Man muß nicht Kulturanthropologie studiert haben, um zu wissen, daß Kultur eine „typische Chance menschenmöglichen Verhaltens“ (Lexikon) ist, jedenfalls mehr als eine bloße Freizeitbeschäftigung. „Unentdeckte Welten der Mannigfaltigkeit und Feinheit“ fand Herder im Menschen und seinen Sinnen ruhen und forderte darum deren Entwicklung, durchaus in Verbindung mit dem Sinn für die Künste: „Welche Tiefen von Kunstgefühl liegen in einem jeden Menschensinn verborgen, die hie und da meistens nur Not, Mangel, Krankheit, das Fehlen eines anderen Sinnes, Mißgeburt oder ein Zufall entdecket und die uns ahnen lassen, was für andre, für diese Welt unaufgeschlossene Sinne in uns liegen mögen.“ Das Kunstgefühl gilt nur als Beispiel für weitere unaufgeschlossene Sinne, deren Entwicklung dann kurzerhand Kultur genannt wird.
Zu Kultur gehört der Ausdruck „Kultiviertheit“. Das ließe sich durchaus mit einem Rückgriff auf Herder begründen. So entkommt man recht geschwind dem Problem, Kultur oder Bildung allzu einseitig auf die Konsumfähigkeit von kulturindustrieller Produktion einzuschränken. In der Diskussion zum Geschmacksbegriff besteht diese Neigung; Pierre Bourdieu notiert zum Stichwort „Bildungsbeflissenheit“: „Die Angehörigen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen unterscheiden sich weniger darin voneinander, wieweit sie die Welt der Bildung anerkennen, als darin, wieweit sie sie kennen. "
Eine gewisse Offenheit für andere Kulturen betrachten wir heute als Bestandteil von Kultur. Eine „naturwüchsig“ in sich selbst beruhende Kultur kann dem, was die Gegenwart an Kulturforderungen entwickelt hat, nicht gerecht werden. Sie kommt auch so gut wie nicht mehr vor -nicht einmal als Sehnsucht, es sei denn in Trivialromanen, die eine begrenzte Welt herstellen müssen, um dem vorgespiegelten Glück irgendeine Dauer zusprechen zu können.
I. Einheit-Vielfalt
Daß Kultur Vielfalt bedeutet, war eigentlich immer schon bekannt. Deshalb hat der Begriff ja auch etwas wohltuend Vages behalten, was alle Spezifizierungsversuche (Zivilisation, Lebensform, Stil, Sozialordnung/Sozialisation usw.) nicht recht zu beheben vermochten. Immerhin gibt es eine synthetisierende Tendenz: „die“ griechische oder „die“ etruskische Kultur, heißt es, „die“ Kultur des Barock, der Klassik oder der Weimarer Republik. In neueren Schriften zur Kultur figurieren auch „die Industriekultur, die Tischkultur, die politische Kultur, die Streitkultur“ und manche andere. Der Ausdruck „Kultur“ wird oft als Synthese benutzt, als Bindemittel, um Erfahrungen, um Geschichte überschaubar zu halten. So hat man früh schon gewisse Unterscheidungen reflektierbar gemacht: etwa die Differenz von Gebildeten-und Volkskultur im 18. Jahrhundert, eine Standes-und Schichtenkultur, ja Klassenkultur im 19. Jahrhundert. Regionale und nationale Kultur wurden unter der Fragestellung von Ungleichzeitigkeiten behandelt. Doch das alles hat den synthetisierenden Zugriff, die Dominanz des Konzepts von einer Leit-oder Zentralkultur kaum begrenzen können: Kultur muß danach die Einheit von Verschiedenem bezeichnen. Und die Analysen der kritischen Kulturtheorie, etwa der Frankfurter Schule, haben das mit dem Hinweis auf die Allmacht der Kultur-industrie von ihrer Seite her bestätigt.
In der Selbstverständigung, etwa der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg, spielte dieses Konzept einer einheitlichen/einigenden Kultur eine große Rolle, spannte freilich Denken und kulturelles Handeln in die Machtblöcke ein. Das Abendland und seine „Kultur der Selbstbestimmung und Freiheit“ standen auf der einen Seite, der Kollektivismus und seine Kultur eines neuen, sozial-orientierten Menschen und einer „totalen Lebensdurchdringung“ auf der anderen. Jede Seite hielt zunächst ihr Konzept für das einzig wahre. Das sah nach erneutem Krieg aus. Dabei hatte es doch gleich nach 1945 etwa in der Zeitschrift „Der Ruf“ geheißen: Das Gesetz, unter dem die junge Generation antrete, sei „die Forderung nach europäischer Einheit. Das Werkzeug, welches sie zu diesem Zweck anzusetzen gewillt ist, ist ein neuer, von aller Tradition abweichender Humanismus, ein vom Menschen fordernder und an den Menschen glaubender Glaube, ein sozialistischer Humanismus.“ So Alfred Andersch 1946/47.
Das ist noch den ethisch-politischen Konzeptionen der Roosevelt-Ära verpflichtet, dem Vorsatz, nur Eine Welt (One World) gelten zu lassen. Wie wenig das gelang (und wie wenig es auch so gemeint war), trat auf den Kongressen der Nachkriegszeit, dem 1. Schriftstellerkongreß 1947 in Berlin oder dem berühmt/berüchtigt gewordenen „Kongreß für kulturelle Freiheit“ 1950 ebendort, deutlich genug hervor. Provokativ reklamierte Melvin J. Lasky die Freiheit für den Westen, was die Gegenseite dazu veranlaßte, auf den Anteil der Sowjetunion an der Niederringung des Hitlerfaschismus zu verweisen. 1950 reagiert Johannes R. Becher noch deutlicher auf die als Einheitsideologie vorgetragenen Westansprüche, spricht von Haß, Ekel und Abscheu vor diesem antibolschewistischen Gesindel, von krimineller Clique und phosphoreszierender Fäulnis und erklärt unmißverständlich jeden Konsens für unmöglich: „Mit Spitzeln und Kriegsverbrechern gibt es keinerlei Art von Diskussion.“ In der westlichen „Ortsbestimmung der Gegenwart“ (vgl. die drei Bände dieses Titels von Alexander Rüstow 1957) war man nicht weniger zimperlich. Unumwunden bezeichnet Rüstow den Bolschewismus als „Spottgeburt aus Dreck und Feuer“ und findet, daß es eine friedliche Koexistenz zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit nicht geben könne. Zwar will er, daß der Westen den Kalten Krieg gewinnt, um einen dritten Weltkrieg zu vermeiden. Aber seine Tonlage schließt alle Risiken ein. Mit „Pflicht zur Freiheit“ meint er auch „die Befreiung der geknechteten Volksgenossen“. Wir stünden „mitten in dem großen Entscheidungskampf zwischen der freien und der totalitären Hälfte der Welt“, einem „Kampf auf Leben und Tod, in dem es auf die Dauer keine Koexistenz geben kann“
An dieses „kulturelle“ Klima ist zu erinnern, um sich klarzumachen, inwiefern das Einheits-Konzept für beide Seiten ideologisch besetzt und für eine kritische Öffentlichkeit untragbar geworden war: Es wäre einem Votum für einen neuen Verteilungskrieg gleichgekommen.
Koexistenz setzte auch eine Teilung der ÜberbauAnsprüche, eine Abkehr von Unteilbarkeits-Phantasmen, einen „geteilten Himmel“ voraus, ein Umdenken, das wiederum die Bedeutung von literarisch-kultureller Arbeit zu belegen vermag. Es hat viel Zeit in Anspruch genommen. Auch die nach dem Kalten Krieg einsetzende Rede von miteinander konkurrierenden Leitkulturen war noch keine Wende zu einem qualitativen Vielheitskonzept, selbst wenn die stets profilierter hervortretenden Subkulturen im Westen läßlich behandelt wurden. „Sub“ heißt ja: unterhalb. Und da -sozusagen im Keller -blieb die Kultur von mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung: die Kultur der Arbeiter, der Jugendlichen, der Frauen, der Nichtseßhaften, der Ausländer, der Schwulen, der Delinquenten, der Sekten usw. Bald fand sich der emanzipatorische Begriff einer Gegenkultur oder Alternativkultur ein. Dieser wurde schon in den sechziger Jahren fast nur im Plural gebraucht, auch wenn damals die Tendenz noch stark war, „die“ Leitkultur von „der“ Gegenkultur abzugrenzen.
