Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Albaniens Weg zur Demokratie | APuZ 14/1992 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 14/1992 Jugoslawien vor dem Zerfall Vom Kommunismus zur Demokratie in Bulgarien Rumänien zwischen Revolution und Restauration Albaniens Weg zur Demokratie

Albaniens Weg zur Demokratie

Jozsef Bata

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die letzten Monate und Jahre haben gezeigt, daß Albanien große Anstrengungen unternommen hat, die jahrzehntelange Isolationspolitik aufzugeben und einen demokratischen Kurs einzuschlagen. In der Person des Reformkommunisten Ramiz Alia gelang den über drei Millionen Skipetaren eine Annäherung an die Weltpolitik. So wurde z. B. das Land in die KSZE aufgenommen. Als Folge der jahrzehntelangen kommunistischen Mißwirtschaft wird Albanien immer wieder von größeren Unruhen erschüttert. Hungerrevolten, Massenflucht und Resignation besonders unter Jugendlichen charakterisieren den albanischen Alltag seit der Wende. Ein demokratischer Fortschritt ist ohne wirtschaftliche Hilfe des Auslandes nicht möglich. Investoren sind mehr als willkommen. Die Albaner wollen erfahren, daß auch sie wieder ein Teil Europas geworden sind.

I. Ein eigenartiger Reformprozeß

Die Wende in der letzten Hochburg des Stalinismus Noch Anfang 1990, als die ersten Unruhen aus Shkoder von der jugoslawischen Nachrichtenagentur Tanjug verbreitet wurden 1, schien es, als ob die Umwälzungen und Reformbewegungen in Ost-und Südeuropa an der jahrzehntelangen selbstgewählten, ja von der alleinregierenden kommunistischen Partei den Bürgern Albaniens aufgezwungenen Abschottung von der Außenwelt in dieser Hochburg des Stalinismus vorläufig gar nichts ändern würden. Man hätte denken können, daß keiner so schnell die „Mauer“ um das kleine Balkanland herum würde niederreißen können, die das diktatorische Regime Enver Hoxhas aufgebaut hatte, um die albanischen Bürger vor den „schädlichen Einflüssen des kapitalistischen Westens“ und den Eroberungstendenzen der Nachbarländer zu schützen. Sicherlich wollte die kommunistische Regierung Albaniens ihren eigenen Weg beschreiten und die schwer erkämpfte Souveränität des Landes bewahren, der Effekt eines Nur-auf-sich-selbst-Konzentrierens war aber für die meisten Bürger -abgesehen von einer korrupten, privilegierten Schicht -

nichts anderes als eine perfekte und sehr tragische Isolierung von den europäischen und weltpolitischen Ereignissen der letzten 45 Jahre. Diese Politik konnte auf Dauer nur verheerende Folgen haben, wie die erschütternden Bilder der letzten Zeit zeigen. Passend hat man die bisherige (Rück-) Entwicklung mit folgenden Worten charakterisiert: „Albanien stürzte 1990 auf das Niveau eines Vierte-Welt-Landes ab.“

