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Die Geschichtswissenschaft in der DDR. Kritische Reflexionen | APuZ 17-18/1992 | bpb.de

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APuZ 17-18/1992 Neubeginn in der ostdeutschen Geschichtswissenschaft. Bilanz nach dem Zusammenbruch der DDR Geschichtswissenschaft im SED-Staat. Erfahrungen eines „bürgerlichen“ Historikers in der DDR Entwicklungschancen und -barrieren für den geschichtswissenschaftlichen Nachwuchs in der DDR Die Geschichtswissenschaft in der DDR. Kritische Reflexionen

Die Geschichtswissenschaft in der DDR. Kritische Reflexionen

Wolfgang J. Mommsen

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die demokratische Revolution in Osteuropa, deren Ergebnis und Höhepunkt die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gewesen ist, ist in allem Wesentlichen das Werk des beharrlichen Drängens der Dissidenten in den osteuropäischen Ländern gewesen. Im Unterschied zu den Ländern Osteuropas haben Historiker, namentlich solche in Positionen an den Universitäten und Forschungsinstituten, in den Bürgerbewegungen der DDR so gut wie keine Rolle gespielt, ja überwiegend das bestehende SED-Regime bis zur letzten Minute unterstützt. Dieses Verhalten wirft ein Schlaglicht auf die Geschichtswissenschaft in der DDR, die einem langen Prozeß der Indienstnahme durch das SED-Regime unterworfen gewesen ist. Dies gilt vor allem für die ideologische Ausrichtung der Geschichtswissenschaft, die in das Prokrustesbett des Marxismus-Leninismus hineingezwungen und infolgedessen teilweise von den Quellen spontanen historischen Interesses abgeschnitten wurde und einen Teil ihrer Vitalität einbüßte. Dennoch hat die Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR auch unter diesen restriktiven Bedingungen beachtliche Forschungsleistungen erbracht. Gleichwohl wird eine weitreichende Reorganisation der Geschichtswissenschaft in den neuen Bundesländern erforderlich sein. Davon abgesehen besteht ein dringendes Bedürfnis zur Erforschung der jüngeren deutschen Geschichte im internationalen Zusammenhang, insbesondere aber der Gechichte der DDR, auch im Interesse des Zusammenwachsens der beiden Teile Deutschlands. Dies erfordert die enge Zusammenarbeit von Historikern aus den neuen Bundesländern und der alten Bundesrepublik, denn nur so kann ein neues, der gegenwärtigen Weltlage angepaßtes Geschichtsbild entstehen.

I.

Die demokratische Revolution in Osteuropa war zum wenigsten das Werk des Westens. Sie war in erster Linie das Werk jenes kleinen Häufleins von polnischen, ungarischen, tschechischen und schließlich auch russischen Dissidenten, die in einem zähen und für sie selbst verlustreichen Ringen den bürokratischen Sozialismus so lange bloßstellten, bis seine innere Unwahrheit und Hohlheit nicht länger übersehen werden konnte. Von einem bestimmten Punkt an waren diese Regime auch mit Terror und Gewalt nicht mehr zu behaupten, obschon es an deren reichlichen Gebrauch gewiß nicht gefehlt hat, wie wir mit immer größerer Bestürzung den täglich neuen Enthüllungen über die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes in der ehemaligen DDR entnehmen können.

Die Dissidentenbewegungen haben die posttotalitären Regime in Osteuropa nur deshalb überwinden können, weil sie sich dafür entschieden, auch auf die Gefahr persönlicher Verfolgung hin „in der Wahrheit zu leben“, wie dies Vaclav Havel so eindrucksvoll gesagt hat. Nicht konspirative Tätigkeit oder die Anwendung von revolutionärer Gewalt hat diese Regime gestürzt, sondern die Tatsache, daß eine wachsende Zahl vornehmlich von Schriftstellern, Künstlern, Theologen -Menschen, die wir gemeinhin als Intellektuelle bezeichnen -sich entschieden, das bestehende Lügensystem herauszufordern und die Öffentlichkeit dazu zu zwingen, schrittweise den wirklichen Problemen und den schweren Mängeln der herrschenden Systeme des realen Sozialismus ins Auge zu sehen, statt sich weiterhin, nicht zum geringsten Teil als Weg des geringsten Widerstandes, der Herrschaft der Lüge zu unterwerfen.

Dabei standen insbesondere in Polen, in der Tschechoslowakei und in Ungarn vielfach Historiker in der vordersten Front der Dissidentenbewegungen; viele von ihnen büßten ihre akademischen Stellungen ein und schlugen sich mit unterschiedlichsten Tätigkeiten durch, ohne doch deshalb ihre Grundüberzeugungen aufzugeben. Nicht zufällig haben sie demgemäß auch in der Phase der Rekonstruktion der Historie in ihren Ländern nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft eine wichtige Rolle gespielt.

Demgegenüber ist mit einigem Bedauern festzustellen, daß es in der ehemaligen DDR nur in einem vergleichsweise bescheidenerem Umfang zur Ausbildung von Dissidentenbewegungen gekommen ist; hinsichtlich ihrer Stärke und Entschlossenheit sind diese mit jenen in den ostmitteleuropäischen Staaten nicht vergleichbar. In der DDR waren es überwiegend nur Künstler, Schriftsteller und Theologen, die sich in den Bürgerbewegungen engagierten, also Gruppen, die einen gewissen gesellschaftlichen Freiraum besaßen, während die große Mehrzahl der Intellektuellen -und mit ihnen insbesondere die Historiker -angesichts ihres vergleichsweise privilegierten Status, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine offene Konfrontation mit dem bestehenden Lügensystem nicht gewagt haben.