II. Multikultur?
Für die siebziger und achtziger Jahre können wir den Siegeszug einer verträglichen Vielfalt, einer kommunikativen Pluralität feststellen, die schließlich zu einem eigenen Etikett geführt hat: dem der Multikultur, der „multikulturellen Gesellschaft“, aber auch der „Postmoderne“. „Fortan“, heißt es bei Wolfgang Welsch etwas pathetisch, „stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural.“ Und er besteht auf dem unüberschreitbaren „Recht hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster“ Vielheit in diesem Sinne ist eine antitotalitäre Option. Sie wird gern als „multikulturell“ bezeichnet, ein Schlagwort, das kultiviert klingt, Offenheit zu gewähren scheint und dem doch zur Zeit mit guten Gründen Kritik entgegenschlägt: „Da wo die Vielfalt des Angebots den eigenen Horizont weitet, aber nicht sprengt, wo das Fremde verwandt bleibt oder nur spiegelverkehrt wird, pflegt man die Differenzen mühelos und hält sie aus. Japanische Banken, spanische Restaurants, polnische Gänse, ghanesische Trommelkurse, indische Seife, Ferien in Peru -auf dieser Ebene gibt es keine Probleme. Doch hat der Reiz des Anderen, des Exotischen kaum etwas mit dem politischen und sozialen Sprengstoff zu tun, der sich hinter der Formel einer , multikulturellen Gesellschaft verbirgt. Da geht es um Fremde, die stören, um , Asylanten, , Zigeuner, illegale Einwanderer, Bezeichnungen, die gern auch als Schimpfwörter verwendet werden. Wir sind mit Fremden konfrontiert, die als Migranten von Kriegen und Krisen durch die Welt gejagt werden.
Der Begriff einer multikulturellen Gesellschaft habe seine Karriere vor allem dem Umstand zu danken, daß unsere Gesellschaft keinen Begriff von sich selber hat, bezeichne nicht mehr als die Summe der vorhandenen Kulturen. „Wen meinten jene, die , wir sind das Volk riefen, wen meinten sie nicht? Ausländerfeindliche Ausfälle in den fünf neuen Bundesländern legen es nahe, daß die Menschen aus Vietnam, Mozambique, Kuba, Polen, Angola oder China zu diesem , Wir‘, diesem einen Volk nicht gehören sollen, obwohl oder besser weil das SED-Regime ihnen mit ritueller Geste internationale Solidarität zugewiesen hatte.
Ist in dem Konzept „Multikultur 11 aber nicht doch die Kraft, das Pathos einer qualitativen Vielfalt enthalten, wie sie die jüngst vergangenen Jahrzehnte kennzeichnet?
Im Rückblick auf die siebziger und achtziger Jahre lassen sich mehr als ein Dutzend kultureller Konzepte oder Modelle, Gruppen, Bewegungen namhaft machen, die diesen Differenzierungsprozeß vorangetrieben haben. Dabei ist es wichtig, daß es Tendenzen von hohem Allgemeinheitsgrad waren, die sich nicht wieder eingrenzen (oder aus-grenzen) ließen -so daß gar nichts weiter bleibt, als Kultur künftighin plural zu denken. Deutliche Kritik am Konzept einer „multikulturellen Gesellschaft“ hat Detlev Claussen vorgetragen: „Das Attribut multikulturell’ spielt nur mit dem Begriff der , Kultur. Es gehört schon zur journalistisch-soziologischen Designersprache, die veränderte gesellschaftliche Tatsachen neu auszeichnet, ohne sie intellektuell zu durchdringen. Die Einwanderer garantieren keineswegs die Existenz vieler Kulturen in einer Einwanderungsgesellschaft. Die Entwicklung einer Kultur hängt vom Verhältnis von Arbeit, Tausch und Sprache in einer Gesellschaftform ab, die bestimmte historische Traditionen modellieren. Während noch die hoch-5 kapitalistische Gesellschaft eine synthetische Kraft besaß, die alle kulturellen Traditionen aufzulösen schien, wirkt die gegenwärtige Gesellschaft zwar einwanderungsattraktiv, aber zugleich desintegrierend.
Wenn es stimmt, daß wir in einer deutschen Einwanderungsgesellschaft leben, deren kulturelle Traditionen der Realität „weit hinterherhinken, so wird die Frage dringlich, wie eine Verständigung über die Versöhnung von Tradition und Neuanforderungen zustande kommen kann. Vielleicht kann die Vergegenwärtigung einiger kultureller Modelle, Muster, Szenen, Großthemen der siebziger/achtziger Jahre helfen, etwas für die neunziger Jahre auszumachen? Es ist ja an manches zu erinnern, das auch verlorengehen kann.
III. Interkulturelle Wahrnehmung
Beim Aufzählen multikultureller Szenen und Konzepte handelt es sich um einen Versuch, Vielfalt sichtbar zu machen, es geht also um interpretative Zugriffe auf wahrnehmbare (belegbare) Tendenzen mit gewissem Allgemeinheitsgrad (man vergleiche die Diskussion in den Feuilletons). Das Problem der Vielfalt ist mit der Unterscheidung von „multikulturell" und „interkulturell“ zu greifen. Das Schreckgespenst der Zukunft in den westlichen Gesellschaften ist ja ein ethnisches Konfliktverhalten, wobei die Verteilung von Lebenschancen rücksichtslos ausgefochten wird. Ich folge der Argumentation Detlev Claussens: „Die Chance gesellschaftlichen Fortschritts, gesellschaftliche Lebensbedingungen zu verallgemeinern, die Basis gleicher Rechte für die Individuen, wird in einer ethnisch geordneten Gesellschaft zerstört. Unausweichliche Folge wäre eine Hierarchisierung der Ethnien nach Maßgabe der geringsten Friktion mit der herrschenden Kultur. Die existierende nachbürgerliche Kultur läßt sich nicht ohne Gewalt wieder in eine Gruppenkultur zurückverwandeln, oder aber sie setzt die Gewalt ethnischer Konflikte frei, in denen die Verteilung von Lebenschancen ausgefochen wird.“ Claussen zeigt weiter, daß die Verschränkung von Erfahrungen aus der Welt der Herkunft mit der Welt der Ankunft die Migranten universalismuskritisch mache, und schließt Überlegungen an, die auch auf das Verhältnis der beiden zusammenwachsen-7 den Teile Deutschlands passen könnten: „In ihrem (sc.der Migranten) kritischen Blick auf Menschen-und Freiheitsrechte können ihnen auch diejenigen begegnen, die Zweifel an der Wirklichkeit der Freiheit haben. Wer die neue Weltordnung betrachtet, kann schnell ins Grübeln kommen, ob die durchgesetzte Universalität warenproduzierender Gesellschaften nicht Massen von Zukurzgekommenen produziert. Gegen liberale Werte werden sie nur Ressentiments entwikkeln, wenn sie keine Chance sehen, ihre Lage zu verändern. Kulturelle Differenz braucht eine Spannung mit dem Gleichheitsanspruch.“
Entsprechend gebremst müßte unser Engagement für die Vielheit, das Nebeneinander der Kulturen in unserem Alltag sein, das sich so harmlos anbot: „Laßt hundert Blumen blühen“ (Mao), „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“ (Christus/Foucault), „multa, non multum" (Lyotard), „Abschied vom Prinzipiellen/Lob des Polytheismus“ (Odo Marquard). Als zentral erweist sich die Frage der Vermittlung; eine interkulturelle Verständigung ist notwendig, wie sie in der Sprache z. B.des jeweiligen Gastlandes (oder im Englischen) ein Medium hat. In diesem Zusammenhang wäre auch die „interkulturelle“ Aufgabe unserer Bildungsinstitutionen zu bestimmen, als eine Vorgabe für die Interpretation. Was Universalismus des Verstehens hieße, wäre denn auch neu zu bestimmen. Gewiß ist man allergisch gegen die Gleichmacherei des 19. Jahrhunderts. Das ist so wenig überzeugend wie ein ganz beliebiges Geltenlassen des Fremden als Fremden, das sich ebenso der Vermittlungsaufgabe entzieht. An einigen zentralen kulturellen Tendenzen der beiden letzten Jahrzehnte sei diese Betrachtungsart zu konkretisieren versucht.
