Man beziehe einmal das Prädikat „Ideologieanfälligkeit“ statt auf Wissenschaften auf Wissenschaftler. Dann erkennt man, daß die totalitäre Versuchung, gegen die Wissenschaftler keineswegs resistenter als andere Bürger sind, auf Forscher und Gelehrte sich grundsätzlich unabhängig von ihrer Fachzugehörigkeit auswirkt. Umgekehrt formuliert heißt das: Es gibt die Wissenschaften nicht, die die Verheißung hätten, ihre Subjekte in besonderer Weise mit Abwehrkräften gegenüber totalitären Ideologien und Bewegungen auszustatten. Es wäre wirklichkeitsfremd und überdies unbillig, etwas anderes zu erwarten. Sind totalitäre Systeme erst einmal etabliert, so pflegen sie Karrierechancen an Parteizugehörigkeit oder sonstige Bekundungen ideologischer Zuverlässigkeit zu binden. Das gilt dann für Ingenieure oder Mediziner nicht anders als für Historiker oder Philosophen, und es ist nicht erkennbar, welche methodischen oder sonstigen Eigenschaften der von diesen Wissenschaftlern repräsentierten Fächer es denn sein sollten, die es ihnen in fachspezifisch unterschiedlicher Weise erlaubte, ja sie motivierte, dem totalitären Gesinnungsdruck und der politischen Einladung, sich bei den ideologisch gewiesenen höheren Zwecken von Volk oder Menschheit parteilich zu engagieren, standzuhalten.
Gewisse Ungleichverteilungen in der Fachzugehörigkeit von Parteikarrieristen würden dabei der These von der grundsätzlich bestehenden Indifferenz zwischen den Wissenschaften einerseits und Ideologieanfälligkeiten andererseits nicht einmal widersprechen. Der Grund solcher Ungleichverteilung läge nämlich nicht in der methodischen oder auch inhaltlichen Ideologienähe gewisser Wissenschaften im Unterschied zu anderen Wissenschaften. Er läge vielmehr in Unterschieden größerer oder geringerer Verbindbarkeit der Berufe des Wissenschaftlers einerseits und des Politikers andererseits. Solche Unterschiede wirken sich ja auch außerhalb totalitärer Regime, etwa in liberal verfaßten politischen Systemen, unübersehbar aus. Wieso sind denn in unseren Parlamenten geistes-und sozialwissenschaftlich ausgebildete Abgeordnete -vor allem Lehrer, aber auch Professoren -anteilsmäßig stärker als Naturwissenschaftler, Ingenieure und Mediziner vertreten? Es wäre ersichtlich Nonsens, hier zur Erklärung auf vermeintlich gegebene Unterschiede gerade in der Ideologieanfälligkeit der Studienfächer unserer Abgeordneten rekurrieren zu wollen. Näher kommt man der Sache, wenn man nach der Kompatibilität von Politik und Beruf fragt. Es liegt auf der Hand, daß die Einbußen an Berufskompetenzen, die ein als Lehrer tätig gewesener Historiker, Germanist oder Soziologe durch eine Abgeordnetentätigkeit über eine, ja zwei Legislaturperioden hinweg erleiden dürfte, ungleich weniger gravierend sind, als die einschlägigen Kompetenzverluste eines freiberuflich tätigen Facharztes oder auch eines abhängig beschäftigten, in der Forschung tätigen Industrie-chemikers. Die , Halbwertzeiten 4 naturwissenschaftlichen Wissens sind ungleich geringer als die , Halbwertzeiten 4 der kognitiven Bestandteile geisteswissenschaftlicher Bildung, und allein dies schon bewirkt Unterschiede in der Kompatibilität von Politik und Beruf. Mit unterschiedlichen Graden der Ideologieanfälligkeit jeweiliger Studien-fächer hat das ersichtlich gar nichts zu tun.
