I. Bedeutung von Wahlen
Faire, freie und geheime Wahlen bilden einen der wichtigsten Eckpfeiler westlich-liberalen Politikverständnisses. An ihnen mißt sich letztlich, inwieweit ein politisches Regime demokratisch ist. Folgt man der westlichen Demokratietheorie, so stellen Wahlen das hauptsächliche Instrument dar, das es dem einzelnen Bürger gestattet, direkten Einfluß auf das politische Geschehen zu nehmen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geht sogar noch einen Schritt weiter. Nach seinem Verständnis übt das Volk in Wahlen und Abstimmungen seine Staatsgewalt aus. Wahlen schreiben somit die Stellung des Volkes als den eigentlichen Souverän fest. Die Auswahl politischer Eliten sowie die Möglichkeit, inkompetente Volksvertreter bei den nächsten Wahlen aus dem Parlament zu werfen („to throw the rascals out“), stellen so die „letztendliche Macht der Öffentlichkeit“ dar.
Trotz ihrer herausgehobenen demokratietheoretischen Stellung ist jedoch zu beobachten, daß Wahlen heute diesem hohen Anspruch immer weniger gerecht zu werden scheinen. Anzeichen, die diese Behauptung untermauern, gibt es viele. Zwei der wichtigsten Symptome der Krise der Institution Wahlen sind die zum Teil dramatisch gesunkene Wahlbeteiligung in den meisten westlichen Demokratien sowie das Anwachsen systemkritischer Potentiale, vor allem auf dem rechten Rand des politischen Spektrums.
Ausgangspunkt für die Untersuchung, was die abnehmende Bereitschaft eines wachsenden Teils der Bevölkerung zur Teilnahme an Wahlen und die wachsende Tendenz zur Wahl systemkritischer politischer Kräfte bedeutet, sind Beobachtungen aus den Vereinigten Staaten. Deren Relevanz ergibt sich daraus, daß sich amerikanische Trends nach einiger Zeit häufig auch in anderen westlichen Demokratien niederschlagen. In ihrem Buch „Politics With Other Means“, das die abnehmende Bedeutung von Wahlen in den Vereinigten Staaten zu ergründen sucht, stellen Benjamin Ginsberg und Martin Shefter die These aüf, die Vereinigten Staaten seien in ein „postelektorales Zeitalter“ (postelectoral era) eingetreten. Nicht nur die geringe Beteiligung bei allgemeinen Wahlen, sondern auch das Fehlen eines echten Wettbewerbs zwischen Kandidaten für einen Sitz im Senat oder Repräsentantenhaus haben die Bedeutung von Wahlen beträchtlich verringert und die Austragung politischer Konflikte in andere Institutionen (z. B. die Gerichte) verlagert
Dabei ist die sinkende Bedeutung von Wahlen in den Vereinigten Staaten im direkten Zusammenhang mit Veränderungen im Gewicht und in der Rolle unterschiedlicher Institutionen, zu denen auch Wahlen zählen, zu sehen: „Die meisten Analysen der amerikanischen Politik gehen davon aus, daß Wahlen eine, herausragende Stellung einnehmen. Doch Wahlen sind politische Institutionen, und ihre Bedeutung kann nicht als gleichbleibend angenommen werden. Wahlen haben zu verschiedenen Zeiten eine unterschiedliche Rolle gespielt, und diese Veränderungen muß man genauso verstehen wie die Veränderungen der Rolle und der Macht anderer Institutionen.“
Die beiden Autoren weisen vor allem auf den Nexus zwischen der abnehmenden Bedeutung von Wahlen und dem verringerten politischen Gewicht und Einfluß der beiden großen politischen Parteien in den USA hin. Ähnliches läßt sich in anderen Demokratien beobachten. Der zunehmende Vertrauensverlust und damit politische Bedeutungsverlust von Parteien spiegelt sich in dem Schlagwort von der „Parteienverdrossenheit“ wider, die nicht nur auf die politische Szene der Bundesrepublik Deutschland beschränkt ist. Wachsende Parteienverdrossenheit wiederum führt zu einer steigenden Tendenz zur Wahlenthaltung und einer größeren Bereitschaft zur Protestwahl systemkritischer politischer Kräfte. Jedoch wäre es verkürzt, die zu beobachtenden Veränderungen im Wahlverhalten nur mit dem Vertrauensverlust der traditionellen und etablierten Parteien zu begründen. Vielmehr reflektieren sie auch einen Wandel im Verhältnis zwischen Parteien und Wählern, der sich vor allem bei Wahlen niederschlägt. Dieser Wandel ist wiederum Ausfluß und Ergebnis weitreichender Veränderungen im sozialen und kulturellen Gefüge hochentwickelter westlicher Gesellschaften. Beide Entwicklungsströme -der Vertrauens-und Bedeutungsverlust traditioneller Parteien sowie soziokulturelle Veränderungen der Wählerbasis -werden nachfolgend zur Erklärung des Wandels des institutioneilen Gewichts von demokratischen Wahlen zusammengezogen.
II. Die Entwicklung der Wahlbeteiligung in westlichen Demokratien
Ein kurzer Überblick über die Entwicklung des Wahlverhaltens in mehreren westlichen Demokratien in der Nachkriegszeit zeigt das Bild einer kontinuierlichen Abnahme der Wahlbeteiligung. Besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Nahmen noch 1952 rund 62 Prozent der wahlberechtigten amerikanischen Bevölkerung an den Präsidentschaftswahlen teil, so sank dieser Anteil im Wahljahr 1988 auf knappe 50 Prozent. Gleichzeitig fiel die Wahlbeteiligung bei Wahlen zum Kongreß von 58 auf knapp 45 Prozent, und bei den sogenannten „midterm elections" zwischen den Präsidentschaftswahlen sogar auf ein Drittel der Wahlberechtigten Eine ähnlich niedrige Wahlbeteiligung weist in Westeuropa nur die Schweiz auf. Dort gingen bei den letzten Nationalratswahlen im Jahre 1991 nur 46 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen. Doch sollte man dieses Ergebnis nicht überbewerten, da die Schweiz aufgrund der Tatsache, daß ihre Bürger jederzeit die Möglichkeit haben, Entscheidungen des Parlaments mittels des Instruments des Referendums zu annullieren, eine Sonderstellung unter den westlichen Demokratien einnimmt.