IV. Entgrenzungen
1. Hippie, Gammler, Sponti Als Muster für die neuromantisch inspirierte Jugendbewegung der sechziger Jahre ließe sich die Taugenichts-Figur Eichendorffs angeben: Es ist der Vater, der den Jungen (der Sinn für Natur, Kunst, Schönheit, aber weniger für die staubige Mühle hat) einen Taugenichts nennt. Der nimmt diese Qualifikation freudig auf. Die Bücher von Kerouac, von Salinger und Brautigan, aber auch die ensprechenden Titel von Böll („Ansichten eines Clowns“), Mechtel („Kaputte Spiele“), Rasp („Ein ungeratener Sohn“), Plenzdorf („Die neuen Leiden des jungen W.“), Körner („Katt im Glück“), Ortheil („Fermer“) u. v. a. m. vertreten den Typus der Verweigerung im Streben nach einer direkten Orientierung auf qualitative Werte. Die trägt sich zunächst als Absage an das Leistungsprinzip als „das herrschende Prinzip einer auf Erwerb und Wettstreit ausgerichteten Gesellschaft“ (Herbert Marcuse) vor. Das Musical „Hair“ ist vielleicht das eindrucksvollste Beispiel für diese Haltung, die dann in den siebziger Jahren als Sponti-Kultur reaktualisiert wird Es sind viele Typen, die sich unter dieses Stichwort „Taugenichts“ einreihen lassen, etwa der „Gammler“: Ein lyrischer (nun ja) Text von (einem) Manfred Seif ist überschrieben „Der Junge den ihr Gammler nennt“; darin stehen die Zeilen „was hat mir dieser tag gegeben, und was hat er nicht alles von mir verlangt?
acht stunden selbstverachtung und falsche liebe, schleimerei, aufschneiderei, anpassung und Verleumdung. was soll das alles?
muß das so sein?
warum tue ich das, warum bin ich noch hier? Schluß jetzt!“
Hier ist schon die SPONTI-Sprache erkennbar: der Verzicht auf Strukturierungen, der unmittelbare Selbstbezug, der Versuch zum Leben „aus dem Bauch, nicht aus dem Kopf“. Der TUNIX-Kongreß, vom 27. bis 29. Januar 1978 in der Technischen Universität Berlin (West) abgehalten, war der Höhepunkt dieser Umkodierung des Widerstand-Theorems; statt der kaputten Gesellschaft wollte man sich nun dem kaputten Ich zuwenden. Im sympathetischen Bericht von Ronald Glomb zu TUNIX heißt es: „TUNIX ist die wiederentdeckte Identität eines jeden Einzelnen inmitten feindlicher Umgebung, dort wo Hochhausklötze so menschlich wirken wie die Wachttürme entlang der stacheldrahtumzäunten DDR-Grenze. -Die Forderung, hier und heute nicht Hülle sondern Mensch zu sein, ohne auf den okkulten Tag X warten zu wollen, ist eine revolutionäre Forderung.“
Die interpretative These wäre, diesen Anspruch auf Unmittelbarkeit, der sich ja auch reichlich unmittelbar vorträgt, als (übrigens emphatisch bejahten) Rückfall in die Gruppenkultur, als Plädoyer sozusagen für eine ethnisch gegliederte Gesellschaft aufzufassen. Das Problem einer Absage an jede interkulturelle Verständigung tritt im direkten Tonfall hervor, der Ästhetik als Schimpfwort begreift, seine Botschaft ohne Umweg über irgendeine Form transportieren möchte. Dagegen ließen sich Beispiele anführen, die den Rückbezug auf Theoreme der Romantik als ästhetische Differenz mitreflektieren und so eine Vermittlungsarbeit realisieren, was besonders die Position der DDR-Literatur der siebziger und achtziger Jahre gewesen ist.
Hier interessiert besonders die „begrenzte Andersheit“ der deutsch-deutschen Kulturmuster: Der Siegeslauf der Erzählung bzw.des Dramas „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1973) von Ulrich Plenzdorf hat deutlich gezeigt, daß die junge Generation der DDR nicht durchgängig bereit war, „Aufschub als Lebensform“ (Heiner Müller) hinzunehmen. Diese Haltung war allgemein verbreitet und kann nicht nur als kurzschlüssiger Spontanismus abgetan werden. In vielen einfach gehaltenen Romanen und Erzählungen wird der Alltag so stark erlebbar, daß dahinter alle Parolenwahrheit zum Verschwinden gebracht wird. In Wolfgang Trampes „Veränderung der höheren Semester“ (1982) heißt es anläßlich einer (gemeinsamen) Zugfahrt: „Einen Augenblick dachte ich, daß dies das Glück war, nach dem ich suchte, etwas Einfaches und Selbstverständliches.“
Peter Rosei, der österreichische Meister der Parataxe, der neuromantischen Hauptsätze, nimmt sehen (selbstverständlich „schauen“ geheißen) und erzählen/schreiben zusammen: „Ich schaute. Ich machte halt, ging herum. Die Sonne schien warm; Spinnen segelten auf weißlichen Fäden durch die Luft. Ein blauer Krug stand in einem Fenster. Man läßt sich gerne besänftigen. Sonnenblumen, die über Zäune hängen, grüßen. Was fehlt, erfindet man. So tritt die Welt aus einem heraus. Ein Bub turnte über ein Brückengeländer. Ein Postbote radelte. Der blaue Krug! -Ich ging, ich schaute: War einverstanden, wenn man so will.“ Das Einverständnis läßt sozusagen nur Hauptsätze zu, will von keinen Bedingungen, Folgen, Bezügen, Relativierungen wissen. Man kann es leicht denunzieren (z. B. als drogeninduzierte Wunschphantasie), aber fruchtbarer ist doch der oppositionelle Ansatz, der im TAUGENICHTS Gestalt gewonnen hat: die Verweigerung der Leistung, die nicht einsehbar gemacht werden kann. 2. Der Aussteiger: Gemeinschaft statt Gesellschaft Deutlich ist hierin die Kultur der Romantik als Teil einer Jugendkultur aufgenommen, mehrere Motive (Denkfiguren) ließen sich namhaft machen:
Jugendlichkeit, Sehnsucht, Rebellion, Verweigerung, Naturnähe, Volkstümlichkeit (womit -im . romantischen Sinne -eine Begrenzung der Trennung in Klassen gemeint ist), Liebe/Gefühl/Sinnlichkeit, Reisen, Aufbruch u. v. a. m. In einer Beschreibung von Alternativ-Kulturen heißt es hierzu: „Jugendliche, die sich für eine alternative Lebensweise entschieden haben, sind bereit, auf aufwendigen Konsum, Karriere und Geldverdienen unter den Bedingungen des irrationalen Leistungszwangs und Konsums der Wohlstandsgesellschaft zu verzichten, um dadurch die für sie wichtigen Lebensziele zu realisieren: Zeit für sich und andere, Gespräche, Gemeinschaftsleben, Aufhebung der Schizophrenie von Arbeitswelt und Freizeit.“
Das aber ist nun ein Programm, das heute keineswegs mehr auf Jugendliche beschränkt ist, und deutlich ist, daß die (relativ moderne) Ausbildung einer eigenen Jugendkultur längst wieder eines der wichtigsten Orientierungsmuster auch für die Erwachsenenwelt geworden ist (wie es von der Romantik ja auch intendiert war). Es gab und gibt den Zug aufs Land, die Landkommunenbewegung, Handwerker-Kollektive und die (längst vom „anrüchigen“ Kommunen-Konzept befreite) Wohngemeinschaft (WG). Auch die Psycho-Gemeinschaften bilden einen Teil der alternativen Szene, also Selbsterfahrungs-und Selbsthilfe-Gruppen, zu denen auch zahlreiche religiös inspirierte Gemeinschaftsversuche treten.
Das alles kennzeichnet fraglos den Westen eher als den Osten, der durch die staatliche Verwaltung des Kollektivgedankens keinen Raum für solche gemeinschaftlichen Rückzüge ließ und den Einzelnen auf die engere Familie und erprobte Freunde verwies. Wohl gab es im Intellektuellen-Milieu Gruppenbildungen (berühmt-berüchtigt: der Prenzlauer-Berg-Kreis) zumeist lockerer Art, die einen gemeinschaftlichen Ausstieg inszenierten. Gemeint war vor allem die entschiedene Absage an jeglichen „gesellschaftlichen Auftrag“, an jegliche Form der Staatskultur Entsprechend plädierte Durs Grünbein (in der nichtoffiziellen Zeitschrift „Ariadnefabrik“ 1989) für ein Schreiben „unterhalb der Parolen“, für einen Ereignisstil, der an Benns Rönne-Prosa gemahnt: „Eine Poesie, lange-zeit mit Botschaften beladen, von allerlei Idealismen vergewaltigt, mit Rauschmitteln vollgepumpt, später versachlicht nach besten Kräften, in hermetische Engen getrieben, nüchtern in Laboren zerlegt, dem Zufall wiedergeschenkt, aller Repräsentanzen beraubt, endlich als Müllcontainer herumgeschoben, zum Alltag befreit... kommt morgen vielleicht schon mit Gesten eines tierhaften Charmes daher, verführt von einer neuen Unverwandtnis, die in den Feldern, Figuren, Stimmen, Wortakkorden... eines nackten Ereignisstils ihre Virulenz unter Beweis stellt.“
Vermutlich ist dieses Programm (und diese Prosa) auch deshalb so luzide, weil sie sich ganz anderen Widerständen gegenübersieht als entsprechende westliche Ausbrüche. Rumäniendeutsche Texte und Programme ließen sich daneben stellen, die zeigen, daß dort für solche Gesten kein Raum war, da blieb nur der Lakonismus als Ausstieg übrig. 3. Der neue Narziß (Entstrukturierung, Dezentrierung)
Die vor allem von Heinz Kohut vorgetragene Narzißmus-These hat eine Lawine von Schriften ausgelöst, die auf den ungeschützten Wanderer im Tal der Wissenschaften, den Laien, mit viel Getöse niederging. Ein Neuer Sozialisations-Typ wird ausgemacht, NST oder auch „oraler Flipper“ genannt womit die Verweigerungshaltung psychoanalytisch „erklärt“ werden soll. Die falschen Wege zum Selbst, also Drogengebrauch, Perversionen, Ausflippen, auch Jugendreligionen lassen sich als Reaktionsbildungen auf narzißtische Störungen auslegen. „Unser alltäglicher Narzißmus“ ist Gegenstand eines Buches von Wolfgang Schmidbauer (1981), und Christopher Lasch bescheinigt uns gar ein „Zeitalter des Narzißmus“ (1979). Der Aufstieg dieses Begriffes ist gewiß verständlich, vor allem als Gegenbegriff zur ödipalen Psychologie, deren Verallgemeinerungen und hierarchisierende Modelle viele neuere Entwicklungen, Befunde, Erfahrungen, Einsichten nicht mehr zu fassen vermögen.