Marxistische Parolen, auf Transparente gepinselt, sah man Ende der sechziger Jahre in deutschen Kunsthochschulen ungleich häufiger als in Musikhochschulen. Unterschiede in der Neigung der Studenten zu Vollversammlungspalavern oder Demonstrationsmärschen entsprachen dem. Hätte man daraus schließen sollen, die bildenden Künste seien ideologieanfälliger als die Musik? Richtiger liegt man mit der Vermutung, daß Proben auf die Beherrschung der Kunst bei Musikstudenten auch für das Laienohr im Regelfall härter ausfallen als die Proben bildnerischer Phantasie fürs Laienauge. Entsprechend rigoroser wirkten die Zwänge der Studiendisziplin an den Musikhochschulen, und die Wahrheit, daß die Zeit der Vollversammlungspalaver im wesentlichen vertane Zeit sei, gewann hier größere Evidenz. Mit Unterschieden der Ideologie-anfälligkeit der jeweiligen Fächer hat das aber gar nichts zu tun. Dem entspricht, daß die etablierten totalitären Systeme für ihre Selbstdarstellungsrituale bildende Kunst wie Musik in vollkommen analoger Weise sich dienstbar zu machen verstanden. An der Freien Universität Berlin waren in der Tat neomarxistisch inspirierte Jungintellektuellenkader früher aktiv als in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachbereichen der Technischen Universität zu Berlin. In dieser Zwischenzeit kommentierte das der damalige Rektor der Technischen Universität mit dem Satz, der Grad der Ideologieanfälligkeit der Studenten verhalte sich umgekehrt proportional zum Stand ihrer Mathematikkenntnisse. Von dieser Zuversicht, an der Mathematik ein Remedium gegen ideologische Heilsgläubigkeit zu besitzen, war schon wenige Monate später nichts mehr übriggeblieben.
Wahr ist allerdings, daß der ideologische Heilsglaube der Wissenschaftler sich in der Anmutungsqualität der von ihnen produzierten fachlichen Texte in der Tat höchst unterschiedlich ausprägt. Eine nationalsozialistische Mathematik konnte es trivialerweise nicht geben, und das gilt unbeschadet der Tatsache, daß die Nationalsozialisten sogar noch in die Mathematiklehrbücher damaliger Schulen ihre Ideologie hineinzubringen verstanden -vorzugsweise in Gestalt jener Übungsaufgaben aus dem militärischen oder auch eugenischen Sektor, an denen der Schüler seine Mathematikkenntnisse zu erproben hatte. Analog hat man auch in akademischen Lehrbüchern naturwissenschaftlicher Disziplinen in der Frühzeit der DDR in den Vorworten Bezugnahmen auf Friedrich Engels’ „Dialektik der Natur“ lesen können, bevor dann im Haupttext die Sache ohne Rekurs auf die , Klassiker 1, die hier ja auch gar nichts zu sagen gehabt hätten, zur Sprache kam.
Die Anmutungsqualität ideologischer Gläubigkeit prägte und prägt sich in geisteswissenschaftlichen Texten ungleich stärker aus als in den Veröffentlichungen der Naturwissenschaftler oder Ingenieure. Das heißt keineswegs, daß Geisteswissenschaftler häufiger ideologisch optierten als Natur-wissenschaftler oder Ingenieure. Richtig bleibt aber, daß die einmal getroffene ideologische Option sich in Texten der Geisteswissenschaften ungleich stärker zur Geltung bringt als in den Texten naturwissenschaftlicher Forschungspraxis. Die Unterschiede sind evident und bedürfen keiner exemplarischen Vergegenwärtigung. Aber man verbaut sich das Verständnis dieser Unterschiede, wenn man sie mit Rekurs auf angeblich vorhandene Unterschiede in der „Ideologieanfälligkeit“ verschiedener Wissenschaften zu erklären versuchte. Daraus ergäbe sich ja dann die naheliegende wissenschaftspraktische Forderung, doch endlich auch die Texte im Umfeld der Geisteswissenschaften in ideologischer Hinsicht aseptisch zu produzieren.