Doch auch in anderen westeuropäischen Demokratien läßt sich eine Tendenz zu sinkender Wahlbeteiligung feststellen, wenngleich weniger dramatisch als in den Vereinigten Staaten. So verringerte sich die Wahlbeteiligung in Großbritannien von einem Spitzenwert von 84 Prozent 1950 auf wenig mehr als 75 Prozent im Jahr 1987 ähnlich auch in Frankreich, wo die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen zwischen 1978 und 1988 von 83 auf 66 Prozent fiel, das niedrigste Ergebnis aller französischen Parlamentswahlen Weniger deutlich verringerte sich in Österreich die Wahlbeteiligung von mehr als 94 Prozent bei den ersten Wahlen 1945 auf knappe 86 Prozent bei den letzten Wahlen 1990
In der Bundesrepublik Deutschland erreichte die Wahlbeteiligung mit den ersten gesamtdeutschen Wahlen 1991 den vorläufigen Endpunkt eines Abwärtstrends, der nach der Rekordbeteiligung von mehr als 91 Prozent bei den Bundestagswahlen 1972 eingesetzt hatte und sich seither kontinuierlich fortsetzte. Mit knapp 78 Prozent im gesamten Bundesgebiet lag die Wahlbeteiligung sogar noch einen halben Prozentpunkt unter dem Ergebnis der ersten Bundestagswahlen im Jahre 1949. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich in Italien ab. Lag die Zahl der Nichtwähler sowie derjenigen Wähler, die leere oder ungültige Stimmzettel abgaben, bei den Parlamentswahlen 1946 noch bei knapp 19 Prozent, so verringerte sich zunächst der Prozentsatz beider Gruppen im Verlaufe der nächsten Wahlen beträchtlich, um dann aber ab 1976 wieder kontinuierlich zu steigen. Bei den diesjährigen Parlamentswahlen näherte sich der Nichtwähleranteil mit 17, 4 Prozent wieder dem Ergebnis der ersten Parlamentswahlen an
Die Entwicklung der Wahlbeteiligung zeigt auf, daß für eine steigende Anzahl der Bevölkerung der alte Spruch, Wahlrecht sei Wahlpflicht, seine mobilisierende oder zumindest sanktionierende Wirkung immer mehr verliert. Dies wird besonders in denjenigen Demokratien deutlich, wo dem Gesetz nach Wahlpflicht besteht. So weigerten sich unlängst bei den belgischen Parlamentswahlen über sieben Prozent der Wahlbevölkerung trotz Androhung empfindlicher Strafen, ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nachzukommen. Weitere sieben Prozent gaben leere oder ungültige Stimmzettel ab. Umfragen vor den Wahlen ermittelten, daß fast die Hälfte der Wähler am liebsten den Wahlurnen fernbleiben würde Diese und ähnliche Umfragen in anderen Ländern belegen eindrucksvoll, daß das Ausmaß der Wahlverdrossenheit anscheinend größer ist, als man aus der tatsächlichen Beteiligung bei den Wahlen schließen könnte.
Eine kürzliche Umfrage zur politischen Lage in Mailand, der bedeutendsten Stadt der Lombardei, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Stellung eine Schlüsselstellung in der politischen Entwicklung Italiens einnimmt, macht dies deutlich. Sie belegt den Aufstieg einer neuen „bedrohlichen und symbolischen Partei“, die der Nicht-wähler und der politisch Unzufriedenen, die ihrer Frustration durch leere und ungültige Stimmzettel Ausdruck verleihen. Diese „Partei“ ist gemäß Umfragen mit mehr als einem Drittel der Wahlberechtigten zur stärksten politischen Kraft in Mailand avanciert
Die gegenwärtigen Veränderungen des politischen Klimas in Italien könnten sich nicht nur hinsichtlich der dort zu beobachtenden dramatischen Ausweitung politischer Unzufriedenheit, die ihren Ausdruck in Wahlenthaltung fand, als paradigma-tisch für andere westeuropäische Demokratien erweisen. Auch der rasche, explosive Aufstieg systemkritischer politischer Kräfte bei Wahlen und die gleichzeitig dramatisch abnehmende Wähler-bindung der etablierten „historischen“ Parteien findet sich in anderen Demokratien wieder. Beispielhaft für diese Entwicklung ist die Lombardei, die mit der „Lega Lombarda“ eine der politisch wichtigsten neuen systemkritischen Bewegungen in Westeuropa hervorgebracht hat. Konnten die traditionellen politischen Parteien bei den Regionalwahlen 1970 99, 9 Prozent und 1985 immerhin noch 94 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, so schrumpfte dieser Anteil bei den Regionalwahlen 1990 auf knapp 70 Prozent der Stimmen zusammen Dieser Trend setzte sich im Winter 1991 fort, als bei den Kommunalwahlen in Brescia systemkritische Parteien und Wählervereinigungen, allen voran die Lega Lombarda, mehr als ein Drittel der Stimmen für sich verbuchen konnten, was zur zeitweisen Unregierbarkeit der Stadt führte Der Erfolg der Lega Lombarda bei den Parlamentswahlen, aus denen sie mit 20, 5 Prozent in der Lombardei als dort zweitstärkste Partei hervorging, stellte damit einen logischen Schlußpunkt einer sich seit längerem abzeichnenden Entwicklung dar. Ähnliche Tendenzen lassen sich, wenngleich weniger akzentuiert, auch in anderen Demokratien feststellen. So verringerte sich zum Beispiel in Großbritannien die Wählerbindung der beiden dominierenden Parteien zwischen 1951 und 1987 von 97 Prozent auf 72 Prozent In Österreich verringerte sich die Bindungskraft von ÖVP (Österreichische Volkspartei) und SPÖ (Sozialistische Partei Österreichs) von 94 Prozent bei den ersten Nachkriegswahlen 1945 auf knapp 75 Prozent bei den Parlamentswahlen 1990. Jedoch beziehen sich diese Zahlen auf die gültigen Stimmen. Bezieht man sie auf die Wahlberechtigten, so banden ÖVP und SPÖ 1990 mit 63 Prozent weniger als zwei Drittel der Wähler Die Entwicklung der Wähler-bindung der etablierten Parteien in der Bundesrepublik Deutschland verläuft ähnlich. Konnten CDU/CSU, SPD und FDP 1972 noch über 89 Prozent der Wahlberechtigten für sich gewinnen, so sank ihr Anteil bei den Bundestagswahlen 1987 auf knapp drei Viertel