Narziß ist (bei Ovid) der selbstverliebte Jüngling, dessen Weigerung, sich anderen zuzuwenden, dessen „harter Stolz“ ihn schließlich trügerisch auf sich selbst verwiesen sein läßt, was ihn, da er sein Liebesobjekt nicht erreichen kann, zugrunde gehen läßt. Narziß als neue Kultgestalt einer alternativen Kultur-und Lebensauffassung ist, wie der Mythos lehrt, zugleich der Ausdruck höchster Selbstgefährdung, was in der eher frohgemuten Sponti-Literatur nicht recht zum Ausdruck kam. Am Anfang steht die Verweigerung (man vergleiche Ovids Erzählung), der Entschluß, aus den traditionellen und von der Gesellschaft angesonnenen Verhaltensweisen auszuscheren, die Kommunikation mit geltenden Normen zu unterbrechen. So wird die Dialektik von Abgrenzung, Eingrenzung und Ausgrenzung wirksam, von der die Soziologie im Hinblick auf unsere sogenannten Randgruppen spricht. Der Isolierung folgt die Selbstzuwendung, dann die Trauer über die (oft gegebene) Unerreichbarkeit des gewählten Liebesziels.
Dennoch hat Narziß als Typus sich viele Sympathien in der gegenwärtigen Kultur erwerben können, ja er hält dort sozusagen einen eigenen Platz besetzt. Der in die Natur hineinschwindende, oft auch mit androgynen Zügen ausgestattete Jüngling Narziß ist deutlich vom Kämpfer-und Machertypus, dem , männlichen Staatenlenker Ödipus abgesetzt. Die auf dem Ödipus-Komplex beharrende Psychologie führt entsprechend auf ein konträres Menschenbild bzw.setzt ein solches voraus. Danach hinterläßt der Untergang des ÖdipusKomplexes den Heranwachsenden sozusagen ödipal geformt -ausgestattet mit einer phallischen Genitalität, einem funktionierenden Über-Ich, das die ins Ich übernommene Elternautorität repräsentiert, mit Leistungswillen und Tatendrang. Hingegen sei für den narzißtisch geformten Typ eher eine ungerichtete Libido kennzeichnend sowie eben eine grundsätzliche Infragestellung des Leistungsanspruchs. Mitscherlich nennt das die Entstrukturierung des Über-Ich. Gem spricht man auch vom programmatischen Nicht-Erwachsen-sein.
In der gehobenen Erzählliteratur hat dieser Gestus eine sehr eigene Ausprägung gefunden, vor allem bei den jüngeren österreichischen Autoren. Peter Rosei z. B. schreibt eine sogenannte Flipper-Prosa von höchstem literarischen Anspruch, bildbetont und parataktisch im Bau, wie es sich für den „oralen“ Typ gehört. Das unbedingte Wollen und die Ungeduld zur Artikulation finden sich bei ihm mit der großen Anspruchsgeste verbunden, wie sie zum Typ der aufdringlich-eindringlichen Sprache des Narzißten gehört: „Es ist zum Verzweifeln: Was man als menschlich an sich selber erlebt, es kann nicht mitgeteilt werden; es hat keine Sprache, keinen Code. Es ist ungefügt, heiß und groß. Das Menschliche! Stark sein, hart sein, kaltblütig sein; und eben jetzt voll Liebe sein, voll Zuwendung. Man möchte die Welt verschlingen in einem Zug. Sie nicht nur schmecken, sondern aufbrauchen: den Fluß, die Ebenen, die Wälder. Die roten Wälder der Ebene mit ihrem Aufruhr im Wind!“
Die Entstrukturierung trifft nicht nur den Gestus des Erzählens, sie greift auch aufs Inhaltliche über. Das Loblied für die Entgrenzung, für die Entstrukturierung trägt sich auch als Schizoanalyse vor (Deleuze-Guattari), wo man dann von Deterritorialisierung spricht. Die Vorliebe für eine einfach gebaute (Pop-) Musik gehört in diesen Zusammenhang: das Musikerlebnis wird ähnlich wie der Drogenrausch oder der Sex als Entgrenzung erfahren, als Auffüllung jener defizitären Struktur, als welche das Selbst erlebt wird. Ein Muster des neuen Narziß wäre jener Rollschuh-Jugendliche, der die Ohren mit seinen Transistor-Anschlüssen verstopft hat und so nur noch mit seinen eigenen Gefühlen kommuniziert. Eine zwanzigjährige Studentin beschreibt ihr Musikerlebnis wie folgt: „Musik is sowieso alles, wa. Wenn ich allein bin und mach’ Radio an oder irgend’n Lied, hab ich sofort ’n bestimmtes feeling mit dem Lied oder der Musik. Det is ja allet gekoppelt und irgendwo automatisch. Und det is ja och der Rhythmus, den de in dir hast.“ Der Wunsch zur Auflösung der Körpergrenzen, zur Entgrenzung der Person sitzt so tief, weil daraus jener Lustgewinn gespeist wird, den die Erfahrungswelt vorenthält. Was vermögen (so Heinz Kohut und Michael Balint) alle Befriedigungsmöglichkeiten der Realwelt gegen jenes Lustversprechen, das in der Regression aufwacht.
Als Textgattung bietet sich vor allem die Andeutungsrede, die Lyrik als Beispiel an: In der Moderne hat sich das Konzept einer monologischen Lyrik durchgesetzt, „an niemanden gerichtet“ (Gottfried Benn), eine Selbstbezüglichkeit, die als Selbstvermittlung gedacht werden kann, vielfach aber auch deren Scheitern, und damit die Unmöglichkeit für Kommunikation, auslegt. Bei Sascha Anderson heißt es in einem Liebesgedicht: „wäre ich du, ich würde nicht auf mich warten, denn, der zu dir kommt, bin nicht ich.“ Ein anderes Gedicht von ihm zieht sozusagen die Konsequenzen 16; mädchen: ja mit dir kann ich nicht sprechen: du sprichst als würde ein bild von dir aufschrein: ich höre dich nicht & frage was du sagst: du schreist immer weiter & ich kann nur immer wieder fragen: wie fragen So ließe sich das Narzißmus-Theorem als „Interpretament“ verwenden und für West und Ost zur Geltung bringen, doch deutlich überwiegen die Zeugnisse dieser Einstellung im westlichen Schrifttum. Die Entstrukturierung als Lust bleibt ein Wohlstandsphänomen, setzt sie doch die Handlungsfähigkeit des Subjekts wörtlich aufs Spiel, und das geht je nach politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen nicht immer günstig aus. Der psychisch-moralische Untergang Sascha Andersons ist ein treffendes Beispiel dafür. 4. Neue Frau Kultur wird als ein „zentrales, wirksames System von Bedeutungen und Werten“ definiert, „die nicht irgendwie abstrakt sind, sondern organisiert und gelebt werden“ Gerade dieser Zusammenhang von Lebensformen und kultureller Selbstverständigung macht jenen Vorsatz „zentrales System“ einigermaßen fraglich. Vielleicht ist es am besten, zunächst doch die Verschiedenheit zu betonen, wenn der Wunsch nach Synthetisierung bzw. Systematisierung sich so durchgreifend äußert, so unausrottbar wirksam ist. Unsere Bereitschaft, Differenz auszuhalten, ist ja keineswegs überentwickelt. Am Beispiel der Frauen-Literatur, -Kultur, -Szene ließe sich das zeigen, ist hier doch der Zusammenhang von Kultur und (neu entstehenden) Lebensformen besonders einsichtig. -Hier gehe ich freilich nur auf die Grundthese ein, daß kulturelle Differenz eine Spannung mit dem Gleichheitsanspruch brauche, was in der Frauen-literatur unmißverständlich zum Zuge gebracht wurde.