Enver Hoxha starb 1985, sein Mitstreiter und Nachfolger, Ramiz Alia, folgte ihm als kommunistischer Regierungschef und pflegte ebenfalls den Personenkult. Seine Bereitschaft zur Öffnung Albaniens, sein taktisches politisches Geschick gegenüber den stalinistischen „Betonköpfen“ seiner Partei, die Zusagen und Versprechungen angesichts der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung, seine Zustimmung zur Bildung eines Mehrparteiensystems und die Wiederherstellung der Religionsfreiheit haben ihm dazu verhelfen, eine große Popularität in der Bevölkerung zu erreichen und die Führung des Landes in seinen Händen zu halten. So hat Albanien mit der kommunistischen Partei der Arbeit Albaniens (PAA) und mit Ramiz Alia an der Spitze etwa seit Mitte 1990 einen zwar zögernden, aber unwiderruflichen und unaufhaltbaren politischen und wirtschaftlichen Reformkurs eingeschlagen Noch am 18. Februar 1990 teilte der stellvertretende albanische Außenminister Sokrat Plaka gegenüber der Nachrichtenagentur Reuter in der Hauptstadt Tirana mit, daß Albanien auf eine Umorientierung der Außenpolitik hinarbeiten werde. Er sprach von der Möglichkeit einer künftigen Beteiligung an der Mitarbeit der KSZE-Staaten und einer Annäherung an die Europäische Gemeinschaft 2. Der Verzicht aufdas kommunistische Parteimonopol und die Gründung von politischen Parteien Um in Albanien einen Umsturz, wie er sich in Rumänien ereignet hatte, zu verhindern, hat die kommunistische Führung im Laufe des Jahres 1990 mehrere Präventivmaßnahmen beschlossen. Dazu gehörten das Recht auf einen Reisepaß, Abmilderungen einiger Bestimmungen im Strafgesetz -die Androhung der Todesstrafe wurde von 34 auf 11 Straftatbestände reduziert und die Republikflucht nicht mehr als Staatsverbrechen geahndet -, freie Religionsausübung, die Bildung eines Justizministeriums und die Einführung von Rechtsanwalts-kanzleien Aus den Protestkundgebungen von Studenten der „Enver-Hoxha-Universität“ Anfang Dezember 1990 in Tirana wurde eine Massendemonstration. Unter diesem Druck und aus der Angst, daß sich das „Botschaftsdrama“ vom Juli 1990 wiederholen könnte wurde am 11. Dezember 1990 das 13. Plenum der kommunistischen Partei der Arbeit Albaniens (PAA) einberufen. Nachdem fünf Mitglieder und zwei Kandidaten des elfköpfigen Politbüros ausgeschlossen worden waren, beschloß das Plenum, die Gründung von unabhängigen politischen Organisationen im Lande zuzulassen. Gleichzeitig wurden auch Parlamentswahlen für das Frühjahr 1991 angekündigt. Die Kommunisten hätten sich für den Wettbewerb verschiedener Parteien aus Dezember 1990 das 13. Plenum der kommunistischen Partei der Arbeit Albaniens (PAA) einberufen. Nachdem fünf Mitglieder und zwei Kandidaten des elfköpfigen Politbüros ausgeschlossen worden waren, beschloß das Plenum, die Gründung von unabhängigen politischen Organisationen im Lande zuzulassen. Gleichzeitig wurden auch Parlamentswahlen für das Frühjahr 1991 angekündigt. Die Kommunisten hätten sich für den Wettbewerb verschiedener Parteien ausgesprochen, und die PAA hege keine Vorurteile gegenüber oppositionellen Gruppierungen, erklärte Staats-und Parteichefs Ramiz Alia. Um diesen radikalen Schritt vor den „hardlinern" seiner Partei zu rechtfertigen, hob Alia hervor, daß die Zulassung anderer politischer Parteien ein Teil der von der Kommunistischen Partei eingeleiteten demokratischen Veränderungen sei. Die (Reform-) Kommunisten haben sich sogar vom Stalinismus losgesagt, am Marxismus-Leninismus wollten sie jedoch (vorläufig) festhalten 7.

Die albanische Volksversammlung verabschiedete am 17. Dezember 1990 das „Dekret zur Bildung politischer Organisationen und Parteien in Albanien“ 8. Voraussetzung für deren Zulassung ist, daß die Bürger, die eine Partei gründen wollen, ihr Programm, Reglement oder Statut dem Justizministerium vorlegen. Über den Antrag sollen die zuständigen Organe dann innerhalb von dreißig Tagen entscheiden. Das Dekret verbietet die Bildung oder Fortsetzung der Aktivitäten (aus der Vorkriegszeit) von Parteien oder politischen Organisationen mit faschistischem, rassistischem, kriegshetzerischem und antinationalem Charakter und solche, die den nationalen Haß schüren oder den gewaltsamen Sturz der Gesellschaftsordnung beabsichtigen, wie sie in der Verfassung der Sozialistischen Volks-Republik Albaniens festgelegt ist. Die Parteien haben den Status einer juristischen Person und somit auch das Recht, über die notwendigen finanziellen Mittel für ihre Aktivitäten und für eine eigene Zeitung zu verfügen. Untersagt wurde dagegen eine unmittelbare oder indirekte finanzielle Unterstützung aus dem Ausland, von politischen Parteien anderer Staaten oder von Albanern mit Wohnsitz im Ausland. Gegebenenfalls werde der Staat diese Gelder konfiszieren 9.