Wie in Italien, so füllen auch in anderen Demokratien neue politische Formationen das Vakuum, das die etablierten Parteien hinterlassen. Zumeist definieren sie sich gerade aus der Opposition zu den etablierten Parteien. Waren diese neuen politischen Formationen in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre vor allem auf dem linken Rand des politischen Spektrums angesiedelt (grüne, alternative und andere links-libertäre Parteien) so ist am Ende der achtziger Jahre ein zum Teil sehr robustes Wiedererstarken extrem rechtsgerichteter Parteien festzustellen. Zu den prominentesten Vertretern dieser neuen Familie systemkritischer rechter Protestparteien zählen neben der italienischen Lega Lombarda der französische Front National, die Freiheitliche Partei Österreichs, die Schweizer Autopartei und die Tessiner Lega dei ticinesi, der belgische Vlaams Blök und, seit kurzem wieder, die deutschen Republikaner sowie die Fortschrittsparteien in Dänemark und Norwegen und die schwedische Neue Demokratiepartei Gemeinsam ist ihnen eine radikal rechtspopulistische Ideologie, die einerseits ausländerfeindliche Parolen, andererseits dezidiert neoliberale Forderungen nach einem drastischen Abbau staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft mit zum Teil an Diffamierung grenzenden Angriffen gegen die etablierten Parteien verbindet. Zusammen mit grünen und anderen links-libertären Parteien haben sie während der letzten zehn Jahre in zahlreichen Demokratien einen wachsenden Anteil der Stimmen auf sich vereinigen können und so neben der wachsenden Bereitschaft zur Wahlenthaltung beträchtlich zum Wählerschwund der etablierten Parteien beigetragen.
III. Parteienverdrossenheit und Protestwahl
Es gibt viele Anzeichen, daß beide Entwicklungen eng mit einem merklichen Vertrauensverlust der etablierten politischen Parteien sowie zunehmender Politikverdrossenheit verbunden sind. Zwar ist das Ansehen der politischen Parteien im Vergleich zu anderen Institutionen in den meisten Demokratien noch nie sehr groß gewesen doch scheint es in den letzten Jahren einen neuen Tiefpunkt erreicht zu haben. So erklärten 1985 in Frankreich fast drei Viertel der Befragten, sie hätten Vertrauen in die Polizei, 49 Prozent in den Präsidenten und 42 Prozent in das Parlament, jedoch nur ein Viertel bekundete sein Vertrauen in Politiker und weniger als ein Fünftel in die Parteien Ähnlich ist die Situation in Italien. Dort bekundeten Ende 1991 nur noch knapp sieben Prozent der Befragten ihr Vertrauen in die Parteien. Mehr als 50 Prozent hielten die traditionellen Parteien für unfähig, das Land aus der gegenwärtigen institutionellen und wirtschaftlichen Krise zu führen, während 46 Prozent meinten, durch eine Verringerung der Macht der Parteien könnte die Beteiligung des Bürgers am öffentlichen Geschehen entscheidend gestärkt werden Auch im Hinblick auf das wachsende Bedürfnis nach wirkungsvoller Partizipation vor allem bei der jüngeren Generation schneiden die italienischen Parteien schlecht ab. 1990 verneinten mehr als 40 Prozent der 20-bis 29jährigen die Frage, ob die Parteien die Beteiligung am öffentlichen Leben erleichterten
Im Vergleich zur Entwicklung in Frankreich und Italien ist das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die politischen und gesellschaftlichen Institutionen noch relativ hoch. So bekundeten 1989 immerhin 60 Prozent ihr Vertrauen in den Bundestag, 50 Prozent in die Bundesregierung und ganze 35 Prozent in die Parteien. Jedoch stehen, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern, die Parteien mit diesem Ergebnis am Ende der Vertrauensskala Unterzieht man die Beziehung zwischen Bürgern und den Parteien in Deutschland einer eingehenderen Prüfung, so ergibt sich wie in anderen westlichen Demokratien, „daß weite Teile der Bevölkerung die Abkopplungs-und Entfremdungstendenzen sowie den Mangel an Partizipationschancen, an Öffentlichkeit, Offenheit und Überschaubarkeit erkennen und mißbilligen“
Vergleicht man die Entwicklung der Wahlbeteiligung mit dem allgemeinen Vertrauensverlust der politischen Parteien, so kann man auch ohne systematische statistische Analyse eine direkte Beziehung zwischen beiden Variablen feststellen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, untersucht man die Gründe für die wachsende Neigung zur Wahl systemkritischer Parteien. So schätzen Italiener an der Lega Lombarda (falls sie eine positive Meinung zu ihr haben) vor allem ihren Kampf gegen die Parteienherrschaft. Es sollte deshalb nicht verwundern, daß die Ablehnung traditioneller Parteien einer der Hauptgründe für die Wahlentscheidung für die Lega darstellt. 1991 bezeichnete mehr als die Hälfte ihrer Wähler die Wahlentscheidung als einen Protest gegen das Parteiensystem und die Parteienherrschaft Studien der Erfolge der radikalen Rechten in Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, Norwegen und Dänemark kommen zu ähnlichen Ergebnissen Roland Höhne erklärt den Aufstieg des Front National zu einem beträchtlichen Teil mit dem Vertrauensverlust in die Glaubwürdigkeit und Problemlösungskompetenz der etablierten Parteien und dem daraus folgenden Anwachsen der Zahl von „Sanktionswählern“, die aus Enttäuschung über beide politischen Lager zum Front National überliefen