Silvia Bovenschen hat (1979) auf die literarische/kulturelle Bedeutung der inszenierten'Weiblichkeit hingewiesen, hat die „Struktur kultureller Repräsentanzen des Weiblichen“ untersucht, mit dem sogleich einleuchtenden Ergebnis: „Schattenexi-stenz und Bilderreichtum“ So wenig die Frau als Subjekt in der Realgeschichte auszumachen ist, so üppig ist sie als Thema präsent. Virginia Woolf: „Im reich der phantasie ist sie von höchster bedeutung; praktisch ist sie völlig unbedeutend.“
Bovenschen betont, daß es nicht darum gehe, der sog. sozialen Frauenfrage des 19. Jahrhunderts eine ästhetische Frauenfrage beizugesellen: „Es gibt, strenggenommen, keine , Frauenfragen 4. Schon in diesem Begriff steckt die ideelle Kasernierungsabsicht.“ Dennoch verweist sie, etwa am Beispiel der Rahel Varnhagen, auf „das schmerzhafte Gefühl von Fremdheit und Andersartigkeit“ als „spezifischen Präsenzmodus des Weiblichen“, den es zu reflektieren gelte, um die Ausbürgerung der Frau aus der Realität, ihre paradoxe (schizoide) Lage, „gleichermaßen innerhalb und außerhalb einer geschichtlichen Situation zu leben“, aufzuheben
Die Frauenliteratur, die Mitte der siebziger Jahre recht plötzlich hervortrat, steht in einem komplexen organisatorischen Zusammenhang. Die neue Frauenbewegung und die neue Frauenliteratur sind ineinander verschränkt, gilt es doch, Sprache für eine andere Sicht aufs Thema , Frau‘ zu entwikkeln, diesem einen eigenen, nicht-projektiven (reduktiven oder komplementären) Ausdruck zu verschaffen. „Die spräche versagt, sobald ich über neue erfahrungen berichten will, angeblich neue erfahrungen, die im geläufigen jargon wiedergegeben werden, können nicht wirklich neu sein... sie erhalten den gegenwärtigen zustand.“ Die Entfremdungen reichen, das ist der kritische Befund und Ansatz (überhaupt der Literatur des 20. Jahrhunderts), bis tief in die Persönlichkeit hinein, haben über die Sprache Teil am Selbst gewonnen. Den kulturrevolutionären Slogan, wonach die Aufhebung der Selbstentfremdung denselben Weg geht wie die Selbstentfremdung macht die neue Frauenliteratur (in gewisser Weise) operativ: sie versucht, die Sprach-und Denkbilder, welche die Frauen bislang „eingemauert“ haben, brüchig zu machen.
Verena Stefan bemüht sich in ihrem Selbst-Bericht aus dem Jahre 1975 um eine neue Sprache für die (Form der) Autobiographie: „Ich bin eine langsame brüterin. tagelang gehe ich umher, kann worte nicht finden, aus den vorhandenen Worten keine auswahl treffen, sie sind alle zu dürftig, wenn es so wäre, dass ich nur auswählen müsste... doch ich muss neue worte schaffen, begriffe aussortieren, anders schreiben, anders benutzen, aus dem zugemauerten köpf bricht ab und zu ein wort, morgens schlage ich mitten im satz die äugen auf, nachts springe ich verstört aus der warmen höhle, ein wort, ein bild, papier, blei!“ (Der Text löst die anspruchsvolle poetologische Selbstdarstellung kaum ein.)
Im gleichen Jahr erschienen in der DDR unter dem Stichwort „Mythen und Möglichkeiten“ Geschlechtertausch-Geschichten, wovon einige auch in der „Sammlung Luchterhand“ zugänglich gemacht wurden (Sarah Kirsch, Irmtraud Morgner, Christa Wolf) Im Nachwort betont Wolfgang Emmerich die kulturpolitische Relevanz des Themas: „Die drei Geschichten... weigern sich, eine (biologisch fundierte) Unabänderlichkeit anzuerkennen. Sie lösen, fabulierend, die Geschlechtsfixierungen und das nicht nur biologische, sondern auch gesellschaftliche Koordinatensystem, das sie geschaffen hat, versuchsweise auf.“ Als Skandal erscheint in den Erzählungen die Rollenzuweisung Frau/Mann, die -wie es schon die Romantiker taten -als ein Stück Machtpolitik interpretiert wird. Das war auch in der DDR nicht unanstößig (nicht alle Geschichten wurden dort gedruckt). In der Erzählung von Christa Wolf wird die „Teilerblindung, die fast alle Männer sich zuziehen“, auch dem in einen Mann sich verwandelnden Ich ironisch zugeschrieben; und die großartige Erzählung von Sarah Kirsch „Blitz aus heiterm Himmel“ führt den Übergang von Katharina zu Max so vor, daß der Leser es kaum merkt, sich gleichwohl fragen muß, wie der zugehörige Albert das denn aufnehmen wird. Die Pointe bringt der Schlußsatz, der zum erstenmal das „er“ einräumt: „Die Haare kann er so lassen, dachte Albert.“
Es ist auffallend, daß gerade im Bereich der Frauenliteratur die deutsch-deutschen kulturellen Ent-Wicklungen so stark konvergieren. Die Autorinnen der DDR, gleich ob Sarah Kirsch oder Irmtraud Morgner, Brigitte Reimann oder Christa Wolf, aber auch die jüngeren, haben nicht nur teil an der Diskussion, sondern führen diese gutteils an. (Dabei werden die französischen und amerikanischen Einflüsse ein wenig vernachlässigt.) In ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen zu den „Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra“ (1983) bringt Christa Wolf die Grundthese auf den (längst) griffigen Nenner: „Inwieweit gibt es wirklich , weibliches Schreiben? Insoweit Frauen aus historischen und biologischen Gründen eine andere Wirklichkeit erleben als Männer. Wirklichkeit anders erleben als Männer, und dies ausdrükken. Insoweit Frauen nicht zu den Herrschenden, sondern zu den Beherrschten gehören, jahrhundertelang, zu den Objekten der Objekte, Objekte zweiten Grades, oft genug Objekte von Männern, die selbst Objekte sind, also, ihrer sozialen Lage nach, unbedingt Angehörige der zweiten Kultur; insoweit sie aufhören, sich an dem Versuch abzuarbeiten, sich in die herrschenden Wahnsysteme zu integrieren.“
Die Interpreten der kulturpolitischen/-theoretischen Bedeutung der neuen Frauenliteratur täten gut daran, diese nicht nur nach diesen inhaltlichen Motiven zu betrachten, sondern auch auf die formale Leistung zu achten, die hier erbracht ist. Die Autobiographie, der Dokumentationsbericht, der Abenteuerroman, die psychologische und die humoristische Erzählung, der Entwicklungsroman, die Literatur der Arbeitswelt, die Pornographie, das fragmentarische Erzählen -diese und viele andere Formen werden neu durchbuchstabiert, auf ihre historische Semantik hin geprüft und „brüchig“ gemacht. Damit ist mehr geleistet als mit einer „Umkodierung“, die ja ihr Ziel vermutlich nicht genau anzugeben wüßte, können wir doch von dem „zunehmend erfolgreichen Nachweis, in der empirischen Forschung wie in der beruflichen und politischen Praxis“ ausgehen, „daß Mädchen und Frauen in der Tat über alle Fähigkeiten und Verhaltensweisen verfügen, die es bei Männern gibt“
Das ist eine These, die gleichfalls davor bewahren sollte, eine Aufzählung von sich relativ abgrenzenden Kulturen antikommunikativ zu verstehen. Und doch gilt, daß solche kulturellen Handlungsmuster so energisch wie möglich ausdifferenziert sein sollten (und dafür den Raum bekommen müssen), weil anders der Tendenz zur Inkorporation, welche die (konventionell gesprochen) zentrale Kultur kennzeichnet, kaum widerstanden werden kann. Dann würden aber auch die Chancen schwinden, vom Konzept einer (verpflichtenden) Gesamtkultur fortzukommen bzw. dieses grundlegend zu verändern. 5. Neuer Mann „Mann, du alles auf Erden“, hatte Gottfried Benn, keineswegs ironisch, seinem Geschlecht zugesungen und pathetisch die männliche Größe beschworen: „Der soziologische Nenner, /der hinter Jahrtausenden schlief, /heißt: ein paar große Männer /und die litten tief.“ Zur abstrakten Männlichkeit, die sich nur als Tautologie behaupten kann (Brecht, kritisch: „Mann ist Mann“), gehört die patriarchalisch-zynische Auffassung der Frau als Objekt, die noch keineswegs ausgestorben ist und in der „wilden“ Literatur unserer „Jungen Achtziger“ sogar als chic gilt. Möglicherweise ist es eine Reaktion auf die Frauenbewegung, andere gehen von Parallelreaktionen aus (auch wenn die Selbstfindungsaktionen der Männergruppen weitgehend ein Rückgriff auf die Erfahrungen der »Schwestern sind), wenn seit den siebziger, stärker dann noch seit den achtziger Jahren das weiland so selbstverständlich scheinende Konzept Mann’ zunehmend problematisiert wird. „Der Mann als Held. Über den Männlichkeitswahn“ nannte Otto F. Walter z. B.seinen Essay der diese Abkehr von der Rambo-Männlichkeit sehr entschieden vorträgt: „Die Schubkraft der Rollendressur macht uns Männer, und auch heute, tendenziell zu Schwerbeschädigten, zu Wahrnehmungsidioten, zu Liebesunfähigen: zu Helden.“ Das verweist ausdrücklich auf Christa Wolfs Kassandra-Ruf zurück: „Einen Helden kann ich nicht lieben.“ Walter: „Kann ich lieben? Solange die Urbilder in mir mächtig bleiben: Nein.“
Eine sehr ausführliche Literatur zum Thema „Neuer Mann“ ließe sich nennen, viel Lyrik ist dabei: Wolf Wondratschek („Die Einsamkeit der Männer“); Jörn Pfennig; Christian Ide Hintze; Curt Flemming; Gerald Zschorch und viele andere. Einzeltexte wären etwa von Ludwig Fels, Christoph Meckel, Peter Rühmkorf, Rolf Haufs, Arnfried Astei, Gerhard Falkner, Jochen Kelter und Karl Corino anzuführen. Das reicht bis hin zu einer Verständigungslyrik, welche alle formalen Spannungen vorsätzlich aufgibt: die Charles Bukowski-Rezeption läuft weitgehend so. -Aber auch ein bestimmter Romantypus, gekennzeichnet durch eine neue Larmoyanz, welche die Tränenseligkeit der Empfindsamkeits-Epoche noch übertrifft; in seinem Zentrum steht der Nicht-Held: der verlassene Mann, der auf diese Situation zunächst nur mit begriffloser Trauer (und oft Klage bzw. Anklage) antwortet.