In Wahrheit ist diese Forderung unerfüllbar, genauer: Sie ist eine widersinnige Forderung. Wer wird nicht wünschen, daß Geisteswissenschaftler wie Naturwissenschaftler und darüber hinaus alle Bürger resistent gegen die totalitäre Versuchung seien. Sind aber die totalitären Systeme erst einmal etabliert, haben sie erst einmal auch unter den Wissenschaftlern ihre Gefolgsleute gewonnen, so ist es keineswegs ein Ausdruck der besonderen Geistesschwäche der Geisteswissenschaftler, daß sich dann ihr ideologischer Heilsglaube in ihren Arbeiten stärker ausprägt als in den Arbeiten der Ingenieure und Naturwissenschaftler. Es ist vielmehr genau das, was man nach der generellen Funktion der Geisteswissenschaften, vor allem der historischen Kulturwissenschaften, im Unterschied zu den Naturwissenschaften, zu erwarten hat. Dabei ist die hier gemeinte generelle kulturelle Funktion der historischen Kulturwissenschaften eben dieselbe, die diese Wissenschaften auch in liberal verfaßten politischen Systemen zu erfüllen haben. Es wäre widersinnig, die historischen Kulturwissenschaften in der vermeintlich guten Absicht, sie ideologieunanfälliger zu machen, um die hier gemeinte Funktion zu kürzen. Die Erfüllung dieser Funktion ist, im Kontext der modernen Zivilisation, unter allen politischen und ideologischen Bedingungen nötig. Es verhält sich hier wie mit der Nötigkeit der Kunst. Weder totalitäre noch freiheitliche Systeme sind als Systeme ohne Kunst denkbar, und erst die Einsicht in solche generellen Nötigkeitsbedingungen macht dann verständlich, wieso sich in der Erfüllung dieser generellen Nötigkeitsbedingungen in Abhängigkeit von speziellen systemspezifischen Rahmenbedingungen Kunst so oder so darstellt. Für die Geisteswissenschaften gilt Analoges.
Entsprechend ist zu fragen, welches denn die Funktion sei, die in der modernen Zivilisation durch die historischen Kulturwissenschaften unter allen Systembedingungen, so oder so, erfüllt sein will. Als Begriff für die hier gemeinte Funktion schlage ich den Begriff der Identitätspräsentation vor. Dieser Begriff enthält zugleich eine Teilantwort auf die vor fünfzehn bis zwanzig Jahren von unseren Historikern mit dramatisierendem Akzent gestellt Frage „Wozu Historie?“
Wozu also Historie? Die historischen Wissenschaften erfüllen in unserer öffentlichen Kultur -unter anderem, aber nicht zuletzt -die Funktion, Kenntnisse von passierten Geschichten gegenwärtig zu halten, über die wir eigene und fremde Identität charakterisieren können. Das Wort „Identität“ klingt leider etwas prätentiös. Dieser prätentiöse Klang entfällt, wenn man „Identität“ als Metapher aus dem Personenstandswesen hört. Identität -das ist dann die jeweils richtige Antwort auf die Frage, wer wir sind.
Was könnte uns hindern, die Anwendung dieses Begriffs der Identitätspräsentation von der Autobiographie über die Biographie bis zur institutionen-und sozialverbandsbezogenen allgemeinen Historiographie auszudehnen. Freilich wäre es eine Verzeichnung der öffentlichen Rolle professioneller Geschichtswissenschaft, wenn man sie unmittelbar auf die Aufgabe festlegen wollte, eigene und fremde Identität im Medium erzählter Geschichten vorzustellen, obwohl sie das in vielen Fällen allerdings auch tut. Sie erfüllte, und auch das nur unter anderem, die Funktion, Kenntnisse von Vergangenheiten bereitzustellen, die es erlauben, eigene und fremde Identität zu vergegenwärtigen. Diese Formulierung deckt ab, was tatsächlich geschieht, wenn Geschichtswissenschaftler und Pädagogen Zusammenarbeiten, um beispielsweise die Schulbuchdarstellungen deutsch-französischer Geschichte seit 1870 wechselseitig akzeptabler zu machen. Oder ein anderes Beispiel: Es ist nicht im technischen Sinne historische Forschung, vielmehr eine Anleitung zur historiographischen Selbstbildkontrolle, wenn unter Historikern der französische Publizist Alain Clement gebeten wird, in Deutschland über das Bild zu berichten, das die Franzosen sich von dem Bild machen, das die Deutschen von sich selbst haben.