Noch bevor dieses Dekret in Kraft trat, wurde am 14. Dezember 1990 von mehreren tausend Studenten, Professoren und anderen Intellektuellen die erste oppositionelle Partei, die „Demokratische Partei“ (DP), in Tirana gegründet 10. Später folgten die „Republikanische Partei“ (RP), die „AgrarPartei“ (AP), die „Sozial-Demokratische Partei“ (SDP), die „Ökologische Partei“ (ÖP) und die „Partei für die Nationale Union Albaniens“. Außer diesen Parteien wurden noch zahlreiche politische und soziale Organisationen ins Leben gerufen, wie z. B. „Omonia“ (die Organisation der griechischen Minderheit in Albanien), „Camerija“ (die Organisation der aus Griechenland stammenden Albaner), oder „Kosova“, eine Organisation, in der die aus der benachbarten serbischen Provinz Kosovo stammenden Albaner organisiert sind, sowie einer der bekanntesten Wohltätigkeitsvereine: die Organisation „Mutter Teresa“. 3. Reformansätze trotz mangelnder demokratischer Tradition Nach beinahe 50 Jahren Einparteienherrschaft kann die albanische Gesellschaft nicht auf eine demokratische Tradition zurückblicken. Jedoch bildeten die Forderungen der oppositionellen Parteien die Grundlagen einer Demokratie, wie diese in anderen Staaten Europas und der Welt praktiziert wird. Charakteristisch für die Hauptforderungen der Opposition ist das, was die DP in ihrem Programm angekündigt hatte 11, nämlich Albanien in einen Rechtsstaat umzuwandeln, die Gesellschaft radikal zu demokratisieren, die Menschenrechte zu verwirklichen, die desolate Wirtschaftslage zu verbessern sowie die Marktwirtschaft einzuführen. Dem Bürokratismus und der behördlichen Schlamperei wurde der Kampf angesagt; die Ideologie müsse aus allen öffentlichen Bereichen verschwinden. Die Lage der albanischen Frau soll verbessert, eine 40-Stunden-Woche eingeführt und staatliche, aber auch religiöse Feiertage voll bezahlt werden. Außerdem sollen das Agrarpro-gramm und die Bodenreform zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Bauern beitragen

II. Die Reformpolitik Albaniens

1. Die Aufhebung des jahrzehntelangen Religionsverbots begünstigt die politischen Reformen Analysiert man die albanischen Ereignisse der vergangenen Jahre, muß man sich auch mit der Tatsache der Wiederzulassung der Religionen befassen. Dies allein schon deshalb, weil die bisher strikt verbotenen Religionsgemeinschaften eine wichtige Rolle in dieser Umbruchzeit gespielt haben

Die gesetzliche Legalisierung der Glaubensfreiheit in der damals noch Sozialistischen Volksrepublik Albanien im Mai 1990 scheint eines der schmerzhaftesten Zugeständnisse der herrschenden Kommunisten gewesen zu sein. Dieser Akt setzte auch dem Wunschdenken, der „Erste atheistische Staat der Welt“ zu sein, ein Ende. Die Verfassung aus dem Jahre 1967 sprach im Paragraph 37 den albanischen Bürgern das Recht auf die Ausübung ihrer Religionen mit folgenden Worten ab: „Der Staat erkennt keinerlei Religion an, er fördert die atheistische Propaganda, damit das Volk mit der wissenschaftlich-materialistischen Weltanschauung vertraut wird.“

Entgegen dieser „Proklamation“ heißt es im revidierten Gesetzestext, der am 29. April 1991 verabschiedeten provisorischen Verfassung in Paragraph 7: „Die Republik Albanien ist ein säkularer Staat. Der Staat beachtet die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und schafft Bedingungen für ihre Ausübung.“

Durch seinen Einsatz für die Respektierung der Volksentscheidung in Sachen Religion hat der kommunistische Staats-und Parteichef Ramiz Alia dazu beigetragen, daß die islamische Glaubensgemeinschaft, aber auch die christlichen Kirchen wieder aufblühen. Denkbar ist es auch, daß sich mit der Aufhebung des Religionsverbots -geprägt durch die Aussage Alias, die Menschen müßten selbst entscheiden, ob sie Gotteshäuser wollten oder nicht -der Staats-und Parteichef dafür erkenntlich zeigen wollte, daß gerade eine größere Anzahl von Gläubigen, vor allem katholische, am 11. und 14. Januar 1990 in der Stadt Shkoder zum ersten Mal öffentlich für Freiheit und Demokratie auf die Straße ging, antistalinistische Demonstrationen veranstaltete und somit sein Reformprogramm, wenn auch nur indirekt, unterstützte Aus dieser Protestaktion soll sich später ein kleiner politischer Kern herausgebildet haben. Es gab Meldungen, daß diese Menschen -Katholiken, Moslems und auch Orthodoxe -am 26. Dezember 1990 die „Volkspartei der religiösen Einheit“ gegründet hätten. Der katholische Priester aus Shkoder, Simon Jubani, soll sogar einer der Wortführer gewesen sein Anstelle einer ursprünglich geplanten Christlich-Demokratischen Partei habe man sich zugunsten einer allkonfessionellen Volkspartei entschieden. Dieser Versuch scheint jedoch gescheitert zu sein. Die Partei konnte keine Statuten aufstellen, und die Idee selbst soll beim katholischen Klerus Skepsis ausgelöst haben. Außerdem soll es offenbar einige Schwierigkeiten zwischen Moslems und Katholiken gegeben haben