Die große Mehrheit der Historiker, jedenfalls jene in den führenden akademischen Positionen, hat das SED-Regime bis zum letzten Augenblick unterstützt. Nur wenige Historiker in der ehemaligen DDR haben es vermocht, sich gegenüber dem System innerlich ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Aber sie wurden wenn nicht gar aus Amt und Würden vertrieben, so doch an den Rand des akademischen Systems abgedrängt, zumal sie zumeist ohnehin in Fachgebieten arbeiteten -oder arbeiten mußten -, die mehr oder minder fernab von gegenwartsbezogener politischer Geschichtsschreibung lagen. Auf diese Weise wurden sie an einem effektiven Wirken in den Hochschulen oder in der Öffentlichkeit weitgehend gehindert.

Es steht uns im Westen, die wir, ohne unser eigenes Verdienst, in den vergangenen Jahrzehnten unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft gelebt und geschrieben haben, nicht an, über diesen Sachverhalt den Zeigefinger zu erheben und uns als die moralisch Überlegenen aufzuspielen. Es ist sehr die Frage, ob die Historiker in den westlichen Teilen Deutschlands unter den Bedingungen politischer Oppression und massiver Beschneidung der Meinungs-und Informationsfreiheit wirklich so anders reagiert hätten. Das historische Präzedens der Geschichtsschreibung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus spricht nicht eben dafür. Allein, ebensowenig geht es an, über diese Dinge heute einfach hinweg -und zur Tagesordnung überzugehen.

II.

Die gegenwärtige äußerst schwierige Lage der Historiker in den neuen Bundesländern sowie die inneren und äußeren Behinderungen, die einer wirklichen Neuorientierung von Forschung und Lehre im Fach Geschichte im Wege stehen, hängen mit eben dem Umstand zusammen, daß die Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR in den 45 Jahren des Bestandes der SED-Herrschaft in noch höherem Maße im Sinne der Vorstellungen des Regimes umgestaltet worden ist, als dies in den ostmitteleuropäischen Ländern der Fall war. Sie galt als Disziplin, die dem „realen Sozialismus“

eine historische Legitimation zu verschaffen bestimmt war. Demgemäß wurde sie vom SED-Regime -im Vergleich zu anderen Bereichen von Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur -vergleichsweise gut ausgestattet; sie verfügte über zahlreiche große Forschungsinstitute und eine überreichliche Zahl von Wissenschaftlerpositionen zu auskömmlichen Bedingungen.

Die heute langsam zutage tretenden Fälle, in denen führende Historiker an den Universitäten der ehemaligen DDR an den Maßregelungen von Studenten oder Mitgliedern des Lehrkörpers mitgewirkt haben, die gegen einzelne Aktionen des Regimes protestiert hatten -wie die Ausbürgerung Wolf Biermanns oder die militärische Intervention in der Tschechoslowakei nach dem „Prager Frühling“ -, werfen ein bezeichnendes Licht auf die Lage der Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR. Es ist davon auszugehen, daß sich, anders als bei den osteuropäischen Nachbarn, Dissidenten innerhalb der staatlich alimentierten akademischen Geschichtswissenschaft nicht oder nur in verschwindendem Umfang haben halten können. Hier bot die freiwillige oder die mehr oder minder, sei es durch Maßnahmen des Regimes, sei es durch die Umstände, erzwungene Abwanderung nach Westen den gegebenen Ausweg. Die zurückbleibenden Wissenschaftler sahen sich um so stärker den Reglementierungen und dem Druck des Regimes ausgesetzt.

Im Zuge der Universitätsreform der sechziger Jahre gelang es der SED, die bürgerlichen Historiker, die anfänglich im Lehr-und Forschungsbetrieb unentbehrlich gewesen waren, nach und nach durch Historiker zu ersetzen, die dem Regime wohlwollend gegenüberstanden, auch wenn sie durchaus nicht immer auf den Marxismus-Leninismus eingeschworen waren. Auch späterhin hat es an Richtungskämpfen innerhalb der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung keineswegs gefehlt, die indirekt auch der Abwendung allzu doktrinärer Forderungen der SED-Führung galten. Aber wie immer man dies auch beurteilen mag -die Willfährigkeit, mit der sich ein Teil der Historikerschaft nicht nur den ideologischen Vorgaben des Regimes mehr oder minder willig unterwarf, sondern selber daran mitwirkte, diese in der Praxis der Universitäten und Forschungsinstitute durchzusetzen, bleibt ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Geschichtswissenschaft, das dringend einer wissenschaftlichen Aufarbeitung bedarf.

Es ist einzuräumen, daß dies anfänglich geschah, weil einige der führenden marxistisch-leninistischen Historiker, deren wissenschaftliche Qualifikation an und für sich außer Frage stand, wie beispielsweise Ernst Engelberg, Joachim Streisand, Walter Markov oder Werner Berthold, tief davon überzeugt waren, daß nur eine sozialistische Gesellschaftsordnung in der Lage sei, eine Wiederkehr faschistischer Herrschaftsverhältnisse auf deutschem Boden auf Dauer zu verhindern. Diese Gesinnung verdient unseren Respekt, auch wenn sie, wie wir heute wissen, grundfalsch gewesen ist und auf historiographischen Prämissen beruhte, die in wesentlicher Hinsicht irreführend waren.