In ähnlicher Weise läßt sich der Aufstieg der FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) als ein Ergebnis zunehmender Parteienverdrossenheit erklären. 1986 begründeten 90 Prozent der Wähler, die von der SPÖ oder ÖVP zur FPÖ überwechselten, ihre Entscheidung damit, den beiden großen Parteien einen Denkzettel erteilen zu wollen Noch bei den Wahlen 1990, zu denen die FPÖ mit einer gefestigten Stammwählerbasis antrat, konzentrierte sich mehr als ein Drittel der Wahlmotive zugunsten der FPÖ „auf einen teilweise hochemotionalisierten Parteienärger bzw. eine akute, gelegentlich sogar militant vorgetragene , Denkzettelmentalität'“ Sie war für mehr als ein Drittel der Stamm-wähler und mehr als die Hälfte der Zuwanderer zur FÖP ausschlaggebend für ihre Entscheidung. Das Ergebnis der Wiener Gemeinderatswahlen im November 1991, die zu teilweise erdrutschartigen Verlusten der beiden großen Parteien führten, ist ein Beispiel für die potentielle Sprengkraft politischer Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien. Für 59 Prozent der Wähler der FPÖ (die als der große Gewinner aus der Wahl hervorging) -unter den Zuwanderem waren es sogar 70 Prozent-stellte der Vertrauensverlust in die beiden großen Parteien eines der Hauptmotive zur Wahl der Freiheitlichen dar
Aus diesem kurzen Überblick der Wahlentwicklung in mehreren westlichen Demokratien läßt sich eine merkliche institutionelle Schwächung der etablierten Parteien bilanzieren. Wachsende Parteienverdrossenheit'geht wiederum einher mit einem Bedeutungsverlust von Wahlen, so daß eine amerikanische Entwicklung mit all ihren negativen Nebenerscheinungen in Zukunft für Europa nicht ausgeschlossen erscheint. In einigen Fällen, allen voran Italien, ist es wohl nicht übertrieben, von einer Krise des repräsentativen Systems zu sprechen Doch vor einer Analyse der Bedeutung und möglichen Konsequenzen einer solchen Krise für den Bestand und den Zustand der Demokratie ist zu fragen, ob diese Krise allein, oder doch zum größten Teil, im Vertrauensverlust der etablierten Parteien begründet ist.
IV. Soziostruktureller Wandel und Auflösung der Parteibindung
1. Das Dealignment-Modell Führt der Erklärungsversuch der Parteienverdrossenheit wachsende Wählerapathie und Neigung zur Protestwahl systemkritischer Formationen maßgeblich auf den Vertrauensverlust der etablierten Parteien zurück, so macht ein zweiter Ansatz sie an grundlegenden Veränderungen in der soziostrukturellen Basis der Wählerschaft fest. Ganz allgemein geht die Wahlsoziologie davon aus, daß die Wahlentscheidung sowohl von makrosozialen (gesamtgesellschaftlichen) als auch von mikrosoziologischen (kleine Gruppen) und sozialpsychologischen Bestimmungsgründen geprägt ist. Folgt man einer erweiterten Lesart des einflußreichen Grund-modells von Seymour M. Lipset und Stein Rokkan so ist das Parteiensystem westlicher Demokratien im wesentlichen in vier Hauptkonflikten begründet, die sich während der Konsolidierungsphase des Nationalstaats (Zentrum versus Peripherie, Kirche versus säkularer Staat) sowie im Laufe und als Folge der industriellen Revolution (ländliche Gebiete versus neue urbane Zentren, Arbeitgeber versus Arbeitnehmer) herauskristallisierten und bis in die Nachkriegszeit hinein das Wahlverhalten entscheidend determinierten.
Nach diesem Modell bestimmen vor allem sozial-strukturelle Merkmale wie sozioökonomischer Status, Bildung, Konfession und der Wohnort sowie die Einbindung in klar abgesetzte soziale und kulturelle Milieus das Wahlverhalten. Je fester gefügt die soziokulturellen Milieus, je stärker die Gruppenbindungen und je ausgeprägter die Sozialisation und Kommunikation mit Meinungsführern und die durch sie vermittelten Informationen sind, desto beständiger gestaltet sich das Wahlverhalten. Dies ist vor allem der Fall, wenn Sozialisation und Beeinflussung durch Meinungsführer zu langfristigen, emotional verankerten Bindungen des einzelnen Wählers an eine bestimmte Partei und zur Identifikation mit ihren Wertvorstellungen und politischen Zielen führen. Das Ergebnis ist, daß auch Wähler mit einem weniger ausgeprägten politischen Interesse oder Informationsstand ein hohes Maß an politischer Verhaltensstabilität und -konsistenz aufweisen.
Zahlreiche empirische Untersuchungen belegen, daß sozialstrukturelle Gruppenbindungen und Parteiloyalität auch heute noch das politische Verhalten weiter Teile der Bevölkerung in westlichen Demokratien bestimmen. So erweisen sich vor allem die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft sowie die Kirchenbindung (gemessen an der Häufigkeit des Kirchgangs) als immer noch stabile und aussagekräftige Determinanten des Wahlverhaltens Auch die Parteiloyalität, obwohl hinsichtlich ihrer Bedeutung heftig umstritten, übt immer noch einen beträchtlichen Einfluß auf die Wahlentscheidung aus. So ermittelte vor kurzem eine Untersuchung dreier westeuropäischer Demokratien eine erstaunliche Stabilität langfristiger (emotionaler) Parteianbindung vor allem bei den Anhängern derjenigen Parteien, die aus den traditionellen Hauptkonfliktlinien hervorgingen
Jedoch sollte diese scheinbare Stabilität nicht darüber hinwegtäuschen, daß während der letzten Jahre das Verhältnis zwischen Parteien und ihrer Wählerbasis merklich in Bewegung geraten ist. Ein Absinken der Anzahl von Stammwählern der etablierten Parteien bei einem gleichzeitigen Anwachsen der Wählerfluktuation deuten auf einen Auflösungsprozeß traditioneller Parteiloyalitäten. In der Fachliteratur wird dieser Prozeß der Abkopplung der strukturellen und affektiven Verankerung der Parteien mit dem Begriff des Dealignment umschrieben Vor einer Untersuchung seiner potentiellen Konsequenzen ist jedoch zuerst nach den Ursachen des Wandels im Verhältnis zwischen Parteien und Wählern zu fragen. Dies ist um so notwendiger, als diese Entwicklung nicht ohne innere Widersprüche ist.