Nun entspricht das ja der Lebenswirklichkeit: Ungefähr 80 Prozent der (Ehe-) Trennungen sollen gegenwärtig von den Frauen ausgehen, und so kommt es zur „Krise der männlichen Identität“, kommt es zur Gründung von Männergruppen, zu Männerbüros, zur Männerforschung, zu Info-Zentren für Männerfragen usw., und das heißt, wie von Seiten der Frauen kritisch angemerkt wird zu einer bemerkenswerten Ungleichzeitigkeit der Frauen-und Männerfrage: „Was ihr hier treibt, haben wir längst hinter uns.“ Wie dem auch sei, hier soll „Die neue Wirklichkeit des Mannes“ (ECON-Slogan 1985) nur als eines der leitenden Kulturkonzepte unserer achtziger Jahre angemerkt werden. Darin ist die DDR deutlich weniger involviert als bei der Frauenfrage, jedenfalls was die literarischen Niederschläge betrifft. Immer wieder erstaunlich (für westliche Augen) ist ja die Selbstverständlichkeit (gewesen?), mit der Männer sich als Helden, Führer, Bestimmende begriffen und darstellten. Selbst wo das kritisch thematisiert wird, bei Volker Braun oder Heiner Müller oder Wolfgang Hilbig, bleibt dieses Muster letztlich erhalten. In der Literatur der späten achtziger Jahre gibt es einige Anzeichen für einen gewissen Denkwandel, der Übergang von Bernd Igel zu Jayne-Ann Igel könnte dafür stehen, ließe er sich nicht so leicht als Zeichen entwerten, als Hinweis auf notwendig dokumentierte Geschlechtszugehörigkeit.
Es ist ein leichtes, aus der Erzählliteratur um 1980 Texte anzuführen, die nicht viel mehr enthalten als ein larmoyantes, babyhaftes Schreien, wenn die Mutterbrust entzogen ist, oder die entsprechende Trotzgebärde. Beispiele dafür geben die Autoren Wolf Wondratschek, Christoph Meckel, Hugo Dittberner, Uwe Timm u. v. a. m. Absage an eine das Thema bearbeitende Ästhetik bedeutet den Rückzug auf das Modell einer fensterlosen Monade, eine Infantilisierung, wie sie dem Ruf der Fürsorger nach der Multikulturalität zu entsprechen scheint. Wolfgang Hilbigs „Die Weiber“ (1987) oder Ulla Hahns „Ein Mann im Haus“ (1991) ließen sich als Gegenmodelle interpretieren.
V. Die Suche nach dem Halt
Die achtziger Jahre sind sehr wesentlich durch eine gewisse Rücknahme im Gestus der Entgrenzung gekennzeichnet. Das ließe sich auch kulturpolitisch und gesellschaftlich-ökonomisch ausmalen: offensichtlich hat die Einsicht in das Ende des (ökonomischen) Wachstums und in die Bedrohtheit unserer Ressourcen, der Elemente zumal, die Durchsetzung einer sog. No-nonsense-Politik erleichtert, die entsprechenden Widerstände eines größeren Rückhalts beraubt. Dazu ließe sich vieles anekdotisch anführen, es ist ziemlich gleichgültig, in welche kulturelle Szene man blickt, überall gab es Konzentrationsbewegungen, die mit Qualitätsforderungen begründet wurden. Bemerkenswert ist es, daß dies nicht als kulturpolitischer Schwenk aufgenommen wurde, sondern als Anzeichen der Suche nach dem Halt, begründet u. a. durch die Blamage der experimentellen, der entgrenzenden Ansätze. Es kommt zur (Wieder-) Aufnahme vieler Konzepte, die eine konkrete (nicht mehr unbedingt universelle) Sinngebung zu versprechen scheinen. Da diese Diskussionen und die entsprechende Literatur sehr verbreitet waren bzw. sind, genügen hier einige Hinweise. 1. Wiederkehr des Körpers In mehreren Diskussionsbänden haben Dietmar Kamper und Christoph Wulf „Die Wiederkehr des Körpers“ beschworen Sie nehmen damit ein aktuelles kulturelles Motiv auf, das sich in den Zusammenhang der Nachfrage nach den Kosten unserer (vereinseitigten) Rationalität stellt: „Von einer Wiederkehr des Körpers zu sprechen, unterstellt bereits ein Verschwinden, eine Spaltung, eine verlorene Einheit. Es geht mithin um die Trennung von Körper und Geist, um den Abstraktionsprozeß des Lebens mit seiner Distanzierung, Disziplinierung, Instrumentalisierung des Körperlichen als Grundlage des historischen Fortschritts, um die damit einhergehende Entfernung und Ersetzung der menschlichen Natur durch ein vermitteltes gesellschaftliches Konstrukt, mit einem Wort: um Rationalisierung im weitesten Sinn -also um zivilisationstheoretische und geschichtsphilosophische Prämissen.“ Als Wiederkehr des Körpers wird die „Chance einer neuen authentischen Erfahrung“ gefeiert, was nicht ganz fern von den Zielen etwa der neuen Männerbewegung ist. Gegen die „anschauende Erkenntnis“ (Goethe) habe sich, so Wulf, der „kontrollierende Blick“ durchgesetzt, Aufsicht, Über-sicht, Kontrolle sind gefragt: Ein „einäugiger’ Blick entsteht, der zu einem Distanz-und Machtmittel wird, der kontrolliert und unterwirft und Herrschaft durchsetzt“. Dagegen wird das Vertrauen auf die Nahsinne gesetzt, die, „nach wie vor kaum beeinträchtigt von den zivilisatorischen Zu-richtungen des Körpers“, weniger entfremdet sein sollen: Sie „sind gleich weit entfernt vom Glanz und vom Elend der Aufklärung“ (Es ist vergnüglich, den Roman von Patrick Süskind „Das Parfum“ als Antwort auf solche postmodernistischen Theoreme zu lesen; er verträgt diese „philosophische“ Lektüre, sein Ende zelebriert ironisch das Fest der Nahsinne.)
Gert Mattenklott hat, im ausdrücklichen Rückbezug auf Nietzsche, darauf aufmerksam gemacht, daß wir Leib/Körperlichkeit hier nicht zu wörtlich einsetzen dürfen, auch wenn die gleichzeitige Literatur uns hierzu mit vielen Zeugnissen ermuntert. Mattenklott begreift die Rede vom Leib als Rede, sie gehe vom mythischen Leib als einem Phantasma aus: „Seine Vernunft ist die eines sympathetisch regierenden Ensembles, einer Konstellation unterschiedlichster physischer, psychischer und geistiger Energien.“ Er zitiert das schöne Nietzsche-Wort: „Meine Hypothese: das Subjekt als Vielheit“, und fügt hinzu: „Das Ich hat sich unmöglich gemacht. Im Grunde kann es nicht den Mund auftun, ohne sich zu kompromittieren. Redet es dann doch, so -wie sollte es auch anders -mit immer nur einer, seiner Stimme. Der Leib dagegen ist mehrsprachig. Entsprechend komplex, womöglich gar in sich widersprüchlich ist sein Ausdruck. Und vor allem bleibt auch das Unterdrückte, Abgewiegelte, Unentwickelte stets als solches sichtbar. Der Leib kann nicht lügen.“
Hier ist nun weniger in eine Diskussion über Sinn und Reichweite dieses Theorems einzutreten, als zur Kenntnis zu nehmen, daß es einen anspruchsvollen Platz in der Kultur-Szene der achtziger Jahr einnimmt. Für die Lyrik-Interpretation ist es, wie nicht zuletzt Julia Kristeva gezeigt hat unerläßlich. Ein Beispiel: Der erste Gedichtband von Gerhard Falkner (und ein entsprechendes Gedicht) heißt: „so beginnen am körper die tage“ (1978/1981). Ein Gedicht daraus: siehst du, ich habe das äuge aufgestemmt. mit dem Werkzeug der stimme habe ich freigelegt das zittern seiner linse. ich habe die netzhaut durchlässig gemacht für den einspruch der körper ihre ratlosen schatten und stürze. ich habe seine krümmung verspannt mit dem vertikalen fall des fleisches außen, abseits, ans unerträgliche hin.