Wie sich Selbst-und Fremdbilder in Abhängigkeit von Interaktionspragmatiken, die sich ihrerseits aus politischen, auch konfessionellen und religiösen, ja moralischen Kontexten ergeben, ändern, hat der früh verstorbene Wiener Historiker Heinrich Lutz am eindrucksvollen Exempel einer Darstellung der Geschichte des katholischen Luther-Bildes sichtbar gemacht. Was beispielsweise Heinrich Suso Denifle von Joseph Lortz trennt, sind ja weniger Fortschritte geschichtswissenschaftlicher Forschungspraxis als vielmehr Dezennien zwischen den Nachwehen des Kulturkampfes und einer konfessionspolitischen Irenik, dem Bemühen also um eine friedliche interkonfessionelle Auseinandersetzung, an die später eine Una-sancta-Bewegung anknüpfen konnte. Ebenso ist auch der Streit, wie Epochen aus der gemeinsamen Geschichte später Getrennter zu lesen seien -ob als „Reformation“ oder als „frühbürgerliche Revolution“ -, weniger ein Streit aus immanenter Veranlassung geschichtswissenschaftlicher Forschungspraxis als vielmehr ein Streit um eine überdies schiefe Alternative aus Veranlassung einer historischen Erbschaftsumwidmung, die mit ideologiepolitischen Mitteln durch ein totalitäres Regime verfügt wurde. Auch ein Vorgang wie der der historiographischen Rekonstruktion der polnischen Vorgeschichte Schlesiens, zu der Gomulka bereits 1946 in einer denkwürdigen Rede vor der Akademie der polnischen Kultur zu Breslau den Historikern den Auftrag gab, damit das „Volk an der Geschichte des Plastischen Polens erzogen“ werde, wird so verständlich.
Bedarf es noch der exemplarischen Vergegenwärtigung der Trivialität, daß in der Erfüllung der skizzierten generellen Funktion populärer wie professioneller Vergangenheitsvergegenwärtigung in Abhängigkeit von Interaktionspragmatiken, die ja im Regelfall nicht zur Disposition der Historiker selber stehen, geschichtswissenschaftliche Texte in ihrer Anmutungsqualität den ideologischen Kontext ihrer Entstehung spiegeln werden? Das gilt grundsätzlich für totalitäre Zusammenhänge nicht anders als für liberale, und es wäre, noch einmal, nicht etwa eine allzu schwer zu erfüllende, vielmehr sinnwidrige Forderung, die Geisteswissenschaften methodisch oder wie immer sonst in einer Weise ändern zu wollen, die ihnen ihre „Ideologieanfälligkeit“ definitiv nähme. Banalerweise wünschen wir uns -und das nicht zuletzt im Interesse der Erhaltung und Fortentwicklung unseres freiheitlichen politischen Systems -auch Geisteswissenschaftler, die gegen die totalitäre Versuchung resistent sind. Aber die Entscheidung darüber fällt nicht in der methodischen oder sonstigen forschungspraktischen Immanenz einer akademischen Disziplin, vielmehr in lebenspraktischen Kontexten der Kultur, der Moral oder der Politik, welchen die Geisteswissenschaftler nicht anders als andere Bürger angehören.
Ich vermute, daß die Annahme, Geisteswissenschaften seien „ideologieanfälliger“ als Naturwissenschaften, eine Interpretation des Faktums darstellt, daß zu den integralen Bestandteilen der totalitären Großideologien des 19. und 20. Jahrhunderts in der Tat regelmäßig Geschichtstheorien gehören. Es handelt sich bei diesen Theorien um Philosopheme eines bestimmten Typus, den der austro-britische Wissenschaftstheoretiker Popper als „Historizismus“ gekennzeichnet hat. Was soll das heißen? Es ist kein Anachronismus, bei der Beantwortung dieser Frage vom jungen Karl Marx auszugehen. Die Französische Revolution hatte bürgerliche Freiheiten zur Geltung gebracht, und die Deutschen, so Marx, hatten das -freilich auf höchstem spekulativem Niveau -leider bloß nachgedacht. Indessen: Was revolutionär in die Wirklichkeit umzusetzen die Deutschen insoweit historisch bislang schuldig geblieben seien -das waren nun eben nicht Gehalte letzter, vielmehr, nach Marx, historisch vorletzter politischer Emanzipation. Die proletarische Revolution wird die bürgerliche Revolution zu überbieten haben, und die Vertilgung „allen Unterschieds“, von der Hegel in seiner Analyse der Jakobiner-Herrschaft gesprochen hatte, wird dann folgendermaßen aussehen: An die Stelle der „Freiheit des Eigentums“ wird die Befreiung „vom Eigentum“ treten, an die Stelle der „Gewerbefreiheit“ die Befreiung vom „Egoismus des Gewerbes“, die „Religionsfreiheit“ wird durch die Befreiung „von der Religion“ Überboten sein und damit auch die „Judenemanzipation“ durch die „Emanzipation der Menschheit vom Judentum“.