Späterhin wurde der Antifaschismus freilich zu einer ideologischen Fassade, die ausschließlich der Selbstrechtfertigung des Regimes diente und die dazu bestimmt war, die Reglementierung der Geschichtswissenschaft zu legitimieren

Die Vertretung sozialistischer Überzeugungen als solcher konnte und kann auch heute nicht als Argument dienen, um die wissenschaftliche Qualität der Geschichtswissenschaft der ehemaligen DDR in Zweifel zu ziehen. Jedoch läßt sich nicht länger bezweifeln, daß die Positionen der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung seit den späten sechziger Jahren mit zunehmender Stringenz zum Richtmaß für die thematische und inhaltliche Ausrichtung der Geschichtswissenschaft gemacht wurden. Dies geschah unter Berufung darauf, daß die marxistische Geschichtsschreibung dem Grundsatz 1 der Parteilichkeit für die Klasse der Arbeiterschaft -als der objektiv den historischen Fortschritt repräsentierenden gesellschaftlichen Klasse -verpflichtet sei, und zwar nicht einfach nur aus Gründen politischer Natur, sondern weil sich dies zwingend aus der Theorie des Marxismus-Leninismus ergebe.

Hier lag der Ansatzpunkt für eine weitgehende Reglementierung der Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR im Sinne des bestehenden Systems. Diese war allerdings überwiegend nur in negativer Hinsicht erfolgreich, nämlich in einer Nivellierung und Bürokratisierung des Forschungsbetriebs, während originelle marxistische Geschichtsdeutungen großen Stils allenfalls von Einzelgängern hervorgebracht wurden, die dann in aller Regel prompt mit dem Regime und seinen historiographischen Zensoren in Konflikte verwikkelt wurden, wie sich beispielsweise am Schicksal Jürgen Kuczynskis zeigen ließe, der nur dank seiner engen persönlichen Beziehungen zu Honecker seine eigenen Wege gehen durfte.

Auch in der westlichen, und insbesondere in der bundesrepublikanischen Forschung war es unumstritten, daß das klassische Rankesche Postulat der unbedingten Objektivität historischer Forschung nur eine Seite des historischen Denkens betrifft, nicht aber die andere gleich wichtige, nämlich daß alle historische Wahrnehmung immer schon unter bestimmten Perspektiven steht und Geschichtsschreibung stets auf bestimmte letzte Positionen erkenntnistheoretischer, gesellschaftlicher oder politischer Art zurückbezogen ist Dies will freilich weder heißen, daß historische Erkenntnis zwangsläufig parteilich ist, noch daß ihre Ergebnisse beliebiger, vom jeweiligen Standpunkt des Historikers abhängiger Natur sind.

III.

Die Position der Perspektivengebundenheit der historischen Forschung ist in den vergangenen Jahrzehnten in der Bundesrepublik in im einzelnen unterschiedlicher Weise insbesondere von einer starken Gruppe von Historikern der mittleren Generation vertreten worden, die seit Ende der fünfziger Jahre in akademische Positionen einrückten.

Sie drängten auf eine entschiedene Revision der • neueren deutschen Geschichte unter freiheitlich-demokratischen Gesichtspunkten, durchaus im Gegensatz zu der herkömmlichen historistischen Denkweise, die objektive Erkenntnis kraft voraussetzungsloser verstehender Forschung zu erreichen hoffte. Freilich ließen sie bei aller Anerkenntnis der Tatsache, daß historische Forschung stets perspektivengebunden und in gewissem Betracht interessegeleitet ist, doch niemals Zweifel darüber aufkommen, daß historische Erkenntnis sich stets dem Härtetest der kritischen Prüfung ihrer Aussagen durch den grundsätzlich pluralistischen Diskurs der Wissenschaft auszusetzen habe. Vor allem aber gingen sie davon aus, daß es -gemäß dem Diktum Max Webers -grundsätzlich nicht möglich sei, aus der Geschichte selbst objektive Maßstäbe des historischen Urteils abzuleiten.

Gegen diese perspektivische und demgemäß in gewissem Sinne relativistische Auffassung vom Wesen der Geschichtsschreibung ist in der Folge von den verschiedensten Seiten Sturm gelaufen worden. Dabei sind vor allem drei Richtungen zu nennen: jene des logischen Positivismus, jene eines empirisch-pragmatischen Historismus und jene des Marxismus-Leninismus, welch letztere in unserem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit verdient.

Am gewichtigsten war der Angriff des logischen Positivismus, auch wenn sich dessen Argumente am Ende nicht als durchschlagend erwiesen haben. Die Vertreter des logischen Positivismus -in der Bundesrepublik am schärfsten Hans Albert -forderten, -daß wissenschaftliche und metawissenschaftliche Aussagen strikt voneinander getrennt werden müßten und daß dies auch für die Historiographie gelte. Dabei berief man sich nicht nur auf die jüngere, von Popper und Hempel entwickelte Theorie wissenschaftlicher Aussagen, sondern auch auf Max Webers Postulat der Werturteilsfreiheit aller kulturwissenschaftlichen Forschung, wenn auch in einer durchaus einseitigen Interpretation desselben. Diese Position hat in der angelsächsischen analytischen Philosophie eine gewisse Nachfolge gefunden. Allerdings stellte sich dabei heraus, daß historische Aussagen erkenntnistheoretisch gesehen als Partialerklärungen hypothetischen Charakters angesehen werden müssen, denen die zwingende Evidenz von naturwissenschaftlichen Erklärungen abgeht.