Simon Jubani, der zu einer Symbolfigur des religiösen Aufbruchs in Albanien geworden ist, wurde auch von der kommunistischen Regierung schnell als friedenstiftende Person akzeptiert. Während der Studentenproteste Anfang Dezember 1990 hat man ihn gebeten, einen Appell zur Beruhigung der Lage über Radio Tirana zu verbreiten Ein Lehrer der Kunstakademie in Tirana drückte in einem Interview sogar die Hoffnung aus, die katholische Kirche könne zu einer allgemeinen Entspannung in Albanien beitragen und werde bald wieder den Platz in der albanischen Gesellschaft einnehmen, der ihr in der Geschichte immer gehört habe. Ähnlich riefen Vertreter der Albanischen Islamischen Gemeinschaft angesichts der erneuten Unruhen im März 1991 die Bevölkerung zu einem friedlichen Zusammenleben auf, das sich an den mora-lischen und gesetzlichen Prinzipien orientieren sollte Demnach läßt sich vermuten, daß das Wiedererwachen des religiösen Lebens für die Zukunft des Landes zu einem stabilisierenden Faktor wird. 2. Abrechnung mit der stalinistisch-hoxhaschen Ära Am Dezember 1990, zum 111. Geburtstag Stalins, wurden per Dekret und unter dem Druck demonstrierender Studenten alle Bilder und Statuen Stalins in Albanien entfernt 21. Den Höhepunkt des symbolischen Neubeginns in Albanien bildete aber die Szene am 20. Februar 1991, als das überlebensgroße Hoxha-Denkmal auf dem Skanderbeg-Platz von einer riesigen aufgebrachten Menschenmenge gestürzt und durch die Straßen geschleift wurde. Die Polizei gab zwar Warnschüsse ab, verbrüderte sich zum Teil jedoch mit den Demonstranten. Ähnliches wurde auch aus den Städten Dürres und Korea gemeldet Es kam außerdem zu einer regelrechten Invasion der Bibliotheken und Buchhandlungen. Die Bücher von und über Enver Hoxha wurden verbrannt. Es soll sogar Personen gegeben haben, die ihre Privatbibliotheken von Hoxhas Schriften gesäubert haben

Der Staats-und Parteichef Ramiz Alia gab auch den Forderungen der hungerstreikenden Studenten nach, indem er den Namen Enver Hoxhas aus der Bezeichnung der Universität hat streichen lassen So verschwand der Staatsgründer nach und nach aus dem öffentlichen Leben. Seitdem werden seine Werke nur noch von Studenten zu Kabarett-Veranstaltungen vorgelesen Einer Neubewertung der Rolle des kommunistischen Staatsgründers Enver Hoxha erteilte Alia jedoch eine klare Absage: Hoxha sei eine historische Figur mit tiefen Wurzeln im Volk, hatte er argumentiert Zum sechsten Todestag von Hoxha haben lediglich Ramiz Alia und noch einige PAA-Mitglieder einen Kranz an seinem Grab niedergelegt, und landesweit fanden nur kleinere Gedenkveranstaltungen statt Zu den zweiten und politisch gewichtigeren Forderungen der Demonstranten gehörte der Rücktritt der bereits am 31. Januar 1991 umgebildeten Regierung von Ministerpräsident Adil Carcani. Ramiz Alia zeigte sich großzügig. Zunächst bildete er einen in der Verfassung nicht vorgesehenen achtköpfigen Präsidialrat unter seinem Vorsitz, um die Krise effektiver unter Kontrolle zu bekommen. Ihm gehörten außerdem der Regierungschef, eine Journalistin, je ein Schriftsteller, Wissenschaftler und ein Offizier sowie der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs und der ehemalige Parlamentspräsident an. Gleichzeitig hat Ramiz Alia eine neue Regierung ernannt Ministerpräsident wurde der 39jährige Wirtschaftswissenschaftler Fatos Nano, der u. a. einen längeren Forschungsaufenthalt im Ausland aufzuweisen hatte. Als einziges der Politbüro-Mitglieder blieb Verteidigungsminister Kico Mustaqi im Kabinett. Ende Februar wurde der Direktor des Albanischen Fernsehens, Virgjil Kule, entlassen, nicht etwa weil er von der Opposition als parteiisch beschuldigt wurde, sondern weil er den Sturz des Hoxha-Denkmals im Fernsehen ausstrahlen ließ 3. Die ersten pluralistischen Wahlen und weitere Reformen Am 31. März 1991 wurde es den 1 977139 Wahlberechtigten in Albanien zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ermöglicht, ein Mehrparteienparlament zu wählen. Der Ostersonntag als Wahltermin symbolisierte, wenn auch unbeabsichtigt, das Wiedererwachen, ja die Neu-geburt des demokratischen Lebens in ganz Albanien. Den Wahlergebnissen zufolge war die Mehrheit der Bevölkerung der Ansicht, die kommunistische PAA solle weiterhin die Verantwortung für die Staatsführung tragen. Nach den Mitteilungen der Zentralen Wahlkommission vom 2. und 8. April haben sich die albanischen Bürgerinnen und Bürger mit 98, 9 Prozent in 5 480 Wahllokalen beteiligt. Von 250 Wahlbezirken hat in 238 die PAA 168 Sitze oder 67, 2 Prozent der Sitze des Parlaments gewonnen. Die oppositionelle „Demokratische Partei Albaniens“ (DPA) hat 75 Mandate oder Prozent der Parlamentssitze errungen. Fünf Sitze hat die politische Organisation der griechischen Minderheit „Omonia“ und einen das „Komitee der Kriegsveteranen“ erhalten 30.