Selbstverständlich handelt es sich bei dieser zuletzt zitierten politischen Verheißung des Juden Karl Marx nicht um einen rassistischen Antisemitismus, der sich theoretisch und praktisch in Deutschland erst sehr viel später formieren sollte. Es handelt sich vielmehr um ein Programm zur Überbietung der von Marx so genannten „politischen Emanzipation“ bürgerlich-liberaler Prägung durch die „menschliche Emanzipation“. Das ist das Konzept einer Revolution, deren Träger zu sein -wie Karl Marx fand -gerade die Deutschen, nachdem sie in ihrer bisherigen Geschichte eine Revolution nicht zustande gebracht hatten, für ihre politische Zukunft die Verheißung haben. Die Deutschen als Subjekt einer die bürgerliche Revolution emanzipatorisch noch überbietenden, endgültigen Revolution -das ist die Vision. „Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.“ Die Französische Revolution sei nur eine vorletzte Stufe in der menschlichen Freiheitsgeschichte gewesen. „In Deutschland“ hingegen werde „die Unmöglichkeit der stufenweisen Befreiung die ganze Freiheit gebären.“ Dazu bedarf es einer Philosophie, in der Deutschland „mit der offiziellen modernen Gegenwart“ nicht lediglich „al pari“ steht, in der es vielmehr die reale Vollendung der Geschichte vorweg-nimmt. J
Just diese Philosophie ist, in Überbietung der Revolutionsphilosophie des Deutschen Idealismus, die Marxsche Geschichtstheorie. „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen“, so werde „das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen“ finden, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich „in den deutschen naiven Volksboden eingeschlagen“ sein werde, vollziehe sich dann „die Emanzipation der Deutschen zu Menschen“.
Spontan dürften solche Sätze heute kaum noch verständlich sein. Immerhin spürt man, daß sie den philosophischen Revolutionsenthusiasmus deutsch-idealistischer Prägung, für die es von Kant bis Hegel die exemplarisch zitierten eindrucksvollen Belege gibt, bei weitem überbieten. „Der dialektische und historische Materialismus ist in erster Linie Philosophie der revolutionären sozialistischen Umgestaltung der Welt“, so lautet das noch heute ebenso trocken wie unüberbietbar anspruchsvoll im orthodox-marxistischen Philosophischen Wörterbuch aus dem Geist einer regierenden Einheitspartei. In deren Selbstverständnis hat sich somit, in gewisser Weise, die Marxsche Gewißheit, daß die Letzten, nämlich die Deutschen, revolutionsgeschichtlich schließlich die Ersten sein würden, erfüllt -wiederum auf der Ebene der orthodox gewordenen Theorie freilich. Ist doch inzwischen weltweit bei allen, die an das Geschichtskonzept fälliger Überbietung der bürgerlichen Revolution, für die die französische das unüberbietbare Muster ist, durch die proletarische Revolution glauben, Marx bis heute der erste in der Bildnisreihe jener Klassiker geblieben, die als Propheten dieses Glaubens im Herrschaftsbereich des real existierenden Sozialismus zu kanonischer Geltung gelangt sind.