Einflußreicher war die Gegenposition des empirisch-pragmatischen Historismus, die an einem „restriktiven“ Begriff von Objektivität für die Geschichtsschreibung festhielt; man müsse, so etwa Karl-Georg Faber, zwischen der Konstitution des historischen Gegenstands, die in der Tat perspektivengebunden sei, und seiner objektiven historischen Rekonstruktion unterscheiden. Für letztere sei die perspektivische Gebundenheit des Historikers ohne Belang, da sie sich anhand der Quellen vollziehe; ein Problem sei allein das Medium Sprache, welches in die Aussagen des Historikers unbeabsichtigte Subjektivität hineintragen könne. In die gleiche Kerbe hieben alle jene, die der historischen Narration eine unmittelbare Erkenntniskraft zusprechen, wie etwa Hermann Lübbe und jüngst insbesondere Thomas Nipperdey. Noch vor wenigen Jahren hat Nipperdey das Objektivitätspostulat Rankes als von seinem religiösen Hintergrund ablösbar erklärt und als eine „starke Theorie“ auch für die gegenwärtige Geschichtswissenschaft bezeichnet

Die in der Tonart schärfste Kritik an der „relativistischen Schule“ kam freilich aus dem Lager des Marxismus-Leninismus. Von den Historikern der ehemaligen DDR wurde in unterschiedlichen Varianten immer wieder gegen die sogenannte „bürgerliche“ Geschichtsschreibung in der alten Bundesrepublik eingewandt, daß diese sich angesichts des unverbindlichen Relativismus und des beliebigen Eklektizismus ihrer Aussagen in einer tiefen Krise befinde. Ihr wurde entgegengehalten, daß der Geschichtswissenschaft in der DDR mit dem Lehrgebäude des Marxismus-Leninismus feste Koordinaten vorgegeben würden, die eine eindeutige Orientierung gewähren; damit sei zugleich sichergestellt, daß die Geschichtsschreibung, statt sich in Beliebigkeiten zu verlieren, dem gesellschaftlichen Fortschritt diene.

Es möge gestattet sein, in diesem Zusammenhang eine seinerzeitige -zugestandenermaßen etwas polemische -Stellungnahme meinerseits aus dem Jahre 1977 zu zitieren. Es sei zu bezweifeln, so heißt es dort, „ob der marxistisch-leninistisch aufgezäumte Historismus, der dem Westen als Alternative empfohlen wird, wirklich eine Über-windung der „Krise“ des geschichtlichen Denkens bewirken kann oder dieses nicht vielmehr in hoffnungslose Rückständigkeit verstrickt“ Dem ist heute, im Rückblick, eigentlich nichts hinzuzufügen. In der Tat ist mit dem Zusammenbruch des Lehrgebäudes des Marxismus-Leninismus zugleich die letzte große holistische Geschichtsphilosophie diskreditiert worden, die den Anspruch erhob, die Geschichte als einen einzigen, für uns einsehbaren und wenigstens in ihren Grundzügen antizipierbaren Prozeß objektiv rekonstruieren zu können. Dabei sei dahingestellt, ob das bei Karl Marx zu findende Modell des geschichtlichen Prozesses wirklich im Sinne einer geschlossenen Theorie der Geschichte zu verstehen ist, die alternative Entwicklungsmöglichkeiten von vornherein ausschließt, oder ob man den originären „historischen Materialismus“ nicht mit Max Weber eher als ein System von idealtypischen Verlaufsmodellen beschreiben sollte, das nicht beansprucht, die objektive geschichtliche Wirklichkeit in ihrer Totalität abzubilden.

Es kann jedoch kein Zweifel sein, daß es in der Folge zu einer fortschreitenden Dogmatisierung des marxistischen Denkmodells gekommen ist, und zwar bereits unter dem Einfluß der leninistischen Lehre und dann verstärkt unter seinen Nachfolgern. Die marxistisch-leninistische Geschichtstheorie wurde Schritt für Schritt in eine herrschaftsbegründende und herrschaftsstabilisierende Ideologie umgewandelt; dabei wurden alle abweichenden Meinungen -ebenso wie dies analog im späteren Mittelalter im Fall der katholischen Lehre geschehen ist -rigoros beiseite gedrängt oder ausgeschaltet, sei es, daß die betroffenen Autoren marginalisiert oder gar totgeschwiegen wurden, sei es, daß sie gewaltsam eliminiert wurden. Ein Korrektiv hat in dieser Hinsicht allenfalls der freilich äußerst zersplitterte westliche Marxismus gespielt, der sich allerdings gegenwärtig ebenfalls in einer Krise befindet. Für die Geschichtswissenschaft der Länder des marxistisch-leninistischen Lagers hat diese Entwicklung, wie heute sichtbar wird, in dreierlei Richtung schwerwiegende Auswirkungen gehabt:

Erstens wurde die historische Forschung in das Prokrustesbett einer schematischen Rekonstruktion der ganzen bekannten Geschichte der Menschheit gemäß den Postulaten der marxistisch-leninistischen Lehre hineingezwungen. Zwar ist einzuräumen, daß die sogenannte „Formationstheorie“, deren vornehmster Interpret in der DDR lange Wolfgang Küttler war, es stets an Eindeutigkeit fehlen ließ und daher der historischen Interpretation im konkreten Fall große Spielräume freier Gestaltung offenließ. Aber gleichwohl wurde der Geschichtswissenschaft im Prinzip die immer erneute Verifizierung der diesem Schema zugrundeliegenden Wertprämissen an konkreten Beispielen angesonnen

Zwar ist in diesem Punkte bereits seit geraumer Zeit eine gewisse Lockerung eingetreten, aber noch Anfang 1990 hat Gottfried Stiehler das Verhältnis von historischem Materialismus und konkreter empirischer Geschichtsforschung als ein wechselseitiges bestimmt, auch wenn er dabei einen gewissen Freiraum für die letztere beansprucht; aber im Kern wird der Geschichtswissenschaft auch von Stiehler nur „analytische Feinarbeit“ im Rahmen der theoretischen und methodischen Orientierungen des historischen Materialismus und der von diesem prinzipiell vorgegebenen Untersuchungsfelder zugestanden Gerade diese Lehrmeinung aber hat der Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR viel von ihrer Vitalität genommen und sie -obschon sie als Fach in der besonderen Gunst der Herrschenden stand -von ihrer vornehmsten Aufgabe abgelenkt, nämlich der Gegenwart das Wissen um die grundsätzliche Vielfalt alternativer Formen der Lebensgestaltung zu vermitteln, wie sie sich in der Geschichte vorfinden, und damit Denkformen bereitzustellen, die es ermöglichen, die angeblichen Sachzwänge einer gegenwärtigen Wirklichkeit indirekt zu hinterfragen und damit potentiell Freiräume des Denkens und des Handelns schaffen zu helfen.

