hoch. Diese Sozialgruppe gilt soziologischen Erkenntnissen zufolge als besonders aufgeschlossen für postmaterialistische Wertvorstellungen (ökologische Sensibilität, Mitbestimmung, persönliche Selbstentfaltung) und für Formen einer „neuen Politik“, welche sich außerhalb der Politikvermittlungsschiene organisiert, die an Parteien und Großverbände angebunden ist Solche politische Selbstaktivierung bleibt zeitlich befristet und problembezogen, selten gibt sie den Anstoß zum Engagement in einer Partei. Dieses Verhaltensmuster spiegelt die geringe Parteiidentifikation und eine Issue-Orientierung wider, die, wie erwähnt, für das Wahlverhalten und die politische Einstellung dieser Schicht allgemein charakteristisch sind.
Für die Entwicklung der Kommunalpolitik in kleinen Städten und Gemeinden läßt sich daraus die Vermutung ableiten, daß kommunale Wachstums-und Infrastrukturprobleme bei den betroffenen Bewohnern Politisierungsprozesse auslösen, wobei sich dieses Politisierungspotential jedoch vorzugsweise neben etablierten Parteien formiert (die in dieser Ortsgrößenklasse ohnehin schwächer vertreten sind). Es tritt eine neue Variante partei-freier Bürgerlisten auf. Diese unterscheiden sich von dem altmittelständisch-konservativen Programm-und Sozialprofil der traditionellen FWG deutlich und haben zu lokaler Parteipolitik ein wesentlich pragmatischeres Verhältnis.
Ein flächendeckender Nachweis für diese Umgruppierung im lokalen Parteiensystem steht bislang aus. Immerhin liegen zwei Fallstudien vor, die der Frage nach einem Strukturwandel von Wähler-gemeinschaften in einer Umlandgemeinde (knapp 3000 Einwohner) der nordbayerischen Universitätsstadt Erlangen und in einer Kleinstadt im Taunus (rund 15000 Einwohner), die im Einzugs-bereich des hessischen Rhein-Main-Gebietes liegt, nachgegangen sind Beide Orte sind in ihrer Bevölkerungsstruktur durch hohe Anteile an mittlerer und oberer Mittelschicht geprägt. In beiden Fällen konkurrieren zwei parteifreie Gruppierungen untereinander und mit lokalen Parteien.
Im Ergebnis dieser Lokalstudien wird die Politisierungsthese in der Tendenz bestätigt. In der Erlanger Umlandgemeinde gab das Votum der Gemeinderatsmehrheit für eine umstrittene Umgehungsstraße im Jahr 1982 den Anstoß zur Gründung einer zweiten parteiunabhängigen Gruppierung. Intendiert war eine „bürgerliche Konkurrenz“ zur älteren FWG , „die Umweltthemen und eine humanere Ortsplanung thematisiert“ Unter den Gemeinderatskandidaten der „Unabhängigen Bürger“ dominierten 1984 die Altersgruppen unter 40 Jahren, etwa jede(r) zweite hatte eine Universitätsausbildung. Für die parteilose Organisationsform waren weniger prinzipielle Anti-Partei-Affekte als vielmehr pragmatische Gründe ausschlaggebend; man hoffte, als überparteiliche Gruppierung auch konservative Wähler anzusprechen. Mit ihrem Auftreten übernimmt die neue Wähler-gruppe, so die Autorin der Studie, zwei Funktionen: Sie bündelt Unzufriedenheit mit der „autokratischen Amtsführung“ des langjährigen (von der FWG gestellten) Bürgermeisters und artikuliert damit Forderungen nach mehr Partizipation und Pluralität im Gemeinderat. In ihrem Programm betont sie typische postmaterialistische Zielsetzungen (verträgliche Lebenswelt, Umweltschutz), die hier ihren lokalen Festpunkt im Widerstand gegen ein umstrittenes Verkehrsprojekt finden