Zusammenfassend gesagt heißt das: Bei Marx vollzieht sich die Verwandlung der Revolutionstheorie in eine politische Ideologie totalitären Typus. „Sie ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will.“
Näherhin hat diese politische Ideologie die Gestalt einer Geschichtsphilosophie. Solche Geschichtsphilosophie ist in allen Fällen als letztinstanzliche Legitimationsbasis totalitärer Demokratie auszumachen. Die in politische Ideologie transformierte Geschichtsphilosophie stattet nämlich ihre Subjekte mit einer unüberbietbaren Legitimität aus. Sie vermittelt Einsicht in den epochalen Geschichtsverlauf, und sie vermittelt ihren Subjekten mit dieser Einsicht zugleich die Zusatzeinsicht, wieso sie, kraft ihrer Position im Geschichtsverlauf, die bislang Ersten und Einzigen sind, die der Einsicht in eben diesen Geschichtsverlauf überhaupt fähig sind. Daraus ergibt sich die Selbstzuschreibung der Rolle, als Partei bereits gegenwärtig die Zukunftsmenschheit in Vorhutgestalt zu repräsentieren. Wer aber bereits heute weiß, in welcher zukünftigen Gesellschaftsverfassung die Menschheit zu sich selbst kommen wird, hat auch das Recht, ja die Pflicht, die entsprechenden aktuellen Fälligkeiten politisch verbindlich zu machen. Die Konsequenzen einer solchen geschichtsmetaphysisch-ideologischen Orientierung der Politik an einem als grundsätzlich begriffen unterstellten Geschichtslauf sind erheblich. Denn nun erst wird die Politik im spezifisch modernen Sinne terrorfähig, nämlich durch die politischen Diskriminierungsfolgen der geschichtsmetaphysisch hergestellten Dekkungsgleichheit von Alt und Neu einerseits und Schlecht und Gut andererseits. Zur Ironie der Sache gehört, daß eine so geschichtsmetaphysisch orientierte Politik, wo immer sie zur herrschenden Politik geworden ist, zwangsläufig in Ultrakonservativismus und Dogmatismus umschlägt. Nichts ist ja konservierungsbedürftiger als jene Doktrin, die einen als in weltgeschichtlich privilegierter temporaler Position befindlich zu sein bestätigt. Exemplarisch spiegeln sich die skizzierten geschichtsmetaphysischen Voraussetzungen totalitärer Demokratie in einem markanten Satz, der in der Ausgabe vom 18. August 1919 des Tscheka-Organs „Rotes Schwert“ zu lesen war. Der Satz lautet: „Uns ist alles erlaubt.“ Die Frage ist: Unter welchen Orientierungsvoraussetzungen weiß man sich zu einem solchen Satz legitimiert? Die Antwort ist derselben Nummer des Organs der Organisation zur Zerschmetterung der Konterrevolution zu entnehmen. Sie lautet: „Unsere Humanität ist absolut... Wir sind die Ersten in der Welt, die das Schwert nicht zu Zwecken der Versklavung und Unterdrückung ziehen, sondern im Namen der Freiheit.“ Die Selbstermächtigungsformel „Uns ist alles erlaubt“ ist also nach Ausweis ihrer sie legitimierenden geschichtsmetaphysischen Gründe keine zynische, vielmehr eine moralische Formel, und die Gewalt, die von ihr freigesetzt wird, folgt nicht aus moralischer Dekomposition.
Sie folgt vielmehr aus einem Akt metaphysischer Geschichtssinnergreifung.
Karl Popper hat also die vermeintliche Einsicht in die Gesetzmäßigkeit historischer Abläufe „historizistisch“ genannt, und er hat sein Buch „Das Elend des Historizismus“ den Opfern des Irrglaubens an die Existenz von Geschichtsgesetzen gewidmet. In zurückgenommener, nämlich wissenschaftstheoretischer Weise ausgedrückt besagt dieser Irrtum, daß die unverkennbare Gerichtetheit der zivilisatorischen Evolution eben keine Zielgerichtetheit ist, daß die beschleunigenden, ordnungsstiftenden oder auch ordnungsauflösenden Handlungen innerhalb dieses Prozesses sich keineswegs nach Analogie eines Plans aneinanderfügen, daß sie vielmehr mit dem Ablauf der Zeit einander mit Interferenzeffekten zu überlagern beginnen, daß sie also im Verhältnis zueinander Ereignischarakter gewinnen -mit der Wirkung, daß die Evolution als solche, unbeschadet ihrer Gerichtetheit, gerade nicht prognostizierbar ist. Einfacher gesagt: Die Zukunft der zivilisatorischen Evolution ist offen, und eine Politik, die sich statt dessen an einer Ideologie orientiert, die die Zukunft als eine durch gesetzmäßige Epochenabfolge besetzte Zukunft behandelt, verwandelt daher zwangsläufig auch die Gesellschaft von einer offenen in eine geschlossene Gesellschaft.