Zweitens wurde die historische Forschung von vornherein in ihrer thematischen Ausrichtung vorzugsweise auf jene Gegenstandsbereiche gelenkt, denen aus der Sicht des Marxismus-Leninismus besondere Bedeutung zukam. Dies hat zu einer bedenklichen Begrenzung ihrer Fragestellungen geführt und der Geschichtswissenschaft viel von ihrer Lebendigkeit geraubt. Statt der enormen Mannigfaltigkeit von konkurrierenden Fragestellungen und methodischen Zugangsweisen sowie der sich dadurch ergebenden ganz unterschiedlichen Gegenstandsbereiche der historischen Forschung, wie wir sie in der westlichen Welt vorfinden, trat eine enorme Verengung ein, die neue Forschungsansätze nur schwer zum Zuge kommen ließ und die intellektuelle Initiative der Historiker eher lähmte.

Wenn es gleichwohl in der Geschichtswissenschaft der ehemaligen DDR an den Rändern des bislang offiziösen Wissenschaftsbetriebs ein immerhin bemerkenswertes Feld von Forschungen gab, die sich nicht unmittelbar und nicht ausschließlich dem Paradigma des Marxismus-Leninismus unterwarfen, sondern sich von einem unmittelbaren Interesse an bestimmten Dimensionen geschichtlicher Wirklichkeit leiten ließen, so vor allem wegen der auch von der früheren SED-Führung nolens volens anerkannten Maxime, daß die Geschichtswissenschaft der ehemaligen DDR dazu instand gesetzt werden müsse, auf dem Felde der internationalen Geschichtswissenschaft als einigermaßen ebenbürtiger Partner zu konkurrieren.

Drittens aber wurde die Geschichtswissenschaft auf das Prinzip der Parteilichkeit für den Fortschritt im Sinne des Marxismus-Leninismus verpflichtet; Parteilichkeit freilich nicht im Sinne der Werthaltungen und Auffassungen, die der einzelne Historiker als Individuum für richtig hält, sondern im Sinne einer Parteilichkeit für die gemäß der Theorie des Marxismus-Leninismus objektiv den Fortschritt der Gesellschaft verbürgende Arbeiterklasse, wie dies M. A. Barg, in direkter Entgegensetzung zu Rankes Objektivitätspostulat, noch 1988 formuliert hat: „Die (historische, d. Vf.) Wissenschaft muß parteilich sein, d. h.den Standpunkt derjenigen gesellschaftlichen Klasse einnehmen, deren objektive historische Lage von uns eine konsequente revolutionär-kritische Position verlangt.“

Dies war weit mehr als nur die Parteinahme für die in der Geschichte selbst am Werke befindlichen großen Tendenzen des Zeitalters, wie sie etwa Johann Gottfried Gervinus für sich als Person, noch dazu unter Inkaufnahme erheblichen persönlichen Risikos, vorgenommen hatte. Denn dies geschah auf der Grundlage einer dogmatischen Theorie, die die Bewegungsgesetze der Geschichte ein für alle Male zu kennen vorgab. Zwar hat die Debatte über diese Frage -beginnend mit der Auseinandersetzung mit Jürgen Kuczynskis diesbezüglichen Thesen aus dem Jahre 1956 -niemals zu einem konkludenten Ergebnis geführt. Obschon sich in der Sache ein „objektivistischer“ Begriff der „Parteilichkeit“ durchsetzte, der im Prinzip an der jeweiligen empirischen Konstellation und nicht am Willen der SED-Oberen bzw.der Beschlüsse der SED-Parteitage festgemacht wurde und damit der Geschichtswissenschaft einen gewissen Freiraum beließ, wurde doch in der Praxis anerkannt, daß die Partei und ihre Institutionen den Begriff der Parteilichkeit jeweils inhaltlich zu füllen berechtigt waren.

Dies hat dann dazu geführt, daß die Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR sich gegenüber jenen Herrschaftseliten, die sich als Sprecher der Arbeiterklasse ausgaben, weitgehend wehrlos gezeigt hat und sich, wenn auch zuweilen gegen ihren Willen, zum Sprachrohr und zum Legitimationsinstrument der Machtstellung eben dieser herrschenden Eliten hat machen lassen. Was die Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR angeht, so ist diese infolgedessen mit ihrem absoluten Wahrheits-und Monopolanspruch -um eine Formulierung von Rolf Badstübner aufzugreifen -heute in eine tiefe Krise geraten

Es ist gegenüber einer in den zahlreichen selbstkritischen Stellungnahmen von Historikern der ehemaligen DDR verbreiteten Ansicht festzuhalten, daß dies keineswegs nur eine Folge der stalinistischen Verfälschung eines anfänglich auf den Aufbau eines demokratischen Sozialismus abzielenden Systems gewesen ist, sondern notwendig aus der Tatsache resultiert, daß der Marxismus-Leninismus glaubt, den Gang der Geschichte zumindest in seinen Grundlinien objektiv rekonstruieren und daraus entsprechende inhaltliche Postulate ableiten zu können. Nicht die Degeneration des politischen Systems in die diktatorische Herrschaft einer unverantwortlichen und selbstherrlichen Schicht von Funktionären ist es, die dafür verantwortlich ist, daß es zu dergleichen Verwerfungen kam, sondern der dogmatische Status des historischen Materialismus in seiner marxistisch-leninistischen Spielart als solcher.