Die Opposition hat zwar eine Niederlage erlitten, aber nicht resigniert. Objektiv gesehen spielte die-ser Wahlausgang nur eine Nebenrolle. Es schien viel wichtiger zu sein, daß die Menschen in Albanien nach über vierzig Jahren Diktatur und totalitärer kommunistischer Alleinherrschaft ihre politische Mündigkeit wiedererlangt haben. Nicht zu vergessen ist, daß es sich hier um die ersten, aber nicht um die letzten demokratischen Wahlen handelte und daß auch die oppositionellen Parteien, trotz des für sie enttäuschenden Wahlausgangs, mit ihrem Parlamentsmandat bei der Gestaltung der politischen Zukunft Albaniens einiges bewirken können. So kann man vor allem von einem Sieg der Demokratie in Albanien und nicht nur von dem Wahlsieg der PAA reden.

Die Demokratische Partei organisierte allerdings in mehreren Ortschaften Demonstrationen wegen angeblicher Wahlfälschungen. In Shkoder kam es sogar zu größeren Unruhen, wobei vier Menschen (vermutlich von Sicherheitskräften oder von Provokateuren des Geheimdienstes Sigurimi) erschossen wurden. Das örtliche Parteikomitee der PAA wurde gestürmt und verwüstet Die Lage hat sich zwar mit der Zeit beruhigt, die Aufklärung der blutigen Ereignisse und die Bestrafung der Verantwortlichen blieben aber eine Dauerforderung sowohl der Opposition als auch der Gewerkschaft

Ausländische Wahlbeobachter sprachen, abgesehen von einigen „Pannen“, doch übereinstimmend von einem freien, allerdings nicht immer fairen Wahlverlauf Es gibt aber auch Berichte über den Mißbrauch religiöser Gefühle der Albaner während der Wahlkampagne So habe man in den mehrheitlich von Katholiken bewohnten Gegenden erzählt, der Papst hätte sich in einer schriftlichen Botschaft aus Rom an sie gewandt und sie darum gebeten, unbedingt die PAA zu wählen. Andererseits seien unter der muslimischen Bevölkerung Ängste geweckt worden, falls sie ihre Stimme der DP gäben, müßten alle nach deren Wahlsieg zum Katholizismus übertreten.

Die Demokratische Partei hat zwar am 15. April 1991 die konstituierende Sitzung des neugewählten Parlaments boykottiert, sie hat jedoch zwei Tage später bei der zweiten Sitzung teilgenommen. Zum neuen Präsidenten der Volksversammlung wurde Kastriot Islami von der PAA gewählt.

Ein weiterer wichtiger politischer Schritt in dem begonnenen Demokratisierungsprozeß war die Verabschiedung der neuen provisorischen Verfassung am 28. April 1991. Die Volksrepublik wurde in Republik Albanien umbenannt. Auf der Grundlage des demokratischen Rechtsstaatsprinzips wurden in der neuen Verfassung politischer Pluralismus, die Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Gewaltenteilung, freie Wahlen und das Recht auf Privateigentum verankert

Anfang Juni 1991 haben ein Generalstreik und die desolate Wirtschaftslage zu einer erneuten Regierungsumbildung geführt. Die neue, nichtparlamentarische „Regierung der Stabilität“ kam unter Beteiligung von Experten der PAA, der DP, der RP, der SDP und der AP zustande. Präsident Ramiz Alia ernannte den bisherigen Ernährungsminister Ylli Buffi (PAA) zum Ministerpräsidenten, der in sein Kabinett den Oppositionsführer und Universitätsprofessor für Ökonomie, Gramoz Pashko (DP), als Vizeministerpräsidenten berief