Karl Popper hatte in seine Kritik des Historizismus über die Geschichtsideologie des marxistisch-leninistischen Internationalsozialismus auch die naturalisierte Geschichtsphilosophie der nationalsozialistischen Rassenideologie einbezogen. Es ist banal zu sagen, daß diese Rassenideologie nach ihrem intellektuellen Standard mit der Klassenideologie des Marxismus-Leninismus keinerlei Vergleich aushält. Nichtsdestoweniger erfüllt auch der Versuch, sich den Geschichtslauf statt als einen Ablauf von Klassenkämpfen als einen Ablauf von Rassenkämpfen zurechtzulegen, die von Popper analysierte historizistische Denkfigur präzis. Man muß nämlich der Vorzugsrasse, über die uns die fragliche Rassenideologie belehrt, selber angehören, um der Einsicht in die prätendierte Wahrheit dieser Rassenideologie überhaupt fähig zu sein. Die naturalisierte Geschichtsphilosophie definiert somit auch hier diejenige Position im Ablauf der Geschichte, in der konkret sich zu befinden die reale Bedingung der Möglichkeit der Einsicht in den Lauf der Geschichte ist -auch hier mit der praktisch-politischen Wirkung, sich selber als privilegiertes Geschichtssubjekt zu erkennen und somit zu ergreifen und alle Widersprechenden kraft ihres Widerspruchs als jene Feinde zu erkennen und anzunehmen, die es nicht zu widerlegen, vielmehr zu vernichten gilt.
Es hat wohl seine Evidenz: Es sind nicht geisteswissenschaftsimmanente Operationen methodischer oder sonstiger wissenschaftspraktischer Art, um die es sich in der Resistenzbildung wider die Verführbarkeit Intellektueller durch die skizzierte Geschichtsgläubigkeit historizistischen Typus in erster Linie handelt. Das sei abschließend verdeutlicht durch eine knappe Vergegenwärtigung eines Relikts historizistischen Denkens, das in gewissen Formen der Polemik gegen die sogenannte Kompensationstheorie der Geisteswissenschaften bemerkbar wurde. „Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften“ -so hatte unter großem Beifall Odo Marquard bei Gelegenheit der Jahres-versammlung der Westdeutschen Rektorenkonferenz am 5. Mai 1985 in Bamberg formuliert. Karl Markus Michel bringt das auf die Absicht, daß uns die Kompensationstheoretiker „das schlechte Gewissen“ nehmen möchten, „wenn wir zum Beispiel den Rhein vergiften: Die Volkskundler erzählen uns dann, was der Rhein einmal war.“ Wie soll man darauf erwidern? Den produktivsten Gebrauch hätte man von dieser Polemik noch gemacht, wenn man damit die Sammlungen eristischer Figuren, die Koryphäen wissenschaftlichen Disputierens, erweiterte.
Darüber hinaus bleibt es von Interesse, nach der konkurrierenden Theorie der Geisteswissenschaften zu fahnden, die hinter dieser Polemik verborgen ist. Man darf vermuten: Es handelt sich um eine Theorie der Geisteswissenschaften, die diesen statt Kompensationsfunktionen praktisch-kritische Funktionen ansinnt. Gewiß: Der Zustand des Rheins verlangt Kritik. Aber das ist derart banal, daß man mit Verblüffung zur Kenntnis nimmt, angeblich möchten die Kompensationstheoretiker, im Widerspruch zu dieser Banalität, uns just über den Zustand des Rheins beruhigen und sie hielten die Historiographie der Rhein-Romantik für den geeigneten Tranquilizer.
Natürlich drängt sich die Anschlußfrage auf, welche Interessen es denn wohl sein mögen, von denen die angeblichen, mit geisteswissenschaftlichen Mitteln arbeitenden Beruhigungsabsichten sich leiten lassen. Die Antwort auf diese Anschlußfrage versteht sich für jeden, der das ABC der Kritischen Theorie erlernt hat, von selbst: Es sind natürlich die Kapitalverwertungsinteressen der industriellen Rheinverschmutzer. Läßt man einmal diesen unausgesprochenen Possenhintergrund der ganzen Argumentation auf sich beruhen, beharrt man also entgegen der zitierten Polemik auch für sich selbst auf der Banalität, daß der Zustand des Rheins ein kritischer und daher kritikbedürftiger Zustand ist, so steht man vor der Frage, wie sich denn hierfür, entgegen ihrer den Kompensationstheoretikern nachgesagten Verwendung als Betäubungsmittel, die Geisteswissenschaften nutzen ließen.