Schlimmer als die theoretische Verengung des Gesichtskreises der Historiker und die praktische Verarmung historischer Forschung durch Abdrängung interessanter Fragestellungen und unmittelbarer historischer Anschauung an die Peripherie des Fachs war die Tatsache, daß dadurch die massive politische Einflußnahme des SED-Regimes auf die Geschichtsschreibung ideologisch legitimiert und praktisch erleichtert wurde. Es ist auch nicht damit getan, nunmehr den grundsätzlich pluralistischen Charakter aller historischen Forschung anzuerkennen, gleichzeitig aber an der marxistisch-leninistischen Geschichtstheorie festzu-* halten, als einer unter vielen möglichen und prinzipiell gleichberechtigten Interpretationen geschichtlicher Wirklichkeit überhaupt. Denn Geschichtsschreibung, sofern sie an dem Grundprinzip des historischen Materialismus als einer objektiven Theorie der Geschichte festhält, schließt einen Pluralismus der Fragestellungen bzw. eine „Mehrzahl“ von Geschichten, wie dies heute vielfach beschrieben wird, grundsätzlich aus.

Wie dem auch im einzelnen sein möge, wir müssen heute davon ausgehen, daß nach dem Zusammenbruch der großen spekulativen Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts -von denen der Marxismus-Leninismus eigentlich ein später Abkömmling war, der nur in einem vergleichsweise rückständigen Lande wie Rußland die Chance hatte, auf Dauer zur herrschenden Doktrin zu werden -eine Rückbindung historischer Aussagen an materiale Geschichtstheorien umfassenden Charakters, die für sich Objektivität beanspruchen, nicht länger möglich ist. Ohne Karl Marx zu nahe treten zu wollen, so hätte man schon damals bemerken können, daß es sich beim Historischen Materialismus um eine ganz und gar eurozentrische Theorie der Weltgeschichte handelte, in die die Völker der Dritten Welt nur als Objekte, nicht eigentlich als Subjekte einbezogen waren, es sei denn, man will die Konzeption der sogenannten „asiatischen Produktionsweise“, die weite Teile der Dritten Welt in eine fiktive Geschichtslosigkeit stieß, als vollgültige Theorie anerkennen. Heute wird man zwar solchen hypothetischen Modellen zur Rekonstruktion von Universalgeschichte unter bestimmten Gesichtspunkten einen mehr oder minder großen heuristischen Wert zusprechen können, nicht aber objektive Geltung in umfassendem Sinne.

IV.

Mit diesen kritischen Bemerkungen zu dem dogmatischen Lehrgebäude, das der Geschichtsschreibung in der ehemaligen DDR mit Hilfe der Staatsmacht verordnet wurde, soll nun freilich nicht ohne weiteres der Stab über die DDR-Geschichtswissenschaft in ihrer Gesamtheit gebrochen werden. Im Gegenteil, es sollte anerkannt werden, daß ungeachtet dieser „theoretischen“ Vorgaben auf weiten Strecken ernsthafte Forschung betrieben wurde, wenn auch immer wieder durchsetzt mit dogmatischen Prämissen, Theorien oder Sach-B aussagen Es ist freilich kein Zufall, daß dies in erster Linie für jene Forschungseinrichtungen gilt, die sich aus dem Horizont der parteiamtlichen Vorgaben, wie sie insbesondere der „Rat für Geschichte“ und das „Institut für Geschichte des Marxismus-Leninismus“, in begrenzterem Umfang auch die anderen Zentralinstitute für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der ehemaligen DDR umzusetzen bemüht waren, zu befreien vermochten. Dies trifft vor allem für die Sozialgeschichte und für die neuzeitliche Landesgeschichte zu, und ebenso auch in erheblichem Maße für die alte oder mittelalterliche Geschichte, obschon auch hier große Anstrengungen unternommen wurden, Forschung und Lehre den Bedürfnissen des Regimes anzupassen.

Insbesondere auf dem Gebiet der frühneuzeitlichen und neueren Sozialgeschichte kann die Geschichtsschreibung der ehemaligen DDR -wie auch international anerkannt wird -durchaus auf bemerkenswerte Leistungen verweisen. Es ist aber charakteristisch, daß wir es dabei zumeist mit Arbeiten zu tun haben, die sich von der klassischen Arbeiterbewegungsgeschichte, die von den sozialistischen Parteien, ihren Vorläufern und ihrer Erbin, der Kommunistischen Partei, handelt, zunehmend entfernt haben. Gleiches gilt teilweise auch für die Geschichte der Geschichtsschreibung, in der ungeachtet ideologischer Vorgaben bemerkenswerte konkrete Forschungsleistungen, insbesondere zur deutschen Geschichte, vorliegen

Aber auch die politische Geschichtsschreibung im engeren Sinne, obschon diese in stärkerem Maße als andere Teildisziplinen des Faches Geschichte an politische Vorgaben gebunden war, kann nicht einfach in Bausch und Bogen verworfen werden. Hier zeigt sich freilich mit besonderer Deutlichkeit, welche Verwerfungen durch die politischen Bedingungen verursacht wurden. Andererseits ist unübersehbar, daß hinter der Maske eines ideologischen Schemas in erheblichem Umfang bemerkenswerte historische Detailforschung betrieben worden ist, auf deren Ergebnisse die westliche Forschung immer schon in erheblichem Umfang zurückgegriffen hat, gleichsam in Nutzung des beachtlichen positivistischen Forschungspotentials, welches die ehemalige DDR angesichts des hohen Ranges, der der Historie unter ideologischen Gesichtspunkten zugemessen wurde, im Laufe der Jahre immer stärker ausgebaut hatte.