Ein solcher Text reicht noch weiter als jede mondäne und flotte Kulturkritik, zeigt er doch, daß die Sinne sich nicht beliebig gegeneinander ausspielen lassen. Eine „Rückkehr zum Körper“ wirkt ja auch als Programm überzeugender, wenn die Sinne aufeinander verwiesen werden. Der Poesie, der Sprache und den Sprachbrüchen, gelingt hier die Öffnung des Auges, das damit von seiner Starrheit verliert: die Linse zittert, das heißt, sie ist vom Kontrollblick der Radarlinsen und Teleskope grundsätzlich unterschieden. Mit dem Auge, das für den Einspruch der Körper empfänglich ist, ist eine Vernunft gemeint, die nicht Aufklärung und Fühlen gegeneinander ausspielt.
In der DDR hat sich dieses Theorem weniger in emphatischer Form darstellen können (auch das gibt es) als in kritischer Spielart. Elke Erb hat die Absage an die Sklavensprache ironisch in Sklaven-sprache (also in Verschlüsselung) vorgeführt und dabei vom Theorem des unzerstückelbaren Leibes Gebrauch gemacht: Dichten und Streicheln mit großer Geste und hohem Anspruch in eins setzend
Sklavensprache Die Hände, die gestreichelt haben, kann man ruhig abhacken.
Das ändert nichts, denn sie würden das Streicheln nicht lassen, und es führt zu nichts Gutem.
Man kann sie aber auch fesseln, und die Person, der sie gehören, folgt ihnen nach bis in die finsterste Zelle.
Auch Jürgen Rennert hat in diesem Sinne den Leib als Garanten fürs freie Wort genommen -ein aufklärerisches Motiv: Wer nichts fürchtet, steht zu seinem Wort. Sein Gedicht „Seltsames Singen“ beginnt: „Nie besser als/Mit dem Messer an der Kehle“. 37 Und Volker Brauns Gedicht „Tiananmen“ endet mit der bösen Zeile: „DU WILLST ES WISSEN zerschlagener Leib.“ Seine Material-Texte realisieren das auch als Form: das Körper-motiv wird hier als Unmöglichkeit des Lügens eingesetzt, als Denunziation der Vielsprachigkeit, der keine Vermittlung mehr gewachsen ist, als Absage auch an jede Dialektik, weil da nichts mehr, so die heimliche These, „aufzuheben“ ist. 2. Natur Es bedarf keiner längeren Ausführungen dazu, daß die Natur eines der großen Themen der achtziger Jahre und unserer Zukunft geworden ist. Es ist sinnvoll, das Nachdenken über Natur und unser Verhältnis zu ihr in die Reihe der Kultur-Konzepte zu stellen, die für die letzten beiden Jahrzehnte tonangebend sind. Die Literatur, so ist oft bemerkt worden, verhält sich wesentlich komplementär zur geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung, ist Nachklang der wirklichen Geschichte oder Vorschein ihrer utopischen Dimension. So gibt es zu denken, wenn die Literatur plötzlich „grün’ wird: heißt das, daß sich diese Farbe aus der Wirklichkeit in die Kunst geflüchtet hat? Wird die Natur museal? Gegenstand sozusagen archäologischer Expeditionen? Oder bedeutet das Ergrünen der Literatur (und Kunst) einen Hinweis auf eine gesellschaftlich-politische Tendenzwende, hin zu einem verantwortungsbewußten Umgang mit unserer Umwelt und unseren zukünftigen Lebens-möglichkeiten?
Den Tag regieren die Katastrophenmeldungen, man braucht nur das Umweltmagazin „Natur“ auf-zuschlagen: der Boden ist weithin vergiftet, die Wälder sind (z. T. unrettbar) erkrankt, die Seen und Meere gefährdet, gutteils schon biologisch tot, jede zweite Tierart ist vom Aussterben bedroht, der Treibhaus-Effekt ist mehr als eine Angstphantasie.
Bei Peter Handke (Monolog der NOVA) heißt die Natur „das einzige, was ich euch versprechen kann -das einzig stichhaltige Versprechen“. Zugleich läßt er seine Verkündigerin hinzusetzen: „Die Natur kann freilich weder Zufluchtsort noch Ausweg sein.“ Die neue Naturlyrik, deren politischer Ansatz auch gern mit dem Stichwort „Ökolyrik“ gefaßt wird, erlaubt sich entsprechend kaum mehr den Luxus, die Naturbilder uneigentlich zu gebrauchen, als Metaphern für Seelenzustände, die dann als das Eigentliche gelten. Ein Gedicht von Bernd Jentzsch beginnt: „Natur ist wirklich ein Stück Natur“. Warngedichte gibt es, Erinnerungsbilder und Gegenwelten, mit der besonderen Nuance, daß auch sie stets noch an wahrgenommene Natur gebunden bleiben, also quer stehen zu einem trostlos apokalyptischen Diskurs. Natur ist, was wir nicht gemacht haben. Entsprechend verstehen sich die neuen Naturdichtungen als Anmahnung und Hinweis, als Winke, die zur Erfahrung von wirklicher Natur, zu einem anderen Umgang mit ihr aufrufen. Das gilt in der Tat für beide deutsche Staaten, vor allem im Bereich der Naturlyrik gibt -es entschiedene Konvergenzen. Ebenso auch in der negativen Einschätzung der Möglichkeiten, die Obrigkeiten zu wirksamen Maßnahmen zum Schutz und zur Erhaltung der Natur zu bewegen. Der Radikalisierung der politisch-grünen Überzeugungen entspricht dann der Übergang der Naturlyrik von Neuromantik zur politischen Lyrik, wo sie heute in der Tat zu Hause ist. 3. Heimat Heimat ist ein Begriff, der für die Deutschen besonders belastet ist, weil er für revisionistische und expansionistische Ziele mißbraucht wurde. Heimat ist aber mehr als ein Begriff, mehr auch als ein undeutliches Gefühl, damit ist offensichtlich ein Stück Erfahrungswirklichkeit gemeint, das jeder einholen muß. Gleichwohl sind Zögerungen angebracht, diesen Anspruch aufs neue völkisch bestimmen zu wollen. So sieht der neue Umgang mit dem Heimatbegriff, der Ende der siebziger Jahre aufkam und dessen Höhepunkt in gewisser Weise das Filmepos von Edgar Reitz mit dem lapidaren Titel „Heimat“ war, auch nicht die Wiedereinsetzung von Blut und Boden, von Scholle und Wurzel vor. Volkskundler und Soziologen definieren Heimat als Nahwelt, die verständlich und überschaubar ist, eine Welt der Vertrautheit, in der sinnvolles, sinnträchtiges Handeln möglich ist. So wird Heimat als Geborgenheit gegen die Fremde gehalten. Nach wie vor ein ambivalentes Konzept.
Für die Literatur ist es freilich höchst ergiebig. Der Realismus in Ost und West beinhaltet diese Vergegenwärtigung von Nahwelten, die wiedererkennbar sind, Einfühlung, Einverständnis, zumindest aber Urteil erlauben. Heinrich Bölls oder Günter Grass’ Erzählen gehört dazu wie das von Erwin Strittmatter oder Uwe Saeger. Deutlich ist, daß sich im Konzept „Heimat“ Vergangenheit und Zukunft verschränken, der Affekt für eine Nahwelt, für die Regio und ihre wahrnehmbaren Erfordernisse, kann ja auch gegen alles vermeinte Fremde ausschlagen. Und es gibt durchaus (triviale) Literatur, die dem Vorschub leistet, etwa Heimat als idyllisiertes Landleben verklärt (und nie eine Nähe zur Pornographie verleugnet). Läßt sich denn der Heimatbegriff von der Vergangenheitserfahrung lösen, ist überhaupt ein Heimweh nach der Zukunft denkbar?