Auf dem zehnten Parteitag hat sich die kommunistische „Partei der Arbeit Albaniens“ in „Sozialistische Partei Albaniens“ (SPA) umbenannt. Erst nach heftigen Kontroversen haben sich die Reformkräfte durchgesetzt. Neun ehemalige Politbüromitglieder wurden aus der Partei ausgeschlossen. Es hat sich gezeigt, wie empfindlich die alten kommunistischen „Betonköpfe“ damals noch reagierten. Die Angriffe des Vorsitzenden des albanischen Schriftsteller-und Künstlerverbandes, Dritero Agolli, gegen den ehemaligen Parteichef Enver Hoxha haben einen Tumult unter dessen Anhängern ausgelöst Im ganzen gesehen endete der Parteitag positiv. Als wichtigste Zielsetzung wurden die Entblockierung der Industrie wegen der Mängel an Rohstoffen, die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und der sozialen Ruhe, die Vorbereitung der Gesetzgebung für die Marktwirtschaft und die Privatisierung beschlossen

Anfang Juli kam es zu einer tatsächlichen Wende auch bei der albanischen Presse. Jede oppositio-nelle Partei hat zwar ihre Zeitung, nicht immer aber das nötige Geld und Papier für die Druckerei In einem Kommentar hatte Radio Tirana darauf hingewiesen, daß die albanische Presse radikal erneuert werde. Die alten Dogmen und leeren Phrasen seien beseitigt worden. Die Zeitungen übten auch an höchsten Vertretern der Staatsorgane Kritik. Auch die Presse unterliege den Marktgesetzen, in erster Linie dem der Konkurrenz

III. Die katastrophale Wirtschaftslage

1. Albanien -das ärmste Land Europas Die Albaner leben traditionsgemäß in Großfamilien. Im Vergleich mit anderen europäischen Staaten hat das Land mit einem Altersdurchschnitt von 26-28 Jahren die jüngste Bevölkerung Europas. In der Nachkriegszeit gab es eine Pro-Geburten-Politik, so daß sich die Bevölkerung innerhalb von etwa 30 Jahren verdoppelte. Im Jahre 1960 hatte Albanien 1, 6 Mio. Einwohner und bei der Volkszählung im Jahre 1989 schon 3, 2 Mio. Das Pro-Kopf-Einkommen betrug in den letzten Jahren ca. 600 US-Dollar, und die Inflationsrate wird auf 60 bis 100 Prozent geschätzt. Allein im ersten Halbjahr 1990 ist der Output der albanischen Industrie um 36 Prozent geschrumpft, und die landwirtschaftlichen Erträge des Staates gingen um 50 Prozent zurück. Die Exporte waren im gleichen Zeitraum mit 41 Mio. US-Dollar ebenso wie die Importe mit 50 Mio. US-Dollar nur minimal. Die Auslandsschulden beliefen sich 1990 auf 450 Mio. US-Dollar und mit Zinsen sogar auf 700 Mio.

Auf dem Lande leben etwa 64 Prozent der albanischen Bevölkerung, und rund 50 Prozent der Gesamtbevölkerung ist in der Landwirtschaft beschäftigt. Dabei gibt es nur relativ wenig bebaubaren Boden. Besonders in den bergigen Gegenden kommen auf jede Familie weniger als 0, 3 bis 0, 4 ha Boden Bereits im Sommer 1991 sprach man von über 50 000 Arbeitslosen Im August hat die Regierung in Erwägung gezogen, erstmals in der Geschichte Albaniens Arbeitslosengeld einzuführen. In dem Entwurf „Soziale Beihilfen für Personen, die durch die Wirtschaftsreformen arbeitslos bleiben“ waren Zahlungen für die Dauer von einem Jahr nach dem Verlust des Arbeitsplatzes vorgesehen; sie sollten bei 70 Prozent des Mindestlohns liegen 2. Die Frage der Schuld Das Land der Skipetaren versinkt in immer tiefere Hoffnungslosigkeit. Bereits über 120000 Tonnen Hilfsgüter sollen allein die italienischen Soldaten verteilt haben, die zur Koordinierung der ausländischen Hilfstransporte zur Zeit in Albanien stationiert sind. Wöchentlich kommen größere Mengen von Getreide, Bohnen, Butter und Fleisch an. Es scheint jedoch, daß man damit die Bevölkerung nicht zufriedenstellen kann Albaniens Gesundheitswesen scheint am Ende zu sein. Augenzeugen berichten immer wieder von einem Bild des Grauens in den Krankenhäusern. Benötigt würden Medikamente im Wert von mindestens 12 Mio. US-Dollar und medizinisches Gerät Die Kriminalität ist in Albanien sprunghaft gestiegen (die Mordfälle um 55 und die Raubdelikte sogar um 70 Prozent), so daß sich der seit dem 18. Dezember 1991 amtierende neue Ministerpräsident Vilson Ahmeti sogar an Interpol gewandt hat, um technische, finanzielle und fachliche Hilfe zu erbitten