Untersuchungen über die Abschwächung traditioneller Parteibindungen machen vor allem zwei Entwicklungen für dieses Phänomen verantwortlich: auf der einen Seite Auflösungstendenzen der soziokulturellen Einbindung von Personen in soziale Gruppen und Milieus, wie sie generell in allen hochentwickelten westlichen Gesellschaften zu beobachten sind; auf der anderen die gestiegene kognitive Kompetenz vieler Wähler, was dieser Erklärung zufolge „den Bedarf für habituelle Partei-bindungen als Orientierungshilfen im politischen Raum reduziert“ Der folgende Ansatz faßt diese sowie weitere Erklärungsansätze zu einem erweiterten Interpretationsrahmen zusammen, der sich weitgehend auf Überlegungen zur soziokulturellen Entwicklung postindustrieller Gesellschaften stützt. 2. Soziostruktureller Wandel in der Informationsund Konsumgesellschaft Gängigen Interpretationsmustern zufolge lassen sich die letzten zwanzig Jahre als eine Periode des Übergangs von einer industriellen, warenproduzierenden Gesellschaft zu einer postindustriellen Informationsgesellschaft bezeichnen. Am augenfälligsten ist diese Entwicklung hinsichtlich des Strukturwandels innerhalb der drei Hauptsektoren der Volkswirtschaft. Waren 1950 noch ein Viertel der Erwerbstätigen der Bundesrepublik Deutschland in der Land-und Forstwirtschaft sowie der Fischerei beschäftigt, so waren dies 1989 nur noch knappe vier Prozent. Zur selben Zeit erhöhte sich der Anteil der im Dienstleistungsbereich Beschäftigten von knapp einem Drittel der Erwerbstätigen auf mehr als die Hälfte, während sich die Zahl der im warenproduzierenden Gewerbe Beschäftigten von 43 auf 40 Prozent verringerte. Betrachtet man das Verhältnis der Bruttowertschöpfung der ein-zelnen Sektoren zueinander, so vollzog sich der Übergang von einer industriell geprägten zu einer postindustriellen Gesellschaft in den siebziger Jahren mit einer allmählichen Abnahme des Anteils des sekundären Sektors an der Bruttowertschöpfung bei einem kontinuierlichen Anstieg des Dienstleistungssektors Zur selben Zeit kam es auch zu grundlegenden Veränderungen der Produktionskonzepte in der Industrie, die ein Ende der Massenproduktion und der Arbeitsteilung sowie eine Neuorientierung hin zu ganzheitlicher Arbeitsgestaltung in den Bereich der Wahrscheinlichkeit rückten
Begleitet wurde die allmähliche Verlagerung vom sekundären in den tertiären Sektor von einer Bildungsrevolution, die die rasche Ausbreitung und Anwendung neuer Technologien sowie die Verarbeitung des explosiv gewachsenen neuen Wissens während der letzten Jahre erst ermöglichte. Insgesamt ergab sich damit eine beträchtliche und breitangelegte Erhöhung des Bildungsniveaus vor allem der jüngeren Bürger, wobei die erheblich gesteigerten Anforderungen zur Erreichung eines Hauptabschlusses nicht vergessen werden dürfen. Die rasche Erweiterung der Bildungschancen ist eines der wichtigsten Ergebnisse des generellen Ausbaus des Wohlfahrtsstaates, wie er in der Nachkriegszeit kennzeichnend für die meisten entwickelten westlichen Industriestaaten war. So verdoppelte sich während der letzten Jahrzehnte nicht nur der Anteil der Transferleistungen am Bruttosozialprodukt, auch der Prozentsatz der Beschäftigten im öffentlichen Dienst stieg zum Teil sprunghaft an
Zweifellos führten die unaufhaltsame Tertiarisierung der Volkswirtschaft sowie der ungebremste Ausbau des Sozialstaats zu weitreichenden Veränderungen in den soziokulturellen Strukturen entwickelter westlicher Demokratien. So hatte der allmähliche Rückgang der relativen Bedeutung des industriellen Sektors bei gleichzeitigem Anstieg des Dienstleistungssektors eine stetige Abnahme der klassischen Arbeiterschaft (blue collar) mitsamt des von ihr geprägten und sie tragenden Milieus zur Folge. Gleichzeitig mit der Ausweitung des privaten Dienstleistungssektors sowie des öffentlichen Dienstes wuchs die Bedeutung der sog. neuen Mittelschicht, die eine strategisch wichtige Position in beiden Sektoren einnahm. Damit kam es nicht nur zur Erosion traditioneller Subkulturen, sondern auch zur Ausbreitung neuer, von der neuen Mittelschicht geprägter Lebensformen, die vor allem vom Anspruch auf konsumierbare Individualität und Exklusivität bestimmt sind und einen entscheidenden Einfluß auf die Herausbildung einer postindustriellen Konsumgesellschaft hatten
Als nicht weniger bedeutsam für die soziokulturelle Entwicklung moderner westlicher Demokratien hat sich der Ausbau des Sozialstaats erwiesen. Zum einen erhöhten die Leistungen des Sozialversicherungssystems nicht nur das materielle Sicherheitsgefühl weiter Teile der Bevölkerung, sondern sie trugen auch zu einer realen Stabilisierung und stetigen Erhöhung des Masseneinkommens bei Indem er die Masse der Bevölkerung der Furcht vor der plötzlichen, individuellen materiellen Krise enthob, trug der Sozialstaat zur Entwicklung moderner Industriestaaten hin zur postindustriellen Konsumgesellschaft bei. Zum anderen förderten steigender materieller Wohlstand und erhöhte soziale Sicherheit die Auflösung traditioneller, „ständisch gefärbter, klassenkultureller Lebenswelten“. Ein wachsender Teil vor allem der jüngeren Bevölkerung wurde „in einem historischen Kontinuitätsbruch aus traditionalen Klassenbindungen und Versorgungsbezügen der Familie herausgelöst und verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles (Arbeitsmarkt-) Schicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen“ Verstärkt wurden diese Tendenzen noch durch die Erweiterung der Bildungschancen, als deren Folge einerseits traditionelle Denkweisen und Lebensformen durch „universalistische Lehr-und Lernbedingungen, Wissensinhalte und Sprachformen“ ersetzt, andererseits durch die bildungspolitische Betonung individueller Leistung und individuelle Leistungsnachweise als Voraussetzung für den Zugang zu „individualisierten Bildungspatenten und Arbeitsmarktkarrieren“ bereits bestehende Individualisierungsprozesse weiter vorangetrieben wurden