Noch etwas anderes zeichnete sich ab, nämlich die schrittweise Modifikation anfänglicher dogmatischer Positionen unter dem Einfluß der westlichen Forschung. Bekanntlich hatte die DDR an mehreren Stellen, so am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der ehemaligen DDR, an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED und am Deutschen Institut für Zeitgeschichte in Berlin, Forschungsstäbe eingerichtet, deren vornehmliche Aufgabe es war, die bürgerliche Geschichtsschreibung, und besonders die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik, fortlaufend zu observieren und sich mit dieser auseinanderzusetzen. Erklärtes Ziel war es, eine „antifaschistisch-demokratische Erneuerung“ des deutschen Geschichtsbildes vorzunehmen und zugleich die Aufgaben einer „marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft abzustecken“ Zu diesem Behufe wurde die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtswissenschaft auf breiter Front für erforderlich gehalten.

Jedoch trat bald an die Stelle einer einseitigen ideologischen Verurteilung, wie sie in den sechziger Jahren vorherrschte, eine vorsichtig differenzierende Wahrnehmung dessen, was in der westdeutschen Forschung als bemerkenswert gelten durfte. Der „Wettlauf der Systeme“ und das Bemühen der DDR-Wissenschaft um Respektabilität in der internationalen Forschergemeinschaft taten ein übriges, um zu bewerkstelligen, daß statt einseitiger Abrechnung von einem ideologisch gesicherten Standpunkt aus immer stärker eine teilweise Rezeption westlicher Forschungsergebnisse einsetzte; die beständigen ideologischen Kurskorrekturen des Regimes hinsichtlich der Koordinaten des „nationalen“ Geschichtsbildes des „ersten sozialistischen Staates deutscher Nation“ taten ein übriges, um diesen Prozeß zu beschleunigen.

Infolgedessen bietet sich uns im Rückblick ein sehr unterschiedliches Bild selbst im Bereich der rein politischen Geschichtsschreibung. Diese hatte zwar im Gefolge der ideologischen Marschrouten, die sie erhielt bzw. die sie sich selbst verordnete, wichtige Aspekte der neuesten Geschichte kurzerhand ausgespart, wie etwa die Rolle des konservativen Widerstandes gegen Hitler oder späterhin der Aufstand in der DDR 1953, und andere Gegenstandsbereiche ganz unangemessen bevorzugt. Ebenso hatte sie erst sehr spät damit begonnen, sich mit der Geschichte der DDR als solcher zu beschäftigen und dem ideologischen Schema vom „sozialistischen Erbe“, welches es zu bewahren und weiterzuentwickeln gelte, empirische Analysen zur Seite zu stellen.

Dennoch wäre es verfehlt, all das, was in den letzten beiden Jahrzehnten von der DDR-Forschung vorgelegt wurde, einfach in Bausch und Bogen zu verdammen. Der empirische Ertrag der zahlreichen Monographien und selbst der impressiven Kollektivdarstellungen, wie beispielsweise jene der von Fritz Klein herausgegebenen dreibändigen Geschichte des Ersten Weltkriegs oder der auf zwölf Bände konzipierten „Deutschen Geschichte“, die von einem Herausgeberkollegium unter Leitung von Walter Schmidt vom Zentralinstitut für deutsche Geschichte der Akademie der Wissenschaften der ehemaligen DDR herausgebracht wurde, ist beachtlich

Es ist überdies einzuräumen, daß sich schon seit einiger Zeit Ansätze auch für eine methodische Neuorientierung der Historie in der DDR zeigten. Freilich allzuweit vorwagen durfte man sich nicht; auch die bekannten sozialstatistischen Untersuchungen etwa Helmut Zwahrs über die Entstehung einer proletarischen Arbeiterklasse seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts vermieden eine direkte Konfrontation mit der sozialistischen Orthodoxie. Bedeutsamer war schon, daß auch die Geschichtsschreibung in der ehemaligen DDR seit 1984 das Anathema aufhob, welches -nach einer anfänglich ideologisch verzerrten, zögerlichen Wahrnehmung -lange über das Werk Max Webers verhängt worden war. Aber die, übrigens zunächst höchst selektive, Hinwendung zu Max Weber, wie sie im Zusammenhang des Internationalen Historikertages in Stuttgart 1985 einsetzte und dann im April 1989 auf einer Tagung zu Ehren des 125. Geburtstags von Max Weber in Erfurt ihren Höhepunkt erreichte kam viel zu spät, um noch eine nennenswerte Wirkung auf die methodischen Grundpositionen der Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR zu entfalten; in Polen und Ungarn war dies bereits fast ein Jahrzehnt frühei erfolgt.

Gerade auch in dieser Hinsicht war die Geschichtswissenschaft in der DDR eher ein Nachzügler: darin erwies sich einmal mehr, wie stark das wissenschaftliche System vom SED-Regime eingebunden und in seiner Kreativität gelähmt worden war. Die Abschirmung von der westlichen Forschung, die weitgehende Unzugänglichkeit westlicher Literatur und die Beschränkung der Reisen in westliche Länder auf ausgesuchte Kader haben dazu natürlich ebenfalls beigetragen.

V.