Eine Erklärung, jedoch keine Lösung der Lage Albaniens bot Staatschef Ramiz Alia im August des Vorjahres in einem Zeitungsinterview: „Unsere Wirtschaft ist aufgrund unserer Vergangenheit nur sehr schwach entwickelt. In der jetzigen Übergangsperiode der Reformen von der zentralisierten Planwirtschaft in die Marktwirtschaft wollen die Menschen nicht arbeiten. Sie lesen Zeitungen, sprechen miteinander, halten Reden und arbeiten nicht... Die Schwierigkeiten sind vorübergehend, aber sie existieren. Doch die Menschen, insbeson-dere die jungen, haben keine Geduld mehr; sie sehen keine Perspektiven. Und somit meinen sie, der Exodus sei der einzige Weg. Aber es ist kein Ausweg .. ." 3. Ausblick Die vorgezogenen Neuwahlen wurden für den 22. März 1992 angesetzt. Da die Oppositionspar-teien in den letzten Monaten einen größeren Zulauf hatten und sich ihre Politiker gegenüber den herrschenden Sozialisten in vielen Dingen durchgesetzt und somit politische Ziele erreicht haben, ist es wahrscheinlicher als vor einem Jahr, daß die Demokratische Partei des 46jährigen Herzchirurgen Sali Berisha mit Stimmenmehrheit die Parlamentswahlen gewinnen wird. Die meisten Menschen in Albanien wünschen sich weniger einen „politischen“, als einen „wirtschaftlichen Frühling“.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Tanjug vom 12. 1. 1990

  2. Imanuel Geiss, Explosives Gemenge von Völkern, Religionen und Kulturen, in: Das Parlament vom 28. 2. /6. 3. 1992, S. 16.

  3. Vgl. Jozsef Bata, Auf einem schwierigen Weg. Albanien nach den ersten freien Wahlen, in: Herder Korrespondenz, 45 (1991) 5, S. 233-237.

  4. Vgl. Albanien arbeitet auf Umorientierung hin, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. 2. 1990; die Aufnahme der Republik Albanien in die KSZE erfolgte auf Empfehlung des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher am 19. 6. 1991 in Berlin.

  5. Vgl. Milorad Komatina, Der albanische Abschied vom Stalinismus, in: Internationale Politik (Belgrad), 42 (1991) 979, S. 23.

  6. Tausende von Ausreisewilligen hatten die verschiedenen ausländischen Vertretungen in Tirana gestürmt und einen Massenexodus erzwungen.

  7. Vgl. Radio Tirana, vom 26. 12. 1990, Demokratische Partei Albaniens stellt ihr Programm vor, in: RIAS-Monitor-Dienst vom 26. 12. 1990, S. 7.

  8. Vgl. Hans-Joachim Hoppe, Albanien vor den Wahlen: Parteisystem im Überblick, in: Aktuelle Analysen, (1992) 10, S. 4f.

  9. Vgl. Jozsef Bata, Zur Lage der Religionen und der Gläubigen in Albanien, in: Informationen und Berichte -Digest des Ostens, Albertus-Magnus-Kolleg/Haus der Begegnung Königstein e. V. (Hrsg.), (1991) 8-9, S. 10-17.

  10. Vgl. dazu die Meldung in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 5. 1990.

  11. Vgl. Neues Deutschland vom 9. 11. 1990.

  12. Vgl. Interview mit dem albanischen Priester Simon Jubani, in: Informationsdienst Kirche in Not/Ostpriesterhilfe, Königstein 1991, und in: Neue Zürcher Zeitung vom 31. 3. /1. 4. 1991.

  13. Vgl. Glaube in der 2. Welt, (1991) 2; KNA vom 13. 2. 1991.

  14. Vgl. Informationsdienst Osteuropäisches Christentum (ID-OCHR) vom 31. 4. 1991; Viktor Meier, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 3. 1991.