Betrachtet man die soziokulturelle Entwicklung hochentwickelter westlicher Demokratien während der letzten Jahre, so bietet sich einerseits das Bild der Erosion, Auflösung oder Verflüssigung etablierter Weltbilder, traditioneller Lebensformen und gewachsener Milieus und Subkulturen, andererseits das der Herausbildung neuer Wertvorstellungen, multipler Identitäten und pluraler Lebensformen Dabei trugen sowohl das gestiegene Bildungsniveau weiter Teile vor allem der jüngeren Bevölkerung als auch die explosionsartige Ausweitung des Informationsangebots (vor allem durch die Medien) entscheidend zur Herausbildung neuer Lebensstile bei. 3. Soziostruktureller Wandel und Wahlverhalten Zweifellos wirkten sich diese soziokulturellen Veränderungen auch auf das Wahlverhalten aus. Die Erosion von Subkulturen und die damit einhergehende Auflösung von Gruppenbindungen hatten zur Folge, daß sich die traditionellen politischen Hauptkonfliktlinien abschwächten, was unweigerlich zu Wählerverlusten derjenigen Parteien führen mußte, die aus diesen Konflikten hervorgingen. Dies betrifft vor allem solche Parteien, die entweder in konfessionell oder in sozialistisch geprägten Subkulturen verankert sind, was die zum Teil erdrutschartigen Verluste vor allem kommunistischer, aber auch christdemokratischer Parteien zum Beispiel in Frankreich, Italien oder Österreich erklärt. Doch gelang es den etablierten politischen Parteien, ihre Verluste in Grenzen zu halten, indem sie sich neue Wählerschichten eröffneten. Somit führte die Auflösung überkommener Subkulturen wohl weniger zu Dealignment-Prozessen als vielmehr zu einer Reduzierung traditioneller Stammwählerschaften, wie auch zu einer Konzentration von Stammwählern in einigen traditionellen Kerngruppen (z. B.der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft oder Frauen mit starker Kirchenbindung) oder sich neu herauskristallisierenden Gruppen (z. B. Beschäftigte im öffentlichen Dienst).
Von unweit größerer Bedeutung hinsichtlich ihres Einflusses auf Veränderungen im Wahlverhalten hat sich jedoch die Erweiterung der Bildungschancen sowie die explosive Ausweitung der Informationsquellen erwiesen. Ein steigendes Bildungsniveau erhöht die Fähigkeit der Wähler, komplexe soziale und politische Prozesse zu verstehen, ein erweitertes Informationsangebot reduziert die Kosten politischer Information. Beides zusammen entbindet die Wähler der Notwendigkeit, auf Parteien und Meinungsführer als politische Orientierungshilfen zurückgreifen zu müssen Die so gewonnene kognitive Kompetenz eröffnet neue Möglichkeiten individueller politischer Partizipation mit weitreichenden Folgen für die Bedeutung und Bewertung von Wahlen: Je „gesicherter Demokratie und Sozialstaat erscheinen und je mehr sich Normen der individuellen Partizipation ausbreiten, um so mehr dürfen Wahlen als jeweils neuzuüberlegende persönliche Entscheidung verstanden werden, als bewußte Auswahl zwischen Personen und einzelnen aktuellen Anliegen“ Das Endresultat ist eine Zunahme der Anzahl von parteipolitisch ungebundenen Wechselwählern, die ihre Wahlentscheidung rational aufgrund von politischen Nutzenkalkülen treffen
Eine zentrale Rolle spielt in dieser Entwicklung die neue Mittelschicht. Obwohl sie keineswegs eine homogene soziale Gruppe darstellt, unterscheidet sie sich vor allem wegen ihres Bildungsniveaus und der damit verbundenen neuen Verhaltensformen und Lebensstile von anderen Gesellschaftsschichten. So sind sowohl die Ausbreitung postmaterieller Wertvorstellungen als auch die wachsende politische Bedeutung direkter Partizipation unter der Flagge neuer sozialer Bewegungen eng mit dem Aufstieg der neuen Mittelschicht verbunden Jedoch ist es nicht nur ihre ausgeprägte kognitive Kompetenz, die vor allem die Gruppen mit den höchsten Bildungsabschlüssen in der neuen Mittelschicht eine Vorreiterrolle in bezug auf neue Politikformen und -Verhaltensweisen einnehmen läßt. Auch ihr Anspruch auf Individua-lität und plurale Lebensstile, der sie zu Konsumenten par excellence auf den neuen individuellen Waren-, Informations-und Unterhaltungsmärkten macht, verändert das Gesicht der politischen Landschaft in den entwickelten Gesellschaften des postindustriellen Westens. Dies zwingt auch etablierte Parteien, Marktforschung und Imagepflege zu betreiben, um sich in den Medien öffentlichkeitswirksam zu vermarkten. Politik wird immer mehr zu einer Ware unter anderen, die sich dann am besten verkauft, wenn sie nicht nur Inhalt, sondern auch Unterhaltungswert besitzt. 4. Der politische Markt der Informations-und Konsumgesellschaft Gegenwärtig wird der politische Markt westlicher Demokratien im großen und ganzen von vier klar identifizierbaren Einflußgrößen beherrscht. Zum einen von den etablierten Großparteien, deren Angebot sich im wesentlichen auf langsamen und kalkulierten Wandel bei möglichst weitreichender . Bewahrung des Erreichten beschränkt zum anderen von der Vision einer radikal veränderten multikulturellen, ökologisch orientierten und sozialverträglichen Gesellschaft grüner und sonstiger linkslibertärer Provenienz; zum dritten vom nicht weniger radikalen Entwurf einer homogenen, eurozentrischen und weitgehend marktbeherrschten Gesellschaft rechts-populistischer Parteien; schließlich von neuen monothematischen Interessengruppen wie den italienischen und französischen Jägerlisten, den italienischen Pensionisten, den schweizer Anti-Einwanderungsparteien, oder auch von politischen Alleinunterhaltern wie Moana Pozzis Partei der Liebe, oder der Liste Jean-Pierre Rossems, die bei den letzten belgischen Wahlen drei Parlamentssitze errang. In den letzteren drei politischen Gruppierungen artikuliert sich zum einen die Herausforderung an die etablierten Parteien und das überkommene Parteiensystem, zum anderen der Protest gegen sie.