Auch wenn man nicht übersehen sollte, daß es in der Geschichtswissenschaft der DDR seit dem Beginn der achtziger Jahre bemerkenswerte Ansätze zu einer eher versteckten Selbstbefreiung von allzu massivem Parteidogmatismus gegeben hat -in der Sozialgeschichte, der Landesgeschichte, der Feudalismusforschung und der Mediävistik, ja selbst im Bereich der Geschichte der Geschichtsschreibung -, so bleibt doch bestehen, daß diese nicht in der Lage gewesen ist, sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf herauszuretten, in den sie in 45 Jahren des SED-Regimes hineingeraten war. Es ist ihr dies auch nach dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ im Herbst 1989 nicht möglich gewesen, und dies ist auch fernerhin nicht zu erwarten. Denn auf den Fundamenten, die in über vierzig Jahren reglementierter Geschichtswissenschaft gelegt worden sind, läßt sich nicht einfach weiter-bauen. Dies soll freilich nicht heißen, daß hier allein der Transfer von Wissenschaftlern und wissenschaftlichem Know-how aus den westlichen Teilen Deutschlands helfen kann. Es kommt vielmehr darauf an, daß die Historiker in den neuen Bundesländern -wenn auch in Zusammenarbeit mit ihren Kollegen aus dem westlichen Deutschland -selbst die Grundlagen eines neuen Geschichtsbildes schaffen. Dies ist, wie die gegenwärtige, ganz oberflächliche Debatte über den Staatssicherheitsdienst zeigt, ganz unverzichtbar; diese wird geführt, als ob es die übrigen Staatsorgane der ehemaligen DDR und das Politbüro der SED gar nicht gegeben habe.

Die innere Einigung der Deutschen steht noch aus. Wollen wir sie zustande bringen, so erfordert dies vor allem gründliche historiographische Forschun- gen über das politische und gesellschaftliche System der DDR, über dessen Einbettung in das internationale System und nicht zuletzt über die DDR-Geschichtsschreibung selbst. Nicht Verdrängen oder Vergessen kann hier helfen, auch nicht trotziges Festhalten an gestrigen Positionen ungeachtet der veränderten Weltlage, sondern nur nüchterne, voraussetzungslose Forschung, die auch vor der Frage nicht halt macht, wie eigentlich die Herrschaftsmechanismen beschaffen waren, die zu einer weitgehenden Gleichschaltung der Geschichtswissenschaft in der DDR geführt haben, und in welchem Maße dabei vorauseilende Anpassung im Spiel gewesen ist.

Die Exponenten der ehemals herrschenden Lehre der Geschichtswissenschaft in der DDR sollten sich, so meine ich, in der öffentlichen Debatte dabei einstweilen eher zurückhalten. Am wenigsten aber können wir Selbstzufriedenheit und Überheblichkeit auf Seiten derer brauchen, die niemals den Herrschaftszwängen eines totalitären Systems ausgesetzt gewesen sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Konrad Jarausch, Das Versagen des ostdeutschen Antifaschismus, in: Initial, (1991) 2, S. 114ff.

  2. Ich stütze mich im Folgenden auf meinen Aufsatz über „Perspektivengebundenheit und Objektivität historischer Forschung“, der demnächst in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG), (1992) 4, erscheinen wird.

  3. So in seinem Beitrag: Zum Problem der Objektivität bei Ranke, in: Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen, Stuttgart 1988, S. 215ff., hier S. 222.

  4. Wolfgang J. Mommsen, Der perspektivische Charakter historischer Aussagen und das Problem von Parteilichkeit und Objektivität historischer Erkenntnis, in: Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. Beiträge zur Historik, Bd. 1, hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen, München 1977, S. 441ff., hier S. 449.

  5. Zu dieser Problematik, die die Entwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft maßgeblich beeinflußt hat, siehe insbesondere Helmut Rumpler, Parteilichkeit und Objektivität als Theorieproblem der Historie in der DDR, in: Geschichtswissenschaft in der DDR, hrsg. von Alexander Fischer und Günther Heydemann, 2 Bde., Bd. I, Berlin 1988, S. 333ff.

  6. Vgl. Gottfried Stiehler, Materialismus und Dialektik als Grundlagen der marxistischen Geschichtsauffassung, in: ZfG, 38 (1990), S. 5ff„ hier S. 19f.

  7. Leopold von Rankes Geschichtskonzeption aus der Sicht der heutigen Geschichtswissenschaft, in: Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft (Anm. 3), S. 223ff., hier S. 259.

  8. Vg. Rolf Badstübner, Die Geschichtsschreibung über die DDR zwischen Krise und Erneuerung, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG), 32 (1990), S. 481-491, S. 482.

  9. Ein guter Überblick bei Andreas Dorpalen, German History in Marxist Perspective, Detroit 1988 .

  10. Vgl. Georg G. Iggers (Hrsg.), Ein anderer historischer Blick. Beispiele ostdeutscher Sozialgeschichte, Frankfurt/M. 1991.

  11. So z. B. Hans Schleiers Arbeiten zur Geschichtsschreibung in der Weimarer Republik, insbesondere seine Darstellung „Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik", Berlin 1975.

  12. Hans Schleier, DDR-Forschungen über die Geschichte der bürgerlichen Geschichtswissenschaft, in: BzG, 21 (1979), S. 358ff., hier S. 358.

  13. Das Unternehmen ist allerdings nur bis Bd. 5 „Der Kapitalismus der freien Konkurrenz und der Übergang zum Monopolkapitalismus im Kaiserreich von 1871 bis 1897“, Berlin 1988, gediehen.

  14. Vgl. Informationen zur soziologischen Forschung in der Deutschen Demokratischen Republik, Sonderheft 1989; ebenso die erste Textausgabe Max Webers in der DDR: Max Weber. Rationalisierung und entzauberte Welt. Schriften zu Geschichte und Soziologie, hrsg. von Friedrich Hauer und Wolfgang Küttler, Leipzig 1989.

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Wolfgang J. Mommsen, Dr. phil., D. litt, (h. c.), geb. 1930; seit 1968 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Düsseldorf; Präsident der Internationalen Kommission für Geschichte der Geschichtsschreibung; Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands. Veröffentlichungen u. a.: Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 1959; Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt 1969; Imperialismustheorien. Ein Überblick über die neueren Imperialismusinterpretationen, Göttingen 19863; (Hrsg. zus. mit Jürgen Osterhammel) Max Weber and his Contemporaries, London 1987.