  15. Vgl. Radio Tirana vom 15. 12. 1990 und Frankfurter Rundschau vom 16. 2. 1991.

  16. Vgl. Radio Tirana vom 9. 3. 1991.

  17. Vgl. Zoran Dogramadziev, Drugi pad Envera Hodze (Der zweite Fall von Enver Hoxha), in: Vreme (Belgrad) vom 25. 2. 1991, S. 6.

  18. Vgl. Michael Schmidt-Neke, Daten, Namen, Fakten, in: Albanische Hefte, 20 (1991) 2, S. 4.

  19. Vgl. Z. Dogramadziev (Anm. 21), S. 7.

  20. Vgl. ebd.

  21. Vgl. Peter Danylow, Der Zerfall der wirtschaftlichen und politischen Ordnung in Jugoslawien und Albanien, in: SWP-AP 2687/Ebenhausen, S. 37/38.

  22. Vgl. Gespannte Ruhe in Tirana, in: Süddeutsche Zeitung vom 25. 2. 1991.

  23. Vgl. M. Schmidt-Neke (Anm. 22), S. 5.

  24. Vgl. Gespannte Ruhe in Tirana (Anm. 26).

  25. Vgl. M. Schmidt-Neke (Anm. 22), S. 4.

  26. Vgl. Radio Tirana vom 2. und 8. 4. 1991, in: DW Monitor-Dienst Osteuropa vom 3. und 9. 4. 1991.

  27. Vgl. Roland Hofwiler, „Sanfter Streik“ in Albanien, in: die tageszeitung vom 5. 4. 1991.

  28. Vgl. Streikaufruf der Albanischen Opposition, in: Neue Zürcher Zeitung vom 5. 4. 1991.

  29. Ausführlich dazu die Aussagen zweier Parlamentarier, Eberhard Brecht (SPD) und Gernot Ehler (SPD), die sich als Mitglieder der Bundestagsdelegation als Wahlbeobachter in Albanien aufhielten. Erste pluralistische Wahlen in Albanien, in: Albanische Hefte, 20 (1991) 2, S. 6f.

  30. Nach mündlicher Mitteilung von Herm Robert Elsie, der im Auftrag des Europäischen Parlaments als Wahlbeobachter vor Ort war.

  31. Vgl. Albanien nicht mehr „Volksrepublik", in: Süddeutsche Zeitung vom 29. 4. 1991.

  32. Vgl. M. Schmidt-Neke, Daten, Namen, Fakten, in: Albanische Hefte, 20 (1991) 3, S. 4.

  33. Vgl. Viktor Meier, Albanien muß von vorn beginnen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 6. 1991.

  34. Vgl. Radio Tirana vom 13. 6. 1991, in: DW Monitor-Dienst Osteuropa vom 14. 6. 1991, S. 10.

  35. Aufschlußreiche Informationen dazu von M. Schmidt-Neke (Anm. 36), S. 6.

  36. Vgl. dazu Radio Tirana vom 8. 7. 1991 in: DW Monitor-Dienst Osteuropa vom 9. 7. 1991.

  37. Vgl. Radio Tirana vom 30. 5. 1991, in: RIAS-Monitor-Dienst vom 30. 5. 1991, S. 5.

  38. Vgl. Yvonne Esterhazy, Die Nahrungsmittelversorgung stellt Tirana in diesem Winter vor unlösbare Probleme, in: Handelsblatt vom 12. 11. 1991.

  39. Vgl. Iljaz Fishta/Dilaver Sadikaj, Economic Reform and the Process of Privatization of Albania’s Economy, in: Süd-osteuropa, 40 (1991) 10, S. 531-545.

  40. Vgl. Carl Gustaf Ströhm, Rette sich, wer kann, heißt die Parole in Albanien, in: Die Welt vom 15. 6. 1991.

  41. Vgl. Arbeitslosengeld in Albanien, in: Frankfurter Rundschau vom 16. 8. 1991.

  42. Vgl. Für uns gibt es keine Hoffnung mehr, in: Süddeutsche Zeitung vom 31. 1. 1992.

  43. Vgl. In den Krankenhäusern herrscht das Grauen, in: Süddeutsche Zeitung vom 5. 2. 1992.

  44. Vgl. Albnija trazi pomoc Interpola (Albanien bittet um Hilfe Interpols), in: Borba (Belgrad) vom 17. 1. 1992.

  45. Vgl. Der Exodus ist doch kein Ausweg, in: Süddeutsche Zeitung vom 21. 8. 1991.

Weitere Inhalte

Jozsef Bata, Dipl. -Theologe, geb. 1958; Studium der Philosophie und der Theologie; Angestellter in der Bibliothek und Dokumentationsabteilung des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Religion, Kultur und Politik Jugoslawiens und Albaniens.