Falls die Dealignmenthypothese das Aufkommen politischer neuer Formationen zutreffend erklärt, wäre zu erwarten, daß ihre Anhänger und Wähler vornehmlich sowohl in den höher gebildeten Teilen der neuen Mittelschicht als auch in Wähler-schichten mit schwach ausgebildeten oder noch nicht entwickelten oder aufgelösten soziostrukturellen Bindungen konzentriert sind. Zahlreiche Untersuchungen belegen, daß diese Merkmale auf und die Anhänger Wähler grüner und anderer linkslibertärer Parteien zutreffen Ihre Anhänger und Wähler rekrutieren sich vor allem aus den jüngeren Jahrgängen mit höheren Bildungsabschlüssen. So hatten 1990 fast drei Viertel der Wähler der österreichischen GRÜNEN das Abitur bzw. einen Hochschulabschluß In allen untersuchten Ländern kommt ein im Vergleich zu anderen Parteien überproportionaler Anteil aus dem Angestelltenbereich, und dabei wieder (vor allem in Skandinavien, aber auch in Frankreich) aus dem öffentlichen Dienst. In Norwegen zum Beispiel kamen 1989 mit 35 Prozent mehr als doppelt so viele Wähler der sozialistischen Linkspartei aus diesem Sektor als aus dem privaten Angestelltenbereich. Ein ähnliches Bild bot die dänische sozialistische Volkspartei, die 1987 ein Drittel der Wähler aus dem öffentlichen Dienst für sich gewinnen konnte Schließlich haben Untersuchungen der deutschen GRÜNEN sowohl auf die schwache soziokulturelle Einbindung ihrer Anhänger als auch auf ihre zum Teil nicht erfüllten Statuserwartungen (bis hin zur Arbeitslosigkeit) hingewiesen
Bieten grüne und andere links-libertäre Parteien das Erscheinungsbild relativer soziostruktureller Geschlossenheit und Homogenität, so reflektieren radikal rechtspopulistische Parteien die Fragmentierung postindustrieller Gesellschaften. Dies heißt jedoch nicht, daß es nicht möglich ist, Schwerpunkte festzustellen. Generell weisen radikal rechtspopulistische Parteien eine überproportionale Anziehungskraft auf jüngere, vor allem männliche Wähler auf. Dies trifft u. a. auf die norwegische Fortschrittspartei zu, deren Kemwählerschaft am Ende der achtziger Jahre die jüngsten Wähler waren. In dieselbe Richtung geht die Entwicklung bei der FPÖ, die bei den Wiener Landtagswahlen mit 26 Prozent der Wähler unter 30 Jahren nur knapp hinter der SPÖ, aber noch vor den Grün-alternativen und weit vor der ÖVP blieb und neuesten Umfragen zufolge bei den 19-bis 29jährigen auf 32 Prozent der Stimmen kommt Ähnliches gilt für die Autopartei und die Lega dei ticinesi, die Neue Demokratiepartei und den Vlaams Blök sowie, wenn auch in einem geringeren Maße, für den Front National und die Lega Lombarda
Von ihrer sozialen Basis her sind die meisten neuen rechtspopulistischen Parteien „interklassistisch“, das heißt sie sprechen alle sozialen Klassen und Schichten an, schwerpunktmäßig jedoch vor allem Selbständige und Angestellte im privaten Sektor sowie Facharbeiter, an-und ungelernte Arbeiter und Arbeitslose Vor allem die FPÖ und die norwegische Fortschrittspartei, aber auch die dänische Fortschrittspartei, der Vlaams Blök und, seit 1986, der Front National rekrutieren einen beträchtlichen Teil ihrer Wähler aus der Arbeiterschaft. Radikal rechtspopulistische Parteien stehen insofern zwischen den traditionellen Rechts-und Linksparteien und entziehen beiden Lagern gleichermaßen Wähler. Individuelle Untersuchungen lassen darauf schließen, daß soziale Auflösungserscheinungen und Bindungsverlust die Wahl rechtspopulistischer Parteien begünstigen. So erzielte der Vlaams Blök bei den letzten Wahlen beträchtliche Zugewinne bei enttäuschten ehemaligen sozialistischen Wählern mittleren Alters und mit geringer Bildung, während ältere Arbeiter, „zweifellos geprägt von der Tradition der Arbeiterkämpfe und vom Widerstand“, den Sozialisten die Treue hielten
Soziostruktureller Wandel könnte auch den relativ großen Anteil an Arbeitern unter den Wählern der dänischen Fortschrittspartei erklären. Vieles spricht dafür, daß es sich dabei um Personen handelt, die in den sechziger und siebziger Jahren aus der Landwirtschaft in die Industrie oder in mittelständische Betriebe überwechselten. Unter dem Einfluß einer individualistischen Arbeitsethik und Produzentenmentalität und einer „klassischen liberalen Ideologie der Autonomie des Individuums und der Interessengemeinschaft zwischen Arbeit und Kapital“ verweigerten sich diese Arbeiter nicht nur dem Geist kollektiver Solidarität und den Gewerkschaften, sondern wiesen auch eine ausgeprägte Aversion gegen den Staat auf Diese Einstellung ist identisch mit dem Kern der politischen Ideologie der Fortschrittspartei.