Der 1978 erschienene Roman „Heimatmuseum“ von Siegfried Lenz zeigt, daß es einiger Anstrengungen bedarf, den Begriff nicht museal zu nehmen. Schweizer und österreichische Autoren haben vor allem an einem Versuch zu neuer Heimatliteratur teilgenommen (Haushofer, Jonke, Roth, Boni, Blatter, Sterchi u. v. a.); in der deutschen Literatur gibt es die Gattung des kritischen Heimatromans (dann auch sehr wesentlich auf die Stadtlandschafen bezogen) und die Aussteigerromane neuromantischen Zuschnitts. Anspruchsvoller wird das Konzept im Lob der Region, zu dem sich beinahe alle Autoren von Rang verstanden haben, und zwar gleichermaßen in West und Ost. 4. Mythos. Kindheit. Alltag Es sind weitere Konzepte zu nennen, die sich in der Funktion ergänzen (gelegentlich ablösen), die Suche nach einem Halt auszudrücken:
-MYTHOS, der ursprünglich ein undisputierbares Wissen angeben sollte und jetzt neu in die kulturelle Diskussion einrückte, mit Stichworten wie empathische Vernunft, rationale Katharsis/Ästhetik des Widerstands. Mythologie der Vernunft, Abschied vom Prinzipiellen, Mythologie des Unbewußten, Umgang mit dem andern der Vernunft, akkumulativer Symbolismus usw. In der Literatur hat dieses Konzept sozusagen naturgemäß reichen Niederschlag gefunden, ganz besonders im DDR-Drama der sechziger Jahre, aber auch in der Prosa. In unseren Jahren, die offensichtlich keinen Rat mehr mit realistischen Lösungen wissen, hebt jeder zweite Roman am Schluß in mythische Bildlichkeit ab;
-das Konzept KINDHEIT, ebenfalls aus der Romantik überkommen und von aktueller Bedeutung, weil mit Verschwinden bedroht. Philippe Aries, Neil Postman und andere haben Indizien „für den Verfall der Kindheit und gleichzeitig für die damit einhergehende Verkümmerung der Bedeutung von Erwachsenheit“ zusammengetragen. Zu den Übeltätern zählen Fernsehen und Film: In diesen Medien „erscheint das Kind immer wieder als eine Person, die sich in ihrer sozialen Orientierung, ihrer Sprache und ihren Interessen vom Erwachsenen nicht unterscheidet“. Zwar gibt es eine Gegen-Literatur, doch zugleich gilt: „Die meisten Menschen verstehen das traditionelle, idealisierte Bild des Kindes nicht mehr und wollen es nicht mehr, weil dieses Bild keine Stütze mehr in ihren Erfahrungen und ihrer Vorstellungskraft findet.“ 38 Bei Peter Handke, Peter Rosei, Marlen Haushofer, bei Peter Härtling, Fritz Rudolf Fries und Günter de Bruyn, bei Christa Wolf und vielen anderen wird die Nachfrage nach den „Kindheitsmustern“ gleichwohl zum unverzichtbaren Ansatz der Selbstvermittlung, ohne daß Idealisierung der Preis sein müßte. -ALLTAG ist eine weitere Kategorie, die zur Analyse der Gegenwartskultur herangezogen zu werden verdient. Mit Alltag ist „eingespieltes Leben“ gemeint: „Sonntags gehen die Leute in den Park, rudern und füttern die Schwäne.
Hier scheint sich über lange Zeiten hin wenig zu verändern. Wir sind mit einer Schicht des Lebens konfrontiert, die hartnäckig am einmal Eingespielten festzuhalten scheint. Aber der Schein trügt. Nirgendwoher sonst als aus dem alltäglich eingespielten, scheinbar kristallinen Leben kommen die Veränderungen, die die Gehäuse ganzer Kulturen zum Einsturz bringen können.“ -So ist Alltag nun nicht nur ein Forschungsgegenstand geworden, sondern auch ein wichtiger Ansatz für Selbstbestimmungen von Kulturen, für kulturellen, ja sogar gesellschaftlich-politischen Wandel, wie uns nicht zuletzt die Erfahrungsberichte von 1989 belehren Es ist ein Konzept, das den Literaturbegriff in den sechziger Jahren in allen Gattungen entscheidend erweitert und verändert hat und das, vergleichend betrachtet, auf die Schwierigkeiten von Literatur führt, ideologischen Vorgaben immer wieder entkommen zu müssen und ihre , Alterität‘, das Anderssein ihrer Rede, festzuhalten.
VI. Aufbruch der Ränder
So müßte nun ein Kapitel heißen, das sich vergleichend mit den Schwierigkeiten der „Randkulturen“ beschäftigte, die es ja eigentlich im verträgli-
chen Nebeneinander einer multikulturellen Gesellschaft gar nicht mehr als solche geben sollte, nachdem die Mitte geräumt ist. Die Absage an die Leitkultur wird verständlicherweise vor allem von den „Rändern“ her besonders entschieden vorgetragen, deren Diskriminierung ja im Namen „herrschender Normen“, „gültiger Werte“ geschah. Die Untersuchung dieser „Randkulturen“, die sich nicht mehr als solche verstehen lassen (wollen), ergäbe einen neuen Set von Modellen, Konzepten, Interpretamenten und das heißt, ebenso viele Widerstände gegen „Reterritorialisierungen“, Zuordnungsversuche, deren Legitimität fraglich ist. Einige Beispiele, auf die freilich nicht mehr konkret eingegangen werden kann, seien angeführt: -die Homoliteratur/-kultur, die von einer subkulturellen Stigmatisierung längst weg will (und auch darüber hinausgewachsen ist) und sich eher mit dem Stichwort „minoritäre Bejahung“ fassen ließe 41; sie ist in den späten achtziger Jahren auch in der DDR zunehmend hervorgetreten;
-die Knastliteratur, in der sich die Stimmen von „echten Knackis“, von Terroristen-Häftlingen und politischen Gefangenen mischen und in der Beschädigungen besprechbar gemacht werden, die nicht nur auf die Gefängnis-Situation zu beziehen sind; sie hat, soweit ich sehe, nur in der Bundesrepublik eine gewisse Öffentlichkeit bekommen können;
-die Ausländer-Literatur, die uns darauf hinweist, daß die (für uns) bequemen Konzepte alle gescheitert sind: zur „Bedarfsorientierungspolitik“
der sechziger Jahre (im Klartext: Behandlung der „Gast“ -Arbeiter als Saisonkräfte wie gehabt) gehörte die mitgebrachte, insular gepflegte eigene Kultur; zum Integrationsangebot der siebziger Jahre gehört das Herausfallen aus allen Kulturbezügen. F. Messina: „Würdest du mich/so wie ich bin/als Mensch betrachten/als Ebenbürtigen behandeln/dann würden wir/keine INTEGRATION brauchen.“
Das Aufleben einer ausländisch-deutschen Kultur/Literatur in der Bundesrepublik in den siebziger, vor allem aber achtziger Jahren läßt sich jedenfalls als Postulat einer offenen, einer pluralen Kultur interpretieren. Es gibt -der Chamisso-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste macht es regelmäßig deutlich -eine deutschsprachige Ausländerliteratur von hohem Rang und bedeutendem Umfang, auch diese bislang wohl nur in der Bundesrepublik -man wird die sorbisch-deutsche Literatur nicht unter diesem Begriff fassen wollen.
Hier abzubrechen, ist nicht unplausibel. „Sich die Fremde nehmen“ heißt ein Gedichtband von Gino Chiellino und der Ausdruck ist vieldeutig-genau, gilt für die Frau (weil es die zugehörige Rosa nicht sein konnte), gilt für das Land, weil es die „angestammte“ Heimat nicht sein konnte (ungefähr 30 Millionen Menschen sind zur Zeit jährlich auf einer Flucht). Andere Titel der ausländerdeutschen Literatur lauten: „Die Reise hält an“, „In zwei Sprachen leben“, „Über die Grenzen“, „Das letzte Wort der Wanderratte“, “ Die Sehnsucht fährt schwarz“, „In der Fremde verloren“, „Der Weg ins Ungewisse“, „Wo ich sterbe, ist meine Fremde“, „Das Fremde und das Andere“, „Aus dem doppelten Schweigen heraus“. Die Titel machen bereits deutlich, daß es zynisch wäre, sich auf das bequeme Konzept einer multikulturellen Tole-ranz zurückziehen zu wollen. Und doch ist deutlich, daß auch hier der Ost-West-Vergleich vermutlich noch greift: das Zugeständnis des Nebeneinander ist eine Stufe, die nicht übersprungen werden kann und die in der früheren DDR noch weniger realisiert erscheint als in der Bundesrepublik. Bis zu einer „interkulturellen“ Wahrnehmung des je anderen, zu einer produktiven Verständigungsleistung, die sich das Fremde nimmt und diesem frohgemut einen Teil der Fremde wegnimmt, dürfte es noch ein weiter Weg sein. Doch wollte ich mit diesem Beitrag verdeutlichen, daß dies eine Arbeit ist, die wir an uns und für uns zu verrichten haben: die Verschiedenheit der kulturellen Szenen, Gruppen, Konzepte, Denkfiguren, Modelle bestimmt unsere (wirklich nachbürgerliche?) Gesellschaft und wird auszutragen sein, nicht bloß zu dulden.