Zu den kognitiven Voraussetzungen der Antwort auf Fragen von dieser Struktur gehören die Geisteswissenschaften, vor allem die historischen Kulturwissenschaften, gerade nicht. Diese Voraussetzungen sind exklusiv den Naturwissenschaften, den Technikwissenschaften, den Wirtschaftsund Sozialwissenschaften zu entnehmen, soweit diese über einschlägig relevante, empirisch gehaltvolle Theorien verfügen, die für Zwecke kausaler Erklärung des nicht-historischen Typs geeignet sind, die entsprechend Verlaufsprognosen gestatten und eben in dieser Potenz, die den historischen Kulturwissenschaften gänzlich abgeht, sich auch technologisch für Handlungszwecke umsetzen lassen.
Der eigentliche Gegenstand der Empörung, die den beiden zitierten Traditionalisten Kritischer Theorie in ihrer Kritik an der Kompensationstheorie der Geisteswissenschaften die Feder führte, ist eine Geisteswissenschaft, die als historische Kulturwissenschaft nichts als Vergangenheiten verständlich macht, die also das, was ist, als Resultat seiner Herkunftsgeschichte erklärt; eine Geisteswissenschaft, die die Tiefe unserer Herkunftsräume aufschließt, Sinn für die Kontingenz der Evolutionen erweckt, deren Abkömmlinge wir sind; eine Geisteswissenschaft schließlich, die die fortschrittsabhängig wachsende Fremdheit selbst junger und jüngster Vergangenheiten kompensatorisch tilgt und so diese Vergangenheiten uns oder anderen zuordnungsfähig und aneignungsfähig macht, so daß in unser individuelles und kollektives Selbstverhältnis auch und gerade im Kontext der modernen Zivilisation ein Selbst-verhältnis durch Herkunftsverständnis eingeschlossen bleibt.
Das , Ärgernis 4 ist eine Geisteswissenschaft, die alles dieses sich zu leisten bemüht, aber die Erwartung als kulturell und politisch destruktiven Nonsens zurückweist, die Geisteswissenschaften wären in der Lage, den historischen Prozeß auf eine Theorie zu bringen, die als Kriterium der Unterscheidung von politischer Reaktion und politisch-moralischer Avantgarde tauglich ist und somit aus dem Studium der Geschichte die praktische Auskunft gewinnt, wie in aktuellen moralischen und politischen Lagen die Frontlinien zwischen Freund und Feind, also zwischen Zukunftsverpflichteten und Herkunftsverhafteten, verlaufen. Das ist der Hintergrund, den man sich vergegenwärtigt haben muß, um sich nicht einmal mehr zu wundern, wenn nun zu unguter Letzt der zitierte Kritiker der Kompensationstheorie im Geist der durch sie erklärten Geisteswissenschaften den „deutschen Ungeist“ erkennt, „der weiterwest, trotz tausend Jahren“. Das ganze Stück sei schon einmal aufgeführt worden, „nämlich im Wende-jahr ’ 33, als Heidegger den deutschen Geist der entfesselten Technik zur Seite stellte; nur brauchte er damals, um beide zu versöhnen, einen dritten, einen höchsten Willen, einen Führer. Den haben wir heute nicht, Kohlseidank.“
Diese bizarre Argumentation wäre unbeachtlich, wenn sie nur ein weiteres Beispiel zeitgenössischer deutscher Üblichkeit wäre, nähmlich alles, was einem -aus welchen Gründen auch immer -nicht paßt, kurz und bündig dadurch zu erledigen, daß man es in die braune Ecke stellt. Das wäre wiederum die vertraute instrumentelle Nutzung nationalsozialistischer Vergangenheit zu Zwecken der Erringung eines politischen Vorteils durch moralische Selbstprivilegierung mittels politisch-moralischer Delegitimierung des Gegners. Man er-kennt: Dabei handelt es sich ersichtlich um ein intellektuelles Satyrspiel zur Tragödie der Diktatur der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, in deren Dienst neben Ingenieuren, Natur-wissenschaftlern, Medizinern und sonstigen Bürgern jeder fachlichen Herkunft ungezählte Geistes-wissenschaftler gestanden haben.