Sozialer Bindungsverlust ist auch zur Erklärung des Aufstiegs des Front National herangezogen worden. So weist Dietmar Loch auf die Bedeutung der von mangelnder Integration in die städtische Gemeinschaft geprägten Neubauviertel großer Städte für die Wahlerfolge Le Pens hin. Unter ihren Bewohnern finden sich nicht nur die Angehörigen der neuen, mobilen Mittelschicht in ihren Einfamilienhäusern, sondern auch die Opfer der französischen Zweidrittelgesellschaft in den Sozialwohnungsghettos, die durch den Zerfall des sozialen Netzwerks der kommunistischen Linken zusätzlich geschwächt sind, was sie für die nationalpopulistische Ideologie Le Pens um so empfänglicher macht
V. Die Zukunft der Demokratie
Dieser kurze Überblick über die Wählerbasis linker und rechter Alternativen zu den etablierten Parteien deutet darauf hin, daß diese Parteien in nicht geringem Maße das Produkt eines grundlegenden soziokulturellen Wandels entwickelter westlicher Demokratien und eines mit ihm einhergehenden Dealignment-Prozesses darstellen. Dabei verdient der hohe Prozentsatz von Erst-und Jungwählern unter den Wählern sowohl grüner und anderer linkslibertärer Parteien als auch besonders radikal rechtspopulistischer Parteien besondere Beachtung. Er ist ein Anzeichen für die Erosion überkommener Grundmuster der politischen Sozialisation über die Familie und das sozial-kulturelle Milieu. Zum anderen sei darauf hingewiesen, daß es radikal rechtspopulistischen Parteien zum Teil gelungen ist, frühere Nicht-und Wechselwähler, die in vorhergegangenen Wahlen von einem politischen Lager ins andere überwechselten, ohne dort heimisch zu werden, für sich zu gewinnen In Anbetracht der steigenden Neigung zur Wahlenthaltung sowie zur Wahl systemkritischer, wenn nicht systemablehnender Parteien ist das Ergebnis dieses Wandels nicht unbedingt der aufgrund von politischen Sachfragen und Nutzen-kalkülen urteilende und entscheidende rationale Wähler. Vielmehr haben gestiegene kognitive Kompetenz und die Auflösung traditioneller Milieus und sozialer Bindungen teils zu einem Bedeutungsverlust von Politik, von Parteien und damit auch von Wahlen, oder zumindest zur Suche nach neuen, alternativen Politikformen geführt, teils zu politischer Verunsicherung und Orientierungslosigkeit und dem Verlangen nach einfachen Lösungen.
Dabei schließen sich der Dealignment-Ansatz und die Annahme einer Parteienverdrossenheit zur Erklärung der Veränderungen im Wählerverhalten nicht gegenseitig aus. Sie ergänzen sich eher. Das trifft nicht nur auf die Wähler radikal rechtspopulistischer Parteien zu, sondern auch auf die Wählerschaft grüner und anderer links-libertärer Parteien. So begründete bei den österreichischen Nationalratswahlen 1990 immerhin ein Drittel der Gesamtzahl der Grünwähler und ein Viertel ihrer Stammwähler ihre Entscheidung damit, den beiden Großparteien einen Denkzettel geben zu wollen Jedoch ist es besonders radikal rechtspopulistischen Parteien gelungen, sowohl Statusängste als auch neue Erwartungen, die sich beide aus dem gesellschaftlichen Wandel ergeben, gegen die etablierten Parteien zu mobilisieren. Es darf nicht übersehen werden, daß sich ihre Klientel nicht nur auf die zum Teil jungen Verlierer des Modernisierungsprozesses aus der Arbeiterschaft beschränkt, die etablierte Parteien und Gewerkschaften gleichermaßen für ihre Lage verantwortlich machen, sondern durchaus auch einen Teil der aufstiegs-orientierten neuen Mittelschicht einschließt, die im marktorientierten Programm des radikalen Rechtspopulismus eine politische Chance für ihren individuellen Aufstieg und damit eine politische
Alternative zu den auf Bewahrung bedachten etablierten Parteien sieht.
Ein potentielles Ergebnis dieser Entwicklung ist die fortdauernde Zersplitterung der Parteienlandschaft mit weitreichenden Folgen für die Zukunft der Demokratie. Dabei geht es weniger um die Frage, ob Wählerapathie und Wählerprotest der Legitimität des politischen Systems abträglich sind. Norwegische Untersuchungen haben zum Beispiel ergeben, daß sich das politische Vertrauen der norwegischen Bevölkerung deutlich erhöhte, nachdem die Fortschrittspartei ins Parlament gelangt war Vielmehr stellt sich die Frage nach der Gewährleistung politischer Funktions-und Entscheidungsfähigkeit westlicher Demokratien, die, betrachtet man zum Beispiel die Entwicklung in Belgien, Italien, Frankreich oder auch in einer jungen Demokratie wie Polen, immer mehr gefährdet erscheinen. Es ist zu erwarten, daß eine weitere Abnahme der politischen Funktionsfähigkeit bereits vorhandene Apathie und Zynismus bei den Wählern nur verstärken wird, wie dies bereits in den Vereinigten Staaten zu beobachten ist.
Damit stellt sich erneut die Frage nach institutionellen Reformen, die, wenn sie auch vielleicht wenig zum Abbau der Politikverdrossenheit beitragen würden, so doch die Funktionsfähigkeit von Parlament und Regierung erhöhen könnten Zu denken wäre vor allem an die allgemeine Einführung einer Sperrklausel wie in der Bundesrepublik Deutschland oder sogar von einem Mehrheitssystem nach britischem Vorbild bei gleichzeitiger Erweiterung der direkten Einflußmöglichkeiten der Bürger auf die Politik. Dies entspräche nicht nur dem Anspruch von Wahlen, regierungsfähige Mehrheiten zu schaffen, sondern auch der veränderten Stellung von Politik, die immer mehr mit anderen Themen und Unterhaltungsformen um das Interesse des Bürgers konkurrieren muß und so auch in Zukunft an Gewicht und Bedeutung verlieren dürfte.