Von einer vergleichbaren Fragestellung ausgehend, hat die hessische Fallstudie für die Jahre 1972 bis Mitte 1991 mit einem Schwerpunkt auf der Phase vor den Kommunalwahlen 1989 untersucht, ob die in den achtziger Jahren gegründeten politischen Gruppierungen den Wertewandel in ihrer Programmatik widerspiegeln und auf diese Weise lokales Protestpotential binden. Um diese Arbeitshypothese zu überprüfen, wurde die von Inglehart entwickelte Typologie, welche materialistische Werthaltungen den postmaterialistischen gegenüberstellt, auf die Gemeindeebene in abgewandel-ter Form übertragen. Kommunalpolitische Ziele wie Umweltschutz und mehr Bürgermitsprache werden als postmaterialistisch, Präferenzen für Gewerbeförderung bzw. eine solide Haushaltsfinanzierung als materialistische Orientierungen ausgewiesen Daran gemessen gewinnen beide örtlichen Wählergruppen deutlich eigene Konturen: Gründung, Wahlerfolg und Gemeinderats-arbeit der „Aktionsgemeinschaft lebenswertes Königstein“ zeigen, daß in der Bevölkerung der Taunusstadt postmaterialistische Einstellungen an Boden gewonnen haben. „Die Mischung aus ökologisch-partizipatorischen und traditionell-bewahrenden Werten, entsprechend ihrer Kandidaten-struktur, in Verbindung mit einem parteilosen Auftreten, läßt für diesen neuen Typus einer Wählergemeinschaft ... einigen Erfolg zu. Auch für einen Teil traditioneller CDU-Wähler erscheint sie so wählbar.“ Nach Auffassung des Autors der Studie signalisiert die Entstehung der A 1K einen kommunalpolitischen Bewußtseinswandel in der Ortsbevölkerung, der von den etablierten Parteien nicht oder nur verspätet wahrgenommen worden ist.
Anders und im politischen Profil weniger eindeutig stellt sich die konkurrierende „Wählergruppe Königstein 2000“ dar. Es ließen sich materialistische wie postmaterialistische Orientierungen feststellen, wobei einzelne Gemeinderatskandidaten unterschiedliche Sprachrohrfunktionen übernehmen. Insgesamt tendiert diese Wählergruppe zu einer „lobbyistischen Interessenvertretung“ der städtischen Einzelhändler und Handwerker, die ihre Anliegen in der Kommunalpolitik offenbar nicht hinreichend vertreten fühlen. Weiteres Augenmerk gilt der Stadtentwicklung und der Konsolidierung der städtischen Finanzen. Ein generelles Ressentiment gegenüber politischen Parteien war übrigens in beiden Fällen als Gründungsmotiv nicht festzustellen
Der hier beispielhaft beschriebene Strukturumbruch im Aktionsbereich parteifreier kommunaler Wählergemeinschaften ist eine ländlich-kleinstädtische Erscheinungsform der konstatierten Tendenz zur „Auswanderung“ der Wähler aus dem lokalen Parteiensystem. Nicht nur die etablierten Parteien (einschließlich der GRÜNEN) sind durch die neue Politisierung von unten herausgefordert. Auch Freie Wählergemeinschaften alten Typs, die mancherorts schon als ein von „echten“ Parteien kaum noch unterscheidbares Teilelement des lokalen Parteiensystems wahrgenommen werden geraten unter Konkurrenzdruck. Sie reagieren darauf, indem sie sich für ökologische Zielvorstellungen stärker öffnen. Die großen Parteien ihrerseits versuchen, beispielsweise in Bayern, durch Aufnahme parteiloser Bewerber auf Kandidatenlisten oder Neugründung von Ortsvereinen ihre Wähler-anteile zu festigen. Eine weitere Variante ist die Gründung sogenannter „Tarnlisten“, die allerdings mit geltendem Wahlrecht kollidiert Organisationsreformen und wahltaktische Maßnahmen allein werden, so viel scheint sicher, die lokalen Akzeptanzverluste der politischen Parteien nicht ausgleichen können.